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HUGO MÜNSTERBERG
Das Problem der Freiheit

"Wir wissen uns frei, weil es für diesen wirklichen Willen überhaupt gar keinen Sinn hat, nach einem Ursachenzusammenhang zu fragen. Der wirkliche Wille ist frei, weil er keine Ursachen hat, und er hat keine Ursachen, weil er in einer Dimension vor sich geht, die sich gar nicht mit dem Reich der kausal verknüpften Objekte berührt. Nach den Ursachen des wirklichen Willens fragen, hieße ihn bereits in ein Objekt umgestalten und ihn dadurch in seiner eigenen Wesenheit preisgeben. Solange wir ihn wirklich als Willen festhalten, so wie wir ihn in jedem Akt der Stellungnahme zielgreifend erleben, hat es so wenig Sinn, nach seiner Ursache zu fragen, wie es Sinn hätte, nach seiner Farbe, seinem Gewicht oder seinem Klang zu fragen."

"Wenn in unserer Zeit die Pädagogik sich so gänzlich der Psychologie verschreibt und das Strafrecht so überall mit psychologisierender Sozialpädagogik zu reformieren gedenkt, so liegt es doch eben auch hier nur daran, daß die objektivierenden Formen des Denkens durch ihre großen modernen Errungenschaften die rein unmittelbare Erfassung des wirklichen Menschenlebens in seiner geschichtlichen Willensverflechtung, so arg verdrängt haben. Wer die Kraft hat, das Leben in seiner Wirklichkeit zu erfassen, der kann nicht zweifeln, daß für Erziehung und Strafrecht gleichermaßen das Wichtigste durch eine solche Psychologisierung zunächst preisgegeben ist. Alles und jedes wird da zugeschnitten auf den Willen, der durch seine Ursachen vollkommen bestimmt ist, und das Bewußtsein, daß unser wahrer Wille so wenig ursächlich ist, wie er dreieckig oder viereckig, grün oder blau ist, kurz: daß unser wahrer Wille grundsätzlich frei ist, dieses Bewußtsein ist gelähmt und weiten Kreisen nicht ohne tiefen Kulturschaden verloren gegangen."

"Jeder Einzelne muß für sich selbst entscheiden, ob er ausgehen will und darf von jener Objektwelt, innerhalb deren die wahre Subjektwelt sich dann als täuschender Schein verflüchtigt, oder von jener Subjektwirklichkeit, von der die gesamte Objektwelt dann als Ergebnis der freien Tat getragen wird."

Für das Problem der Freiheit (1) gilt dies vor allem: wer es wie eine Frage behandelt, die durch ein einfaches Ja oder Nein beantwortet werden kann, der macht es sich dadurch von vornherein unmöglich, das Problem wahrhaft zu lösen. Das Ja oder Nein wäre gleichermaßen nicht eine Erledigung, sondern eine Mißachtung der Schwierigkeiten. Die mannigfaltigen Problemzusammenhänge würden dadurch nicht entwirrt, sondern auseinandergerissen und zerstört. Und diese Mannigfaltigkeit der Aufgaben liegt im Begriff der Freiheit auch bereits dann, wenn er nur im engsten Sinn genommen wird, wenn lediglich nach dem freien oder unfreien Zustandekommen der Willenshandlung im Täter selbst gefragt wird; nur in dieser engsten Begrenzung soll das Freiheitsproblem uns hier bekümmern. Im Getriebe der Welt hören wir vielmehr von einer ganz anderen, weiteren Freiheit, von der Freiheit, welche außerhalb des Handelnden die Hemmnisse für die Verwirklichung seiner Wünsche beseitigt. "Frei ist der Bursch" bezieht sich ja nur darauf, wie sich die anderen zu ihm verhalten; über sein eigenes Verhalten bekundet es nichts. Die "Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt", ist immer nur die Freiheit, die äußere Schranken beseitigt, Schranken welche die Natur oder die Gesellschaft um den Handelnden auftürmen mag; das innerhafte Wesen der Handlung selbst wird dadurch nicht berührt. Der Wollende ist in Bezug auf die Freiheit oder Unfreiheit seines Willens kein anderer in der "freien" Natur als hinter einengenden Kerkermauern. Gewiß bietet auch jener weitere Freiheitsbegriff philosophische Probleme. Der Soziologe und vor allem der Ethiker und der Rechtsphilosoph fragen nach den Schranken, welche die Gesellschaft um den Einzelnen errichten darf und soll. Wir aber mögen von diesem staatsphilosophischen Freiheitsbegriff vollkommen absehen. Die innere Freiheit des Menschen allein und nicht die äußere ist das Zentralproblem, wenn wir eine Lebensauffassung und Weltanschauung erringen wollen.

Auch in dieser Begrenzung wagen wir nun aber nicht, sofort an das Problem als ein Ganzes heranzutreten. Wir müssen langsam vordringen, und fast scheint es unwichtig, von welcher Seite wir ausgehen. Sicherlich haben wir den festesten und greifbarsten Anhaltspunkt, wenn wir beginnen mit der Willenshandlung als einem körperlichen Vorgang in der Natur. Niemand darf behaupten, daß eine Willenshandlung nichts weiter ist als der Ablauf körperlicher Vorgänge; müssen wir da doch von vornherein von all dem absehen, was sich im Bewußtsein abspielt, von den Vorstellungen und Gefühlen und dem inneren Willenserlebnis. Aber ebenso darf niemand bestreiten, daß jede Willenshandlung durch ihren Handlungsvorgang selbst ein Stück Naturprozeß ist. Jedes Wort, das wir sprechen oder schreiben, jedes Zuwenden oder Abwenden, jede Tat, durch die wir eingreifen in die natürlichen oder sozialen Dinge, ist zunächst eine Muskelkontraktion. Ob sich da tausend ausgreifende Bewegungen verketten, um ein großes Werk in der Außenwelt durchzuführen, oder ob sich nur die Stimmbänder und die Mundorgane kontrahieren, um ein kurzes Ja oder Nein zu sprechen, wir haben in jedem Fall einen physischen Bewegungsvorgang vor uns, der als solcher selbstverständlich nur den Naturforscher interessiert, aber dem Naturforscher dann auch wirklich eine klare, eindeutige Erklärungsaufgabe stellt. Gewiß mag jedem Ja oder Nein eine lange Reihe von Gedanken und Gemütsbewegungen vorausgegangen sein, aber der Naturforscher hat kein Recht, sich sein eigenstes Problem dadurch zu erleichtern, daß er bei seinen Erklärungsbemühungen zu einem Gebiet hinüberschielt, das außerhalb seines Kreises liegt. Seine Aufgabe ist deutlich vorgezeichnet. Für physische Vorgänge hat er physische Ursachen zu finden. Jeder nicht physische Eingriff in den Kausalzusammenhang der mechanisches Welt bedeutet im letzten Grund ein von seinem Standpunkt aus ungelöstes Problem und bleibt für ihn ein Wunder; die Voraussetzungen seiner Forschung würden dadurch aufgehoben. Er untersucht nicht erst, ob diese körperliche Welt überall räumlich und jederzeit zeitlich und in jedem Geschehen ursächlich bedingt ist, sondern er setzt all das gerade voraus, sobald er an eine einzelne Aufgabe herantritt. Jede Kontraktion der Lippen und der Zunge beim Sprechen, jede Bewegung der Finger beim Schreiben muß der Voraussetzung gemäß ihre gesamte Ursachenreihe in der Körperwelt besitzen, und die Frage kann nur sein, ob es überhaupt denkbar ist, daß die heutige Naturwissenschaft ein so unendlich kompliziertes Problem bewältigen kann.

