ra-2LotzeLotzeH. PöhlmannL. StählinF. Goldner    
 
FRANZ CHELIUS
Lotzes Wertlehre
[ 3 / 4 ]

"Die Willensfreiheit wird aufs heftigste bestritten. Nichts geschieht frei in der Welt, sagt man, so daß es auch hätte unterbleiben können, alles hat seinen zureichenden Grund, jedes Phänomen des Weltgeschehens ist in den unerbittlichen Kausalnexus eingeschlossen, von einer Willensfreiheit im Menschen ist daher keine Rede. Der Mensch glaubt wohl frei zu handeln, weil er vermöge seiner intellektuellen Begabung verschiedene Motive gegeneinander abwägen kann, aber nicht er herrscht über die Motive, sondern diese über ihn. Nur die vielfache Unkenntnis dessen, was ihn zu seinem Handeln treibt, kann ihn zur Annahme der Willensfreiheit verleiten, dasselbe Gesetz, das alles Geschehen umschlingt, umschlingt auch ihn."

III.
Die Lehre vom absoluten Wert

Mit Rücksicht auf den verpflichtenden Charakter des Schönen und Guten hat LOTZE ab und zu von seinem objektiven Wert (1) gesprochen, doch ist die von

Im Gefühl haben wir den Eindruck eines Wertes erlebt, der uns zu bestimmten Urteilen verpflichtet, dieses Gefühl müssen wir daher analysieren, um Aufschluß über das Wesen des absoluten Wertes zu bekommen. Halten wir uns zunächst an die schöne Erscheinung, so entspricht ihrem unmittelbaren Eindruck keine ebenso unmittelbare intuitive Erkenntnis. Es scheint fraglich, durch welche innere Eigentümlichkeit das wahrhaft Schöne sich vom Kreis verwandter Erscheinungen abhebt. Die schönen Gegenstände sind ihrer äußeren Struktur nach so verschieden, daß sich keine unserer Anschauung erkennbare Vortrefflichkeit als gemeinsamer Grundcharakter alles Schönen ausfindig machen läßt. "Wir können das Schöne nicht in der Form einer Anschauung fassen, die uns immer nur ein bestimmtes Bild geben würde, auch nicht in der Form des Begriffs, die uns zu einem bestimmten Merkmalskreis noch ein beständiges Gesetz der inneren Verknüpfung derselben hinzugeben würde, sondern nur in der Form einer Idee, die das Wesentliche eines Gegenstandes nur durch den Sinn des Zweckes angibt, zu dem er berufen ist, eine bestimmte Form oder Verbindung von Merkmalen dagegen nicht einschließt, mit der einzigen Bedingung, daß in allen diesen vielen Formen der Sinn des Zwecks festgehalten bleibt." (2) Wenn wir danach eine Idee der Schönheit suchen, so ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß diese Idee niemals schon fertig in der Sache selbst liegt, sondern daß sie eben in unserem geistigen Wesen als Sinn des Eindrucks gefunden wird, ohne daß wir sagen könnten, was die Erscheinung in ihrem Ansich ausdrückt. Und was ist das für eine Idee, die uns im Schönen nahelegt, den Eindruck des absolut Wertvollen auf uns macht? In der schönen Erscheinung finden wir die harmonische Verbindung dreier, ineinander verschlungener Reiche oder Gewalten: das Reich der allgemeinen Gesetze, das, soweit wir wissen, alles Geschehene beherrscht, mit unabänderlicher Notwendigkeit die Wirkung nach der Ursache bestimmend, aber ohne Fähigkeit, aus sich selbst etwas Bestimmtes zu erzeugen; weiter das Reich der wirklichen Stoffe und Kräfte, die unter dem Bann dieser allgemeinen Gesetze stehen und endlich das Reich der Zwecke, das die beiden anderen Gewalten in seinen Dienst gezwungen hat (3). Alle drei Reiche gehören zum dauernden Bestand der Welt und schließen alles Wirkliche ein, aber wir sehen sie in den einzelnen Erscheinungen vielfach voneinander getrennt und im Widerstreit miteinander liegend. Wir sehen Erscheinungen, die wohl gesetzmäßig vonstatten gehen, aber unser Mißfallen und unsere Betrübnis erregen, weil die Idee nicht herrscht, sondern beherrscht wird. Einen solchen Eindruck machen etwa die Naturgewalten auf uns, die wohl nach bestimmten berechenbaren Gesetzen bestimmte Wirkungen erzeugen, aber dabei nicht nur nichts Wertvolles zum Ausdruck bringen, sondern wie es scheint sich in ganz zweckloser Zerstörung gefallen. Weiter führt uns die empirische Beobachtung auf Erscheinungen, in denen wohl die Idee zu herrschen scheint über Stoff und Form, aber dann eine Idee, die nach dem Urteil unseres Gefühls keinen Wert und Zweck im Weltgeschehen sein kann. Nicht wo überhaupt Zwecke herrschen, empfinden wir den Eindruck des unbedingt Wertvollen, sondern nur da, wo gute Zwecke herrschen, Zwecke, die unser Gewissen mit Beifall akzeptiert. Demnach sind es solche Zwecke, die das Glück lebendiger Wesen erzeugen und fördern und sie kommen in den schönen Erscheinungen meist dergestalt zum Ausdruck, daß die einzelne schöne Erscheinung uns eine bestimmte wertvolle Idee, etwa die der Gerechtigkeit, Ordnung, Reinlichkeit etc. vor Augen stellt. (4) Es ist gar nicht gesagt, daß nur besonders komplizierte Tatbestände diesen Eindruck auf uns machen, schon die einfache Linie ist dazu befähigt oder eine Kombination mathematisch überaus einfacher Verhältnisse (5), aber es ist doch ein beträchtlicher Unterschied im Kunstwert der einzelnen schönen Erscheinungen zu verzeichnen. In welche Stoffe sich die künstlerische Idee gekleidet hat, ob sie eine Mischung von Farben oder Tönen oder ein andersartiges Material in souveräner Weise beherrscht, das ist verhältnismäßig unwichtig; darauf kommt es vornehmlich an, daß das Kunstwerk die drei Gesetzeskreise möglichst ohne fremdartige Zusätze darstellt. Den lebendigsten Eindruck von der Art des absoluten Wertes bekommen wir im genießenden Anblick der Organismen, welche die Natur oder die Weltseele in unerschöpflicher Fülle hervorbringt, und daher kommt es auch, daß wir jedes hervorragende Kunstwerk einen Organismus nennen und als Organismus zu verstehen suchen (6).

