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FRITZ MAUTHNER
Ideenassoziation
I -29

"Man kann sagen, daß für den gebildeten Durchschnittsmenschen das Wort die Ursache aller Gedankenketten ist, die alleinige Ursache."

Man kann sagen, daß für den gebildeten Durchschnittsmenschen das Wort die Ursache aller Gedankenketten ist, die alleinige Ursache.Nun folgen aber die Einzelerinnerungen nicht nur so in der Zeit aufeinander, wie sie durch aufeinanderfolgende Wahrnehmungen angeregt werden (wenn ich z.B. durch meine Vaterstadt wandere und dieses und jenes Haus alte Erlebnisse ins Gedächtnis zurückruft), sondern es ist auch eine Tatsache, daß eine einzige Anregung genügt, um automatisch eine unendliche Reihe von Erinnerungen wachzurufen, die dann natürlich in der Zeit aufeinanderfolgen. Ein lebhafter Kopf kann während der Dauer einer Stunde eine Kette von Erinnerungen durchlaufen, die sich durch Himmel und Erde, durch alle Wissensgebiete, durch Lust und Schmerz, durch Vergangenheit und Zukunft hindurchzieht, daß letzte insofern, als auch Erwartungen schließlich doch nur Endglieder von Erinnerungen sind. Spricht man in der Psychologie von der Zeitfolge der Erinnerungen, so nennt man diese gewöhnlich nicht Erinnerungen, sondern Gedanken oder Ideen, und nennt die seelische Erscheinung selbst seit der Zeit der Scholastiker, mit einem technischen Ausdrucke allerdings erst seit LOCKE, Ideenassoziation. Neuerdings hat HAECKEL, der als Greis neue Worte fast noch lieber hat oder besser behalten kann als neue Tatsachen, das schwierige Wort durch "Assoziation" mundgerechter zu machen gesucht. Die Engländer waren die ersten, welche die Assoziationspsychologie fein ausgebildet haben. Nach ihnen haben dann die Deutschen die sogenannten Assoziationsgesetze aufgestellt und zunächst die Assimilation als die Verschmelzung sehr ähnlicher, die Komplikation als die Verschmelzung unähnlicher Gebilde zur Grundlage der Assoziation gemacht, sodann das Gesetz der Zeitfolge von Assoziationen systematisch durchzuführen gesucht.

Über die grobschlächtigen Andeutungen des ARISTOTELES nach dem Assoziationen namentlich durch Ähnlichkeit und Gegensatz und durch zeitliche oder räumliche Nachbarschaft der Erinnerungsbilder hervorgerufen werden, ist man freilich nicht wesentlich hinausgekommen, obgleich nach HUME SCHOPENHAUER, der übrigens die Analogie neben die Ähnlichkeit setzte, bedeutungsvoll auf das Verhältnis von Grund und Folge als eine wichtige Quelle der Assoziationen hinwies und das Bedürfnis fühlte, eine SeeIenkraft aufzustellen, welche als tiefere Ursache unter allen möglichen Assoziationen die letzte Wahl trifft. Selbstverständlich sah der Willensphilosoph diese Kraft im menschlichen Willen. Und dann soll wieder die Assoziation der vom Willen unabhängigste Gehirnvorgang sein. Alle Assoziationsphilosophen widersprechen einander und müssen einander widersprechen; die herrschende Lehre des psychophysischen Parallelismus macht jede Verständigung unmöglich: einerseits kann die tägliche Selbstbeobachtung lehren, daß es innere Assoziationen gibt; anderseits verlangt der Satz, daß die psychische Kausalreihe nicht auf die physische wirken könne, den Ausschluß aller inneren Assoziationen.

Trotz aller Dunkelheiten wollten die Assoziationsphilosophen in ihren Assoziationsgesetzen etwas entdeckt haben, was dem Gravitationsgesetze an Wert gleichkam. So JOHN STUART MILL. Ist aber schon die Gravitation trotz ihrer unverrückbaren Gültigkeit nur eine Hypothese, nur eine Metapher, welche die beschriebene Erscheinung zu erklären glaubt, so sind die Assoziationsgesetze trotz ihrer ungefähren Gültigkeit doch zur wissenschaftlichen Tat, zur Bestimmung der Zukunft unbrauchbar, weil wir nicht aus diesen Gesetzen, sondern höchstens und unsicher aus dem Charakter und der Gewohnheit des Einzelmenschen die Erwartung erschließen können, welche unter den möglichen Assoziationen der nächste Augenblick bringen werde. Wie das Gedächtnis sich zur Aufmerksamkeit und zur Übung verhält, so auch zur Assoziation. Die Assoziationsphilosophen sind in ewiger Verlegenheit, ob sie das Gedächtnis zur Grundlage der Assoziationen machen sollen oder umgekehrt.