Freilich, die Kompliziertheit der Aufgabe ist kaum anders als die, welche andere biologische Erscheinungen darbieten. Die Stoffwechselvorgänge im Organismus, die Wachstumsprozesse in Pflanze und Tier verlangen ebenfalls ein millionenfaches Zusammenwirken von Teilprozessen. Die bloße Vielheit der Teilvorgänge kann den Naturforscher nicht schrecken, wenn er die bestimmte Muskelkontraktion, durch die ein Wort gesprochen wird, auf millionenfache Teilvorgänge im Gehirn zurückführt. Die Erregungen und ihre Nachwirkungen in den Gehirnzellen, die Hemmungen und Bahnungen in den nervösen Leitungswegen die Assoziationen und Reaktionen im Zentralnervensystem und Chemismen, mit dnen der moderne Gehirnphysiologe arbeitet, würden da ins Spiel treten. Die eigentliche Schwierigkeit liegt nun aber nicht in der Zusammengesetztheit des Prozesses. Was alle bloß physischen Betrachtungen der menschlichen Handlung so unzureichend erscheinen läßt, ist ja doch vielmehr die Zweckmäßigkeit der Handlung, die Intelligenz, die sich in ihr ausspricht. Wie soll aus dem Spiel der Gehirnzellen die Weisheit abzuleiten sein, die sich im gesprochenen Wort bekundet? Aber vom Standpunkt des Naturforschers aus betrachtet, bedeutet das doch nur, daß die Handlung zweckmäßig den Bedingungen der Umwelt angepaßt ist, und gerade das gilt ja von jedem organischen Vorgang. Die Stoffwechselvorgänge nach der Mahlzeit sind nicht weniger zweckmäßig den Bedürfnissen angepaßt und scheinbar ausgewählt. Trotzdem führt der Biologe sie nicht auf eine chemische Intelligenz zurück; er weiß, daß er sein Problem der Lösung keinen Schritt näher gebracht hätte, wenn er eine Stoffwechselpsyche den chemischen Verdauungserscheinungen überordnen würde. Unser Zeitalter weiß, daß im Gegenteil gerade die zweckmäßigeren Funktionen durch ein bequemes Begriffsschema heute erklärt werden können. Hat der Biologe erst einmal den Nachweis erbracht, daß ein Organ zweckmäßig funktioniert, so gilt es ja im darwinistischen Ideenkreis als grundsätzlich erklärt. Auch der Apparat, der die Muskelbewegung erzeugt, wird gerade deshalb, weil er so Zweckmäßiges hervorbringt, dem modernen Naturforscher in seinem Entstehen und in seinem Funktionieren verständlich sein.

Nur muß allerdings der Apparat auch wirklich als ein Ganzes betrachtet werden, da er njur in seiner Gesamtheit als Instrument des biologischen Zwecks verstanden werden kann. Da genügt es dann nicht, etwa von den Muskeln allein oder vom Gehirn allein zu sprechen, denn selbst ein Gehirn wäre ein durchaus zweckloses Organ in einem Organismus, der keine Sinnesorgane besitzt. Ebenso zwecklos freilich wäre das Gehirn mit Sinnesorganen, dem die Muskeln fehlen. Der Apparat, der allein biologisch zweckmäßig arbeitet, ist jener gesamte Reflexbogen, der mit den Sinnesorganen beginnt, durch Millionen Sinnesnerven zum Zentralnervensystem führt, durch milliardenfache Verflechtung im Rückenmark und Gehirn weiterführt zu den Bewegungsnerven und schließlich in den Muskeln endet. Der Biologe weiß, wie sich so ein Apparat stammesgeschichtlich von den niedersten Lebewesen aus in steter Differenzierung langsam entwickelt hat, und wie in jedem Individuum von den einfachsten Saug- und Schluckbewegungen des Neugeborenen bis zu den schwierigsten Handlungen des Erwachsenen der Prozeß selbst sich immer mehr kompliziert. Aber auf jeglicher Stufe, vom Protisten [Einzeller - wp] bis zum höchsten Säugetier, vom ersten Lebenstag des Menschen bis zu seinem letzten, ist die Leistung jenes Reaktionsapparates, der auf Sinneseindrücke mit Bewegungen, auf Fragen mit Antworten reagiert, eine zweckmäßige und prinzipiell deshalb naturwissenschaftlich erklärbare. Die einzelne Handlung bleibt freilich unberechenbar, so wie die Bewegung der Welle mitten im Meer unberechenbar ist, weil die Zahl der Teilursachen dem Beschreibenden unübersehbar bleiben muß. Aber dem Wesen nach ist weder die Bewegung der Welle, noch die Bewegung der Arme und Finger des Schreibenden, der Stimmbänder und Lippen des Sprechenden der rein physikalischen Erklärung entzogen.

Ist die Handlung, die der Naturforscher so erklärt, frei oder unfrei? Im Grunde müssen wir antworten, daß die Frage selbst hier bedeutungslos wird. So wenig, wie wir fragen würden, ob jene Welle sich frei oder unfrei bewegt, so wenig sollten wir es in Bezug auf die Lippen und die Finger fragen. Daß die Bewegung dem Kausalgesetz unterliegt und vollkommen erklärbar ist, gilt als selbstverständlich. Diese Kausalgesetzmäßigkeit aber als Unfreiheit zu bezeichnen, hat dann eigentlich gar keinen Sinn, da diese Welt der mechanischen Kausalität aus sich heraus überhaupt nicht die Frage nach einer Freiheit suggerieren kann.

Nun besagt uns jedes einzelne Willenserlebnis, daß alles, was der Naturforscher in sein Begriffsnetz einfangen kann, doch das Wesentlichste zurückläßt, die innere Erfahrung, die Bewußtseinserscheinung. Unsere Willenshandlung besteht nicht darin, daß wir sprechen oder schreiben, rechts gehen oder links ausweichen, sondern daß wir in unserem Bewußtsein ein Wollen fühlen und die Motive erleben, die zur inneren Entscheidung führen. Auch da müssen wir zunächst die positive Wissenschaft um Rat fragen. Hier kommt nun nicht mehr die Physik, sondern die Lehre von den psychischen Erscheinungen, die Psychologie in Betracht. Aber so unklar und inkonsequent die Aufgabe der Psychologie auch häufig heute gefaßt wird, die ganze Entwicklung der modernen Psychologie hat das doch klargestellt, daß sie tatsächlich dahin strebt, eine Naturwissenschaft der inneren Erfahrungen zu werden. Sie hat ein anderes Objekt als die Naturwissenschaft der Außenwelt, aber ihre Methode ist im Grunde die gleiche. Auch sie will ihre Objekte beschreiben, klassifizieren, in ihre Bestandteile zerlegen und ihre Vorgänge und Veränderungen kausal erklären. So wie der Naturforscher die Dinge da draußen in Elemente und Moleküle und Atome zerlegt, so muß der Psychologe die Wahrnehmungen und Vorstellungen, die Erinnerungen und Phantasien, die Gemütsbewegungen und Wollungen und Gedanken in einfachere und immer einfachere Bestandteile zerlegen und aus dem Wechselspiel dieser elementarsten Bewußtseinsinhalte das ganze Geschehen in der inneren Welt erklären.

