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JOHANN FRIEDRICH HERBART
Gespräche über das Böse

"Der wahre Naturdienst ist wahre Erkenntnis; und die wahre Seligkeit liegt in der Anschauung; nur aber nicht im Anschaun erträumter Vollkommenheiten, sondern des wahrhaft Seienden, so wie es ist mit allen seinen Bestimmungen. Wie nun alles Natürliche recht ist, so ist auch jeder Mensch das, was er sein soll; denn er ist ein Werk der Natur! Ja selbst wenn er sich quält mit der lächerlichen Einbildung:  er sei böse;  oder wenn er anderen mit Vorwürfen beschwerlich wird, wenn er ihr Gewissen zu einer törichten Reue aufregen will; wenn er wohl gar gegen den lebendigen Satan auf die Jagd geht oder zu Felde zieht; - auch dann ist er, was er nun gerade sein soll, denn er ist in der Natur und die Natur ist in ihm; wie trübe auch und wie verstümmelt das Gemenge von Gedanken in seinem Kopf sein mag, wie verzerrt und zerrissen auch die Züge der göttlichen Ideen sich in einem solchen menschlichen Denken zusammengefunden, und wie wunderlich sie auch ineinander verwoben und verwirrt haben mögen."

Erstes Gespräch

OTTO: Sie haben DAUBs "Judas Ischariot" wohl noch nicht gelesen?

LOTHAR: Diesmal trifft Ihr Mißtrauen mich nur halb. Dort liegt das Heft auf meinem Tisch, aufgeschnitten bis zu einer Stelle, wo die mehr als tragische Begeisterung des Verfassers mich bewog, eine Pause zu machen.

OTTO: Vielleicht jene Stelle, die uns lehrt, das Böse habe in Gottes Schöpfung, aber nicht aus ihr,
sondern aus sich selber sich entzündet; SATAN sei verdammt dadurch, daß er sich selbst hasse; und eine Mehrheit abgefallener Engel beschäftige sich nicht etwa damit, Liebe zu heucheln oder Gott zu leugnen, sondern es sei ihr Haß gegen Gott ein eingestandenes und beständiges Gott lästern; es sei ihr sich und einander hassen ein eben solch fortwährendes sich und einander Verfluchen.

LOTHAR: Gerade bei diesem Punkt blieb ich stehn.

OTTO: Sie werden doch auf diesem angenehmen Ruheplatz nicht lange verweilen wollen?

LOTHAR: Um die Wahrheit zu sagen, es könnte sein, daß Geschäfte mich von diesem Buch ganz abzögen.

OTTO: Wie? Ein Buch halb zu lesen, ist das erlaubt? Das Sie manches ganz ungelesen lassen, will ich nicht tadeln; aber das Angefangene muß nicht liegen bleiben und auf  diese  Schrift Sie aufmerksam zu machen, darum bin ich gekommen.

LOTHAR: Gefällt Ihnen das Werk so sehr und finden Sie sich berufen, es zu verbreiten? Sie, der Sie dem SPINOZA anhängen, haben Sie nichts darin gefunden, das Ihnen widerstrebte?

OTTO: Nun wahrlich! Sie tun mir Unrecht. Der müßte von SPINOZAs Geist nicht das leiseste Wehen empfunden haben, dem diese Quälerei mit dem Bösen , die zu den ärgsten Arten der Selbstquälerei gehört, nicht ebeso widerlich als unnatürlich vorkommen sollte. Wer einmal SPINOZAs Ruhe fühlte, der möchte immerhin dessen Grundsätze vergessen; er würde dennoch nie so peinlich träumen können. Also kurz: nicht bloß hie und da, sondern durch und durch mißfällt mir das Buch; nicht bloß zweifelnd, sondern wissend und schauend verwerfe ich diese Lehre vom persönlichen Bösen; ich sehe darin ein schlimmes Zeichen der Zeit, der doch endlich die Augen hinlänglich gestärkt schienen, um SPINOZAs hellen Sonnenstrahl ertragen zu können. Und in meinem Unmut kann ich, bei Ihnen meine Klagen ausschütten, darüber, daß solche Verkehrtheit heute noch möglich ist; daß die Menschen in demselben Augenblick, wo sie nur kaum die Weisheit ergriffen hatten, sie auch schon wieder loslassen! Aber wo bin ich? Bei Ihnen, der freilich weit entfernt ist, dem SPINOZA  Gerechtigkeit  widerfahren zu lassen. Darum sind sie auch so kalt, so gleichgültig bei der Wiederkehr des heillosesten Irrtums.

LOTHAR: Nicht gleichgültig werde ich bleiben, wenn es Ihnen gefällig ist, Ihre Vergleichung zwischen SPINOZAs Lehre und jener vom persönlichen Bösen mir mitzuteilen. Ja ich vermute, wir beide werden hier einen Berührungspunkt, - wenigstens einen zufälligen, - antreffen; so weit auch unsere Grundsätze von einander abweichen.

OTTO: Wohlan! Vernehmen Sie! Zuerst muß ich Ihnen berichten, was Sie noch lesen werden, nämlich daß es mit dem persönlichen Bösen nicht etwa auf Entwicklung einer möglichen Vorstellungsart, für gewisse Gesichtspunkte oder Zeitalter, abgesehen, sondern daß es damit voller Ernst ist. Umständlich werden sogar die Ursachen angegeben, woraus sich die Lüge von der Nicht-Existenz des Teufels erklären lasse.

LOTHAR: Sie sprachen das Wort  Lüge  aus.  Lüge von der Nicht-Existenz des Teufels,  so sagten sie. Sind das die Ausdrücke des Verfassers des Herrn geheimen Kirchenrat DAUB?

OTTO: Wessen sonst? Doch wohl nicht die meinigen?