SPINOZA hat schärfer gesehen als seine Vorgänger und Nachfolger. Unbeirrt von der mangelhaften Physiologie und Psychologie seiner Zeit, hat er an einer beachtenswerten Stelle das Gedächtnis und die sogenannte Ideenassoziation identifiziert. Er sagt:
"Hieraus (nämlich aus cartesianischen Vorstellungen, bei deren Prüfung wir uns hier nicht aufhalten wollen) ersehen wir deutlich, was das Gedächtnis ist. Es ist nämlich nichts anderes, als eine gewisse Verkettung von Ideen, welche die Natur der Außendinge begreifen, und welche (die Verkettung) im Geiste entsteht nach der Ordnung und der Verkettung der menschlichen Sinneseindrücke."
Wer diese schöne und merkwürdige Definition SPINOZAs zu Ende denkt, der muß meines Erachtens zu einer Einsicht gelangen, welche die Erscheinung der Assoziation an noch viel einfacheren Seelentätigkeiten wiedererkennt. SPINOZA geht an der zitierten Stelle von dem wohlbekannten Falle aus, daß ein Mensch zwei Dinge zugleich wahrgenommen hat und nachher nach dem Untergesetze von der zeitlichen Berührung durch das eine Ding an das andere erinnert wird. Unterscheidet sich nun die gleichzeitige Erregung der Seele durch zwei Dinge gar so sehr von der gleichzeitigen Erregung der Seele durch zwei verschiedene Sinneseindrücke eines und desselben Dings? Wenn ich durch den Anblick eines Bergwaldes an mein Vaterhaus, durch den Geruch von Nelken an eine bestimmte schöne Frau erinnert werde, so wird mir daß durch Gedankenassoziationen erklärt. Wie aber, wenn ich die Komplikation von Sinneseindrücken, welche ich unter dem Worte  Apfel  zusammenfasse, den Geruch, den Geschmack, die Form, die Farbe, das Gewicht, die Konsistenz u.s.w. in meiner Erinnerung so beisammen habe, daß eine einzige dieser Wahrnehmungen mich an alle anderen erinnert, wenn ich also durch den Geruch oder durch den Geschmack oder durch den Anblick zu dem Urteil geführt werde: "das ist ein Apfel", wenn ich demnach die simpelste Anwendung von der menschlichen Sprache mache, liegt da nicht die gleiche Ideenassoziation zu Grunde? Gewiß.

Und Worte sind ja auch nichts anderes als das Gedächtnis assimilierter Wahrnehmungen. Wir werden uns nun nicht mehr wundem, wenn wir plötzlich die Hauptquelle all unserer Assoziationen in den Worten unserer Sprache erblicken werden. Diese Beobachtung ist, wenn sie richtig ist, von so entscheidender Wichtigkeit für das Wesen der Sprache, daß ich nicht umhin kann, den aufgestellten Satz genauer zu prüfen. Und die Sprache wird sich dabei wieder als so unzulänglich erweisen, wie wenn ich einem Stadtkinde den Unterschied zwischen Tanne und Fichte erklären wollte, ohne die beiden Bäume in Wirklichkeit oder in guten Bildern zeigen zu können. Jedenfalls wollen wir von Anfang an und für das Ende festhalten, daß Ideenassoziation dasselbe ist wie Gedächtnis, daß es ein abstraktes Gedächtnis nicht gibt, sondern nur die Handlungen der Erinnerung, und daß jede Einzelerinnerung zuletzt Vergleichung ist, die sich entweder bei einer Ähnlichkeit beruhigt und zu dem Satze führt: das ist dasselbe, oder den Grad der Unähnlichkeit für ausreichend hält, um zu sagen: das ist etwas anderes.

