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KARL LANGE
Über Apperzeption
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"Der allergrößte Teil des Lernens geschieht dadurch, daß Worte  verstanden  werden, also daß der Schüler aus  dem  geistigen Vorrat, welchen er schon eingesammelt hat, den  Sinn  in die Worte legt. Daher ist jeder Vortrag, jede Erzählung, jede Frage des Lehrers eine Aufforderung an den Schüler, das gehörte, an und für sich inhaltsleere Wort zu verknüpfen mit einem in der Kinderseele sich vorfindenden konkreten Vorstellungsgebilde oder Gedanken, eine Aufforderung zur Reproduktion zahlreicher alter Anschauungen, die zum Gegenstand des Unterrichts in naher Beziehung stehen. So denken und fühlen dann die Schüler bei allem, das sie gelehrt bekommen, etwas Eigenes in sich, jeder in eigentümlicher, individueller Weise, nach Maßgabe des vorhandenen Vorstellungsschatzes."

"Der Weg zum Mitgefühl führt durch die  Apperzeption.  Ohne sie gibt es kein Verständnis fremder Gemütszustände; wo sie fehlt, da klopfen der Schmerz und die Freude des Nächsten vergeblich an die Pforte unseres Inneren, da bleiben Mitleid und Mitfreude notwendig aus."


3. Die Bedeutung der Apperzeption für
die geistige Entwicklung des Menschen

Unsere Lehrbücher der Psychologie gedenken der Apperzeption gewöhnlich erst bei der inneren Wahrnehmung, nachdem die Kapitel von der äußeren Wahrnehmung und Reproduktion, dem Gedächtnis, der Phantasie, dem Ich des Menschen, ja wohl auch das vom Urteilen und Schließen bereits behandelt worden sind. Das könnte die Meinung erwecken, als ob die geistige Aneignung ziemlich spät erst in der Entwicklung des menschlichen Geistes auftritt und auf eine bestimmte Stufe derselben beschränkt ist. Dieser Ansicht ist in der Tat von einer Seite auf das entschiedenste Ausdruck gegeben worden. Man hat die Apperzeption nicht nur der Kindheit, sondern auch der eigentlichen Schul- und Lernperiode absprechen und ausschließlich dem Jünglingsalter, der "Denkperiode" des Menschen, zuweisen wollen. Aber man übersieht hierbei, daß sich passive Apperzeptionen schon in frühester Jugend zahlreich ereignen und daß der Begriff der Apperzeption nicht auf die Fälle  absichtlicher  Aneignung neuer Eindrücke beschränkt werden darf. Wenn Apperzeption die Erfassung neuer Seeleninhalte mit Hilfe vorhandener ähnlicher bedeutet, wenn sie der Vorgang des Wachstums der Seele ist,  dann gehört sie nicht bloß einer, sondern allen Stufen der geistigen Entwicklung des Menschen an,  dann muß sie während unseres ganzen Lebens auf dem Gebiet innerer Bildung eine hervorragende Rolle spielen. Versuchen wir nun diese  ihre Bedeutung für die geistige Entwicklung des Einzelnen  zu erkennen.