In eine Welt von Stoff und Form verkleidet, zeigt sich uns der absolute Wert in der schönen Erscheinung, deutlicher noch bringt ihn die gute Handlung zum Ausdruck. Auf den Begrif  Handlung  muß eine gewisse Betonung gelegt werden; denn, wenn die Lust und Beglückung vieler Menschen eine unbeabsichtigte, unvorhergesehene Wirkung eines Tuns ist, dann empfangen wir von ihm nie und nimmer den Eindruck eines absoluten Wertes. Von der allein löblichen Wärme des Herzens, der Intensität des Gefühls, einer gewissen Allseitigkeit und Empfänglichkeit, richtiger einer Abmessung des Interesses, der Bereitwilligkeit zum Handeln überhaupt - von all dem hängt es ab, ob einer Handlung in einem höheren oder niederen Grad der Charakter des absoluten Wertes zukommt. Es ist eine ganze Anzahl psychologischer Verhältnisse und Tatbestände, von deren absolutem Wert uns ein Gewissensurteil überzeugt, man könnte den HERBART'schen 5 praktischen Ideen etwa eine Zwölfzahl gegenüberstellen, aber es ist doch nicht schwer, sie alle auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen. Die Analyse des Gewissens hat uns bereits gezeigt, daß jenes Streben nach Beglückung unserer Mitmenschen das Entscheidende, das Wohlwollen also die Wurzel aller übrigen ethisch wertvollen Erscheinungen ist. Am reinsten und intensivsten haben wir den Eindruck des absoluten Wertes da, wo die sittliche Handlung aus dem Charakter eines Menschen wie aus einer schönen Natur mit selbstverständlicher Notwendigkeit folgt. (7)

Aus all dem erhellt sich die überaus nahe Verwandtschaft zwischen dem Schönen und dem Guten. In beiden liegt dieselbe Idee, beide stellen sie in Einzelerscheinungen dar, beide meist vermischt mit fremden Bestandteilen, beide in einer ganz bestimmten Spezifikation, deutlicher die gute Handlung, weil sie uns die Idee sozusagen unverhüllt aufzeigt. das Gute ist "höher als das Schöne, doch nicht ansich schon auch schön, sondern es wird erst im Laufe seiner Verwirklichung dann schön, wenn sich ihm die freien Mittel zuvorkommend unterwerfen oder es imstande ist, ihre ursprüngliche Sprödigkeit völlig in sich aufzulösen" (8). Es fragt sich nun, warum gerade nur diese Idee und der von ihr abhängige Ideenkreis den Eindruck eines absoluten Wertes hervorruft. LOTZE hat die Frage nicht besonders gründlich erörtert, vielleicht darum, weil seine Gedanken hier durch eine solche unmittelbare Evidenz einzuleuchten schienen, daß schwerfällige Begründungen unnötig wurden. Instruktiv ist die in der Ästhetik (9) gegebene Andeutung. Hier führt er etwa aus: bei allen übrigen Zwecken, die verwirklicht werden, fragen wir noch nach einem weiteren Zweck, ganz gleich, um welche Tatbestände es sich handelt. Das Glück beseelter Wesen ist allein ein Ziel und Zweck, über den nichts weiter hinaus liegt. Die Lust, d. h. besser die auf das Ganze der Welt bezogene Lust, die Seligkeit bejaht sich unmittelbar in ihrem Wert, "nur bei ihr wird die Frage absurd, warum sie und nicht lieber die Unlust Zweck der Welt sein muß" (10). Einen vernünftigen Sinn hat die Weltordnung nur dann, wenn uns nicht immer wieder die Frage aufsteigt, wozu das alles? wozu der ganze Apparat?, wenn es uns vielmehr als Erfolg dieser Weltordnung gewiß ist, daß kein Dasein, kein Verhältnis und kein Ereignis bloß faktisch da ist, sondern alles so geordnet und aufeinander bezogen, daß der mannigfaltigste, ausgedehnteste und tiefste Genuß für alle Elemente entsteht (11). Bei gutem Handeln ist das nachweislich der Fall; denn der Handelnde sowohl als auch der, der die Handlung beobachtet, endlich auch der, dem ihre Folgen zuguten kommen, sie alle werden durch den Ausspruch des Gewissens genötigt, das Gute als die Quelle allen Glücks und dauernden Genusses zu betrachten. Ebenso ist das Glück der übrigen beseelten Wesen sicher gestellt, wenn der einzelne nach seinem Gewissen handelt, denn unser Gewissen bestimmt auch: es ist unlöblich, irgendetwas so vogelfrei zu betrachten, daß man mit ihm, ohne sich durch Gründe zu rechtfertigen, machen könnte, was man wollte, und es befiehlt uns, alles, was einmal ist und seine besondere Natur für sich hat, in dieser zu schonen und nicht grundlos zu ändern (12). Das Gute, das im Herzen beglückter Geister eine Stätte gefunden hat, dieses allein dünkt uns  den  Wert im Weltgeschehen zu bedeuten. "Die Güter die wir so nennen, sind Mittel zu diesem Gut, aber nicht selbst das Gut, ehe sie in ihren Genuß verwandelt sind;" (13) es kommt auf das genossene Gut, auf die Seligkeit an.