Daß die Worte die Hauptquelle der Ideenassoziationen seien, ist natürlich nur ein bildlicher Ausdruck für die Behauptung, es seien die Worte der Sprache die Hauptursache der Assoziationen. Dies kann nur von einer Seite gesehen richtig sein. Versetzen wir uns in den Geist eines gewöhnlichen Redners oder Schriftstellers, der Worte zu Markte trägt, oder in den Geist seines Zuhörers oder Lesers, so werden alle Ideenassoziationen ausschließlich durch Worte hervorgerufen. Man kann da sagen, daß für den gebildeten Durchschnittsmenschen das Wort die Ursache aller Gedankenketten ist, die alleinige Ursache. Anderseits sind, wie wir eben gesehen haben, die Worte der Sprache erst durch Ideenassoziationen entstanden und neue Begriffe entstehen noch heute im schöpferischen Kopfe des genialen Menschen durch neue Ideenassoziationen. Wenn es nämlich wahr ist, daß der Begriff  Apfel,  d.h. die Verknüpfung eines besonderen Geruchs, Geschmacks u.s.w., zu einer unlöslichen Gesamtvorstellung ein Werk der Ideenassoziation ist, genau so wie die Verknüpfung der Begriffe Apfel, Apfelbaum, Sommer, meine Heimat, meine Jugend, - dann ist wirklich die Assoziation die alleinige Ursache der Worte.

Ebenso war es eine neue Gedankenassoziation, als z.B. SCHOPENHAUER in dem Herunterfallen eines Apfels und in dem Niederschlagen der Faust eine Ähnlichkeit erblickte und daraus seinen Willensbegriff formte. Da es Wechselwirkungen, da es eine Ursache ihrer selbst nicht geben kann, so ist es klar, daß wir die Ideenassoziation schon wieder in zwei verschiedenen Bedeutungen nehmen. Aber dieser Zwiespalt geht in viel höherem Maße, als man glauben sollte, durch alle Naturbetrachtung. Wir können uns von dem obersten der modernen Begriffe, von der Entwicklung, nur darum kein deutliches Bild machen, weil jeder Anpassung eine Vererbung und jeder Vererbung eine Anpassung vorausgehen muß, und weil wir demnach niemals zu einem Anfangspunkte der Entwicklung gelangen können. Daß gewählte Beispiel ist für unsere Frage nicht ganz gleichgültig, weil Anpassung und Vererbung eigentlich wieder erworbenes und organisch gewordenes Gedächtnis ist, also vielleicht der Ideenassoziation als Ursache der Worte und der Ideenassoziation als Wirkung der Worte verwandt ist. Nicht meine Schuld ist es, wenn alle Begriffe wieder einmal gegeneinander streiten; es ist Schuld unserer psychologischen Terminologie, die so unfertig ist, wie etwa die Gemeinsprache gewesen sein mag, als man noch nicht einig darüber war, die Vierfüßler und die Vögel in besonderen Klassen zu trennen.

Wir wollen diesen Fehler unserer wissenschaftlichen Sprache noch an einem anderen Beispiele aufzeigen, an dem Verhältnisse zwischen der Ideenassoziation und der Einübung. Jedes Schulkind kennt die Erscheinung und jede Amme wendet das Gesetz an: daß oft wiederholte Einübung bestimmte Ideenassoziationen fest macht, wobei dann der Begriffsunterschied zwischen Gedächtnis und Ideenassoziation ganz aufhört. Mag ein Schulkind das aufgegebene Gedicht noch so mechanisch lesen, liest es die Verse nur oft genug, so wird es die Reihenfolge der Worte für Jahre hinaus, vielleicht bis an sein Lebensende unverrückbar behalten. Noch passiver vollzieht das Kind zwischen ein und zwei Jahren durch wiederholtes Anhören die Ideenassoziation zwischen einem Worte und einer Sache. Es kann keine Frage sein, daß da die Einübung die Ursache der Assoziation ist. Richtet aber der Schulknabe seine Aufmerksamkeit auf sein Pensum, so wird er beim Lernen von Gedichten, von mathematischen Sätzen, von historischen Daten die Einübung umso schneller bewirken, je mehr Assoziationen er zwischen den aufeinanderfolgenden Worten, mathematischen Formeln, historischen Tatsachen findet.

