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ERICH BECHER
Philosophische Voraussetzungen
der exakten Wissenschaften

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Vorwort / I. Einleitung
II. Der Wert der Hypothesen
III. Kritik der Hypothese von der Erkennbarkeit
IV. Prüfung der kritischen Bedenken
V. Erkenntnisse über die Außenwelt

"Der naiven Überzeugung gilt das Rot der Rose, welches ich sehe, als identisch mit dem Rot, das die Rose selbst hat."

"Soviel scheint mir aber sicher, daß der unbefangene Mann aus dem Volk die Wahrnehmungen der Farbe, der Wärme, der Glätte, der Rauhigkeit, des Geruchs, des Geschmacks, auch des Tones, selten als Wirkung einer Außenwelt auffaßt. Er meint vielmehr in diesen Wahrnehmungen direkt die Eigenschaften der Außenwelt selbst zu erfassen. Das Rot, das er sieht, ist das Rot der Rose selbst, nicht eine Wirkung des letzteren."

III. Kritik der Hypothese von der
Erkennbarkeit und Realität der Außenwelt.

Die für die Beurteilung von Hypothesen gewonnenen Gesichtspunkte wollen wir in den folgenden Abschnitten auf die Hypothese der Einzelwissenschaften par excellence anwenden, d. h. auf die Annahme der Existenz einer von der Wahrnehmung unabhängigen, mehr oder weniger erkennbaren Außenwelt. Der naive Mensch wie der einzelwissenschaftliche Forscher nehmen in gleicher Weise an, daß die Gegenstände der Außenwelt, die körperlichen Dinge, nicht nur dann sind, wenn ein wahrnehmendes Wesen sie sieht, tastet, hört usw. Die Wahrnehmungen sind nach der Ansicht des schlichten Menschenverstandes nur etwas, was sich ereignet, wenn ein körperliches Ding in bestimmte Beziehungen, nämlich in Wahrnehmungsbedingungen zu einem wahrnehmungsfähigen Wesen gelangt. Der Körper selbst ist vom Wahrgenommenwerden völlig unabhängig; die Wahrnehmung ist aber vom Ding der Außenwelt abhängig. Sie kommt nur zustande, wenn ein körperlicher Gegenstand sich in nicht zu großer Entfernung von unserem Körper befindet, in unserem Gesichtsfeld ist usw.

Das wissenschaftliche Denken faßt das Bedingtsein der Wahrnehmung durch die Gegenstände der Außenwelt auf als ein Verursachtsein. Für eine von erkenntnistheoretischen Meinungen nicht angefochtene Psychologie ergeben sich die Sinneswahrnehmungen als Wirkungen von Vorgängen, die sich in der Außenwelt abspielen, den Reizen. Der wahrgenommene Körper verursacht die Wahrnehmung als Wirkung.

Solange die Überzeugung herrscht, daß die Wirkung der Ursache im Grund gleich oder sicherlich doch ähnlich sein muß, (1) ist diese Auffassung der Wahrnehmung als einer Wirkung der Außenwelt vereinbar mit der Ansicht, daß die Wahrnehmung der verursachenden Außenwelt gleich oder ähnlich sei. Allerdings liegt doch schon eine Variation der naiven Auffassung vor, soweit von einer solchen überhaupt gesprochen werden darf. Der naiven Überzeugung gilt das Rot der Rose, welches ich sehe, als identisch mit dem Rot, das die Rose selbst hat. Es existiert für sie nur das eine Rot und das sehe ich gelegentlich. (2) Die Außenwelt und die Wahrnehmung derselben sind inhaltlich und numerisch identisch, kann man sagen. Wird aber die Wahrnehmung als Wirkung der Außenwelt aufgefaßt, so tritt anstelle dieser auch numerischen Identität von Außenwelt und Wahrnehmung derselben eine nur inhaltliche Gleichheit oder Ähnlichkeit. Das Rot, welches ich sehe, ist nicht mehr das Rot der Rose selbst, sondern eine Wirkung der roten Farbe der Rose, die zwar dieser Farbe als ihrer Ursache gleich oder ähnlich, aber nicht mit ihr numerisch identisch ist. Die Wahrnehmung ist ein  Abbild  des wahrgenommenen Gegenstandes, das diesem inhaltlich gleich oder doch ähnlich ist. Anstelle der Einheit der Farbe in körperlichem Gegenstand und Wahrnehmung tritt eine Zweiheit von Farbe am Körper und gesehener Farbe.