Leider gelingt es uns nicht, das, was wir als den absoluten Wert des Weltgeschehens erkannt zu haben glauben, wirklich als den Sinn alles Geschehens aufzuzeigen. Es waren immer nur einzelne Erscheinungen, die uns diesen Sinn anschaulich verbürgen konnten; neben ihnen aber fließt ein breiter Strom von Ereignissen, zeigt sich uns eine Fülle von Gegenständen, die oft gerade das Gegenteil des absoluten Wertes zu verkörpern scheinen, und der Nachweis gelingt uns nicht, daß sie unbedeutend sind und in der Fülle des Guten verschwinden. Das Häßliche und das Böse, die Gegenstücke des Schönen und Guten, behaupten mit außerordentlicher Zähigkeit ihr Dasein und es ist ein von LOTZE selbst in seiner Schwäche erkannter Trost, wenn man meint, die Disharmonie im einzelnen werde durch eine Harmonie im Großen ausgeglichen (14); denn es kommt ja nach LOTZE gerade darauf nicht an, daß die Welt in ihrer Gesamtheit irgendetwas Wertvolles darstellt, sondern darauf, daß sich Geister darin vertiefen können. Was nützt uns eine Harmonie im Großen, wenn die Welt näher betrachtet voll Elend ist? (15) Auch die sorgfältigste philosophische Gedankenarbeit hat den Beweis dafür nicht erbringen können, daß alles um der Seligkeit persönlicher Geister willen da ist, und man muß vom Standpunkt reinen Erkennens aus - soweit sich ein solcher überhaupt einnehmen läßt - die Gleichberechtigung anderer Weltanschauungen anerkennen. Ziehen wir dazu noch unsere Fähigkeit, in das Ansich der wertvollen Erscheinung einzudringen und die formalen Gründe unseres Eindruceks umfassend zu erkennen, so müssen wir sagen: der Gedanke vom absoluten Wert birgt noch Probleme in sich, die unsere Erkenntnis nicht aufzulösen vermag.

So wenig das Wertgefühl von einer bestimmten theoretischen Erkenntnis abhängig ist, so wenig haben wir selbst mit der Verwirklichung des Guten solange zu warten, bis sich uns vielleicht alle theoretischen Zweifel gelichtet haben. Ein Reich, in dem sich die Idee des Guten hie und da sichtbar verkörpert hat, ist bereits geschaffen, das Reich der Natur, es bleibt daher für das menschliche Handeln die Aufgabe, in Kunstschöpfungen und in guten Taten den Sinn der Welt zur Darstellung zu bringen.

Die Aufgabe der Kunst ist umfassend mit dem Satz beschrieben: sie soll die Welt der Werte in die Welt der Formen kleiden, dazu ist zunächst einmal nötig, daß der Künstler die Welt der Werte in der Welt der Formen entdeckt hat (16). LOTZE hat sich nicht ausführlich über die Voraussetzungen allen künstlerischen Schaffens, über die notwendigen Anlagen im Wesen des Künstlers geäußert, aber es scheint nach seiner Vorstellung von der Aufgabe der Kunst doch das Wichtigste zu sein, daß der Künstler für den absoluten Wert des Weltgeschehens empfänglich ist. Das Wichtigste, aber nicht das Einzige; denn die wertvolle Idee ist eben nur eines der drei Momente, die jede künstlerische Schöpfung irgendwie in sich enthalten muß. Der Künstler muß, wenn nicht theoretisch, so doch intuitiv erkannt haben, nach welchen Gesetzen sich die Stoffe und Kräfte des Universums bewegen. Er soll ja nicht idealisieren, nicht in seinen Schöpfungen etwa den Gehalt des Naturschönen verbessern oder gar etwas schaffen, was in der wirklichen Welt keine Stätte hat, sondern er soll, in steter Anlehnung an die Natur "konzentrieren, was in der unendlichen Ausdehnung der Welt räumlich und zeitlich so zerstreut auseinanderliegt, daß es in der Bedeutung und dem Wert seiner Zusammengehörigkeit vom einzelnen Gemüt weder angeschaut, noch durch Reflexion klar genug überblickt, noch endlich in einem unmittelbaren Erleben genossen werden kann." (17) Wenn LOTZE vom Schönen noch die Übereinstimmung mit den physiologischen und psychologischen Maßstäben unseres Inneren fordert, so ist das keine unorganische Erweiterung, sondern ein Teil des bereits Gesagten; denn ohne Kenntnis der Gemeingefüle unseres Körpers, ohne Urteil darüber, wann in Parallele mit unserem Vorstellungsleben Gleichförmigkeit und Wechsel, stetige Motivierung und Konstrast, eine breite, ausführliche Darstellung und kurze aphoristische Andeutung am Platz ist (18), würde der Künstler zu keiner Übereinstimmung mit der Wirklichkeit kommen, deren wichtigsten Bestandteil unser eigenes Seelenleben mit seinen verschiedenen Funktionen bildet (19). Der enge Zusammenhang, in dem diese miteinander stehen, und die relative Harmonie der Lustgefühle bringen es mit sich, daß durch die ethische Idee meist alle Seiten unseres Wesens zugleich befriedigt werden, welches Material dem Künstler auch immer zur Bearbeitung vorliegen mag.

Der empfindende Geist verlangt dann wohl von sich, daß er den ästhetischen Wert anerkennt und verlangt dasselbe Urteil auch von andern, aber er macht sich selbst und andern keinen Vorwurf - abgesehen von dem Fall, daß er Künstler ist -, wenn er nicht die Fähigkeit besitzt, die innere Welt der Werte in die Welt der Formen überzuführen. Kunstwerke fordern in der Regel nur unsre zustimmendes Werturteil, gute Handlungen auch unser eigenes Tun heraus, es ist also unsere Aufgabe, die ethischen Werte, die wir gesehen und genossen haben, wiederum selbst zu produzieren. Daß wir diese Aufgabe mit freiem Willen unterlassen oder ausführen können, schließen wir aus dem durchgängigen Vorkommen der beiden Phänomene Verdienst und Schuld; denn das zustimmende oder mißbilligende Urteil des Gewissens, das in Bezug auf eine begangene oder noch zu begehende Handlung bzw. auf eine Unterlassung folgt, könnten wir uns nicht erklären, wenn wir nicht mit einem freien Willen handelten (20). Die Willensfreiheit wird jedoch aufs heftigste bestritten. Nichts geschieht frei in der Welt, sagt man, so daß es auch hätte unterbleiben können, alles hat seinen zureichenden Grund, jedes Phänomen des Weltgeschehens ist in den unerbittlichen Kausalnexus eingeschlossen, von einer Willensfreiheit im Menschen ist daher keine Rede. Der Mensch glaubt wohl frei zu handeln, weil er vermöge seiner intellektuellen Begabung verschiedene Motive gegeneinander abwägen kann, aber nicht er herrscht über die Motive, sondern diese über ihn. Nur die vielfache Unkenntnis dessen, was ihn zu seinem Handeln treibt, kann ihn zur Annahme der Willensfreiheit verleiten, dasselbe Gesetz, das alles Geschehen umschlingt, umschlingt auch ihn.