Es wird also hier die Assoziation zur Ursache der Einübung werden. Und damit auch die dritte Möglichkeit im Verhältnisse zwischen Assoziation und Einübung nicht fehle, kann man auch die Assoziation oder Vergesellschaftung als ein geistiges Handeln, als eine Tätigkeit auffassen und sie der Tätigkeit der Einübung ganz gleich setzen. So viel scheint aber aus dem Gesagten hervorzugehen, daß der Sprachgebrauch dazu neigt, die Assoziation im Anfange der Entwicklung mehr als Ursache, im Verlaufe der Entwicklung mehr als Wirkung aufzufassen. So mag man auch das Verhältnis zwischen Assoziation und Sprache verstehen; ohne dem Sprachgebrauche Gewalt anzutun, könnte man etwa sagen, daß die Worte im Anfange der Entwicklung durch Assoziationen entstanden, daß auf unserer mittleren Entwicklung die Assoziationen durch Worte entstehen.

An diesem Punkte der Untersuchung kann ich schon auf einen Dienst von besonderer Tragweite hinweisen, den unser Denken dadurch erhält, daß es Sprache ist und daß die Worte der Sprache Assoziationen sind, und ich kümmere mich dabei nicht im mindesten darum, daß vor einer konsequenten Sprachkritik keines der eben ausgesprochenen Worte bestehen könnte, daß insbesondere das Wort "Dienst" einen teleologischen und beinahe theologischen Beigeschmack hat. Ist doch unsere Sprache durch und durch vergottet; und verstummen müßte, wer sich vor dieser Flamme scheute. Dieser Dienst aber besteht darin, daß die Einübung unseres Wissens unaufhörlich und in ungeahntem Maße unbewußt durch den Gebrauch der Sprachzeichen vor sich geht. Es ist dabei einerlei, ob einer wie SHAKESPEARE oder BISMARCK zehn- bis zwanzigtausend Worte in seinem Sprachschatze besitzt oder ob einer nur über ein Vermögen von zwei- bis fünfhundert Worten verfügt; es ist ferner einerlei, ob diese Worte von ihrem Besitzer sprechend oder schreibend ausgegeben werden oder ob sie ihm nur so durch die Gedanken fahren. Je nach der Lebhaftigkeit seiner Phantasie erregt jeder innere oder äußere Gebrauch jedes Wortes jedesmal eine kürzere oder längere Reihe von Gedankenassoziationen, und durch diese kaum auszudenkende Tätigkeit des Gehirns wird das gesamte Wissen des Menschen täglich mit einem Eifer eingeübt, für welchen keine bewußte Geistesarbeit ausreichen würde. Nur so ist es verständlich, daß einem MOMMSEN schließlich sein stupendes Wissen jeden Augenblick bereitsteht; nur so ist es verständlich, daß dem Geiste des ärmsten Bauern seine kleinen Kenntnisse vom Wetter und von seinem Geschäfte mühelos zur Verfügung stehen.

Bei der bekannten Enge des Bewußtseins wäre menschliches Denken überhaupt unmöglich, wenn die blitzschnellen Gedankenassoziationen nicht wären; diese Blitzesschnelle wird durch die unbewußte Einübung, welche ebenfalls ohne die Zeichen der Sprache unmöglich wäre, hervorgebracht. Die Enge des Bewußtseins wird durch die unbewußte Einübung der Sprache überwunden. Auch hier wieder steht die Übung als Wirkung der Ideenassoziationen am Eingang der Entwicklung, um in der oft beschriebenen Erscheinung, daß das Gedächtnis durch systematische Übung gestärkt werden kann, am Ende als Ursache zu erscheinen. Ich halte es für möglich, daß der Ursachbegriff, nachdem er durch ungezählte Jahrtausende die älteste und sicherste Hypothese des Menschengeistes gewesen war, nachdem er seit HUME rein begrifflich kritisiert worden ist, einmal durch die Entwicklung des Entwicklungsbegriffs in seinem Werte verändert werden wird. Und eine Korrektur des Ursachbegriffs wäre wohl die größte Revolution, dessen der kleine Menschengeist fähig ist.