Diese erste wissenschaftliche Modifikation der kaum einmal zum vollen Bewußtsein gelangenden naivsten Ansicht bedeutet einen beträchtlichen Fortschritt. Die Überzeugung, daß das Rot der Rose und das Rot, welches ich sehe, ein und dasselbe sind, kann leicht widerlegt werden. Sehen zwei Menschen gleichzeitig dieselbe Rose, der eine direkt, der andere durch ein trübes Glas, so sind die beiden roten Farben, die gesehen werden, nicht einmal inhaltsgleich, also auch nicht numerisch identisch. Sind die beiden gesehenen roten Farben nicht miteinander identisch, so können sie auch nicht numerisch identisch sein mit dem Rot der Rose selbst. Die numerische und inhaltliche Identität von Wahrnehmung und wahrgenommenem Gegenstand der Außenwelt ist unmöglich, weil zwei Wahrnehmungen desselben Gegenstandes, auch wenn sie gleichzeitig erfolgen, nicht inhaltlich und daher auch nicht numerisch identisch untereinander zu sein brauchen. Sind sie aber untereinander nicht identisch, so können sie auch nicht beide mit einem dritten, dem Gegenstand der Außenwelt, identisch sein. Diese Schwierigkeit ist durch den zweiten Standpunkt beseitigt, der in der Wahrnehmung eine Wirkung der Dinge der Außenwelt sieht. Eine Wirkung ist ja stets bedingt durch mehrere Umstände, durch eine Vielheit von Ursachen. Wenn sich mehrere Wahrnehmungen desselben Gegenstandes der Außenwelt gleichen oder ähnlich sind, so kann das Gleiche, Übereinstimmende in den verschiedenen Wahrnehmungen durch den  einen  Gegenstand der Außenwelt verursacht sein, das Abweichende in ihnen aber auf die daneben noch mitwirkenden Ursachen zurückgeführt werden. Wenn eine rote Rose bei mehreren Wahrnehmungen verschieden rot gesehen wird, so mag die Verschiedenheit des gesehenen Rot durch die Verschiedenheit anderer Wahrnehmungsumstände bedingt sein. Daß aber die Rose bei den verschiedenen Wahrnehmungen immerhin doch jedesmal rot gesehen wird, wäre darauf zurückzuführen, daß in diesem Punkt die Wirkung von der roten Farbe des Gegenstandes verursacht ist und daher mit dieser Ursache übereinstimmen, ihr gleichen muß. Es wäre also alles dasjenige dem wahrgenommenen Gegenstand zuzuschreiben, was in wiederholten Wahrnehmungen des Gegenstandes übereinstimmend ist. Ein Körper, der bei wiederholten Berührungen kalt erscheint,  ist  kalt; ein Ding; das bei wiederholten optischen Wahrnehmungen blau erscheint,  ist  in Wirklichkeit, als Gegenstand der Außenwelt, blau. (3)