Freilich weiß der Psychologen, daß die wirklichen Bewußtseinsinhalte zu einer geschlossenen Erklärung nicht ausreichen. Um einen Kausalzusammenhang zu schaffen, muß er das bewußt Erlebte ergänzen, und durch die Art der Ergänzung sondern sich zwei Gruppen psychologischer Arbeit. Die einen suchen die Zwischenglieder des Zusammenhangs in einem unbewußt Psychischen, das sie hypothetisch hinzuergänzen. Der Gedanke und der Wille, wenn sie ins Bewußtsein eintreten, sind dann zum Teil, vielleicht zum größten Teil, durch ein unbewußtes Geschehen vorbereitet und bedingt. Die andere Partei vermeidet die Konstruktion unbewußter psychischer Mechanismen und versucht in die Lücken des Zusammenhangs der bewußten Erscheinungen physische Zwischenglieder einzuschalten. Nicht ein unbewußter Seelenapparat, sondern der physische Gehirnapparat trägt dann die Verantwortlichkeit für den Ablauf der psychischen Erscheinungen. Eine solche Theorie, wie die moderne physiologische Psychologie sie heute bevorzugt, verlangt dann, daß jedes psychische Element an eine bestimmte physiologische Gehirnerregung gebunden gedacht wird, und daß nun der eigentliche Zusammenhang und die Verkettung auf physischer Seite vor sich geht, das Psychische aber nur Begleiterscheinung wird. Vorbildlich wird da die Wahrnehmungsvorstellung. Die Landschaft, die wir wahrnehmen, muß die Nerven unserer Netzhaut hunderttausendfach erregen, und diese Augenreizung muß sich auf hunderttausend Bahnen in eine millionenfache Gehirnerregung umsetzen, und diese Gehirnerregung ist dann begleitet von unserer Wahrnehmungsvorstellung des Landschaftsbildes. Nach diesem Schema versucht die Psychologie die gesamten Bewußtseinsinhalte in empfindungsartige Elemente aufzulösen und ihre Aufeinanderfolge aus den Gehirnvorgängen abzuleiten.

Die Vorzüge einer solchen Theorie leuchten ein. Die Theorie des Unbewußten bietet ja keinerlei wirkliche Erklärung, sie verschiebt nur alle unerklärten Vorgänge in ein der Erfahrung nicht zugängliches Gebiet. Die physiologische Theorie dagegen verknüpft die bekannten psychischen Erscheinungen mit den nicht minder bekannten und der Erforschung zugänglichen Prozessen in der körperlichen Sphäre. Dadurch wird es aber zugleich möglich, die psychischen und die physischen Vorgänge in einen solchen Zusammenhang zu bringen, daß sie sich in eine gemeinsame Theorie einfügen. Wer den psychischen Mechanismus durch unbewußtes Psychisches erklären will, schafft dadurch für das Seelische Sonderansprüche, die mit den Forderungen der Naturwissenschaft, vornehmlich mit der Lehre von der Erhaltung der Energie in der Körperwelt notwendig in Konflikt geraten. Entscheidend aber ist schließlich, daß selbst innerhalb eines solchen psychischen Systems von einer wirklichen Erklärung überhaupt gar nicht die Rede sein kann. Da lassen sich wohl typische Regelmäßigkeiten der Erscheinungen aufweisen, aber irgendeine Notwendigkeit des Zusammenhangs, eine wirkliche Erklärung, daß der eine Bewußtseinsinhalt dem anderen folgen muß, gibt es für die psychischen Elemente nicht und kann es nicht geben. Und was für die bewußten Erscheinungen schon nicht möglich ist, ist selbstverständlich dann für die unbewußten auch nicht zu fordern. Im Gegensatz dazu weisen die physikalischen Gesetze der Mechanik auf eine wirkliche Notwendigkeit hin, und das Ideal des naturwissenschaftlichen Denkens bleibt deshalb die mechanische Naturauffassung, welche die Erscheinungen als notwendig verkettet. Die Theorie der physiologischen Psychologie baut durchaus auf dieser Grundlage. Ihre prinzipielle Stellungnahme kann dadurch nicht berührt werden, daß die Gehirnphysiologie unserer Tage von einem wirklichen kausalen Verständnis der Einzelprozesse im Nervensystem noch weit entfernt ist. Entscheidend ist für sie nur, daß lediglich auf dieser Grundlage und auf keiner anderen ein solches Verständnis denkbar ist.

Auch die Willenslehre hat sich nun längst diesen theoretischen Gesichtspunkten fügen müssen. So wie der Psychologe im Dienst seiner Beschreibung und Erklärung die einzelne, scheinbar einheitliche Wahrnehmung in zahllose Elementarinhalte auflöst, gewissermaßen in psychische Atome, so muß nun auch der dem unmittelbaren Bewußtsein so einheitliche Willensakt zerbrochen und zerrieben werden, bis sich nicht weiter auflösbare Bestandteile darbieten. Wird all das, was wir beim Wollen in unserem Bewußtseinsinhalt finden, konsequent zerlegt, so findet sich nun kein einzelnes eigentliches Willenselement mehr, sondern was wir Willen nennen, ergibt sich dann als ein Komplex von Elementarempfindungen und Elementargefühlen. Nur die besondere Zusammensetzung macht dann das Wesen des Willens aus. Seine Bestandteile sind nicht andere als die, welche in die Vorstellungen eingehen, genau so, wie in der äußeren Natur die Bestandteile der organischen Stoffe keine anderen als die der unorganischen sind. Gemeinsam scheint allen psychischen Erlebnissen in der voll entwickelten Willenshandlung, daß die Vorstellung des zu erwartenden Erfolges vorangeht, daß sie sich verbindet mit der Vorstellung des eigenen Ich und mit der Vorstellung der Bewegungen, die zum Ziel führen, daß dann ein Impulsgefühl einsetzt, an das sich die Wahrnehmung der eintretenden Bewegung anschließt und Weiteres mehr. Aber nirgends schleicht sich da ein Element ein, das in sich selbst Willenscharakter trägt. Auch jenes Impulsgefühl erweist sich bei feinerer Analyse als eine Zusammensetzung aus Bewegungs- und Spannungsempfindungen, die selbst wieder eine körperliche Grundlage haben, und jene Ichvorstellung ist ein Komplex von Empfindungen, die um die Wahrnehmung des eigenen Körpers langsam kristallisiert sind. Die Psychologie darf aber nicht dabei stehen bleiben, bloß die Bewußtseinsinhalte im Willenserlebnis zu analysieren; sie kann auf dem Boden der physiologischen Psychologie auch zu einer wirklichen Erklärung voranschreiten. Sie kann da zeigen, wie jene vorangehende Vorstellung des zu erwartenden Erfolges von Gehirnerregungen begleitet ist, die ihrerseits außerordentlich komplizierte Bahnungen und Hemmungen, motorische Erregungen und Irradiationen [Täuschungen - wp] im gesamten Gehirnsystem auslösen und dadurch zur eigentlichen Ursache der schließlichen Handlung werden.