Betrachten wir nun als die Grenzen der Menschheit nicht den Besitzer von zwanzigtausend und von fünfhundert Worten, nicht einen Schöpfer wie SHAKESPEARE oder BISMARCK und einen deutschen Bauer, betrachten wir als die Grenzen lieber einen Durchschnittsgebildeten mit seinem alltäglichen Schwatzbedürfnis und einen sogenannten Wilden mit seiner geringen Zahl konkreter Begriffe, so ist auf den ersten Blick das Verhältnis zwischen Ideenassoziation und Sprache bei beiden sehr verschieden. Beim Durchschnittsgebildeten, und nicht viel anders beim Durchschnittsphilosophen und Durchschnittsgelehrten ist wirklich die Sprache die Hauptquelle aller Assoziationen. Wir bemerken es im Parlament, im Hörsaal, im Salon, wie das eine Wort das andere hervorruft und die Sprache für den Redner, den Gelehrten, den Schwätzer genau so Brücken schlägt von einem Gedanken zum anderen, wie sie nach SCHILLERs Wort für den Durchschnittsdichter dichtet und denkt. Man nennt das auch die Logik. Was wir an diesen Stätten der Durchschnittsbildung bemerken, was wir im Salon experimentell nachweisen können (ich kenne einen, der mehr als einmal durch ein absichtlich gesprochenes Wort bestimmte, vorhergesagte Gedankenassoziationen, Gespräche und Behauptungen aus scheinbar ganz selbständigen Menschen herauszog), das ist auch theoretisch aus den Gesetzen der Assoziation zu begründen. Die Fälle, in denen Ähnlichkeit und Gegensatz, ferner die Nachbarschaft in Zeit und Raum bei sinnlichen Wahrnehmungen Assoziationen erzeugen, müssen nämlich verschwindend selten sein gegen die Fälle, in denen Ähnlichkeit und Gegensatz, ferner die Nachbarschaft in der Zeit (aber auch im Raume) im Gebrauche der Worte Assoziationen erzeugen. Denn der provisorische Weltkatalog, welcher nach dem jeweiligen Stande der Weltkenntnis den Vorrat unserer Sprache ausmacht, ist langsam unter den Gesetzen der Assoziation entstanden.

Sind nun alle diese Beobachtungen und Begriffserklärungen richtig, ist die Sprache wirklich die Hauptquelle aller Assoziationen, wie umgekehrt die Sprache aus Assoziationen entstand, so erkennen wir auch, warum die Psychologie mit ihren sturen Begriffen von Gedächtnis, Ideenassoziation und Sprache alle diese Verhältnisse nicht einmal auszudrücken vermochte. Wir sehen jetzt, daß wir Gedankenassoziationen und Gedächtnistätigkeiten als die gleichen Erscheinungen auffassen müssen, höchstens etwa mit der Unterscheidung, daß Assoziationen ungefähr Erinnerungen im Zustande der Entstehung sind, so wie die neuere Chemie besondere Eigenschaften an aktiven, im Augenblicke der Trennung von anderen Körpern gegen ihre starre Erscheinung veränderten Stoffen nachgewiesen hat. Nur daß die aktiven Assoziationen an den Erinnerungen durch jede Erregung wieder belebt, reaktiviert werden können. Und noch einmal erinnere ich daran, daß solche Erregungen unaufhörlich und nach allen Richtungen sich wiederholen, weil die Erinnerungen an Wortzeichen geknüpft sind, welche durch unzählige Fäden miteinander in Korrespondenz stehen. Behalten wir uns eine Differenzierung im Sprachgebrauche für bestimmte Untersuchungen vor, so können wir dennoch für die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Verstandes Gedächtnis, Ideenassoziation und Sprache als identisch setzen.

Weil nun die Psychologie diese Gleichung bis zur Stunde nicht vollziehen konnte, darum mußte sie sich auch vergebens mit der Entdeckung vollständiger Assoziationsgesetze abquälen. Freilich war es der Psychologie unmöglich, die Tatsachen des unwillkürlichen Gedankenganges zu übersehen; so konnte sie schon in sehr früher Zeit einige weite Allgemeinheiten wie Ähnlichkeit und Nähe von Zeit und Raum als Assoziationsgesetze aufstellen. Und sie ahnte gar nicht, daß sie dabei einige Entstehungsweisen der Begriffe (ich könnte auch Gesetze der Sprachentstehung sagen) erraten hatte, daß Begriffe wie Apfel, Kernobst, Frucht, Pflanzennahrung, daß andere Begriffe wie Haus, Straße, Berlin, Preußen u.s.w., daß der 23. Juni, das Jahr 1899 u. s. w. genau durch die gleichen Assoziationsgesetze allein entstehen konnten. Zwei Jahrtausende später erst entdeckte man, wie gesagt, daß das Verhältnis von Ursache und Wirkung ebenfalls Assoziationen zu stande bringe, und bemüht sich seitdem um eine systematische Assoziationspsychologie. Diese kann aber keine andere sein als die Psychologie der Sprache selbst.