Die erste große Aufgabe, welche dem Kindesgeist gestellt ist, besteht darin, sich in der Welt der Wahrnehmungen zurechtzufinden, sie zu erobern, indem er dieselbe kennenlernt. Nicht auf streng systematische Weise löst er diese Aufgabe, etwa so, daß er einen Gegenstand nach dem andern genau betrachtet und so allmählich nach einem bestimmten Plan von den Teilen zum Ganzen fortschreitet. Das ist gar nicht möglich. Treten doch die Wahrnehmungen meist zu massenhaft und flüchtig auf, als daß das Kind jeder derselben seine besondere Aufmerksamkeit widmen könnte. Zudem ist es auch infolge der Unvollkommenheit seiner Sinne und der Dürftigkeit seines Seeleninhaltes nicht imstande, scharf und genau aufzufassen. Und selbst wenn es dies vermöchte, wäre es sehr unpraktisch, allen Sinnesempfindungen die gleiche Sinnesenergie und Aufmerksamkeit zuwenden zu wollen. Denn da das Kind meist von mehr als einem Gegenstand in Anspruch genommen wird, so würde auf lange Zeit sein Wahrnehmen und Wissen dem praktischen Bedürfnis nachhinken und diesem nicht entsprechen.  Das Kind bemächtigt sich vielmehr zuerst der Außenwelt im ganzen, indem es sich zunächst mit einem dunklen Gesamteindruck begnügt, um nach und nach einzelne wichtige Elemente desselben herauszuheben und für sich zu erfassen.  Die Wahl derselben wird nicht durch logische Gründe, sondern durch das praktische Bedürfnis, die Lebensverhältnisse des Kindes bestimmt.  Die  Gegenstände und Ereignisse, welche als Lebensbedingungen dem kindlichen Fühlen und Begehren besonders nahe stehen (Speise und Trank, Wohnung, Kleidung, Eltern usw.), oder aus irgendeinem anderen Grund das Interesse des Kindes lebhaft erregen, werden vor anderen bevorzugt. Wenn die übrigen Bestandteile der Gesamtwahrnehmung als gleichgültige Objekte vorläufig wenigstens nur ins Blickfeld des Bewußtseins treten, rücken jene bevorzugten Gegenstände in den Blickpunkt des Bewußtseins. So heben sich nach und nach aus der bunten Mannigfaltigkeit dunkler Gesamteindrücke einzelne deutlichere Anschauungen ab; das Kind gewinnt eine Anzahl von  Stammvorstellungen,  die sich meist durch einen starken Gefühlston auszeichnen und eine große Regsamkeit entfalten.

Denn nicht wie tote Schätze reihen sich diese Anschauungen aneinander, sondern, kaum gewonnen, werden sie zu lebendigen Kräften, die zur Aneignung neuer Anschauungen beitragen und so die Auffassungskraft stärken. Sie sind der Seeleninhalt, der sich nun fortdauernd beim Wahrnehmen geltend macht.  Denn wo es nur angeht, bezieht das Kind Neues auf verwandte alte Vorstellungen.  Es eignet sich Fremdes an mit Hilfe bekannter Perzeptionen und erobert die auf seine Sinne einstürmende Außenwelt mit den Waffen der Apperzeption. So berichtet z. B. STEINTHAL (27) aus eigener Beobachtung von einem zweijährigen Mädchen, daß es das Bild geisterhafter Frauengestalten mit langen, von der Schulter herabwallenden Gewändern "Vogel", Getreidehalme "Bäume", schwimmende Schwäne "Fische" genannt und eine auf einem Haus flatternde große Fahne als "Schimmel" aufgefaßt hat. Ähnliches erzählt LAZARUS von einem im Süden aufgewachsenen Kind, das z. B. Schneeflocken, die es bei uns zum erstenmal sah, als Schmetterlinge bezeichnete. Und wer wüßte es nicht aus eigener Erfahrung, wie das Kind anfangs jeden Mann als "Papa" oder "Vater", jedes fliegende Geschöpf als "Vogel" (oder wie auch immer der kindliche Ausdruck lautet), jede Pflanze als "Baum" ansieht, wie es den Blitz wohl als feurige Schwalbe, die Wolken als Berge, die leuchtenden Fenster eines fernen Hauses im Dunkel der Nacht als "Gucksaugen" apperzipiert! So eine  "gebundene"  Apperzeption ist nicht nur der allerfrühesten Kindheit eigen, sondern sie macht sich auch späterhin geltend. Hören wir, was ein aufmerksamer Beobachter von sechsjährigen Kindern berichtet, die zum erstenmal den zoologischen Garten besuchen. Des Neuen, das sich ihnen hier darbietet, ist zuviel, als daß sie klare Vorstellungen von ihm davontragen könnten. Sie müssen sich desselben bemächtigen, so gut es eben geht. Und so erfahren wir, daß die Kleinen den Büffel und Auerochsen als  Kühe,  Steinböcke und Gemsen schlechthin als  Ziegen,  das Rhinozeros als  Elefant  betrachten, während sie den Tiger laut und freudig mit: Miez, Miez! begrüßen. Der Strauß ist ihnen eine  große Gans  oder ein  Storch,  kleinere fremde Vögel nennen sie  Finken  (weil diese auf den Klassenausflügen mehrfach beobachtet worden waren), Biber erst  Mäuse,  dann  Fische  oder  Frösche,  und die Robbe wird nach langer Überlegung als ein  Fisch  bezeichnet, aber einer aus einem anderen Fluß." (28) Wir haben hier keineswegs bloß witzige Vergleichungen, wie sie wohl auch der Erwachsene im Scherz anstellt, kein Spielen mit Vorstellungen, sondern die ernste Arbeit des Kindes, das in seiner Weise sich mit neuen, seltsamen Eindrücken abzufinden sucht.  Es vergleicht nicht nur, sondern es identifiziert geradezu Neues mit Bekanntem.  Nach einem Gesetz des Geistes, das nicht weiter abgeleitet, sondern nur als Tatsache festgestellt werden kann, muß es so arbeiten, wenn es allmählich aus einem Sklaven der Herr seiner äußeren Wahrnehmungen werden soll. Seiner geistigen Natur gemäß kann es gar nicht anders, als mit dem erworbenen Kapital zu wuchern, sich mit den vorhandenen Vorstellungen neue anzueignen. Jene werden der wahrnehmenden Seele zu Organen, mit denen sie die vielgestaltige Wahrnehmungswelt erfaßt, gliedert und gleichsam den vorhandenen Vorstellungsfächern einordnet.