Ist ein solcher psychologisierter Wille frei oder unfrei? Das ist ja klar, daß der gesamte Prozeß nun auch hier in das Schema der Naturnotwendigkeit eingespannt ist. Die kausale Determinierbarkeit jedes Körpervorgangs ist hier nun auf das psychophysische Geschehen übertragen. Die Wirkung erfolgt mit derselben Notwendigkeit, mit der Reflexe im Nervensystem ablaufen, obgleich ein Teil dieses Gehirnreflexes von psychischen Erscheinungen begleitet ist. Aber auch das darf nicht übersehen werden, daß diese Forderung der gesetzmäßigen Bestimmtheit nicht weniger energisch vor uns stehen würde, wenn wir die grundlegende Theorie der physiologischen Psychologie ablehnen wollten und statt dessen die Theorie des unbewußten psychischen Geschehens bevorzugen. Soll jenes Unbewußte die einzige Aufgabe, um derentwillen es konstruiert wird, wirklich erfüllen, so muß es selbst nun wieder als ein psychischer Mechanismus gedacht werden, der an die Gesetze seiner Wesensart gebunden ist, und der somit ebenfalls mit bindendem Zwang die Wirkungen aus den Ursachen entstehen läßt. Der also täuscht sich selbst, der da meint, daß er der Forderung des naturgesetzlichen Zwangs entschlüpft, wenn er die Theorie des psychophysischen Parallelismus preisgibt und sich an die rein psychologisierende Hypothese anklammert. In der Tat sehen wir ja nicht selten, daß jede Lücke in der Kenntnis der Gehirnphysiologen gern ausgenutzt wird, um das Recht der anti-physiologischen Theorie zu beweisen und dadurch scheinbar den Willen der Gesetzmäßigkeit zu entziehen. Die Freiheit soll dadurch gerettet werden, daß man der Physiologie an diesem oder jenem Punkt noch eine Unkenntnis des physischen Kausalzusammenhangs nachweist. Die Freiheit des Willens soll durch die Ignoranz der Physiolgen triumphieren, und doch würden wir dadurch nur eine Freiheit gewinnen, die vor jedem Fortschritt der Wissenschaft erzittern müßte. Wer konsequent denkt, darf nicht leugnen, daß der Wille als Bewußtseinsinhalt, genauso wie der Wille als Muskelkontraktion, durchaus den kausalen Gesetzen und dadurch der Naturnotwendigkeit untergeordnet ist und jede Willenshandlung vom psychologischen wie von physiologischen Standpunkt prinzipiell aus ihren Ursachen vollkommen bestimmt werden kann.

Ist damit aber etwa gesagt, daß in dieser psychophysischen Welt der Willensfreiheit keinen Sinn hat? Durchaus nicht. Zunächst ist das ja klar, daß hier die Frage nach Freiheit oder Unfreiheit völlig berechtigt ist. Vom physiologischen Standpunkt lehnten wir die Frage als bedeutungslos ab, vom psychologischen erscheint sie als eine durchaus natürliche. Mit der Frage, ob die Willensentscheidung und die Willenshandlung naturgesetzlich notwendig eintritt oder nicht, hat das Freiheitsproblem nun nichts mehr zu tun. Die Freiheitsfrage ist vielmehr dadurch suggeriert, daß der Psychologe unter den Bewußtseinsinhalten auch das Gefühl des Anderskönnens und das Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit und ihres Einflusses auf die Handlung vorfindet.

Der Psychologe freilich wird sich scheuen, vorzuschlagen, daß wir alle diejenigen Handlungen frei nennen sollen, bei denen sich im Bewußtsein jenes Gefühl des Anderskönnens und des eigenen Entscheidens einstellt. An und für sich wäre ja auch das eine durchaus mögliche Stellungnahme, aber sie würde sich als höchst unfruchtbar erweisen. So mag beispielsweise der Geisteskranke, dessen sinnlose Handlung durch die Zerstörung seiner Gehirngewebe bedingt ist, oder der Hypnotisierte, dessen Tat durch den Befehl des Hypnotiseurs erzwungen ist, sich innerlich als vollkommen freier Täter seiner Handlung empfinden. Das lebhafte Ichgefühl und das Freiheitsbewußtsein mögen in beiden Fällen vollkommen erhalten bleiben. Auf der anderen Seite mag der sittlich Handelnde auf der Höhe seiner Tat sein Ich vergessen und das Gefühl eines Anderskönnens mag vollkommen gehemmt sein, und doch wäre es sinnlos, jenen Geisteskranken frei und den sittlichen Helden unfrei zu nennen. Die Wissenschaften haben daher mit vollem Recht den Standpunkt für die Entscheidung so gewählt, daß nicht ein subjektives, sondern ein objektives Merkmal als charakteristisch herausgehoben wird. Wir nennen vom Standpunkt der Psychologie frei diejenige Willenshandlung, die durch das normale Funktionieren der gesamten psychophysischen Persönlichkeit verursacht wird. Ist im komplizierten Mechanismus des psychophysischen Systems auch nur irgendein wesentlicher Bestandteil zerstört oder nicht in der Ordnung, so gilt uns die Freiheit des Menschen als aufgehoben. Der Geisteskranke und der Hypnotisierte, der Fiebernde und der Trunkende sind uns daher nicht mehr psychologische freie Persönlichkeiten. Die Aufhebung der freien Wirksamkeit mag bei ihnen ganz verschiedene Ursachen haben. Beim Trunkenen und beim Hypnotisierten mögen vielleicht abnorme Hemmungen eingesetzt haben, beim Fiebernden oder beim Geisteskranken mögen abnorme Reizungen in Frage sein, aber stets ist die normale Harmonie der psychophysischen Funktionen irgendwie zerstört und die resultierende Handlung deshalb nicht mehr das Ergebnis des normalen Gesamtapparates. Der Begriff der Freiheit besteht hier offenbar vollkommen zu Recht; denn frei ist die Handlung nun eben, wenn sie Wirkung des normalen Apparates ist und das heißt: Wirkung der gesamten Persönlichkeit, wie sie sich durch Vererbung und Erziehung und durch die Einwirkung aller psychischen und physischen Einflüsse der Umgebung bis zum Augenblick der Tat entwickelt hat. Auch die freie Tat ist dann selbstverständlich kausal genauso determiniert, wie die unfreie Tat des Geisteskranken, aber in dieser notwendigen Ursachenverkettung war beim Freien die gesamte psychophysische Persönlichkeit die letzte unmittelbare Ursache für die Tat.