So viele Beziehungen in den Erscheinungen der Wirklichkeitswelt beobachtet worden sind, so viele Beziehungen infolgedessen in Grammatik und Logik der Sprache, d.h. in unseren Vorstellungen von der Wirklichkeitswelt, ihren Ausdruck finden, so viele Beziehungen können Gedankenassoziationen erzeugen. Und weil anderseits unsere Sprache zu arm und zu unwissend ist, um irgendwelche geistigere Beziehungen als die brutalen der Ähnlichkeit und des Gegensatzes oder der Nähe von Zeit und Raum klar auszudrücken, weil in unserer Sprache nur ungefähre Analogien durcheinanderfließen, und der Sinn der Worte, der Wortfolgen und der Satzfolgen sich erst hinterher aus unserer Kenntnis der Wirklichkeitswelt à peu près ergibt, darum erscheinen uns unsere unwillkürlichen Gedankengänge, unsere Ideenassoziationen so unzuverlässig, so leise über unsere Erinnerungen hintastend. Vor unseren Gedankenassoziationen, die wie ein Mückenschwarm im Sonnenlichte tanzen, erscheint unser stolzes Denken in seiner wahren Gestalt. Die Selbsttäuschung beginnt da, wo wir unsere Aufmerksamkeit auf eine Mücke aus diesem Schwarme richten und in der Hypnose der Aufmerksamkeit etwas zu erkennen glauben, solange wir alles andere Wirkliche übersehen.

Niemand wird leugnen wollen, daß die Lebhaftigkeit der Assoziationen und die Sicherheit im Sprachgebrauche beim Schriftsteller in hohem Grade vereinigt sind; wir wollen darum die Erscheinung einmal beim Dichter, beim Redner und beim Gelehrten genauer ansehen. Und darüber wird wohl kein Streit mehr herrschen, daß die Phantasie des Dichters nicht etwa ein besonderes Seelenvermögen ist, sondern daß diese Phantasie nur die Erinnerungen in freier Weise verbindet, also eigentlich dieselbe Gedankenassoziation ist, die wir aus unseren Traumzuständen kennen. Es kann als bekannt vorausgesetzt werden, daß die Phantasie des Künstlers niemals ein völlig neues Motiv erfinden kann, daß z.B. auch der genialste Maler niemals ein Geschöpf der Phantasie erfinden kann, an dem nicht jedes kleinste Teilchen irgend einem Motiv der Natur entnommen wäre. Phantasie ist Gedächtnis. Nur der Grad der Anschaulichkeit ist beim Dichter stärker, oft sehr viel stärker ("unendlich stärker" wäre eine Phrase) als beim Rhetor; wie die Anschaulichkeit beim Maler farbiger ist als beim Zeichner.

Wir haben im vorigen Kapitel, vorläufig und fast ohne Begründung, bemerkt, daß die Assoziationen mitsamt ihren sogenannten Gesetzen der Subjektivität des Menschengeistes unterworfen sind. Wenn wir jetzt sehen werden, daß die Assoziationen des Dichters, des Redners, des Gelehrten sich nach seinem Individualgedächtnis ordnen, so wird uns das auf die Auffassung vorbereiten, die uns bald nicht mehr erschrecken soll: das eigentliche Subjekt aller Geistestätigkeit, das sogenannte Ich, wieder mit dem Gedächtnisse gleich zu setzen, das Ich - wenn man will - mit dem Rätsel des Gedächtnisses zu erklären. Es ist nicht meine Schuld, sondern die der menschlichen Sprache, wenn da Gedächtnis und Ich bald identisch sind, bald eins im anderen. Und ebenso Sprache (oder Gedächtnis) und Ich: bald identisch, bald eins im anderen.