Wesentliche Dienste leistet ihr hierbei die  Sprache  (29). Zwar ist apperzipierendes Wahrnehmen auch ohne sie möglich, wie denn das Kind in den beiden ersten Lebensjahren durchgehend Neues auf Altes bezieht, ohne daß ihm stets ein entsprechendes Wort zur Verfügung steht. Aber sicherer und leichter geht doch die Apperzeption vonstatten, wenn die Stammvorstellungen sprachlich fixiert sind. Der Name scheidet jede derselben von anderen Vorstellungen und hält sie im Gedächtnis fest, so daß sie an Deutlichkeit und Regsamkeit gewinnen und sich leichter apperzipierend betätigen können. Das Wort fängt gleichsam ähnliche Perzeptionen ein und hält sie für immer untereinander und mit der Stammvorstellung zusammen. Angewandt auf neue Bewußtseinsinhalte, ist es der Ausdruck der gelungenen Apperzeption.

Freilich scheint das Wort in gewissen Fällen eine richtige Apperzeption eher zu hindern als zu fördern. Ist es nämlich ein Name, der einer bestimmten Stammvorstellung ausschließlich zukommt, bezeichnet es ein  Einzelding,  eine Einzelerscheinung  und nur dieses,  so bildet das Wort kein weitreichendes Dach, unter dem auch andere verwandte Wahrnehmungen Platz finden können, sondern es deckt sich eben nur mit der apperzipierenden Vorstellung. Werden nun andere Perzeptionen letzterer eingefügt, so tragen sie natürlich auch deren Namen, d. h. der  Einzelname  wird als  Gattungsname  gebraucht, die neue Vorstellung unrichtig benannt. (Hierbei ist es gleichgültig, ob das Kind das Wort von anderen übernahm oder den Namen sprachschöpferisch selbst bildete.) Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen. "Ein Kind, welches zu sprechen anfing, sah und hörte eine Ente auf dem Wasser und sagte  Kuak.  Darauf nannte es einerseits alle Vögel und Insekten, andererseits alle Flüssigkeiten  Kuak.  Schließlich nannte es auch alle Münzen Kuak, nachdem es einen Adler auf einem französischen Sou gesehen hatte. So kam das Kind durch allmähliche Verallgemeinerung dahin, eine Fliege, Wein und ein Geldstück mit demselben onomatopoetischen [lautmalerischen - wp] Wort zu bezeichnen, obgleich nur die erste Wahrnehmung das namengebende Merkmal enthält." (30) Mag sich nun auch so eine außerordentlich oberflächliche Apperzeption nur in den ersten Monaten des Lebens einstellen - ähnliche Vorgänge wiederholen sich regelmäßig auch in den späteren Jahren. Wenn das Kind fremde Berge, Flüsse und Bäche anfangs allen Ernstes mit heimatlichen Namen belegt, wenn z. B. SCHILLER als kleiner Knabe alle Flüsse seiner Landschaft für "Neckarle" erklärte, oder ein anderer 3-jähriger Knabe, der nur den Syrabach täglich vom Fenster aus beobachtet hatte, den heimatlichen Fluß beim erstmaligen Sehen als "Elstersyra" bezeichnete, - so begegnen wir hier wie in vielen anderen Fällen  "gebundener Apperzeption", d. h. einer Auffassung, bei der mit Hilfe eines Namens die verschiedensten Beobachtungen auf gewisse individuelle Vorstellungen zurückgeführt werden.  