Mit diesem Freiheitsbegriff arbeitet dann auch die psychologisierende Auffassung des Strafrechts, das selbstverständlich eine strafbare Handlung nicht anerkennt, wenn die Tat in einem Zustand geschehen ist, in dem die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Diese freie Willensbestimmung besteht dann eben darin, daß der gesamte normale psychophysische Apparat als Ursache der notwendigen Wirkung ins Spiel tritt. An der Auffassung verändert sich daher auch nichts, wenn neuerdings der Versuch gemacht wird, das Wort "freie Willensbestimmung" auszuschalten und statt dessen etwa von der Einsicht in die Strafbarkeit der Tat und der Fähigkeit, die Handlung dieser Einsicht gemäß zu bestimmen, gesprochen wird. Die freie Willenstat wird dadurch nur in ihre Bestandteile aufgelöst, aber das, was gefordert wird, ist in beiden Fällen das gleiche. Von einer Aufhebung des naturnotwendigen Kausalzusammenhangs soll ja auch dann nicht die Rede sein, wenn der zusammenfassende Ausdruck "freie Willensbestimmung" im Strafrecht festgehalten wird. Dagegen ist es einleuchtend, daß von diesem Standpunkt nun der Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit von hoher Bedeutung sein muß. Wenn die Verantwortlichkeit, die Zurechnungsfähigkeit darin besteht, daß der gesamte psychophysische Mechanismus beim Zustandekommen der Tat normal funktioniert hat, so wird es sich ja nicht um eine scharfe Grenze zwischen Freiheit und Unfreiheit handeln können. Der Apparat mag in keinem seiner Teile vollkommen zerstört sein, wie beim Paralytiker, oder gehemmt sein, wie beim Hypnotisierten und doch etwa unter der Einwirkung einer starken Gemütsbewegung oder einer Überspannung und Ermüdung oder durch eine schwache Veranlagung in mangelhafter Weise funktionieren. Das Strafrecht, das den Täter zu einer normalen Funktionsweise heranziehen und die Gesellschaft schützen will, muß dann von all diesen Zwischenstufen möglichst genaue Kenntnis suchen und bei seiner individualisierenden Bestrafung auf jene Zustände verminderter Freiheit in der Willensbestimmung dauern Rücksicht nehmen. Jedenfalls kann darüber also kein Zweifel sein, daß der Psychologe, an den der Jurist und der Soziologe sich ja heute gerne anschließen, von seinem Standpunkt der positiven Wissenschaft aus, ohne auch nur im Geringsten die Notwendigkeit und vollkommene Determiniertheit jeder Handlung anzuzweifeln, innerhalb dieser notwendigen Handlungen zwischen den freien und den unfreien scheiden kann.

Wir sind damit am Ende der positiven Wissenschaft angelangt. Es gibt keine Tat, die niedrigste wie die edelste, keine gewollte Denkbewegung, die sinnloseste wie die weiseste, die sich nicht vollkommen nach solchen Prinzipien beschreiben und erklären lassen würde. Da kann kein unbestimmbarer Rest übrigbleiben; die Freiheit ist zum Sonderfall der naturgesetzmäßigen Notwendigkeit geworden. Aber darf das nun wahrhaft das letzte Wort sein? Es ist das letzte Wort der erklärenden Wissenschaft, aber ist die erklärende Wissenschaft der letzte, der vollkommenste Ausdruck jener Lebenswirklichkeit, die wir durch unser Denken ergreifen und verstehen wollen? Haben wir uns bisher nicht ausschließlich mit begrifflichen Konstruktionen beschäftigt, die alle Wirklichkeit weit hinter sich zurücklassen? Was da die Physik und die Psychologie aus dem Erlebnis herausarbeiten und durch ihr Umdenken begrifflich schaffen, das mag für gewisse Denkzwecke notwendig sein und deshalb wertvoll und in diesem Sinne wahr, aber hinter den Hilfsbegriffen des physikalischen und psychologischen Denkens ist die Lebenswirklichkeit unerkennbar geworden. Wollen wir vom Willen in seiner unmittelbaren Erlebniswahrheit sprechen, von jenem Willen, der unser wirkliches, persönliches Leben trägt, der Pflichten findet und unserem Dasein Sinn verleiht, dann dürfen wir uns nicht mit jenen Hilfsbegriffen begnügen, welche die erklärende Wissenschaft für die Zwecke ihrer kausalen Berechnungen an die Stelle der Erlebnisses setzt, sondern müssen zurückkehren zum Erlebnis selbst.

In dreifacher Art hat jene erklärende Wissenschaft die lebendige Wirklichkeit für ihre Zwecke umgemodelt. Die Objekte, von denen sie spricht, sind ihr entweder physische Dinge da draußen und als solche Material der Physik oder Bewußtseinsinhalte in uns und als solche Gegenstand der Psychologie. Der Tisch hier, den ich vor mir sehe und fühle, ist für den Physiker ein Atomkomplex, der von meinen Wahrnehmungen ganz unabhängig ist, und für den Psychologen eine Gesichts- und Tastvorstellung, die in meine Bewußtsein ihr Dasein hat. In der Lebenswirklichkeit kennen wir diesen Gegensatz nicht. Der Tisch hier, auf den ich mich stütze, ist nicht doppelt da, einmal in mir und ein andermal da draußen; meine Wahrnehmung des Dings und das Ding selbst ist zunächst eine undifferenzierte Einheit: da draußen und nicht in mir erlebe ich das Wahrgenommene. Wohl mag ich dazu kommen, in den Dingen, die ich vorfinde, das, was ein uns allen gemeinsamer Gegenstand ist, abzusondern von dem, was für mich allein Objekt ist, und durch ein kompliziertes Umformen mag ich dann all das, was nur für mich Gegenstand ist, von den Dingen abgelöst denken, es in mich selbst hineinverlegen und abkapseln und es als einen Bewußtseinsinhalt bezeichnen, während ich alles Übrige in den Dingen von mir unabhängig denke und als äußere Natur abtrenne. So mag dann schließlich durch vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Arbeit aus den einheitlichen Wahrnehmungsdingen die gesonderte Welt des Physischen und des Psychischen entstehen eine wichtige Bedeutung für unser Denken beanspruchen, nur darf dieses Denkergebnis niemals wie ein Stück unmittelbarer Wirklichkeit uns dort den Weg versperren, wo wir aus dem warmen Erlebnis heraus die Kräfte und die Werte des Lebens verstehen wollen.