Indessen treten bei einer genaueren Anwendung des soeben ausgesprochenen Prinzips neue Schwierigkeiten auf. Ich komme aus einem heißen Zimmer und betaste mit allen Fingern einen Körper. An allen Fingern habe ich Wahrnehmungen der Kälte. Nach unserem Grundsatz muß ich also dem Körper Kälte zuschreiben, d. h. etwas, was meiner Wahrnehmung Kälte gleicht oder ähnlich ist. Habe ich aber vor der Berührung des Körpers die eine Hand in heißes, die andere in sehr kaltes Wasser getaucht, so nehme ich mit der ersteren Kälte, mit der letzteren Wärme bei der Berührung wahr. Ich kann die Berührung mit verschiedenen Fingern der einen und anderen Hand vornehmen und so mehrere Kälte- und mehrere Wärmewahrnehmungen erhalten. Soll ich nun Kälte oder Wärme dem Körper zuschreiben? Beide Wahrnehmungen sind wiederholt zu machen. Sowohl Wärme als auch Kälte müßten also dem Gegenstand der Außenwelt zukommen. Eine rote Rose gibt direkt rote Gesichtswahrnehmungen durch weißes und rotes Glas gesehen, graue oder doch wenig farbige durch gelbes, grünes, blaues gesehen. Ist also die Rose selbst an derselben Stelle rot und grau, d. h. so rot und so grau, wie unsere Empfindungen Rot und Grau? Für unsere Wahrnehmung ist eine Fläche, die rot ist, nie zugleich grau. Wir können uns auch nicht vorstellen, daß etwas, eine Rose, an derselben Stelle zugleich rot und grau, ebensowenig, daß ein Körper zugleich warm und kalt sei.

Nicht bei allem, was wir den Gegenständen der Außenwelt zuschreiben, kommen wir in gleiche Verlegenheiten. Ein ausgedehnter Körper erscheint nicht bei Gelegenheit einmal zugleich nicht ausgedehnt. Die Ausdehnung kann zu- und abnehmen, aber nicht verschwinden, ohne daß der Körper überhaupt aus der Wahrnehmung verschwindet. (4)

Auch ist die Ausdehnung durch die Bedingungen der Wahrnehmung nicht so in ein konträres Gegenteil umkehrbar, wie das bei Wärme und Kälte der Fall war. Es besteht hier, wie es scheint, ein Unterschied, der eine genauere Untersuchung erheischt.

Zum zweiten Standpunkt waren wir gelangt, indem wir voraussetzen, daß die Wirkung der Ursache gleichen oder ähnlich sein muß. Die Voraussetzung ist durch HUMEs und KANTs Untersuchungen als irrig erwiesen worden. Die Wirkung braucht der Ursache durchaus nicht zu gleichen oder ihr ähnlich zu sein. Dasjenige an einem Gegenstand der Außenwelt, was die Wahrnehmung der roten Farbe, der Wärme bewirkt, braucht nicht selbst dieser Rot- der Wärmewahrnehmung zu gleichen. Es kann etwas ganz anderes sein. Es ist gar kein Grund zur Annahme einer Gleichheit oder Ähnlichkeit zwischen der Ursache der roten Farbe in der Außenwelt und der Wahrnehmung Rot vorhanden. Eine solche Übereinstimmung müßte uns daher als völlig "zufällig" erscheinen.

Zum gleichen Resultat führt auch eine genauere Untersuchung der kausalen Vorgänge bei der Wahrnehmung. Wenn ich einen kalten Körper betaste, so wirkt dieser Körper auf meine Haut und damit auf meine Nerven. Das, was sich nun im Nerv als Wirkung abspielt, ist schon etwas ganz anderes als die Eigenschaft des Dings, die sie hervorrief. Die Wirkung pflanzt sich fort vom peripheren Nervenende bis zur Großhirnrinde, d. h. es spielt sich ein sehr komplizierter Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen ab. Dem Vorgang in der Großhirnrinde entspricht die Wahrnehmung "Kälte". Man weiß nicht einmal, ob dieses "Entsprechen" von Wahrnehmung und Großhirnrindenvorgang als ein kausaler Zusammenhang aufzufassen ist; weiß man doch nicht einmal, ob die Wahrnehmung nach, gleichzeitig mit oder - so paradox das klingen mag - vor dem Rindenvorgang zustande kommt. Wir brauchen hier die Frage nach Parallelismus, Wechselwirkung oder irgendeiner sonstigen Hypothese nicht zu untersuchen. Soviel ist jedenfalls klar, daß die direkte Wirkung eines körperlichen Dings nicht die Wahrnehmung desselben ist. Wem sollte nun diese Wahrnehmung der Kälte etwa gleich sein? Sicherlich nicht dem, was den Nervenreiz bewirkt. Denn es müßte uns als ungeheurer Zufall erscheinen, daß nach einer so langen Reihe von kausalen oder anderen Zusammenhängen in der Wahrnehmung, dem Endglied, wieder etwas zustande käme, was dem Anfangsglied gleich oder ähnlich wäre.