Gewiß wird das Kind später seine Auffassung berichtigen, es wird vielfach umlernen müssen. Aber dieser Übelstand wiegt nicht schwer gegenüber der Tatsache, daß der Knabe das Neue wirklich angeeignet, sich dienstbar gemacht hat, daß er lernt, die Eindrücke der Außenwelt zu beherrschen. Es wird sich zudem gegen so eine gebundene Apperzeption, in der frühen Jugend wenigstens, nicht viel tun lassen. Sie entspricht der Natur des kindlichen Geistes, und sie vollzieht sich meist ohne Wissen und Zutun des Erziehers. Ja, es erscheint nicht einmal geraten, dem Kind von Anfang an für jede neue Wahrnehmung das entsprechende Wort zu geben: es würde die Namen bei der Fülle der äußeren Eindrücke gar nicht alle anzueignen vermögen. Wohl aber pflegen Erwachsene, wo solches zu fürchten ist, dem drängenden Fragen des Kindes nach den Namen der Dinge auf andere Weise zu begegnen: sie nennen ihm  in der frühesten Entwicklungsperiode viele gleichartige Gegenstände nicht mit dem Einzel- oder Art-, sondern mit dem Gattungsnamen.  Sie sprechen mit den Kleinen nicht von der Birke, Eiche, Linde, Kiefer, Tanne, sondern vom  Baum.  Für die Schwalben, den Finken, den Sperling, den Star und wie all die gefiederten Tiere heißen mögen, die das Interesse des kleinen Beobachters erregen, genügt  vorläufig  der Name  Vogel  oder ein ähnlicher, noch kindlicherer Ausdruck. Dann bietet das Wort der apperzipierenden Stammvorstellung ein weitreichendes Dach, unter das sich zahlreiche verwandte Perzeptionen scharen können;  dann überträgt das Kind den Gattungsnamen auf ähnliche Vorstellungen, die wirklich zu ihm gehören, und ein Umlernen braucht später nicht stattzufinden. 

Dann vereinigen sich am leichtesten die gleichartigen Wahrnehmungen wohl zu einer einzigen unbestimmten Vorstellung, die alles Gemeinsame der ersteren ohne die unterscheidenden Merkmale aufweist und daher mehr einen Schattenriß als ein Bild der Gegenstände bietet. Es entsteht eine  Gemeinvorstellung  oder ein  Gemeinbild,  mit dessen Hilfe verwandte Dinge oder Ereignisse apperzipiert werden. Indem aber das Kind so eine große Zahl gleichartiger Wahrnehmungen auf verhältnismäßig wenige Gattungsnamen zurückzuführen sich gewöhnt, vollzieht es einen wichtigen Fortschritt. "Denn von allem wird das unendliche Vielerlei außer und nebeneinander stehender Einzeldinge, das dem Geist in der Sinnenwelt entgegentritt und ihn förmlich zuzuschütten und zu erdrücken droht, durch jene Zusammenfassung ganzer Reihen von Einzelbildern in verhältnismäßig wenige (sie in sich vereinigende) Gemeinbilder so bedeutend  vereinfacht,  daß auch der weniger kräftige kindliche Geist eher damit fertig werden und sich darin zurecht finden kann. Sodann aber wird durch diese Herausbildung von allgemeinen Vorstellungen auch  dem eigentlichen, bewußten Denken wesentlich vorgearbeitet  und ihm sein Stoff nicht in roher, sinnlicher Unmittelbarkeit, sondern schon einigermaßen logisch her- und zugerichtet entgegengebracht." (31) Schließlich vermag auch das Kind vermöge seiner Gemeinbilder  dem sprachlichen Verkehr der Erwachsenen,  der mit Vorliebe in allgemeinen Vorstellungen und Bezeichnungen sich bewegt,  bald mit Verständnis zu folgen  und an ihm teilzunehmen. (32)