Wichtiger aber noch ist ein anderes. Die Physik und die Psychologie sind beschreibende und erklärende Wissenschaften und haben es daher notwendig mit Gegenständen, mit Dingen, mit Erfahrungsinhalten, mit Objekten zu tun. Im wirklichen Erlebnis aber gibt es Erfahrungen, die nicht Objektcharakter tragen, und die daher durch die Begriffe der beschreibenden Wissenschaft zunächst gar nicht erreichbar sind. Will die Beschreibung sich auch jenen Erfahrungen nähern, die nicht Objektart besitzen, so müssen sie in Objektbeziehungen umgedeutet oder durch Objekte ersetzt werden. Gerade so ein Erlebnis ist jede Willenstat. In der Fühlenswirklichkeit ist der Wille niemals ein Objekt, ein Bewußtseinsinhalt, sondern eine Stellungnahme, eine Tat, eine Subjektfunktion. Als solche kann sie nicht wie ein Objekt beschrieben, sondern kann nur in ihrem Sinn verstanden, in ihrer Beziehung auf Zwecke und Ziele erfaßt werden. Die Objektwissenschaft überwindet diese Schwierigkeit, indem sie aus dem Ich eine bloße Wahrnehmung des eigenen Körpers macht und dem wahren Selbst, das sich im Tatbewußtsein bekundet, den psychophysischen Organismus substituiert. Dann kann auch der Wille ohne Schwierigkeit als ein bloßer Vorgang in diesem Objektkomplex gedeutet werden, und dadurch wird dann letzthin der subjektiven Willenswirklichkeit ein objektives Bündel von Vorstellungen und Bewegungsempfindungen untergeschoben. Für die Zwecke des kausalen Denkens genügt das vollkommen, aber für das Verständnis des wirklichen Willenserlebnisses bietet es nicht einmal den geringsten Anhaltspunkt. Wenn wir wollend in die Welt eingreifen, so ist unser Wille niemals Objekt für uns, sondern durchaus eine Bestimmung unseres Selbst.

In genau gleicher Weise hat die beschreibende und erklärende Wissenschaft aber schließlich auch die Mitwelt für uns umgemodelt. Um sich der gegenständlichen Denkart zu fügen, wird auch der andere Mensch für uns als ein Objekt in die Rechnung eingesetzt. Wir nehmen den anderen als einen Körper wahr, und weil jener Körper unserem eigenen ähnlich ist, kommen wir zu dem Analogieschluß, daß in jenem fremden Körper auch psychologische Bewußtseinsinhalte ablaufen wie in unserem, und so verlegen wir psychische Objekte in den fremden Organismus. Aber können wir uns darüber täuschen, daß wir uns damit wiederum weit von aller Lebenswirklichkeit entfernt haben? Wenn wir im Tagesgetriebe miteinander verkehren, im engen oder im weiten Kreis, als Freund oder als Feind, ist dann der andere da für uns jemals zunächst ein Objekt, von dessen physischer Dinglichkeit wir auf psychische Dinge in ihm schließen? Wenn wir uns miteinander unterhalten, so ist gerade das Wollen und der Sinn der Bekundungen des andern der Ausgangspunkt. Wir nehmen Stellung zu seiner Stellungnahme, wir suchen ihn zu verstehen, nicht wahrzunehmen. Wir suchen die Taten seines Selbst nachzuerleben und innerlich zu erfassen, indem wir sie subjektivierend, nicht objektivierend in uns aufnehmen. Auch hier sind die Zusammenhänge, welche die erklärende Wissenschaft herausarbeitet, indem sie an die Stelle des ursprünglichen Subjektiven wahrnehmungsartige Körper- und Bewußtseinsinhalte setzt, von hoher wissenschaftlicher Bedeutung. Aber in jener Wirklichkeit, in der wir mit unseren Freunden verkehren, und in der allein die Pflichten unseres Lebens liegen, muß die ursprüngliche, noch nicht umgemodelte Erfahrungsweise doch den einzigen Ausgangspunkt bilden.

Auch in jener Lebenswirklichkeit, in der die Dinge noch nicht in Atomkomplexe und Bewußtseinsinhalte zerspalten sind, und in der unser eigenes Wollen wie das Wollen der andern noch in dem reinen, stellungnehmenden Charakter erfaßt wird, können wir sehr wohl wissenschaftlich vorwärtsdringen und von den Zufallszusammenhängen des Einzelerlebnisses zu größeren und weiteren Zusammenhängen voranschreiten. Wir treten dann ein in die Sphäre der historischen Wissenschaften, denn die Geschichte ist in der Tat die Lehre vom Willenszusammenhang der Menschheit, solange das Wollen noch in seinem nacherlebbaren, stellungnehmenden, subjektivierenden Charakter verstanden wird. Nur vom Willen aus wird die Welt der Geschichte erleuchtet. Im Geschichtlichen ist die Natur niemals etwas anderes als Material und Hilfsmittel und Hemmnis des menschlichen Willens. Wer für die historische Persönlichkeit Objektgruppen einsetzt, hat den Sinn der Geschichte bereits preisgegeben, gleichviel, ob er für den Helden einen chemischen Molekülkomplex oder einen psychologischen Bewußtseinsinhalt substituiert. Die Geschichte spricht wahrhaft von der Lebenswirklichkeit, die Psychologie kann und will das nicht. Die geschichtlichen Zusammenhänge sind klargelegt, wenn wir verstehen, was die einen gewollt und die andern mitgewollt oder entgegengewollt haben, und das gilt nicht nur von der politischen Geschichte, sondern von aller Geschichte der Wissenschaft und der Kunst, des Rechts und der Religion.