Diese gewichtigen Thesen des Determinismus sind in neuerer Zeit durch die empirischen Beobachtungen der Soziologie beleuchtet und, wie man glaubt, noch überzeugender begründet worden, scheint es danach doch, als ob sich die menschlichen Handlungen in ihrem Eintreffen ebenso wie das gesetzmäßige Naturgeschehen berechnen lassen, "als ob das Budget der jährlichen Verbrechen mit größerer Regelmäßigkeit als das der politischen Abgaben von der Menschheit bezahlt würde" (21). Einstweilen sind die Resultate der Soziologie noch so schwankend, daß sie nicht eigentlich verwertet werden können (22), und es ist kein Zweifel, daß die deterministische Ansicht überhaupt unseren unbefangenen Gefühlen widerspricht, weil, wenn sie recht hätte, alle unsere sittlichen Taten gründlich entwertet würden. Der Vertreter einer solchen Anschauung "wird die Befriedigung des Gewissens über eine gute Handlung und unsere Reue über einen sittlichen Fehler für ganz gleicher Art halten müssen mit den Lustgefühlen, die uns aus irgendeinem angenehmen Reiz entspringen, oder mit dem Ärger, den wir über Mißgriffe ohne alle Verletzung des Sittlichen empfinden. Er würde das ganze praktische Leben der Menschen völlig gleichartig einem Streit von Naturkräften ansehen, von denen jede nach allgemeinen Gesetzen hervorbringt, was sie hervorbringen kann" (23). So unsympathisch uns diese Anschauung ist, so wenig kann man ihr das Lob strenger Geschlossenheit versagen. Dagegen sind eigentlich alle Versuche, die man gemacht hat, Freiheit mit Notwendigkeit zu versöhnen, mißglückt. Es hilft nichts, mit KANT eine intelligible Freiheit anzunehmen, nach der wir in einem vorzeitlichen Stand das Gepräge unseres Charakters selbst erwählt hätten, um dann im Laufe unseres Lebens vollkommenabhängig zu sein, denn darauf kommt es uns gerade an, daß wir zu jeder Zeit unsere früheren Versehen ausgleichen und ein neues Leben anfangen können. Es ist nutzlos, wenn man mit einem anderen Begriff von Freiheit operiert und gesagt hat: "frei ist jedes Wesen, das keinem äußeren Zwang unterworfen, sich bloß nach der Konsequenz seiner eigenen Natur entwickelt" (24). Darin liegt ja gerade das Eigentümliche, das Verpflichtend des absoluten Wertes, daß er mit seiner Wirkung auf uns das Triebleben unserer angeborenen Natur durchkreuzt. Wir fühlen diese eigene, angeborene Natur gerade als etwas Fremdes, das niedergezwungen werden muß. Von einer Freiheit des Willens darf man nur dann reden, wenn man annimmt, daß der Wille von bestimmten Gründen mit Notwendigkeit nicht hervorgebracht wird, wir vielmehr zwischen verschiedenen entgegengesetzten Möglichkeiten wählen können, ohne durch irgendein Motiv gezwungen zu sein. Die Möglichkeit einer solchen Willensfreiheit läßt sich faktisch dartun; denn der Kausalnexus, dessen durchgängige Gültigkeit im Reich des Geschehens auch wir anerkennen, verlangt doch nur, daß jede Ursache ihre gesetzmäßig erfolgende Wirkung hat, und nicht auch, daß jede Ursache wieder durch eine andere Ursache bedingt ist. Mit demselben Recht, mit dem deterministische Interpreten des Kausalnexus  eine  letzte, unverursachte Ursache annehmen, nehmen wir unzählig viele solcher Ursachen an, die dann allerdings, einmal in den Weltlauf eingetreten, nach allgemein gültigen Gesetzen wirken (25). Diese Deutung des Kausalnexus hat dann allerdings die Schwierigkeit im Gefolge, daß der einmal entstandene freie Wille, in die Gesetzmäßigkeit des seelischen Lebens eingeschaltet, dem bereits vorhandenen, durch frühere Erfahrungen und Handlungen erworbenen psychischen Mechanismus nicht mehr als beherrschende Macht gegenübergestellt ist, und so scheint es dann LOTZE tatsächlich in der Vorlesung über Religionsphilosophie eine sehr kühne und kaum annehmbare Meinung zu sein, daß der Wille die Intensität seiner Wirkung frei bestimmen und die unwillkürlichen psychischen Antriebe zum Handeln überwinden kann (26). LOTZE mag gefühlt haben, wie dadurch ein wichtiges Stück seiner Freiheitslehre abgebröckelt wird, und scheint später entschieden die Ansicht vertreten zu haben, daß der Wille nicht bloß die Richtung seines Entschlusses, sondern auch die Intensität, mit welcher er dieselbe verfolgt, mit vollkommener Freiheit selbst bestimmt. (27). Es wird uns die Aufgabe gestellt, durch die Tat des Willens alle aus unserer psychischen Organisation entspringenden Hindernisse zu überwinden, also kann sie nicht unlösbar sein. Wenn daher die Rücksicht auf die durchgängige Geltung des Kausalgesetzes uns verbietet, von einer unbeschränkten Freiheit des Handelns zu reden, so ist doch ein gewissensgemäßes Handeln auf jeden Fall möglich. Die Willensfreiheit, ist schwierig zu verteidigen, und schließlich sind es nicht theoretische Gründe, sondern die inneren Erfahrungen des Gewissens, die unsere Überzeugung im Sinne des Indeterminismus, zur Annahme des Freiheitsgedankes, bestimmen (28). Diese Annahme hat enorme praktische Konsequenzen; denn sie ist schließlich doch die unerläßliche Voraussetzung für die Schöpfung wahrhaft ethischer Werte. LOTZE hat es nie geleugnet: auch ein Vertreter der deterministischen Weltanschauung kann absolute Werte produzieren, aber er hat es auch ebenso deutlich hervorgehoben, daß sich darin nur eine glückliche Inkonsequenz des menschlichen Lebens zeigt. Wer die Überzeugung hat, daß eine ewige, im Schaffen und Wiedervernichten schwelgende Urkraft auch den Menschen hervorbringt und ihn nach denselben mechanischen Gesetzen entstehen, handeln und vergehen läßt, der würde für sein praktisches Verhalten auch die Konsequenz ziehen müssen: "sich gehen zu lassen, wohin die Natur treibt und den ganz rätselhaften Funken von Selbständigkeit, den er in sich findet, mit Klugheit zur Erreichung und Steigerung des natürlichen Wohlergehens zu benutzen." (29)