Es ergibt sich überdies sicher, daß dieser Zufall nicht immer besteht. Der Wahrnehmungsvorgang hängt - einerlei wie - mit dem Großhirnrindenvorgang und damit sekundär mit dem Nervenvorgang zusammen. Der letztere wird erst durch den Reiz eines körperlichen Dings bewirkt. Die Wahrnehmung wird vom nervösen Vorgang also direkt, vom Reiz nur indirekt abhängig sein. Auf den Großhirnrindenvorgang kommt es an, nicht darauf, wie dieser zustande kommt. Die Erfahrung zeigt, daß gleiche nervöse Prozesse durch verschiedene Reize ausgelöst werden können. Der Sehnerv kann durch Licht, durch Druck, durch Elektrizität gereizt werden; immer entsteht ein Vorgang im Nervensystem, dem eine Lichtempfindung entspricht. Das Gesetz von den spezifischen Sinnesenergien gibt die Verallgemeinerung dieser Erfahrung. Es können selbst Vorgänge im Gehirn zustande kommen, denen "Wahrnehmungen" entsprechen, wenn keine oder nur ganz untergeordnete äußere Reize vorhanden waren, wie im Traum, bei Halluzinationen. Wir nehmen aus guten Gründen an, daß auch in diesen Fällen wenigstens zugehörige Großhirnrindenvorgänge bestehen; auch das ist nur induktiv-analogisch erschlossen.

Soviel ist jedenfalls klar, daß von einer inhaltlichen Gleichheit oder Ähnlichkeit zwischen einem Ding der Außenwelt und seiner Wahrnehmung nicht die Rede sein kann. Sehe ich eine Rose rot, so wird die Rose nicht in der Außenwelt rot sein, d. h. nicht dem gleichen, was ich rot in der Wahrnehmung nenne; durftet sie in charakteristischer Weise, so darf ich nicht glauben, daß ihr dieser Duft auch in ähnlicher oder gar gleicher Weise zukommt, wenn keiner da ist, den Duft zu riechen. Fühlen sich die Blätter weich und glatt an, so darf ich nicht meinen, etwas dieser Wahrnehmung "weich" und "glatt" Ähnliches kommt den Blättern auch zu, wenn keine Hand sie tastet.

Man drückt den Sachverhalt so aus, daß gesagt wird, Farben, Gerüche, Tastwahrnehmungen usw. sind subjektiv, kurz, die Qualitäten der Empfindung sind lediglich subjektiv. Die Wissenschaft hat die Subjektivität der Sinnesqualitäten schon früh erkannt. Die neuere Physik hat seit ihrem Aufblühen diese Erkenntnis sich zu eigen gemacht. Und diese Erkenntnis ist zum mächtigen Antrieb für die Konstruktion der mechanischen Naturauffassung geworden. Für GALILEI und DESCARTES steht diese Auffassung bereits fest. LOCKE, der philosophische Vorarbeit leisten will für die großen Naturforscher seiner Zeit (5), gibt nur deren herrschende Lehre wieder in seiner bekannten Formulierung von der Subjektivität der sekundären Qualitäten.