LOTHAR: So verzeihen Sie eine Unterbrechung. Manches kann ich lesen, das ich um keinen Preis möchte vorlesen oder sonst mündlich vortragen hören. Im Buch des Herrn DAUB stießen schon meine Augen an; und doch hat das Auge einen leichten Gang auf dem Papier! Warum aber soll ich Ihnen die Empfindlichkeit meiner Ohren verraten? Wir können ja ein andermal wenn ich mit dem Buch fertig bin, von der Sache sprechen und die Ausdrücke übergehen, die ohnehin der Eifer fürs Gute entschuldigt. Jetzt lassen Sie uns auf etwas anderes kommen; oder etwa zu SPINOZA zurückkehren; der in der Tat, wie Sie von ihm rühmen, ruhig ist, wenn ihm gleich zur Heiterkeit etwas fehlt.

OTTO: Mir genügt seine Ruhe; und ich wüßte nicht, wer heiterer sein könnte als SPINOZA. Dieser Mensch, der die Freiheit des menschlichen Willens leugnete, besaß selbst die wahre Freiheit; denn er trachtete nicht nach Gütern und nach Ehre; oder, wenn er selbst gesteht, er habe sich doch vom Streben dahin so leicht nicht losmachen können, so leuchtet umso deutlicher hervor, wie sehr es ihm Ernst war, sich in der Liebe zum Ewigen und Unendlichen zu befestigen. Doch das mag er mit manchen edlen Männern, die waren und die noch sind, gemein haben: aber welche Denker hat so entschieden, als er, den Grundirrtum eingesehen und verworfen, aus welchem alle unnütze Angst und verkehrte Geschäftigkeit, und jede unselige Neigung, nach dem Bösen zu graben, wie wenn es ein verborgener Schatz wäre, jede Sucht nach der Gelegenheit, sich selbst und andere verdammen zu können, gleich dem Qualm eines stygischen [schauerlichen - wp] Abgrundes hervordunstet! Dieser Grundirrtum aber ist kein anderer, als die Meinung der Menschen von den Zwecken in der Natur, oder von den sogenannten Endursachen. Gott soll alles um des Menschen willen, den Menschen aber deshalb gemacht haben, damit es am Gottesdienst nicht fehle! So ungeschickt übertragen die Menschen auf das Urwesen ihre eigenen Zweckbegriffe und verlangen eben darum, daß sich im Weltall  ihre  Gegensätze zwischen dem Guten und Bösen wiederfinden sollen; indem sie freilich in ihrem täglichen Treiben an nichts weniger denken, als an den ihnen gänzlich verborgenen, geheimen Naturverlauf in ihren eigenen Gesinnungen und Handlungen; dagegen aber stets ein Ziel im Auge haben, wohin sie wollen, und von dessen Anziehungskraft sie sich getrieben glauben. Auf diese Weise kehrt sich das wahre Verhältnis der Ursachen und Wirkungen in ihrer Einbildung gerade um; und nun scheint ihnen auch die Natur, anstatt von innen heraus wirkend, wie sie kann und muß, vielmehr in der Nachahmung gewisser Muster beschäftigt, und durch deren unerreichbare Vollkommenheit stets beschämt! Nicht anders, als wäre die Rede von einem schlechten Künstler, einem ungeschickten Maler, dessen höchster Wert darin bestehen würde, wenn er imstande wäre, die ihm sitzende Person völlig genau zu treffen und der mit dieser ansich unwürdigen Aufgabe, sich noch obendrein vergebens abmüht! So klein denken die Menschen von der Natur! Jedoch bleibt diese große Mutter, das sie ist. Sie weiß nichts von Mustern und nichts von Nachahmung. In ihr ist alles nicht und jedes Werk gelingt; denn jedes ist der wahre Ausdruck der Kraft und des Wesens unter den vorhandenen Bestimmungen. Darum gibt es bei ihr keinen Unterschied des Vollkommenen und des Unvollkommenen, des Löblichen und des Tadelhaften; es ist eben so töricht, sie zu bewundern, als sie meistern zu wollen. Der wahre Naturdienst ist wahre Erkenntnis; und die wahre Seligkeit liegt in der Anschauung; nur aber nicht im Anschaun erträumter Vollkommenheiten, sondern des wahrhaft Seienden, so wie es ist mit allen seinen Bestimmungen. Wie nun alles Natürliche recht ist, so ist auch jeder Mensch das, was er sein soll; denn er ist ein Werk der Natur! Ja selbst wenn er sich quält mit der lächerlichen Einbildung:  er sei böse;  oder wenn er anderen mit Vorwürfen beschwerlich wird, wenn er ihr Gewissen zu einer törichten Reue aufregen will; wenn er wohl gar gegen den lebendigen Satan auf die Jagd geht oder zu Felde zieht; - auch dann ist er, was er nun gerade sein soll, denn er ist in der Natur und die Natur ist in ihm; wie trübe auch und wie verstümmelt das Gemenge von Gedanken in seinem Kopf sein mag, wie verzerrt und zerrissen auch die Züge der göttlichen Ideen sich in einem solchen menschlichen Denken zusammengefunden, und wie wunderlich sie auch ineinander verwoben und verwirrt haben mögen. Das ist ja nun einmal das Los des Menschen, daß seine Seele, wenn schon im Denken Gottes enthalten, doch gar nichts weniger als ein klarer, reiner, einfacher Gottesgedanke sein kann! Vielmehr, sie muß gerade so wie der Leib, aus zahllosen Teilen besthen; und wenn ich den SPINOZA recht fasse, auch aus gerade  so vielen  Teilen, nämlich  aus den Ideen aller Teile des Leibes.  Auch kommt hierbei noch etwas in Anschlag, wodurch die Sache in einem Grad verwickelt wird, den ich zuweilen Mühe habe, mir deutlich vorzustellen. Ich meine die Wandelbarkeit unserer Leiber. Denn zum Wesen des menschlichen Leibes gehören doch nicht eigentlich die einzelnen Teil desselben, welche durch Wachstum und durch andere organische Lebensprozesse zufällig herbeigeführt und ebenso zufällig hinweggenommen werden; sondern was wir den Leib nennen, das ist im Grunde nur eine Form, die sich aus veränderten Materialien eine Zeitlang beinahe in eben dem Grad wiederherstellt, wie sie abgenutzt worden war. Nun soll die menschliche Seele nichts anderes sein, als dasjenige göttliche Denken, welches dem Leib des Menschen gerade so entspricht und zugehört, wie überhaupt und überall in Gott das Denken der Ausdehnung und diese wiederum jenem angemessen und verknüpft ist. Aber sagen Sie mir, finden Sie den SPINOZA in diesem Punkt ganz deutlich? Ich meine, in Ansehung dieser Zusammensetzung und dieses Wechsels von Gedanken, aus denen die Seele besteht? Mir klebt immer noch etwas an von dem Irrtum, als gäbe es eine bleibende Persönlichkeit, ein wahres Ich in jedem Menschen; und das muß doch offenbar falsch sein, wenn dem steten Wechsel unseres leiblichen Lebens ein geistiger Wechsel genau korrespondieren und wenn die Seele nicht in einem höheren Sinne Eins sein soll, als worin der Leib es ist.