Aus der Definition des absoluten Wertes ergibt sich, daß Glück und Seligkeit unserer Mitmenschen in Verbindung mit der Gewissensruhe für unsere eigene Person das Ziel unseres Handelns sein soll. Dieses überaus allgemeine Ziel würde jedoch alle richtunggebende Bedeutung einbüßen, wenn es sich nicht für die Praxis in eine Reihe von Einzelzielen zerlegen ließe. Wir bedürfen zum Handeln des Hinweises auf bestimmte Einzelgüter, die wir durch unser Handeln hervorbringen sollen, und dazu sind wiederum sekundäre Gesetze nötig, "von denen wir annehmen, daß sie alle aus diesem höchsten Prinzip des Wohlwollens fließen, zugleich aber die bestimmten Formen enthalten, unter denen allein ein menschliches Handeln unter den verwickelten Umständen des Lebens zur Erreichung des allgemeinen Besten beitragen kann." (30) Als sekundäre sittliche Gesetze könnte man etwa die 12 praktischen Ideen betrachten, auf die oben bereits hingewiesen wurde, aber es ist doch klar, daß auch diese große Zahl noch nicht die Erzeugung aller notwendigen Einzelgüter regeln kann, da die Wirklichkeit unendlich viel reicher ist, als selbst durch die umfassendste Einteilung angedeutet wird. Die Zielbestimmungen für das menschliche Handeln mögen daher der systematischen Bearbeitung nochsoviel Wertvolles bieten - wir erinnern namentlich an die von SCHLEIERMACHER gegebene, die LOTZE beifällig aufgenommen hat, und an die Einteilung nach Tugenden, Pflichten, Rechten, Gütern - besser ist es, auf die großen geschichtlichen Institutionen des Rechts und der Sitte hinzuweisen, in denen die ethischen Bestrebungen der Menschheit seit Jahrtausenden einen vielgestaltigen Ausdruck gefunden haben. Hier finden sich konkrete Ziele in Menge, zumal die geschichtlich entstandenen Gemeinschaften in ihren Ordnungen und Verhaltensweisen sich niemals mechanisch kopieren lassen, sondern durchgängig als inadäquate Erscheinungsformen des absoluten Wertes der Umbildung in einem sittlichen Sinn bedürfen. (31)

So unvollkommen diese Erscheinungsformen sind, so wenig sich ein lückenloser Fortschritt in ihrer Entwicklung aufzeigen läßt, so klar ist es doch, daß tatsächlich eine Entwicklung nach vorwärts stattfindet. In den allereinfachsten Formen menschlicher Geselligkeit, unter den Fischer- und Jägervölkern, sind nur einige wenige und nicht die wichtigsten Tugenden ausgebildet worden (32). Das Hirtenleben hat schon vollkommenere Formen gezeitigt, indem es die Menschen auf die Bedeutung zusammenhängender Arbeit hinwies und so die Ausbildung teilweise guter Sitten begünstigte. Durch den Übergang zum seßhaften Leben und die bald notwendig gewordene Teilung der Arbeiten sind alle ethischen Lebensformen in höchstem Maße verfeinert worden, aber der dadurch bedingte Standesunterschied und die vielfältigen Ungerechtigkeiten, die er im Gefolge hat, mußten immer wieder zu einer Neuordnung der ethischen Gemeinschaften anregen. Die Beachtung, die man dabei den wirtschaftlichen Verhältnissen geschenkt hat, ist durchaus berechtigt, nur darf man sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß durch kein System radikale Abhilfe gewährleistet wird. Auch unsere heutigen Gesellschaftsformen sind unvollkommene Erscheinungsweisen des absoluten Wertes, ohne daß die Gesellschaft als Kollektivsubjekt die Mittel hätte, alle Härten zu beseitigen; es bleibt daher unsere sittliche Verpflichtung, durch Akte des persönlichen Wohlwollens einzugreifen (33).

Wenn man die Entwicklung der ethischen Gemeinschaften betrachtet, so begeht man leicht den Fehler, daß man sich diese Entwicklung allzu mechanisch naturhaft vorstellt. Demgegenüber gilt es sich einzuprägen: nicht ein Kollektivsubjekt oder ein allgemeiner Geist handeln in der Geschichte, sondern einzelne Persönlichkeiten, und die hervorragenden unter ihnen sind es auch, die nahezu alle sittlich-religiösen Fortschritte der Menschheit in die Wege geleitet haben. Die beliebten Vergleiche zwischen ethischen Gemeinschaften und natürlichen Organismen sind daher nur mit größter Vorsicht zu gebrauchen (34), und immer wieder muß der Nachdruck darauf gelegt werden, daß die Hebung der Gesellschaftsformen von der Hebung der Moral, d. h. der Vervollkommnung des einzelnen Individuums, in erster Linie abhängig ist.