Aber die Naturwissenschaft hat nur  die  Konsequenzen gezogen, zu denen sie notwendig gedrängt wurde. Sie hat nicht den ganzen Inhalt der Wahrnehmung preisgegeben. Gewiß, Farbe, Ton, Geruch usw. darf man nicht ohne weiteres von der Wahrnehmung auf die Außenwelt übertragen, weil ihre Abhängigkeit von subjektiven Faktoren zu offenbar ist. Aber wir sahen, daß es mit anderen Bestandteilen der Wahrnehmung eine andere Bewandtnis hat. Freilich ist die Ausdehnung, die Figur eines Körpers auch nicht unabhängig vom wahrnehmenden Menschen. Aber die Sache liegt hier doch anders. Ein Körper konnte rot und nicht rot sein, sich warm und kalt anfühlen zu gleicher Zeit. Aber ausgedehnt und nicht ausgedehnt können wir einen Körper nicht gleichzeitig wahrnehmen. Solange wir den Körper überhaupt wahrnehmen, scheint er ausgedehnt wenigstens räumlich zu sein. (6)

Noch mehr! Wir können uns gut vorstellen, daß ein Körper warm ist, daß er nicht kalt ist, daß er nicht rot und nicht blau ist. Versuchen wir dagegen, uns einen Körper als unausgedehnt vorzustellen, so gelingt das nicht. Wollen wir also überhaupt die körperliche Außenwelt behalten, so scheint es, dürfen wir auf die Ausdehnung derselben verzichten. (7)

Und es gelingt der Naturwissenschaft, die Ausdehung der körperlichen Welt beizubehalten, ohne in Widersprüche zu geraten. Jene alten Sophistereien von der begrenzten oder unbegrenzten Teilbarkeit eines Ausgedehnten können auf die empiristische Naturforschung keinen Eindruck machen. Das mathematische geschulte Denken merkt leicht, wobei der Fehler steckt. Die Naturwissenschaft nimmt also an, daß räumliche Beziehungen den Dingen von eckiger Gestalt, so ist es auch in der Außenwelt eckig. Sehen wir, daß an einer Stelle des Raumes, die ein Körper einnimmt, kein anderer sein kann, so ist anzunehmen, daß auch in der Außenwelt die Körper undurchdringlich undurchdringlich sind.