Und nun ergibt sich auf ganz neuem Boden die Frage, ob der Wille frei ist, frei in dieser Welt der historischen Wirklichkeit, von der wir Modernen, sobald wir zu denken anfangen, so leicht durch unser physikalisch-psychologisches Schulwissen losgerissen werden. Aber wir haben uns ja nur energisch anzuklammern an das, was uns in jedem Pulsschlag des Lebens eine unmittelbare Gewißheit ist. Wenn ich hier zu Ihnen spreche und gewisse Denkziele durch meinen Willen bejahe und andere ablehne und Sie nun zustimmend oder verneinend durch Ihren Willen zu meinem Wollen Stellung nehmen, so erleben wir ja so ein Stück Willenswirklichkeit und erleben es in einer Freiheit, die jene Scheinfreiheit der Psychologie weit hinter sich läßt. Dort im Psychologischen galt uns als frei der Wille, weil der psychophysische Ichkomplex in normaler Funktion in den notwendigen Kausalzusammenhang eingetreten ist. Hier aber wissen wir uns frei, weil es für diesen wirklichen Willen überhaupt gar keinen Sinn hat, nach einem Ursachenzusammenhang zu fragen. Der wirkliche Wille ist frei, weil er keine Ursachen hat, und er hat keine Ursachen, weil er in einer Dimension vor sich geht, die sich gar nicht mit dem Reich der kausal verknüpften Objekte berührt. Nach den Ursachen des wirklichen Willens fragen, hieße ihn bereits in ein Objekt umgestalten und ihn dadurch in seiner eigenen Wesenheit preisgeben. Solange wir ihn wirklich als Willen festhalten, so wie wir ihn in jedem Akt der Stellungnahme zielgreifend erleben, hat es so wenig Sinn, nach seiner Ursache zu fragen, wie es Sinn hätte, nach seiner Farbe, seinem Gewicht oder seinem Klang zu fragen. Unser gesamtes mögliches Interesse ist befriedigt, wenn wir ihn in seinem Sinn verstehen, und das heißt, die Wollungen nacherleben, die in ihm eingeschlossen sind, die Beziehungen erkennen, in denen er in seiner Stellungnahme anderes Wollen bejaht oder verneint, und die Ziele erfassen, auf die er gerichtet ist. In jener ganzen Welt des Geschichtlichen, und das ist die Welt, in der wir leben, gibt es Ursachen und Wirkungen immer nur zwischen den Objekten des Willens, nicht aber für den Willen selbst. Ein Wille beeinflußt den anderen, bedeutet im Historischen niemals, daß der eine die Ursache und der andere die psychophysische Wirkung ist. Alle Freundschaft und Feindschaft, Führerschaft und Gefolgschaft muß durch die Denkformen subjektiver Beziehungen erleuchtet werden, um noch wirklich geschichtliches Leben auszusprechen. Wo sich die objektivierenden Denkformen einstellen, ist der Geist der Geschichte schon durch den der Naturwissenschaft erdrückt. Sowie es in der Welt des rein Biologischen, in der wir die Willenshandlung lediglich als Nervenprozeß und Muskelkontraktion aufgefaßt haben, überhaupt keinen Sinn hatte, zu fragen, ob der Wille frei ist oder nicht frei, so hat es in dieser Welt der Lebenswirklichkeit überhaupt keinen Sinn, zu fragen, ob der einzelne Willensakt zureichende Ursachen hat oder nicht. Gewiß gibt es Lebenslagen, in denen der Mitmensch auch für uns in der Lebenswirklichkeit zum reinen Objekt werden kann. Das gilt etwa für den Fall der Geisteskranken. Dann versagt eben die persönliche Lebensbeziehung, wir versuchen, das Wollen des andern zu erklären, gerade, weil wir es vom Selbststandpunkt nicht mehr verstehen können. In gewissen Fällen mag gerade dieser objektivierende Standpunkt sich nicht nur dem Arzt, sondern auch dem Lehrer und dem Richter aufdrängen. Der Knabe wird dann nicht als Persönlichkeit gewertet, sondern als psychophysisches Ding, in dem Veränderungen kausal hervorgebracht werden sollen, und der Verbrecher nicht als der Schuldbeladene verstanden, sondern als die psychophysische Ursache gesellschaftsschädlicher Handlungen. Wenn aber in unserer Zeit die Pädagogik sich so gänzlich der Psychologie verschreibt und das Strafrecht so überall mit psychologisierender Sozialpädagogik zu reformieren gedenkt, so liegt es doch eben auch hier nur daran, daß die objektivierenden Formen des Denkens durch ihre großen modernen Errungenschaften die rein unmittelbare Erfassung des wirklichen Menschenlebens in seiner geschichtlichen Willensverflechtung, so arg verdrängt haben. Wer die Kraft hat, das Leben in seiner Wirklichkeit zu erfassen, der kann nicht zweifeln, daß für Erziehung und Strafrecht gleichermaßen das Wichtigste durch eine solche Psychologisierung zunächst preisgegeben ist. Alles und jedes wird da zugeschnitten auf den Willen, der durch seine Ursachen vollkommen bestimmt ist, und das Bewußtsein, daß unser wahrer Wille so wenig ursächlich ist, wie er dreieckig oder viereckig, grün oder blau ist, kurz: daß unser wahrer Wille grundsätzlich frei ist, dieses Bewußtsein ist gelähmt und weiten Kreisen nicht ohne tiefen Kulturschaden verloren gegangen. Tritt aber dieser oder jener für das Recht der menschlichen Willensfreiheit ein, so glaubt er gemeinhin, sie entweder durch die Inkonsequenz retten zu müssen, daß da doch noch ein Stück tieferer Kausalität in die bloße Naturkausalität eingreifen könnte, oder aber dadurch, daß er den Boden der Erfahrung gänzlich verläßt und den freien Willen auf eine metaphysische Überwirklichkeit bezieht. Es gilt stattdessen, deutlich einzusehen, daß es die unmittelbarste Wirklichkeit ist, in der wir die Freiheit finden. Aber diese Freiheit des wirklichen geschichtlichen Willens ist hier doch eigentlich nur negativ bestimmt. Der Wille ist frei, weil er nicht von Ursachen abhängt und das Suchen nach seinen kausalen Vorbedingungen seine Wesenheit verleugnet. In der Lebenswahrheit aber sind wir doch dauernd erfüllt von dem Gefühl, daß diese Freiheit einen positiven Sinn hat und somit selbst ihre Ursachenlosigkeit noch nicht das abschließende Merkmal sein kann. Der tiefste Sinn der Freiheit offenbar sich doch erst dann, wenn dieser persönliche, in seiner Stellungnahme unmittelbar erfaßte, Zielen zugerichtete Willen einem Sollen gegenübergestellt wird. Das unermeßliche Wort "du kannst, denn du sollst" führt uns in sicherer Stärke über den Kreis der rein geschichtlichen Willensregungen hinaus. Solange wir nur auf das wirre Spiel des historischen Lebens blicken, begegnet uns in der Tat der Sinn der Freiheit eigentlich nur in negativer Form. Wir sind unabhängig, wir wenden uns diesem und jenem zu und erleben unser Selbst in jener Zuwendung, wir sagen ja und wir sagen nein, aber wir haben noch kaum Anlaß, positiv unsere Freiheit zu betonen, solange uns nicht eine Forderung, eine Pflicht gegenübertritt.