Die Tatsache, daß das Kind mit Hilfe von Stammvorstellungen oder Gemeinbildern, die Gattungsnamen tragen, einen großen Teil seiner Umgebung geistig erobert, hat die Meinung hervorgerufen, daß der Mensch zuerst das Allgemeine wahrnimmt, die Gattung, und von ihr aus zur Erkenntnis des Besonderen, des Einzeldings fortschreitet. (33) Das ist ebenso falsch wie die landläufige Annahme, er gehe von den Arten aus, um sich allmählich auf streng logischem Weg zur Gattung zu erheben. Nicht mit der Benennung und Unterscheidung der  species  beginnt er, um regelrecht zum  genus  aufzusteigen, sondern mit dunklen Gesamteindrücken, die meist vorläufig durch einen Gattungsnamen festgehalten und verbunden werden. Aber so wenig das Wort gleichbedeutend ist mit dem von ihm bezeichneten Begriff, so wenig enthält jener Gattungsname die Erkenntnis des Allgemeinen, Begrifflichen. Er begreift vielmehr lange Zeit nur viele, nicht besonders scharf erfaßte ähnliche Vorstellungen unter sich, aus denen später erst mit der Unterscheidung der Arten ein Begriffsinhalt gewonnen wird.  Den Schein, als würde das Allgemeine zuerst erkannt werden, weckt lediglich der Gattunsname, von dem man aus psychologischen Gründen Gebrauch macht. Nicht ein allgemeines, tief eindringendes Denken ist das Erste, sondern vielmehr ein ziemlich unbestimmtes und undeutliches Wahrnehmen. 

Denn das unterliegt keinem Zweifel, daß die Leichtigkeit, mit welcher der Mensch in frühester Kindheit apperzipiert, notwendig eine nur  oberflächliche oder vielmehr einseitige Auffassung der Dinge  zur Folge hat. Solange er die verschiedenartigsten Wahrnehmungen auf verhältnismäßig wenige Stammvorstellungen oder Gemeinbilder zurückführen muß, solange hat er für die allseitige Beobachtung und scharfe Unterscheidung der Einzelgegenstände keinen Sinn. Es genügt vorläufig, daß er ein oder das andere Merkmal der letzteren klar erfaßt und durch dasselbe die Vorstellungen festhält. Oft fehlt selbst dieses, und er bleibt, namentlich wenn der Name zu früh geboten wurde, bei einem dunklen, gefühlsmäßigen Eindruck stehen. Solche ganz oder teilweise leeren Worthülsen füllen sich oft erst später mit dem rechten Vorstellungsinhalt, oft behaupten sie sich aber auch unverändert im Bewußtsein. So erzählt wohl das Kind seinen Spielgenossen mit triumphierendem Stolz: "Ätschibätschi, unser Haus bekommt eine  Hypothek  und eures nicht", wobei es sich unter Hypothek etwas wunderbar Schönes und Vortreffliches denkt, oder es geht ihm mit unverstandenen Fremdwörtern wie der Berliner Dame der Halle, "die ihrer Kollegin einen  verfluchten Differentialtarif  an den Kopf schleuderte, worunter sie, wie die gerichtliche Verhandlung ergab, etwas sehr Verletzendes verstanden wissen wollte." Es entstehen  Not-Apperzeptionen, d. h. Aneignungen ohne genügende oder richtige Apperzeptionshilfe,  die immer gleichbedeutend mit Mißverständnissen sind. Dann geschieht es wohl, um nur einige der Wirklichkeit entnommene Beispiele anzuführen, daß das Kind unter "gesegneter Mahlzeit" eine "gesägte", unter einem "Gardereiter" einen Soldaten versteht, der im Garten herumreitet, und es bildet Wörter wie: kohlrabischwarz, Fliegenblätter (fliegende Blätter) Obergucker (Operngucker), Hinterpunktion usw. Mit einem Wort: Da dem Kind ein reicher, logisch durchgebildeter Gedankenkreis abgeht,  so  faßt es die Dinge der Außenwelt nicht streng objektiv, sondern subjektiv auf; es sieht sie im Licht seiner beschränkten Erfahrung, seiner Gefühle und Neigungen; es fragt mehr, welchen Wert sie für sein Ich haben, als was sie für sich bedeuten.