Unser ethisches Prinzip verbietet uns überhaupt die ethischen Gemeinschaften als solche zu überschätzen. Eine Handlung muß niemals darum getan werden, weil die Stimmenmehrheit oder Stimmeneinheit in der ethischen Gemeinschaft sie fordert, sondern weil das Gewissen des Einzelnen es so bestimmt. Soviele Nährstoffe wir auch aus den ethischen Gemeinschaften ziehen, so möglich die Übereinstimung vieler in einer ethischen Frage ist, so wichtig bleibt es doch, daß der Einzelne nur im Handeln nach seinem eigenen Gewissen absolute Werte produzieren kann. Als oberstes Gesetz für die Produktion derselben gilt: Handle deinem Gewissen gemäß!

Vieles in der Natur des absoluten Wertes ist uns problematisch geblieben. Wir wußten nicht genauer anzugeben, wie sich die ethische Idee mit dem sachlichen Bestand des Kunstwerks verbunden hat, daß dadurch der Eindruck des absoluten Wertes entstand, es war uns unklar geblieben, wie wir das faktische Vorkommen so vieler Unwerte, so vieler häßlicher oder wenigstens wertloser Gegenstände dem angenommenen Zweck des Weltgeschehens gegenüber rechtfertigen könnten; ja selbst die Möglichkeit ethische Werte zu produzieren, konnte gegen die Vertreter des konsequenten Determinismus nur mit einem Hinweis auf die komplizierten Gewissenstatsachen der Zurechnung und der Reue behauptet werden. Aber das Gute ist nicht bloß Objekt der Erkenntnis und Aufgabe für das menschliche Handeln, sondern auch Inhalt der religiösen Überzeugung; läßt es sich doch faktisch zeigen, daß die Tatsache des absoluten Wertes uns zu der Annahme eines höchsten, übersinnlichen, persönlichen Wesens führt. Mag der ontologische Gottesbeweis (35) als ein Versuch des Menschengeistes, der Gesamtheit alles Wertvollen durch die Realisierung des Gedachten eine objektive Wirklichkeit zu sichern, achtbar sein, mag das Vorkommen der Wechselwirkung uns zu der Annahme einer allumfassenden Substanz, des absoluten Prinzips der Welt, führen (36), letztlich sind es doch die uns aufgedrängten Tatsachen des Gewissens und des ästhetischen Gefühls, die uns am ehesten davon überzeugen: es steht eine persönliche Macht hinter dem Mechanismus des Weltgeschehens, die durch Vermittlung schöner Gegenstände und guter Handlungen auf uns einwirken will. Das Erlebnis eines absoluten, nicht von unserer subjektiven Eigentümlichkeit und der Schätzung unserer Mitmenschen bestimmten Wertes bildet die Brücke zum Glauben an einen persönlichen Gott, der durch seinen Willen die Erscheinungswelt ins Leben gerufen hat, daß sie eine Darstellung des Guten sei, des Guten, das von den persönlichen Geistern erkannt und ausgeübt, als Glück und Lust und Seligkeit genossen wird. Die Bedeutung dieser abschließenden Gottesidee für die Erkenntnis des absoluten Werts darf man jedoch nicht überschätzen. Sie löst uns die oben bezeichneten Probleme nicht auf, erklärt uns im Besonderen auch nicht das Vorkommen des Übels und des Bösen, dem wir so gern einen vernünftigen Sinn im Weltgeschehn unterlegen möchten (37). So wenig als die Harmonie der Welt im Großen, so wenig tröstet uns der Gedanke, daß die Übel etwa als die Mittel göttlicher Erziehungskunst zu verstehen sind. Wer dies meint, "denkt nicht an die Leiden der Tierwelt, nicht an die unbegreifliche Verkümmerung so vielen geistigen Lebens in der Geschichte, und beschränkt Gottes Allmacht; denn jede Erziehung wendet Übel nur an, weil es nicht anders geht" (38). Wer jedoch die Beschränkung der göttlichen Allmacht offen zugibt und sie etwa mit LEIBNIZ aus dem Gebundensein Gottes an ewige unumstößliche Wahrheiten erkärt, wird ebensowenig unser unbefriedigtes Fragen zum Schweigen bringen; denn wir haben doch immer wieder den Eindruck, daß dann dem Gott, auf dessen Freiheit und Allmacht uns so viel ankommt, eine Fessel angelegt ist, und wir halten es für wahrscheinlicher, daß das Böse nicht mit den bestimmenden Grundwahrheiten, sondern mit den bestimmten Einrichtungen der Wirklichkeit zusammenhängt, neben denen aufgrund derselben ewigen Wahrheiten auch andere Einrichtungen denkbar sind. "Wo ein unvereinbarer Widerspruch zwischen Gottes Allmacht und seiner Güte vorliegt, entscheiden wir uns dafür, daß unsere menschliche Weisheit zu Ende ist und daß wir die Lösung nicht begreifen, an die wir glauben" (39)

Ist demnach die postulierte Gottesidee für die Erweiterung unserer Erkenntnis nur von beschränktem Wert, so ist doch der persönliche Gottesglaube des einzelnen die zentrale Triebkraft des guten Handelns und gibt uns auch für das Verständnis des absoluten Wertes einen befriedigenderen Abschluß, als wir ihn ohne denselben finden könnten. Man hat freilich den Versuch gemacht, bei voller Anerkennung der verpflichtenden Hoheit des Guten eine sittliche Weltordnung anstelle eines persönlichen Gottes zu setzen (besonders FICHTE), aber es ist allemal verkehrt, von einer Ordnung zu reden, wenn man nicht nachweisen will und kann, wer geordnet hat und warum die einzelnen, grundverschiedenen Erscheinungsformen des absoluten Wertes zur beziehungsreichen Einheit einer moralischen Weltordnung zusammengefaßt werden dürfen. Eine Ordnung, die von den Tatsachen leidet und ihrem Leiden, ihrer Natur gemäß zur Änderung der Tatsachen zurückwirkt, kann sich vom wahren Begriff eines Wesens kaum unterscheiden, und es ist eigentlich nur ein starres Festhalten an ungeeigneten Worten, wenn man das persönliche Element, das sie allemal in sich enthält, nicht zum Ausdruck bringen will. (40) Wir würden ja ohne die Gottesidee den Eindruck des absoluten Wertes zur Not erklären, etwa von sachlichen und psychologischen Tatbeständen reden können, die jene zur Entwicklung bestimmten Anlagen in uns durch mechanische Einwirkungen emportreiben, aber wir würden dabei weder etwas darüber auszusagen vermögen, was diese Tatsachen in sich selbst sind, noch wie sie in anderen Wesen wirken, und unsere unbezwingliche Sehnsucht, das Gute verehren und lieben zu können, würde kaum gestillt werden (41). Der Gottesglaube gibt uns dagegen die fruchtbare Anleitung, in den Erscheinungsweisen des Guten Werte anzuerkennen, die Gottes beifälliges Urteil zu solchen gemacht hat, und aus seiner allumfassenden Macht ihren verpflichtenden Eindruck zu erklären. Es fragt sich nun, in welchem Verhältnis das Gute zu Gott selbst steht, und die Untersuchung darüber läuft auf die andere, oft angestellte, hinaus, die sich mit dem Verhältnis zwischen Gott und den ewigen unbeweisbaren Wahrheiten unserer Erkenntnis beschäftigt. Entsprechend den Theorien über dieses Verhältnis werden verschiedene Möglichkeiten zur Diskussion gestellt werden.