Keine psychologische Beobachtung der dichterischen Tätigkeit kann uns im Zweifel lassen über die, wenn man will, melancholische Tatsache, daß die Wortfolge, welche ein Gedicht ausmacht, durch Ideenassoziation zu stande kommt und daß diese Ideenassoziation in jedem besonderen Falle durch Äußerlichkeiten beeinflußt werden kann. Ob der Dichter ein GOETHE ist oder der letzte Skribler, so wichtig es für den Wert des gewordenen Gedichts sein wird, es ist gleichgültig für die psychologische Tatsache. Man stelle sich einmal vor, der Dichtersmann gehe von der Stimmung oder von der Absicht aus, den Eindruck des Frühlings in Versen auszusprechen. Er hat z.B. die Vorstellung vom blühenden Tal bereits gefaßt. Nun ist es doch ganz klar, daß ihm - unbewußt oder bewußt - die weiteren Vorstellungen sehr verschieden zuströmen werden, je nachdem ihm das werdende Gedicht als eine Reihe von Hexametern, als Reimstrophe oder als eine Kette von Stabreimen vorschwebt. Einem GOETHE entsteht vielleicht das ganze Frühlingslied mit scheinbarer Plötzlichkeit so, daß der Dichter selbst nicht sagen könnte, wie er die Worte gefunden hat.

Ein elender Reimschmied wird sich bewußt sein, daß er unter den möglichen Reimen nach einem suchte, dessen Begriff halbwegs zum Frühlingsliede paßte. HEINRICH HEINE wird das Frühlingslied wie ein Genie finden und einen besonderen Wohllaut wie ein Reimschmied hinzu erfinden. Bei allen dreien jedoch wird die Aufmerksamkeit, je nachdem sie auf den Rhythmus des Hexameters oder auf den Reim oder auf die Alliteration gelenkt ist, durch Ideenassoziation brauchbare Worte über die Schwelle des Bewußtseins bringen. Ich meine dabei nicht die Fälle, die beim Skribler die Regel sind und bei GOETHE die seltenste Ausnahme, die Fälle nämlich, wo ein Flickreim dasteht, wo also die durch die Reimform erregte Ideenassoziation falsche Wege eingeschlagen hat; nein, auch das herrlichste Gedicht entsteht im Geiste des gewaltigsten Dichters so, wie es entsteht, nur dadurch, daß die vorschwebende Form oder die Richtung der Aufmerksamkeit die Gedankenassoziation lenkt. Man vergleiche einmal Verse aus GOETHEs schönsten Liedern mit den Knittelversen des Faust, mit den antiken Zeilen der römischen Elegien und etwa noch mit gewissen Spielereien aus dem Westöstlichen Divan, und man wird entdecken, daß dem Dichter nicht allein die Worte nach der Richtung seiner Ideenassoziation eigen zuströmen, sondern daß sogar ich möchte sagen die Sprachprovinzen, aus denen die Worte kommen, andere sind. Der boshafte Butler, der Dichter des Hudibras, hat ganz recht, wenn er einmal sagt: "Der Reim ist das Ruder der Verse, mit dessen Hilfe sie wie Schiffe ihren Lauf richten."

Ähnlich wie um Rhythmus, Reim und Alliteration beim Dichter steht es um den Witz beim Redner, und überhaupt bei dem Schriftsteller, der nicht gerade ein Dichter ist; wobei freilich zu bemerken wäre, daß im Geschmacke mancher Zeit Poesie und Witz sich nicht wesentlich voneinander unterschieden. überall, wo Witz ins Spiel kommt, nicht nur bei den gemeinen Wortspielen, ist es die Sprache, welche die Ideenassoziation beherrscht. Und wenn mir in diesem Augenblicke einfällt zu sagen, daß Assoziation durch alle Arten von Assonanz hervorgerufen werde (was freilich nur ein mäßiger Witz ist und kaum das), so bin ich mir bewußt, daß die Gedankenverbindung durch die Alliteration veranlaßt worden ist.