Dem entspricht dann auch der wirkliche oder gedachte  Verkehr,  den es mit ihnen pflegt. Wie es hinsichtlich seines eigenen Wesens noch keinen Unterschied kennt zwischen Leib und Seele, sondern den empfindenden und begehrenden, den handelnden und sich bewegenden Leib als sein Ich ansieht, so faßt es auch sein Verhältnis zu den Außendingen sehr kindlich auf. Bekanntlich hält das Kind anfangs die meisten Dinge für beseelt. Es apperzipiert sie mit Hilfe seiner Ichvorstellung. Wie sich sein Leib in willkürlicher Bewegung als lebendig erweist, so spricht es allem, was wirklich oder scheinbar von selbst, also nicht veranlaßt durch andere Objekte, sich bewegt, ein persönliches Dasein zu. Denn Leben und Bewegung zeigen ist ihm dasselbe. Es stellt die Außendinge mit sich auf eine gleiche Stufe und legt ihnen seine eigenen Seelenzustände unter; es betrachtet sie als empfindende, fühlende und wollende Wesen. (34) Daher das lebhafte Interesse der Kleinen für Tiere und Pflanzen, der innige Verkehr mit ihnen, das Verständnis, das sie ihren wirklichen oder erdichteten Zuständen entgegenbringen. Daher das feine Ohr der Jugend für die Sprache der Vögel, die sie, "unbewußter Weisheit froh", in ihrer Weise apperzipieren, wie auch der Dichter dem  Kind  die schöne Ausdeutung des Schwalbengesanges in den Mund legt:
    Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
    waren Kisten und Kasten schwer;
    als ich wiederkam, als ich wiederkam,
    war alles leer.
Wenn aber das Kind so seine eigenen Gemütszustände in die Außendinge versetzt, wenn es in den ersten Jahren auf jedem Gang in die Natur so viel geheimnisvolles Neues entdeckt,  so mag ihm alles sehr märchenhaft-dunkel und gewiß nicht so nüchtern und klar vorkommen als uns Erwachsenen.  (35) Wir begreifen, wie das Kind eine solche Phantasiewelt sich auch im Spiel aufbaut, wie der Knabe stundenlang mit seinem hölzernen Pferd wie mit einem treuen, verständigen Spielkameraden verkehren, wie das Mädchen in vollem Ernst mit rührender Sorgfalt ihre Puppen pflegen kann. Wir verstehen auch die helle Freude, das lebhafte Interesse, mit dem beide dem Märchen der Mutter lauschen. Denn das sind ja Erzählungen, die sie in ihre liebsten Gedankengebiete versetzen, Geschichten, aus denen ihnen ihre ganze Vorstellungs- und Gefühlswelt entgegenkommt.

So ist also die  frühe Kindheit  jene große Erntewoche,  in welcher der Mensch sich der Außenwelt in ihren Grundzügen mit Hilfe von Stammvorstellungen und Gemeinbildern apperzipierend bemächtigt,  aber eben, weil er durchweg Neues auf Altes bezieht,  dieselbe sehr einseitig, subjektiv und gefühlsmäßig erfaßt.  Es ist die Zeit,  da er am liebsten phantasierend mit der Außenwelt verkehrt und phantasievoller Auffassung und Darstellung derselben ein besonderes Verständnis und lebendige Teilnahme entgegenbringt. 