Von der Ehrfurcht gegen die unbedingte Hoheit des Guten ist eine Anschauung eingegeben, die dieses wie eine Macht betrachtet, die, über Gott selbst stehend, notwendig von ihm anerkannt werden muß. Sowie die ewige Wahrheit von Anbeginn feststeht, ohne durch willkürliche göttliche Satzungen gestiftet zu sein, so ist das Gute als eine schlechthin gültige Ordnung aufzufassen, der auch die lebendige Wirklichkeit Gottes unterworfen ist. Danach bestimmt nicht Gott, was gut und böse ist, sondern er erkennt nur an, was durch sich selbst bereits feststeht. Dieselben Bedenken, die gegen diese Deutung der ewigen Wahrheiten sprechen, sprechen selbstverständlich auch gegen die bezeichnete Auffassung vom absoluten Wert. Einmal liegen sie darin, daß man in einem so gebundenen Gott nicht den allmächtigen Schöpfer aller Dinge wiederfinden kann, und dann auch darin, daß irgendwelche außer und über Gott bestehende Wahrheiten, Verhältnisse und Ordnungen in das Gebiet des Undenkbaren gehören, oder doch wenigstens völlig in der Luft schweben. (42)

Die Gegenthese läßt der Allmacht Gottes allerdings allen Spielraum, wenn sie das Gute als eine willkürliche, göttliche Stiftung bezeichnet (43). Das Gute ist danach gut, weil Gott selbst es so geordnet hat, nichts hätte ihn hindern können, ganz entgegengesetzte Ordnungen festzustellen. So wichtig uns die Allmacht Gottes ist, so wenig können wir uns doch mit dieser Deutung anfreunden; denn ein Gott, der etwas anderes als Liebe, Edelmut, Aufopferung etc., etwa Haß, Selbstsucht, Grausamkeit zum absoluten Wert hätte stempeln können, wäre ein solcher, vor dem wir keine Ehrfurcht, zu dem wir keine Liebe, kein Vertrauen haben könnten, und seine Stiftungen würden nicht die Hoheit eines durch sich selbst verpflichtenden Idealis besitzen. Man würde dann das Gute tun, weil die Vernachlässigung der betreffenden göttlichen Satzungen durch Furcht widerraten und durch Reue bestraft würde, das wären aber ganz andere Beweggründe, als sie sich uns bisher aus der Untersuchung des absoluten Wertes ergaben. Endlich würde auch ein Gott, der in denkbaren Zeiten seiner Existenz "gut und böse" noch nicht festgesetzt hatte, ein auch theoretisch kaum zu begreifendes Wesen sein, weil eine durch nichts bestimmte Allmacht sich so wenig als eine Bewegung ohne Richtung denken läßt.

Eine dritte Auffassung sucht die Mängel der beiden vorigen zu vermeiden und würde das Gute etwa als eine notwendige Konsequenz des göttlichen Wesens bezeichnen (44). Sie kommt dem Richtigen nahe, drückt es jedoch ein wenig ungeschickt aus, denn: wenn ich von notwendigen Konsequenzen des göttlichen Wesens spreche, so muß ich diesen wenigstens in Gedanken ein anderes Etwas gegenüberstellen, dessen Entspringen aus derselben Natur nicht folgegerecht geschehen würde. Dazu bedürfen wir dann eines allgemeinen, durch sich selbst gültigen Maßstabs, an dem wir erkennen könnten, was notwendig aus dem Wesen Gottes entspricht und was folglich nicht aus ihm entspringen kann. Wir wären also im Kreis herumgegangen, denn wir ständen wieder vor der Notwendigkeit, eine unbedingte erste Wahrheit als auch für Gottes Wesen verbindlich anzusetzen.

Wollen wir das Verhältnis zwischen Gott und dem Guten richtig bestimmen und korrekt ausdrücken, so dürfen wir nicht trennen, was innerlich zusammen gehört. Ist Gott nicht bloß die gedachte Größe, die in unserem Gedankengebäude den Schlußstein bildet, sondern der persönliche, in religiösem Glauben ergriffene Gott, dann denkt man bereits im Begriff von ihm das Gute als seine bleibende Wirkungsweise mit. Wenn man in begrifflicher Darstellung Gott und das Gute voneinander trennt, so fällt man allemal damit kein synthetisches, sondern nur ein analytisches Urteil (45).