LOTHAR: Ehe ich Ihnen antworte, Freund, nehme ich mir die Freiheit, Sie aus zwei Gründen, deren einer mir sehr wichtig scheint, recht von Herzen zu loben. Und zwar lassen Sie sich nur zuerst das Lob Ihres guten Gedächtnisses gefallen; denn da ich zufälligerweise gestern veranlaßt wurde, einmal wieder in SPINOZAs Ethik zu blättern, fiel mir gerade der fünfzehnte Satz des zweiten Teils in die Augen und hiermit der Anfangspunkt jener Lehren, die Sie soeben ganz richtig anführten. Ich konnte mich kaum eines gewissen Grauens enthalten; indem ich nun weiter las, in welche Finsternis und Verwirrung SPINOZA hier des Menschen Geist hinabzieht! Aus dieser Tiefe klimmt er auch in der Folge nur mit Mühe wieder hervor; die Seele ist ihm  nur nicht ganz  sterblich, es bleibt  etwas  von ihr, das ewig ist; und dazu kommt sogar der auffallende Satz:  wessen Leib zu mehreren Dingen geschickt sei, dessen Seele sei auch dem größeren Teil nach unsterblich!  Also gibt es ein  Quantum  von Unsterblichkeit; und dieses Quantum richtet sich nach der  Brauchbarkeit  des Leibes! Sind Ihnen diese Sätze des fünften Teils etwa weniger dunkel, als jene, die Sie zuvor anführten?

OTTO: Wenigstens paßt alles vollkommen zusammen; das Dunkelste aber scheint darin zu liegen, wie denn überhaupt irgendetwas von der Seele übrig bleiben könne, wenn die göttlichen Gedanken, aus denen sie besteht, sich ebenso fügen und lösen, wie die Teile des Leibes. - Doch was war es, das  Sie  loben wollten? In SPINOZAs Ethik, die ich nicht müde werde zu lesen, so ziemlich einheimisch zu sein, ist doch wohl nichts Besonderes!

LOTHAR: Und mein zweites Lob werden Sie wohl gar für einen Tadel nehmen.

OTTO: Sie gedenken meine Neugierde zu spannen. Aber ich fasse mich; und schon bin ich so gelassen, wie die Natur selbst, die sich gar nicht darum kümmert, was man von ihr rede. Nun mögen Sie loben oder tadeln, wie es Ihnen beliebt!

LOTHAR: So muß ich wohl um geneigtes Gehör bitten. Daß Sie in SPINOZAs Lehren weder PLATONs noch FICHTEs Vorstellungsarten einmischen, daß Sie also dem Beispiel mancher unter uns berühmter Männer  nicht  folgen, die durch Vermengung der Systeme alle Schwierigkeiten bedecken und alle Fragen verdunkeln: dies fiel mir auf, als Sie vorhin getreu dem SPINOZA, aber dem PLATON zuwider, alle Muster, wonach die Natur gebildet scheint, verwarfen; und abermals freute es mich, als Sie weiterhin wegen der Persönlichkeit unseres Ich, lieber eine Dunkelheit bei SPINOZA anerkennen, als aus FICHTEs Idealismus ein gebrochenes Licht auf die dunkle Stelle hinüberzwingen wollten.

OTTO: Hat  das  Ihren Beifall gewinnen können; so ist er mir willkommen. Denn jene, die PLATON, SPINOZA, FICHTE und wer weiß wer noch, vereinigen und verschmelzen, scheinen wirklich in ihrem System die menschliche Seele nachahmen zu wollen. Gerade wie diese ein Gefüge aus verstümmelten Gedanken der Gottheit ist, so machen sie sich ihre Lehre zurecht aus allerlei verschobenen und verbogenen Sätzen und Meinungen der verschiedensten Philosophen. Was verlangen wir denn aber von der Wissenschaft? Doch wohl vor allen Dingen: Integrität eines jeden ihrer Begriffe und Behauptungen. Und was kann nun vollends dem SPINOZA mehr widerstreiten als die platonische Teleologie? Was kann ihm, dessen Erklärung des Selbstbewußtseins wenigstens höchst einfach ist, fremdartiger sein, als FICHTEs verwickelte Betrachtungen über das Ich, das samt dem Nicht-Ich nur mehr und mehr zum Rätsel wird, je weiter die Untersuchung fortschreitet? - Sei es, daß bei SPINOZA die Persönlichkeit unseres Ich nicht recht klar wird, und daß FICHTEs Lehre dem Selbstbewußtsein einen kräftigeren Ausdruck gibt: dennoch verlange ich gar keine Erläuterung des einen durch den andern, denn der Idealist kann sich nimmermehr mit dem Realisten, noch dieser mit jenem vertragen.