Was schließlich  sein Verhältnis zur geistigen, zur sittlich-religiösen Welt  anlangt, so erweisen sich auch hier apperzipierende Vorstellungen als maß- und richtunggebende Faktoren. Zu ihnen gehören in erster Linie  die an sinnliche Gefühle und Strebungen gebundenen Vorstellungskreise.  Denn wenn auch im Verkehr mit der Natur und den Menschen beim Kind bald fast alle geistigen Gefühle und Interessen erwachen, wenn es z. B. früh schon Sinn für schöne Formen und eine sittliche Beurteilung, Teilnahme an fremdem Wohl und Weh und Freude an intellektueller Tätigkeit offenbart, so darf man doch behaupten, daß in der Zeit, da der Mensch sein Ich noch mit dem Leib identifiziert, die sinnlichen Gefühle und Begehrungen in ihm überwiegen.  Sie  sind es, die gar oft sein sittliches Urteil über fremde oder eigene Handlungen beeinflussen, so daß er das für recht ansieht, was ihm angenehm ist und für schlecht das, was er fürchtet. Ist der Mann, das Tier gut oder böse? - in dieser häufig wiederkehrenden Frage des Kindes verrät sich gewiß oft mehr sinnliches Interesse als ethisches Gefühl. Und so würde das Sinnliche lange das Sittliche nicht zur rechten Geltung kommen lassen, es würde ausschließlich das jugendliche Gemüt beherrschen - wenn nicht unter normalen Verhältnissen von Anfang an ein anderer wichtiger Gedankenkreis hemmend und einschränkgen ihm entgegenträte.  Es ist die an das ideale Bild der Eltern sich knüpfende Vorstellungswelt.  Diese sind dem in glücklichen, ehrbaren Familienverhältnissen aufwachsenden Kind die verkörperte Sittlichkeit, das Musterbild all dessen, was gut und recht ist, das lebendige Gewissen. Überall, wo es gilt, ein sittliches Werturteil über fremde Gesinnung oder eine Entscheidung in eigener Sache herbeizuführen, liegt dem Kind die Frage am nächsten: Was sagen Vater und Mutter dazu? Wer hätte nicht schon eines der Kleinen in so einem kritischen Fall beobachtet, wo es nicht sicher weiß, wie es die eigene oder eine fremde Handlung auffassen soll! Fragend blickt es da von der Mutter zum Vater, von diesem zu jener, um in ihrem Antlitz das Rechte zu lesen, und wenn dieses eine unzweideutige, klare Antwort gibt, so ist sein ethisches Urteil sofort entschieden. Hat es etwas Böses getan, so flieht es die Eltern: es scheut den Blick und Anblick derselben, jene Vorstellung, an der gemessen sein Verhalten ihm verwerflich und strafbar erscheinen muß.  So apperzipiert das unverdorbene Kind  da, wo sich die sinnliche Gedanken- und Gefühlswelt einmal nicht übermächtig geltend macht,  Gesinnungen und Handlungen meist mit dem bedeutsamen und gefühlswarmen Bild der Eltern,  das als Anschauung oder als Vorstellung ihm vor der Seele steht. Ihr ideales Bild ist es auch, mit dessen Hilfe es allmählich eine Vorstellung von Gott und das rechte innere Verhältnis zu ihm, dem himmlischen Vater, gewinnt. - -

Begleiten wir das Kind weiter zur nächsten Entwicklungsstufe, die etwa  vom 7. bis zum 10. Lebensjahr reicht.  Das Kind tritt in das  Knaben- und Mädchenalter,  es kommt zur Schule. Wohl zieht die Welt seiner bisherigen Erfahrungen mit ihm hinein in die vier engen Schulwände - denn in ihrem Vorstellungskreis bewegt sich ja zum guten Teil der erste Unterricht - und eine neue, fremde Welt, die jenseits der heimatlichen Grenzen liegt, schließt sich ihr an. Aber nicht mehr stürmen die Gegenstände der Wahrnehmung massenhaft und planlos auf seine Sinne ein, sondern in einem geregelten Zug treten sie hier vor sein Auge, durch des Lehrers Kunst gleichsam gefaßt in enge Rahmen, die sie voneinander trennen und eine eingehende, sorgfältige Betrachtung derselben ermöglichen. Hatte sich das Kind bisher im freien Spiel der Phantasie den äußeren Eindrücken hingegeben und sich von ihnen leiten lassen, so soll es nun in ernster Arbeit jene Wahrnehmungen vertiefen und sich dienstbar machen. War es bislang gewöhnt, leicht von einem Gegenstand seines Interesses zum anderen überzuspringen und der Richtung der stärksten sinnlichen Eindrücke zu folgen, so soll es nun lernen, seine  Aufmerksamkeit  zu sammeln und anhaltend zu richten auf gewisse Gegenstände des Unterrichts und störende Sinnesreize fernzuhalten.