In der Welt der Erlebniswirklichkeit kommt nun freilich keine Pflicht von außen an uns heran. Das Sollen, solanges es nur der Befehl eines fremden Einzelwillens ist, erhebt sich in uns nicht wirklich zur Würde der Pflicht. Die wirkliche Pflicht ist ein Wollen in uns selbst, aber ein Wollen, das sich nicht als die zufällige Entscheidung unserer Persönlichkeit darstellt, sondern als ein schlechthin gültiges Wollen, das wir nicht preisgeben können, ohne unsere Welt selber preiszugeben. Es ist ein Wollen, das wir wollen müssen, wenn wir eine Welt wollen und nicht mit dem sinnlosen Zufallstraum chaotischen Lebens uns befriedigen wollen. Es ist ein Wollen, das deshalb mehr als einen individuellen Charakter trägt, ein überindividuelles Wollen in uns, von dem wir nicht lassen können, ohne daß für uns selbst die Einheit der Welt zerfällt. Vierfach ist das überindividuelle Wollen, das wir in uns erleben, und durch das sich für uns eine Welt aufbaut. Wir wollen erstens, daß sich das Erfahrene, das Objekt wie auch das Subjekt, im Wechsel der Erlebnisse selbst behauptet und nicht spurlos verlorengehen. Das ist das logische Wollen in uns, unter dessen Forderung wir kausale und historische Zusammenhänge an die Stelle des bloß flüchtigen Erlebnisses setzen. Es ist zweitens der überindividuelle Wille, im Chaos der Erfahrungen eine innere Einstimmigkeit zu suchen und dadurch eine Welteinheit zu gewinnen. Das ist das ästhetische Wollen in uns. Zum dritten aber verlangt der überindividuelle Willen, daß jedes Wollen sich selber treu bleibt und sich in die Tat umsetzt. Auch dadurch wird eine mit sich selbst einige, geschlossene Welt erst möglich. Das ist das ethische Wollen in uns. Und schließlich verlangt die überindividuelle Forderung in uns, daß jene drei Welten, die uns aus logischer, ästhetischer und ethischer Forderung erwachsen, nun selbst wieder miteinander in Einheit sind. Das ist das religiöse Wollen in uns. Weil aber jede dieser vier Forderungen notwendig ist, damit wir überhaupt eine Welt besitzen und nicht nur ein schales, traumhaftes Nichts, so sind diese Forderungen bindend für jedes Selbst, das sein Wollen überhaupt auf eine Welt beziehen will. Und weil diese Wollungen notwendig sind, so ist nun der Einzelwille genötigt, zu ihnen Stellung zu nehmen. Unser Willensakt muß die ethische und ästhetische und logische und religiöse Forderung bejahen oder verneinen. Und weil es eben eine Forderung ist, die da an uns herantritt, so gewinnt die Entscheidung nunmehr einen ganz anderen Sinn, als wenn es sich nur um das geschichtliche Vorziehen oder Ablehnen dieses oder jenes Dings handelt. Erst weil wir Pflichten in uns finden, erhebt sich unsere Willensentscheidung zur Höhe der ihrer Freiheit bewußten Tat.

Wir sagten, einer dieser Pflichtenkreise ist der logische. Das logische Sollen verlangt von uns, daß wir die Erlebniswirklichkeit dadurch zu einer Welteinheit fügen, daß wir das einzelne Erlebnis im Wechsel der Erfahrungen festhalten. Wenn wir das in Bezug auf die Dinge unternehmen, so bauen wir die mechanische Natur auf, in der nun der logischen Forderung gemäß kein Atom verschwinden und keines neu entstehen kann und die Kräfte einander stets gleichbleiben müssen. Wir konstruieren so ein kausales System, und weil es der logischen Forderung genügt, hat es für uns den Wert der Wahrheit. In dieses System reihen wir konsequenterweise schließlich uns selber ein, uns, die handelnden Menschen. Mit unserem wirklichen Willen freilich können wir nicht hineingefügt werden, weil der Wille kein Ding ist. Aber der sich bewegende körperliche Mensch kann in ein solches Naturbild eingeschaltet werden, und er trägt dann all sein Innenleben wie ein hineingeschachteltes psychisches Objektbündel mit sich. Dadurch erscheint dann der Mensch selbst völlig in die Denkformen der Kausalität und Dinglichkeit eingefügt, und das Innenleben ist zum psychologischen Bewußtseinsinhalt geworden. Damit haben wir nun wirklich den letzten Punkt erreicht, denn jetzt sehen wir, wie sich die Unfreiheit des Menschen erst aus seiner eigenen, freien Tat ergibt. In der Lebenswirklichkeit sind wir frei, aber unsere Aufgabe ist, in unserer Freiheit unseren Pflichten zu dienen. Es ist unsere Pflicht, die Dinge so umzudenken, daß sie einen geschlossenen Kausalzusammenhang darstellen, und im Dienste dieser Pflicht entscheiden wir uns in Freiheit, im Rahmen des Naturzusammenhangs sogar uns selber als ein Stück psychophysischer Natur und somit als unfrei aufzufassen.

Wer dieses Wechselverhältnis nicht durchschaut, mag sich ja leicht verführen lassen, jene kausale Konstruktion, weil sie im Sinne der erklärenden Wissenschaft wahr ist, nun selbst als Ausdruck der letzten Wirklichkeit hinzunehmen. Lebensauffassung und Weltanschauung bauen dann auf jener Objektvorstellung vom Menschen auf, die in Wirklichkeit der Mensch als freies Subjekt erst für seine logischen Pflichtaufgaben geschaffen hat. Dann freilich erscheint als der Weisheit letzter Schluß notwendig die Überzeugung, daß Welt und Leben nur ein blindes Spiel, sinnlos und wertlos sind, und doch ist dieses mechanische Kausalspiel nur gesetzt im Dienst von Zwecken und sinnvollen Werten. Aus seiner Überzeugung heraus, aus der Tiefe seines Erlebens muß jeder Einzelne für sich selbst entscheiden, ob er ausgehen will und darf von jener Objektwelt, innerhalb deren die wahre Subjektwelt sich dann als täuschender Schein verflüchtigt, oder von jener Subjektwirklichkeit, von der die gesamte Objektwelt dann als Ergebnis der freien Tat getragen wird. Daß wir in diesem großen Gegensatz der Weltanschauung nicht nur die Pflichten und Ideale, sondern die Wirklichkeit selbst preisgeben, wenn wir das Objektbild als letzte Grundlage wählen, das war die heilige Überzeugung, die der deutsche Idealismus mit überwältigender Kraft bekundet und begründet hat, und die trotz aller Triumphe der Naturwissenschaft keine ernsthaft denkende Zeit preisgeben darf.

Und damit knüpfe ich an meine Antrittsvorlesung (2) vor Jahresfrist an, in der ich es bekannte, daß mir als Hauptziel meines Lehrjahres an der Berliner Universität das vorschwebte, daran mitzuhelfen, daß der Geist FICHTEs, der Geist des ethischen Idealismus in der deutschen Jugend wieder lebendiger wird. Zwischen jener Stunde und der heutigen liegt ein erfülltes Jahr beglückendster Mitarbeit. Ich kann nicht herzlich genug den Kollegen und Kommilitonen danken für alles, was sie mir mit vollen Händen dargeboten haben. Aber von all den fruchtbaren Erlebniseindrücken, die ich aus meinem Austauschjahr in meine neuweltliche Wirksamkeit hinübernehme, ist das mir Wertvollste doch, daß es mir immer deutlicher geworden ist, wie in der deutschen akademischen Jugend der viel zu lange verachtete Geist des deutschen Idealismus sich heute wieder kräftig zu regen beginnt. Wenn nicht alles täuscht, so scheint es, als ob die philosophielose Zeit wieder überwunden ist und die Jugend von bloßer Tatsachenanhäufung sich wieder nach Weltanschauung sehnt. Möge dieser immer junge Geist FICHTEs in diesen Hallen weiterblühen und gedeihen und, wie einstmals, wieder dem Vaterland die edelsten Früchte tragen.

LITERATUR - Hugo Münsterberg, Das Problem der Freiheit, Internationale Monatsschrift für Wissenschaft Kunst und Technik, Bd. VI, 1912
    Anmerkungen
    1) Stenographische Nachschrift der Abschiedsvorlesung des Harvard "Austauschprofessors in der alten Aula der Universität Berlin am 27. Juli 1911.7
    2) siehe diese Zeitschrift, 1910, Nr. 4