Doch geht die Übertragung der räumlichen Eigenschaften der Wahrnehmung auf die Außenwelt nicht immer so ohne weiteres. Derselbe Körper, ein Würfel etwa, den ich in der Hand halte, ist in meiner optischen Wahrnehmung bald größer, bald kleiner. In der Tastwahrnehmung bleibt dagegen seine Größe konstant, wenn ich ihn mit der Hand dem Auge nähere und von ihm entferne. Eine quadratische Blechplatte will ich mit vier Fingerns an den vier Ecken fassen und vor dem Auge bewegen. Für meine Tastwahrnehmung bleibt die Platte im wesentlich, wie sie ist, viereckig quadratisch. Aber in der Gesichtswahrnehmung habe ich bald ein Quadrat, bald einen Rhombus, bald ein Paralleloggramm, selbst ein ganz unregelmäßiges Viereck und eine Linie, alles bald größer, bald kleiner. Welcher Wahrnehmung soll ich Vertrauen schenken? Der wandelbaren Gesichts- oder der konstanten Tastwahrnehmung? Der wandelbaren Gesichts- oder der konstanten Tastwahrnehmung? Wird die Platte in der Außenwelt bald quadratisch, bald rhombisch, dann einmal zur größeren oder kleineren Geraden? Oder bleibt die Platte in der Außenwelt unverändert? Wir wissen, diese Annahme wird vorgezogen. Weshalb verdient sie den Vorzug? Weil sie einfacher ist? Nein, vor allem, weil sie wahrscheinlicher ist. Denn für die Variabilität der optischen Wahrnehmung finden wir eine Begründung im Wechsel der Wahrnehmungsgegenstände, während für die Tastwahrnehmung diese Umstände im gedachten Fall ziemlich konstant sind und bei ihr die Wahrnehmungsbedingungen wenig variieren. (8)
LITERATUR - Erich Becher, Philosophische Voraussetzungen der exakten Wissenschaften, Leipzig 1907
    Anmerkungen
    1) Die Annahme, daß Ursache und Wirkung gleich oder doch ähnlich sein müßten, deckt sich natürlich nicht immer mit der anderen, nach der aus der Ursache die Wirkung und aus der Wirkung die Ursache analytisch-rational ableitbar ist. Beide Annahmen sind von großem Einfluß gewesen und oft zusammengefallen. So muß z. B. bei ARISTOTELES der geformte Stoff der Form, die Wirkung der Forumursache gleichen und aus ihr mehr oder weniger ableitbar sein. Der Satz, daß Bewegung nur Bewegung bewirken kann, nimmt auch an, daß in diesem Fall die Wirkung der Ursache gleicht.
           Nicht erst auf wissenschaftlichem Boden, sondern schon im naivsten Volksglauben finden wir die Überzeugung, daß die Wirkung der Ursache gleichen, ihr ähnlich sein muß. In der Volksmedizin spielt diese Annahme ihre Rolle. Belege hierfür findet man z. B. bei MACH, Wärmelehre, Seite 433. Wie die Überzeugung der Gleichheit oder Ähnlichkeit von Ursache und Wirkung entstehen konnte, ist leicht ersichtlich. Feuer bewirkt Feuer usw. Dazu kommt die Verwandtschaft von Wirkung und Erzeugung. Die Wirkung gleicht der Ursache, wie das Kind dem Vater.
           Schon die Beispiele der Bewegung und des Feuers zeigen, daß in der Annahme einer gewissen Ähnlichkeit oder Übereinstimmung von Ursache und Wirkung ein richtiger Kern steckt. Die Münze gleicht auch der Matrize. Natürlich bleibt dabei der Kausalzusammenhang durchaus synthetisch. Damit wird aber der Ursache nicht jede Übereinstimmung mit der Wirkung zu nehmen sein. Ein dreifaches Streichen eines Bleistiftes über Papier ruft drei Striche hervor. Derartige Übereinstimmungen sind, wie im folgenden zu zeigen ist, wichtig für die Frage nach der Erkennbarkeit der Außenwelt
    2) Es ist nicht ganz einfach, die Auffassung des gemeinen Menschenverstandes festzustellen. Durch die notwendigen Fragestellungen wird der unbefangene Standpunkt schon leicht gestört und eine Reflexion über das Außenweltsproblem herbeigeführt, die zu Umdeutungen führen kann.
           Soviel scheint mir aber sicher, daß der unbefangene Mann aus dem Volk die Wahrnehmungen der Farbe, der Wärme, der Glätte, der Rauhigkeit, des Geruchs, des Geschmacks, auch des Tones, selten als Wirkung einer Außenwelt auffaßt. Er meint vielmehr in diesen Wahrnehmungen direkt die Eigenschaften der Außenwelt selbst zu erfassen. Das Rot, das er sieht, ist das Rot der Rose selbst, nicht eine Wirkung des letzteren.