LOTHAR: Fast dünkt mich, Sie schwanken noch ein wenig zwischen FICHTE und SPINOZA.

OTTO: Ich gestehe Ihnen, SPINOZA zieht mich zwar weit mächtiger an, denn sein Standpunkt ist höher, sein Blick in die Natur weit freier, endlich seine Ethik ist sauberer ausgearbeitet als FICHTEs ältere Schriften, (denn die neueren sind mir vollends nicht klar, eben darum weil sie populär sein sollen). Aber es kommen mir Augenblicke, wo ich in SPINOZA Natur und Gottheit eher alles andere, nur mein eigenes innerstes Selbst nicht recht finden und erkennen kann. Bei ihm klebt offenbar der Geist am Leib; zwar nicht vermöge eines Kausalverhältnisses zwischen beiden, aber darum, weil in einem, noch dazu höchst unvollkommenen Wissen vom Leib die ganze Seele bestehen soll. Nun werden alle Anfangspunkte der Untersuchung in das Körperliche hinein verlegt und nach ihm soll sich das Geistige richten, damit das Denken sich seinem Gegenstand anpasse. Hiermit stehen alle Schlüsse unter der Formel:  Es ereignet sich dies und jenes im Leib, folglich muß ein entsprechendes Denken in der Seele vorkommen.  So lehrt ausdrücklich der zwölfte Satz des zweiten Teils. Ein solcher Gang im Schließen ist mir zuweilen verdächtig. Ich frage mich: ist denn wirklich das Leibliche uns so unmittelbar und gewiß bekannt, daß man von ihm beginnen könne im Forschen? Wie wenn der Idealismus recht hätte mit seiner Behauptung: nur das Ich durchschaue sich selbst ursprünglich, nur der Geist sei dem Geiste ohne Dolmetscher verständlich? - Und dann wünschte ich, FICHTE möge seine Untersuchungen behutsamer angefangen haben; und dann hoffe ich, die Behutsamkeit möge bei dem systematischen Denker wenigstens ebensoviel wert sein, als die Umsicht und Aussicht ins Unendlich und Ganze.

LOTHAR: Das war längst meine Überzeugung.

OTTO: Und nun, was gewinnen wir mit der Art von Selbstbewußtsein, die uns SPINOZA darbietet? Der Seele soll eine Vorstellung von ihr selbst beiwohne, und mit ihr gerade so vereinigt sein, wie die Seele mit dem Leib, dessen Vorstellung sie ist. Dieses Wissen vom Wissen soll ins Unendliche gehen! Ich übergehe die Schwierigkeit, daß eine solche unendliche Höhe der inneren Wahrnehmung durch mein Bewußtsein von mir selbst, welches sehr beschränkt ist, keineswegs bestätigt wird. Aber an Wert und Würde kann die Vorstellung vom Leib gewiß dadurch nicht erhöht werden, daß sie sich spiegelt in einem Vorstellen, dessen Gegenstand sie selbst ist, und wenn auch eine solche Spiegelung ins Unendliche fortläuft. Das Abgespiegelte bleibt am Ende immer der Leib, und nichts weiter.

LOTHAR: So fänden wir dann nach SPINOZA auf dem untersten Grund unseres Selbstbewußtseins zwar nicht das  Böse,  aber das  Gemeine. 

OTTO: Sie haben das Wort zu meiner Vermutung ausgesprochen.

LOTHAR: Werden Sie mir aber nicht zürnen, wenn ich hinzusetze: ich vermisse bei SPINOZA ebensowohl das Gute in der Höhe, als das Böse in der Tiefe?

OTTO: Eine harte Beschuldigung! - Das Höchste im Menschen ist nach SPINOZA ohne Zweifel die intellektuelle Anschauung, auf der dritten Stufe der Erkenntnis. Auf diesem glänzenden Gipfel, was können Sie vermissen?

LOTHAR: Beides, den Glanz und den Gipfel.

OTTO: Ich verstehe Sie nicht. Wohl aber habe ich vernommen, daß Sie auch das Böse in der Tiefe vermissen. Also wirklich  vermissen  Sie das Böse? Sie wollen es sich nicht rauben lassen? - Sind wir noch so weit auseinander? Darin meinte ich, wären Sie mit mir einverstanden, daß gar kein Böses in der Natur Platz hat und folglich auch nicht im Menschen!

LOTHAR: So schnelles Einverständnis über einen solchen Gegenstand bei so weiter Verschiedenheit der Grundsätze - wäre kein kleines Wunder. Damit Sie aber vorläufig beurteilen mögen, wie nahe und bei welchem Punkt wir etwa zusammenpassen: So erlauben Sie mir eine Unterscheidung und ein Gleichnis. Das Böse ist zwar im Menschen, und insofern auch in der Natur, da jener einen Teil von dieser ausmacht. Aber es muß in Beziehung auf den Menschen ganz anders beurteilt werden, nie in Ansehung der Natur. Von jener Beziehung zu reden, war in unserem bisherigen Gespräch kein Anlaß, da bei Ihnen der Naturbegriff überall vorherrscht! Ich schweige demnach auch für jetzt darüber. Für die Natur aber ist das Böse nur einem Krankheitsstoff, einem Miasma [Ansteckung - wp] zu vergleichen. Wie hat das Gift der Wasserschen [ansteckende Krankheit - wp], der Pocken, der Pest, sich unglücklicherweise unter gewissen Umständen erzeugt und alsdann jedem menschlichen Leben gefahrdrohend sich verbreitet, wo ihm nicht die Vorsicht entgegentritt; wie sich hierin eine gewisse Gebrechlichkeit der Organismen verrät, die sonst doch so vielen Schädlichkeiten zu widerstehen geschickt sind: gerade so gibt es auch im Gedankenkreis eines Menschen eine Verderblickeit, woraus sich teils das Böse erzeugt und worin andernteils die Möglichkeit liegt, von dem schon vorhandenen Bösen angesteckt zu werden.