Das Wort Witz hieß im älteren Sprachgebrauche "die Witze" und bedeutete nicht viel anderes als die Weisheit oder vielleicht die Gabe, sein Wissen mit Schnelligkeit und Sicherheit anzuwenden. Gegenwärtig verstehen wir unter Witz die besondere Anlage eines Kopfes, spielende, verblüffende und dadurch belustigende Assoziationen zu knüpfen, schließlieh sogar (was meinem eigenen Sprachgefühle immer noch widerstrebt) die Einzeläußerung dieser Anlage, einen Witz. Zwischen diesen beiden Wortbedeutungen liegt der Sprachgebrauch gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts, wo das Femininum "die Witze" bereits der Witz geworden war, und wohl als Übersetzung des französischen  esprit  das ausdrückte, was wir heute wieder lieber durch Geist bezeichnen. In allen diesen Begriffswandlungen sagt aber Witz nichts anderes als daß derjenige, dem man Witz zuschreibt, in einer bestimmten Richtung seiner Gedankenassoziationen den Durchschnitt der Menschen an Reichtum übertrifft. Beim Witze nach dem neueren Sprachgebrauche ist es offenbar, daß die Sprache ebenso die Quelle aller seiner Assoziationen ist wie beim Reime und der Alliteration. Bringt man einen von Natur witzigen Franzosen als Kind nach Deutschland, so daß er gar nicht Französisch lernt und das Deutsche seine Muttersprache wird, so wird er später als witziger Schriftsteller wohl in seinem ganzen Charakter manche ererbte französische Neigung bewahren können; es wird ihm aber auch nicht ein einziger Begriff in allen seinen Schriften so einfallen, wie er ihm, auch abgesehen vom lautlichen Zeichen, eingefallen wäre, wäre er Franzose geblieben.

Was für denjenigen gilt, der ein Schöpfer von Poesie oder von Witz ist, das gilt ebenso für die Leute, welche die Poesie oder den Witz als Zuhörer oder Leser bloß genießen wollen. Sie haben es leichter oder schwerer, aber auch bei ihnen werden alle Zauber der schnellen Ideenassoziation nur mit Hilfe der Sprache ausgelöst. Wer die Worte oder Begriffe des Dichters, des witzigen Schriftstellers nicht zu seiner Verfügung hat, der wird die Poesie, der wird den Witz nicht verstehen können.

Nehmen wir den Witz oder die Witze (Fem.) nach dem Sprachgebrauche der älteren Zeit, so haben wir die Fähigkeit, die den Gelehrten ausmacht. Es bedarf nach allem Gesagten keiner weiteren Begründung, daß auch die Arbeiten des Durchschnittsgelehrten nichts anderes sind als geordnete Gedankenassoziationen, geordnet und veranlaßt durch die wissenschaftliche Sprache seiner Zeit. Wer daran zweifeln wollte, brauchte nur verschiedene Bücher eines vergangenen Zeitabschnitts zu lesen, und er wird erkennen, wie überall dasselbe steht. Es ist der sogenannte Geist der Zeit, welcher die Bücher einer Zeit diktiert. Und wenn die Kinder einer gleichen Zeit nicht wörtlich die gleichen Bücher schreiben, wenn unsere werten Zeitgenossen nicht auf die gleiche äußere Anregung alle die wörtlich gleiche Bemerkung machen - was doch bei der Identität der Anregung und der Muttersprache nach unserer Theorie wahrscheinlich wäre -, so liegt das bloß daran, daß die Individualsprachen der einzelnen Menschen durch Erziehung und Bildungsgang verschieden ausgefallen sind, und daß schließlich die Richtung der Aufmerksamkeit nicht durch die Sprache, sondern durch den Charakter und folglich durch die Interessen des Sprechenden entschieden wird. Es ist ein bekannter Scherz, daß man Charakter und Lebensberuf seiner Coupémitinsassen erraten kann, wenn man plötzlich eine Bemerkung macht über das Wetter, über die Landschaft u.s.w. und auf die Ideenassoziationen achtet, durch welche die Antworten hervorgerufen werden.

Daß die Ideenassoziation und das Gedächtnis und die Sprache mit dem Denken des Menschen identisch sei, mag in so knapper Ausdrucksweise wie ein verwegener Satz erscheinen. Dennoch richtet der Salonmensch oder der Schmeichler sein Benehmen so ein, als ob er von der Wahrheit dieses Satzes überzeugt wäre. Er wirft, wenn er geschickt ist, ein scheinbar gleichgültiges Wort hin, welches durch Ideenassoziation beim Zuhörer je nachdem zurechtweisende oder schmeichelnde Vorstellungen erweckt. Selbst der einfache Takt des Herzens bedient sich unaufhörlich der Ideenassoziation anstatt der direkten Sprache. "Im Hause des Gehängten soll man von keinem Stricke reden," natürlich darum nicht, weil die betrübte Familie durch das Wort Strick an die Schande erinnert würde.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906