Das Gute, das durch Gottes Sein besteht, ist selbstverständlich keine sozusagen neutrale Macht in ihm, sondern analog dem Guten in uns, eine Grundrichtung seines Willens, Triebfeder seines Handelns, das auf Beglückung und Beseligung persönlicher Geister abzielt. Treffender kann man daher Gottes Wesen nicht bestimmen, als es durch das einfache christliche Bekenntnis geschieht (46): Gott ist die Liebe. Darum, weil Gott Liebe ist, schafft er eine Welt, die ihm Objekte für seine Liebe darbietet. Warum die Welt gerade so und nicht anders ist, warum sich hier und dort ausgeprägte Unwerte und schreiende Widersprüche zeigen, das wissen wir nicht zu sagen, aber die Art und Weise, wie uns Gott beseligt, kann doch noch durch einige Worte beleuchtet werden. Gott beseligt so, daß er nicht einzelne Triebe in uns befriedigt, sondern die Gesetzgebung über alle Lust, unser Gewissen. Dabei ist interessant zu beobachten, wie der Genuß des absoluten Wertes an unsere eigene Tätigkeit geknüpft ist; denn die Erfahrung lehrt, daß auch da, wo es sich nur um die Anschauung eines schönen Naturgebildes handelt, keine uns fertig verliehene, sondern eine in sittlicher Arbeit, im Kampf des Gewissens mit den übrigen Reizen unserer Natur erworbene Ausstattung den Genuß vermittelt. Gott erzieht die Menschen für den Genuß des absoluten Wertes, indem er ihnen die Fähigkeit zwischen Gut und Böse zu unterscheiden nur als Anlage mitgibt. Einzelne hervorragende Menschen, die wohl unter besonderer göttlicher Leitung stehen, produzieren mit der ihnen verliehenen Kraft zum Handeln absolute Werte, und in der Beurteilung und Nachbildung derselben entwickelt sich bei andern die Anlage zu höherer Vollendung. Die Entwicklung geht ungleichmäßig und derart vonstatten, daß sich auch bei relativer Anerkennung des absoluten Wertes ein gewisses Maß von Seligkeit erleben läßt. Ihren Höhepunkt würde die Entwicklung da erreicht haben, wo die Menschen bei völliger Anerkennung des absoluten Wertes im Fühlen und Handeln allen Geschehens aus Liebe Gottes gegen sie hervorgerufen wüßten. Leider hat es LOTZE nicht zusammenfassend ausgesprochen, wie er sich das Verhältnis zwischen dem absoluten Wert in Gott und seinen irdisch sichtbaren Erscheinungsformen denkt. Das öfter erwähnte Verhältnis zwischen der Substanz und den Einzeldingen könnte die Annahme nahelegen, daß Gott als die zusammenfassende Einheit aller Einzelerscheinungen des absoluten Wertes zu denken sei, aber LOTZE hat in seinen eigenen Worten derartige Vergleiche nicht nahegelegt. Es bleibt nur übrig, die Wesensverwandtschaft zwischen Gott und allem Guten in der Welt zu konstatieren und noch einmal festzustellen, daß auch zum Vollbegriff des absoluten Wertes die Anerkennung durch ein genießendes Bewußtsein gehört. Alle Tatbestände sind nur Zwischenglieder, die für sich nichts bedeuten; der absolute Wert ist die Liebe Gottes, die erst in der Beseligung persönlicher Geister ihr Ziel erreicht hat. Die Seligkeit, die Gott ihnen schenkt, ist in erster Linie Gewissensruhe, aber so wenig das Gewissen im geistigen Leben isoliert dasteht, so wenig wird eine glückliche Ausgestaltung aller Lebensbeziehungen fehlen. Wo sie nicht ist, hoffen wir auf einen Ausgleich im jenseitigen Leben: Wir hoffen und glauben, "daß es noch einen höheren Zusammenhang gibt, in welchem das Vergangene nicht bloß nicht ist, in welchem vielmehr alles, was der zeitliche Verlauf der Geschichte unerreichbar voneinander trennt, in einer unzeitlichen Gemeinschaft mit- und nebeneinander ist, in welchem endlich die Güter, die dieser Verlauf erzeugte, auch dem nicht verloren sind, der sie gewinnen half, ohne sie zu genießen." (47)

Damit haben wir die Hauptstücke dessen genannt, was man zur "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" zählt, und es ergibt sich deutlich, daß die Wertlehre ihren Abschluß in der Religionsphilosophie findet.
LITERATUR - Franz Chelius, Lotzes Wertlehre, Erlangen 1904
    Anmerkungen
    1) Enzyklopädie, Seite 114; Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 9
    2) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 9
    3) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 9f
    4) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 7
    5) Mikrokosmus II, Seite 199f
    6) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 13
    7) Vorlesungen zur prakt. Philosophie, Seite 10f
    8) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 12
    9) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 14
    10) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 36, Anm. 3
    11) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 36, Anm. 3
    12) Vorlesungen zur prakt. Philosophie, Seite 12
    13) Mikrokosmus III, Seite 615
    14) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 15
    15) Mikrokosmus, Seite 610
    16) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 17
    17) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 22
    18) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 22; Enzyklopädie Seite 114
    19) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 25
    20) Vorlesungen prakt. Philosophie, Seite 16
    21) Mikrokosmus III, Seite 74
    22) Mikrokosmus III, Seite 79f
    23) Vorlesungen prakt. Philosophie, Seite 18
    24) Vorlesungen prakt. Philosophie, Seite 18
    25) Mikrokosmus I, Seite 292f
    26) Vorlesungen zur Religionsphilosophie, Seite 68
    27) Vorlesungen zur prakt. Philosophie, Seite 27
    28) Vorlesungen zur Religionsphilosophie, Seite 68
    29) Mikrokosmus II, Seite 455
    30) Vorlesungen prakt. Philosophie, Seite 15
    31) Vorlesungen prakt. Philosophie, Seite 28f
    32) Mikrokosmus II, Seite 426f
    33) Vorlesungen prakt. Philosophie, Seite 60
    34) Vorlesungen prakt. Philosophie, Seite 43; Mikrokosmus III, Seite 66f
    35) Mikrokosmus III, Seite 560
    36) Mikrokosmus III, Seite 27
    37) Mikrokosmus III, Seite 610f
    38) Mikrokosmus III, Seite 610f
    39) Mikrokosmus III, Seite 611
    40) Mikrokosmus III, Seite 564f
    41) Mikrokosmus III, Seite 563
    42) Mikrokosmus III, Seite 582f
    43) Mikrokosmus III, Seite 591
    44) Mikrokosmus III, Seite 585
    45) Mikrokosmus III, Seite 586
    46) Mikrokosmus III, Seite 616
    47) Mikrokosmus III, Seite 50