OTTO: Sie erlauben sich wohl gar, die Natur zu bedauern; als ob sie zu Zeiten in Ohnmacht falle und sich dann nicht zu helfen wisse.

LOTHAR: Ich erlaube mir nicht, der Natur ein Ideal gegenüberzustellen, das ohne Zweifel ein bloßes Phantom sein würde; daher kann ich auch nicht, gleich als ob ihr etwas fehlte, sie bedauern.

OTTO: Sie nehmen also die Natur wie sie ist; und daran tun Sie gewiß recht! Aber am Menschen - zu welchem, wie Sie sagten, das Böse in einer ganz anderen Beziehung stehen soll, - also unter andern an sich selbst, und an mir, gelegentlich zu kritisieren, davon wollen Sie nicht ablassen. Aber sagen Sie mir nur, wie komen Sie dazu, und wie fangen Sie das an? Aus Naturbegriffen, das gestehn Sie selbst, kann jene Kritik, die den Menschen seiner Bosheit und Sünde wegen so gern verurteilen und verdammen möchte, ihre Waffen nicht hernehmen. Also wohl aus Freiheitsbegriffen? Denn die kantische Lehre stellt ja Natur und Freiheit einander gewöhnlich gegenüber. Darin aber, meinte ich, seien Sie mit SPINOZA einig, daß, wo Naturgesetze herrschen, von Freiheit nicht die Rede sein könne; und daß diese wundertätige Göttin, für die in der intelligiblen Welt ebensowenig als in der Sinnenwelt Platz ist, nur wieder in die poetische und mythische Welt zurückkehren möge, aus der sie gekommen ist.

LOTHAR: Lieber Freund! Sprechen Sie leise! Es gibt Viele, die in allerlei Mythologie tief befangen sind und die eben deshalb das Wort nicht hören mögen.

OTTO: Wer wird mich hindern, laut zu sagen was ich denke? Zudem hat man sich längst gewöhnt, den SPINOZA zu hören, der jetzt auf allen Kathedern und aus allen gelehrten Zeitungen redet.

LOTHAR: Nur nicht mit der ihm eigentümlichen Konsequenz.

OTTO: Soviel weiß wenigstens jeder von ihm, daß er die Freiheit des Willens leugnete und eben darum leugnen mußte, weil er sonst in seinen Ableitungen aus dem Urwesen notwendig einen Sprung, eine Lücke hätte zulassen müssen, wodurch die ganze Ableitung unnütz und nichtig geworden wäre. - Und nun im Ernst, Lieber! denn Ihre Furcht vor den Leuten ist ja doch nur Scherz, - worauf gründen Sie jene Beurteilung des Menschen, für den, wie Sie sagen, das Böse eine andere Bedeutung haben soll, als für die Natur?

LOTHAR: Beinahe glaubte ich, Sie würden auch diesmal Ihre Frage wieder vergessen.

OTTO: Was soll das heißen?

LOTHAR: Zuerst fragten Sie mich, wie ich über SPINOZAs Lehre von der Persönlichkeit denke! dann, was ich bei der intellektuellen Anschauung, als der dritten Stufe der Erkenntnis vermisse; jetzt, worauf ich die sittliche Beurteilung des Menschen gründe: - wo soll ich nun anfangen?

OTTO: Sie böser Mann! So ganz im Stillen haben Sie eine heimliche Kontrolle gehalten über unser Gespräch, und jetzt kommen Sie wie aus dem Hinterhalt hervor, mich zu beschämen, daß ich, in meiner Lebhaftigkeit, die zweite und dritte Frage aufwarf, bevor die erste beantwortet war. Ist ein Gesprüch denn ein System? Wollen wir denn das Alles erschöpfend abhandeln, was wir angerecht haben? Da sollten Sie gewiß kein Ende finden.

LOTHAR: Wenn ich nun so ganz im Stillen eine heimliche Kontrolle gehalten hätte über Ihren wohlgefüllten Geldbeutel und käme jetzt aus dem Hinterhalt hervor mit zwei geladenen Pistolen, Sie zu beschämen, daß Sie in Ihrer Lebhaftigkeit vergessen hätten, sich zu Ihrer Reise durch den unsicheren Wald mit tüchtigen Waffen und Begleitern gehörig auszurüsten: dann würden Sie mich ohne Zweifel etwas ernstlicher als eben jetzt,  einen bösen Mann  nennen; und ich würde mich bei Ihnen nicht entschuldigen können, weder mit Anfechtungen des Satans, noch mit Naturgesetzen des SPINOZA.

OTTO: Wenigstens würde ich, einem Straßenräuber gegenüber, an ein philosophisches Lehrgebäude schwerlich denken. Aber jetzt, da wir mit diesem beschäftigt sind, warum stört uns jener?

LOTHAR: Es kann nicht schaden, uns das Böse einmal recht zu vergegenwärtigen und es vorläufig ohne System zu beurteilen.

OTTO: Ihr Beispiel ist handgreiflich genug; aber es reichte, soviel ich sehe, nicht weiter, als bis zu den gemeinen Geboten: Du sollst nicht töten und nicht stehlen.