           Hier ist aber doch eine Einschränkung zu machen. Erhält jemand einen kräftigen Stoß, so wird der dadurch hervorgerufene Gesamtbewußtseinszustand als Wirkung, als subjektiv aufgefaßt. Sobald Gefühle mit den Wahrnehmungen verbunden sind, kommt der Gedanke, daß  Wirkungen  der Außenwelt vorliegen. Darin zeigt sich, daß die Gefühle den subjektiven Charakter gegenüber den Empfindungen tragen. Das Gefühl wird sofort auf den eigenen Zustand bezogen und daher als eine Wirkung der Außenwelt auf das Subjekt aufgefaßt.
    3) Wenn im folgenden das hier angegebene Kriterium verworfen, als unrichtig erwiesen wird, so wolle man das nicht mißverstehen. Es ist nur falsch, wenn man das in mehrfachen Wahrnehmungen Übereinstimmende auf die Außenwelt überträgt. Wird die Übereinstimmung bei wiederholter Wahrnehmung  als Kriterium dafür aufgefaßt,  was einem Gegenstand des Denkens überhaupt zuzuschreiben ist, so soll dagegen selbstverständlich nichts eingewandt werden. Habe ich den Schnee in allen Wahrnehmungen übereinstimmend weiß erblickt, so darf ich selbstverständlich den Schnee weiß nennen. Nur ist das Weiß dem Schnee natürlich nicht zuzuschreiben, sofern dieser etwa unabhängig von der Wahrnehmung, in der Außenwelt existiert. Über das Kriterium vergleiche man: B. ERDMANN, Logik I, Seite 272-273, Halle 1907, 2. Auflage, Seite 376f
    4) Ob das nur mit Einschränkungen gesagt werden darf, soll hier nicht untersucht werden. Es wäre zu fragen, ob etwa im Augenblick des Verschwindens aus der Gesichtswahrnehmung durch wachsende Entfernung eine Empfindung ohne Ausdehnung anzunehmen ist. Siehe DAVID HUME, Traktat über die menschliche Natur, Bd. I, Teil 2, Abschnitt 1. Übersetzung Köttgen & Lipps, 1895, Seite 42
    5) DAVID HUME, Essay on Human Understanding, London o. J., Seite XII
    6) Vgl. DAVID HUME, Traktat über die menschliche Natur, Bd. I, Teil 2, Abschnitt 1. Übersetzung Köttgen & Lipps, 1895, Seite 42
    7) Gegen diesen Vergleich der Ausdehnung mit den Sinnesqualitäten, bei denen dann die größere Bedeutsamkeit der Ausdehnung zutage zu kommen scheint, ist folgendes zu sagen. Man darf nicht der einzelnen konkreten Sinnesqualität das Abstraktum der Ausdehnung gegenüberstellen. Man muß vielmehr mit der einzelnen Sinnesqualität, Rot etwa, einen einzelnen Fall des Ausgedehntseins, etwa viereckig, vergleichen. Dann fällt der Unterschied zwischen den Sinnesqualitäten und den Arten des Ausgedehntseins völlig fort. Wie wir uns vorstellen können, daß ein Außenweltsding nicht rot, nicht grün, nicht heiß, nicht sauer, nicht glatt ist, können wir uns auch vorstellen, daß eine Außenweltsding nicht rund, nicht viereckig, nicht schmal nicht groß ist. Wie wir uns einen Körper nicht vorstellen können ohne irgendeine Ausdehnung, so können wir uns ihn auch nicht vorstellen gänzlich ohne Sinnesqualitäten. Man versuche es, sich einen Würfel vorzustellen, der nicht weiß, noch schwarz, noch farbig ist, auch nicht in den Kanten oder, wenn man nicht zum optischen Typus gehört, der sich nicht in irgendeiner Weise anfühlt.!
           Wir können in der Vorstellung Körper abstrahieren von den  einzelnen  Sinnesqualitäten und von den einzelnen Arten des Ausgedehntseins; aber wir können weder abstrahieren von  jeder  Sinnesqualität, noch von  jeder  Art des Ausgedehntseins, wenn wir überhaupt eine Vorstellung von "Körper" haben wollen.
    8) Die Tastwahrnehmung ist überhaupt diejenige, der vom Menschen das höchste Vertrauen geschenkt wird. Gesichts- und Tastsinn sind die beiden Sinne, die für die Wahrnehmung der Außenwelt die größte Rolle spielen. Die Bedeutung der anderen Sinne beruth auf spezielleren Leistungen vornehmlich.
          Liefert der Gesichtssinn das reichste Material, so hat doch der Tastsinn den Vorzug größerer Zuverlässigkeit. Daher bezeichnen wir die sichersten Wahrheiten auch wohl als greifbar. Wenn wir eine Täuschung durch den Gesichtssinn vermuten, so vollziehen wir die Prüfung durch den Gesichtssinn vermuten, so vollziehen wir die Prüfung durch den Tastsinn. THOMAS, der Zweifler unter den Jüngern, wird von JESUS aufgefordert, seine Hand in die Nägelmale zu legen.