LOTHAR: Wie aber, wenn es eine Ethik gäbe, die, obwohl von der Gottheit ausgehend, doch selbst jene gemeinen Gebote nicht einmal ohne Sprung zu erreichen imstande wäre?

OTTO: Zielen Sie wohl gar auf SPINOZAs Ethik?

LOTHAR: Ich kann nicht umhin, Sie in Ihrer Bewunderung jenes Werks ein wenig zu stören, wenn ich Ihnen, dem Anhänger des SPINOZA, auf die zuvor berührten Fragen antworten soll.

OTTO: Wie? Einem so durchaus redlichen Mann könnten Sie -

LOTHAR: Die Redlichkeit des Mannes bleibe ganz unangefochten. Der Mensch ist ofmals besser als sein System; und eben darum muß das System sich bequemen, Sprünge zu machen.

OTTO: Und meine harmlosen Fragen ziehn dem großen Denker solche Beschuldigungen zu? Und Sie finden kein edleres Mittel, um ein System anzugreifen, das nicht das Ihrige ist?

LOTHAR: Die möglichen Angriffspunkte finde ich bei diesem System ungefähr so viele, als es Axiome und Definitionen aufstellt, denn es ist in allen seinen Grundgedanken fehlerhaft. Wir aber sprachen diesmal über das Böse, daher liegt uns das Praktische in jenem System am nächsten. Und immer wird derjenige etwas ungroßmütig erscheinen müssen, der es unternimmt, das, was SPINOZA die Tugend des Großmuts nennt, ins rechte Licht zu stellen.

OTTO: Seien Sie ungroßmütig, wenn Sie wollen, nur nicht ungerecht!

LOTHAR: Gerade diese Ermahung gebührt dem SPINOZA. Haben Sie seinen  tractatus politicus  nicht gelesen, den er kurz vor seinem Tod schrieb, und nicht mehr zu Ende brachte?

OTTO: Nein; die Ethik hat mich bis jetzt zu sehr beschäftigt. Aber ich freue mich auf den hohen Genuß, auch noch in die Staatsweisheit meines Lehrers eingeweiht zu werden.

LOTHAR: Sie finden darin den Grundsatz: daß von Natur das Recht mit der Macht gleiche Grenzen habe; indem keine Macht etwas anderes sei, als die Macht Gottes.

OTTO: Vollkommen der Konsequenz des Systems gemäß. Und für die nötigen Bestimmungen, damit der Satz nicht mißverstanden werde, wird hoffentlich gesorgt sein.

LOTHAR: Eine der nächsten Bestimmungen ist: man müsse das Recht oder die Macht der Menschen nicht nach ihrer Vernunft abmessen, sondern nach den Begierden, von denen sie zum handeln getrieben werden.

OTTO: Warum das?

LOTHAR: Der Grund ist ausdrücklich angeführt: darum, weil sie sich mehr der blinden Begierde, als der Vernunft überlassen. Und finden Sie das nicht einleuchtend? Die Macht Gottes wirkt ja in den Menschen meist in Gestalt der Begierde, als der Vernunft überlassen. Und finden Sie das nicht einleuchtend? Die Macht Gottes wirkt ja in den Menschen meist in Gestalt der Begierde; diese Macht aber ist das Recht selbst. Vermissen Sie hier die Konsequenz?

OTTO: Fahren Sie fort; und berichten Sie wörtlich genau, damit ich sehe, ob vielleicht bald ein Lichtstrahl in dieses Dunkel fahre.

LOTHAR: Auch die Urteilskraft eines Menschen kann dem Recht eines andern untergeben sein, insofern sein Geist von einem andern kann betrogen werden.

OTTO: Das Buch ist lateinisch geschrieben. Können Sie mir nicht die Worte in der Ursprache sagen?

LOTHAR: Judicandi facultas eatenus etiam alterius juria esse potest, quatenus mens potest ab altere decipi. - Merkwürdig ist hiervon bloß, daß SPINOZA diesen Satz gerade ausspricht; denn übrigens versteht sich das von selbst) wie aus der Gleichung  jus = potestas  unmittelbar zu ersehen ist.

OTTO: Nur weiter?

LOTHAR: Nach dem Naturrecht gilt jeder Vertrag für jede Partei so lange, als sie es für nützlich hält. Die Menschen sind von Natur Feinde; wenn sie sich aber vereinigen, gewinnen sie an Macht, also auch an Recht; daher der Staat. Allein auch im Staat hört das Naturrecht des Einzelnen, genau genommen, nicht auf; denn der Mensch handelt stets nach den Gesetzen seiner Natur, und sorgt für seinen Nutzen.

OTTO: Hören Sie auf! Ich muß das zuhause im Zusammenhang lesen.

LOTHAR: Besinnen Sie sich alsdann zugleich auf dem Straßenräuber, der, wenn er mächtiger ist als Sie, unfehlbar das Recht hat, über Ihr Leben und Ihre Sachen zu verfügen. Nicht wahr, jetzt sind Sie schon geneigt, ihn zu entschuldigen? Das Beispiel befremdet Sie nun weniger als zuvor; nur paßt es nicht, denn das Böse, von dem wir sprachen, ist dem bloßen Gebrauch der Macht nicht zu erkennen? Nur wenn der Räuber schwächer wäre als wir, dann hätte er unrecht getan, uns anzugreifen? -

OTTO: Sie könnten am Ende darin Recht haben, daß man dergleichen auch ohne System zu beurteilen sich gefaßt halten müsse.

LOTHAR: Freilich sieht man mit bloßen Augen mehr, als durch ein untaugliches Fernglas. Übrigens erkennen ich in Gegenständen dieser Art gar kein anderes System für gültig, als nur ein solches, das mit der Beurteilung ohne System, wie Sie es nennen, anfängt, uns eben in einer solchen Beurteilung seine ganze Grundlage besitzt, so daß es als Lehrgebäude ganz und gar über derselben errichtet ist.

OTTO: Sollte wohl dem SPINOZA, bei all seinem Scharfsinn, doch in Ansehung des Naturrechts etwas Menschliches begegnet sein? Sagen Sie mir ehrlich, glauben Sie wirklich, daß der Satz:  die Macht ist das Recht notwendig mit der absoluten Anschauung Gottes, als des all umfassenden Urwesens, zusammenhänge? Oder liegt in der Ableitung ein verborgener Fehler?

LOTHAR: Ein ziemlich offenbarer Fehler liegt darin, daß SPINOZA den Rechtsbegriff auf Gott anwandte, der über denselben erhaben ist.

OTTO: Was wollen Sie damit gewinnen? Diese Behauptung klingt ja vollends paradox!

LOTHAR: Alles wird deutlich sein, sobald Sie bedenken, daß Rechte stets für einen gegen andere gelten. Wer ist nun für Gott der andere, der ihm gegenüberstünde?

OTTO: Gewiß keiner!

LOTHAR: Wenigstens kein solcher, der es sich einfallen lassen könnte, mit Gott zu rechten. Mit dem falschen Satz: Deus jus ad omnia habet, et jus Dei nihil aliud est, quam ipsa Dei potentia [Gott ein Recht auf alles hat und das Recht Gottes nichts anderes als eben Gottes Macht ist - wp], schwinden nun auch alle vorausfließenden Folgerungen; und das Recht kehrt zurück zu den Menschen, in deren Verhältnissen es seinen Sitz und Ursprung hat.

OTTO: Aber wie? Noch immer steht mir im mächtigen Menschen die Gewalt Gottes gegenüber; meine Schwäche aber ist nichts Göttliches; mein Rcht ist auch nur menschlichen Ursprungs; und so gebietet mir die Gottesfurcht, zurück zu weichen, und mein Recht ist ein leerer Gedanke!

LOTHAR: Da liegen Sie allerdings gefangen in den Fesseln Ihres falschen Systems.

OTTO: Und wenn ich ohne System handle, wie die meisten; wenn ich mich widersetze, wenn ich kämpfend falle: was geschieht nun in Gott? Die Kraft, mit der ich widerstehe, ist ebensowohl Gottes Kraft, als jene, die mich unterdrückt. Gott streitet also mit sich selbst! Und man kann das nicht etwa ein bloßes Kampfspiel nennen, denn auch die ernstlich streitenden Gedanken, jene Begriffe von Recht und Unrecht, sind am Ende Gedanken in Gott! - Doch mir fällt ein Ausweg ein! Im Kampf des Mächtigen gegen das Recht ist die Schwäche nur scheinbar auf der Seite des Unterdrückten.

LOTHAR: Unmöglich! Die siegende Gewalt, wessen ist sie denn, wenn nicht die Gewalt Gottes? Wollen Sie etwa den Satan zu Hilfe rufen? Oder kennt Ihr System eine Quelle der Kraft außer Gott?

OTTO: Sie mißverstehen mich; ich meine, das wahrhaft Starke liegt in der Überzeugung des Rechts; und diese Stärke ist im scheinbar Schwachen.

LOTHAR: Armer Freund! Ihre Mühe ist vergebens. SPINOZA erlaubt Ihnen nicht, Denken und Ausdehnung zu trennen, diese beiden Attribute Gottes müssen stets in gleicher Entwicklung und Gestaltung beisammen bleiben.

OTTO: Was folgt daraus wider mich?

LOTHAR: Hatten Sie nicht die Stärke des Gedankens dem Unterdrückten beigelegt und die der Körperkraft dem Unterdrücker? Sehen Sie nicht, daß Sie auf entgegengesetzte Seiten gebracht hatten, was nur in  einem  Punkt vereinigt zu denken gestattet war?

OTTO: Leider sehe ich es.

LOTHAR: Auch können Sie sicher annehmen, daß jener Fehler, das Recht und die Macht in Gott gleichzusetzen, dem SPINOZA nicht begegnet sein würde, wenn in seiner Gesinnung ein deutliches Gefühl für das Recht gewesen wäre. Die Spekulation verirrt sich niemals weit vom Gemüt.

OTTO: SPINOZAs Gemüt sollen Sie mir nicht verdächtig machen! Wenn sein System nicht vom Flecken zu reinigen ist, daß es einen inneren Widerstreit des Rechts und Unrechts in Gott hineinträgt, so hat SPINOZA diesen Flecken nicht gesehn; er hat menschlich gefehlt, aber nicht wissentlich gelästert.

LOTHAR: Lieber! Sie vergessen ja ganz die  Großmut!  Diese war wirklich in SPINOZAs Gesinnung. Sein Rechtsgefühl blieb unentwickelt, aus dem sehr natürlichen und sehr gewöhnlichen Grund, weil er für seine Person darüber hinaus war, durch Rechtsregeln vom Unrechttun abgehalten zu werden. Er  verachtete  die blinden Begierden, die sich in verbrecherischen Handlungen äußern. Was wir Unrecht nennen, das ist bei ihm Schwäche und Torheit.

OTTO: Das ist ja gerade dasselbe, was ich nur eben zuvor behauptete, als ich den mächtigen Unterdrücker schwach am Geist, wenn gleich stark am Leib nannte. Diesen Gedanken schreiben Sie nun selbst dem SPINOZA zu; vorhin verboten Sie mir, dahin meinen Ausweg zu nehmen!

LOTHAR: Antworten Sie mir! Gehört nicht bei SPINOZA stets Denken und Ausdehnung zusammen? Besinnen Sie sich nicht des Ausdrucks: modus extensiones et idea ilius modi una eademque est res? [Der Modus der Ausdehnung und die Idee dieses Modus sind ein und derselbe. - wp] Erwähnten Sie nicht selbst vorhin, daß er stets vom Leib auf den Geist schließt?

OTTO: Allerdings.

LOTHAR: Vielleicht ist Ihnen selbst der Aussspruch gegenwärtig: ordo actionem et passionum corporis nostri simul est natura cum ordine actionum et passionum mentis [daß die Ordnung der Aktivitäten und des Erleidens unseres Körpers mit der Ordnung der Aktivitäten und Erleidens des Geistes von Natur aus zugleich ist. - wp]. Er steht bei einer der ersten Lehrsätze des dritten Teils der Ethik.

OTTO: Ich erinnere mich.

LOTHAR: Halten Sie nun diese Verknüpfung oder diese Parallel des Handelns und Leidens in Körper und Geist genau fest! Nehmen Sie hierzu den Satz: die Handlungen des Geistes entstehen bloß aus adäquaten Ideen, die Passionen bloß aus inadäquaten. Und nun sagen Sie mir, der mächtige Unterdrücker, der furchtbar waltende Despot, hat er, als solcher, adäquate oder inadäquate Ideen?

OTTO: Ich weiß in der Tat nicht, wie ich antworten soll. Als mächtig, als aktiv, muß er adäquate Idenn besitzen; als Unterdrücker und Zerstörer das Gegenteil.

LOTHAR: Ergeben Sie sich also nur darin: SPINOZA ist hier inkonsequent und zwar auf eine merkwürdige Weise mit sehenden Augen. Denn er selbst redet irgendwo von Handlungen aus einem Affekt, der eine Passion sei; und entwickelt bei der Gelegenheit ausführlich, die Handlung des Schlagens sei eine Tugend, sofern man sie physisch betrachte; die nämliche Handlung könne aber ebensowohl mit dunklen, als mit klaren Vorstellungen verbunden sein. Hierüber beruft er sich auf seinen zweiten Teil, aber gegen seine Gewohnheit nur unbestimmt, ohne genaue Anführung eines Lehrsatzes. Ohne Zweifel schwebte ihm jene seltsame Physiologie vor, woraus er das Gedächtnis und die Verknüpfung der Bilder in der Seele erklärt hatte. Und dieses Blendwerk hinderte ihn, wie es scheint, sich zu erinnern, daß nach seiner Theorie notwendig zur tugendhaften Handlung des Schlagens auch eine tugendhafte Gesinnung in der Seele gehöre; und daß ebenso zu den inadäquaten und dunklen Vorstellungen der Letzteren, eine Schwäche un Verkehrtheit im Organismus müsse gesucht werden.

OTTO: Was den ersten Punkt anlangt, so ließe sich die tugendhafte Gesinnung, die Sie vermissen, nun allerdings beim Despoten wohl nachweisen.

LOTHAR: Wollen Sie das wirklich unternehmen?

OTTO: Freilich fühle ich mich dabei etwas verlegen. Ich mag es kaum sagen, obgleich SPINOZA es laut und wiederholt genug ausspricht: Die Tugend liegt im Streben nach dem eigenen Nutzen. Der Despot, indem er für sich sorgt, ist also tugendhaft! Aber wie war es möglich, daß ich bei dieser Lehre bisher nicht anstieß?

LOTHAR: Sie ließen sich durch die gewöhnlichen Wendungen aller Glückseligkeitslehre täuschen. Der wahre Nutzen sei vom scheinbaren zu unterscheiden und das höchste Gut bestehe in der Erkenntnis Gottes; einem Gemeingut, welches niemals Streit veranlassen könne.

OTTO: Und auch das nennen Sie Täuschung? Mich dünkt, ich erhole mich wieder, indem Sie mir diese herrlichen Gedanken ins Gedächtnis zurückrufen; und daür will ich gern den Mißgriff bekennen, den ich soeben beging, als ich dem Despoten eine tugendhafte Gesinnung nachweisen wollte. SPINOZA mag also in jenem Punkt inkonsequent bleiben, wenn er nur dafür gesorgt hat, uns in der Anschauung Gottes das höchste Gut zu bereiten.

LOTHAR: Unser Gespräch hat sich auf einen Punkt zurückgewendet, den wir schon früher berührten. Sind Sie bereit, mit unbefangener Wahrheitsliebe nachzusehn, was Sie and dieser Anschauung des spinozistischen Gottes, an diesem höchsten Gut eigentlich besitzen?

OTTO: Sie drohen mir mit unwillkommenen Aufschlüssen! Doch reden Sie!

LOTHAR: Bei der Aufzählung der Attribute Gottes ist eins vergessen, welches später nachgeholt wird; nämlich die intellektuelle Liebe Gottes zu sich selbst. Wie verhält sich zu derselben die Liebe der Frommen unter den Menschen zu Gott?

OTTO: Sie ist ein Teil von jener. Denn die menschliche Seele ist ein Teil des göttlichen Denkens, und Gott ist ebensowenig ein fremder und äußerer Gegenstand der Betrachtung und Verehrung für den Menschen, als hinwiederum im Menschen eine Kraft und Stärke der Liebe sein kann, die nicht die Kraft Gottes selbst wäre. Das sind ausdrückliche Lehren des SPINOZA.

LOTHAR: Vollkommen richtig. Wenn wir dennoch alle Liebe zu Gott, die sich in den sämtlichen endlichen Vernunftwesen findet, zu einer Summe zusammenfassen, so ist diese Summe nichts anderes, als eben jene unendliche Liebe Gottes zu sich selbst; nicht wahr?

OTTO: So scheint es.
LITERATUR - Johann Friedrich Herbart, Gespräche über das Böse, Königsberg 1817