So eine ungewohnte "Konzentrierung des Bewußtseins" gelingt ihm nicht immer. Oft steht es stumpf und kühl Anschauungsobjekten gegenüber, die der Erzieher sehr zweckmäßig ausgewählt und dargeboten zu haben glaubt: es sieht - und vernimmt doch nichts, es spricht von den Dingen und hat sie doch eigentlich nicht erfaßt, sie bleiben ihm gleichgültig. Rasch erlahmt da die Aufmerksamkeit. Und ein andermal wieder kann es sich am Neuen nicht sattsehen; es ist ganz Auge und Ohr, und mit Bedauern scheidet es vom Gegenstand seiner Aufmerksamkeit. Er hat es ihm angetan, weil er seit der Kindheit ihm lieb und vertraut ist oder durch die Beziehung auf geläufige Gedankenkreise eine ganz besondere Beleuchtung erhalten hat.  Nicht der Sinnesreiz ist es also, der die Aufmerksamkeit hier dauernd erhält, sondern die Schar apperzipierender Vorstellungen, welche das Beobachtungsobjekt weckte. Sie verleihen der neu eintretenden Wahrnehmung wohl oft einen so starken Motivwert, daß der Wille hervorspringt und (absichtlich) nun im Bewußtsein festhält, worauf anfangs nur unwillkürlich aufgepaßt wurde.  Mit ihrer Hilfe erfaßt der Kindesgeist das Neue, im  Licht der bereits vorhandenen Erfahrungen sieht er es,  (36) ganz so, wie es auf der vorhergehenden Entwicklungsstufe geschah. Und darum kann auch hier von einer vollständigen, rein verstandesmäßigen Auffassung der Außendinge noch nicht die Rede sein. Sie wird zwar, namentlich infolge des Unterrichts, allmählich richtiger, vielseitiger und klarer werden, aber sie ist im frühen Knabenalter doch noch so mit subjektiven Vorstellungen verknüpft, daß sie im ganzen als eine  phantasiemäßige Naturauffassung  bezeichnet werden darf.

Nicht immer können dem Kind die Gegenstände, welche der Unterricht behandelt,  in natura  dargeboten werden. Da tritt das  Bild  als Ersatz ein. Man erwartet, daß es nahezu den gleichen Eindruck hervorrufen werde als der wirkliche Gegenstand. Das trifft nur unter gewissen Voraussetzungen zu. Denn auch das Verständnis von Zeichnungen, das Ausdeuten von Bildern will gelernt sein. Unser Auge sieht an und für sich nur Flächen und Figuren; von Körpern und Perspektive weiß es aus eigener Erfahrung nichts. Das beweisen uns die Aussagen operierter Blindgeborener, die anfänglich Gemälde für bloße gefärbte Flächen ansahen, ohne von den dargestellten Körpern, von Fernsicht u. a. das Geringste zu ahnen. (37) Wenn wir Zeichnungen verstehen und Bilder deuten, so unterlegen wir ihnen einen Gutteil unserer eigenen Vorstellungen. Wir ergänzen die Figuren zu Körpern, wir verleihen den toten Gestalten Leben und Empfindung, wir legen unsere eigenen Gedanken und Gefühle in die bunte Bilderwelt hinein. Und je mehr oder je weniger wir zu geben vermögen, desto mehr oder weniger lesen wir aus derselben wieder heraus. So ist es auch beim Kind. Mag es sich auch schon früh in der Deutung einfachster Umrißzeichnungen geübt haben (38),  so bringt es einem Bild doch nur insofern Verständnis entgegen, als es Ähnliches bereits gesehen und erlebt hat.  Wo jenes über seinen geistigen Gesichtskreis, über seine Erfahrung hinausgeht, da sieht es auch beim besten Willen nicht das, was es erkennen sollte.  Denn alles Verstehen von Bildern ist ein Apperzipieren,  ein Erfassen und Ausdeuten derselben durch starke, deutliche Vorstellungen, die wir vorher schon an wirklichen Dingen und Ereignissen gewonnen hatten.

Die meisten seiner abwesenden Gegenstände vermag freilich der Unterricht weder  in natura  noch im Bild vorzuführen, und ein anderer großer Teil seines Bildungsstoffes läßt sich überhaupt nicht sinnlich darstellen. Hier tritt die Notwendigkeit an das Kind heran, sich durch eine  innere Anschauung  anzueignen, was der äußeren Wahrnehmung versagt bleibt. "Der Unterricht hat dann nur Worte mitzuteilen; die Vorstellungen zu den Worten, worauf der Sinn der Rede beruth, müssen aus dem Innern des Hörenden kommen." "Der allergrößte Teil des Lernens geschieht dadurch, daß Worte  verstanden  werden, also daß der Schüler aus  dem geistigen Vorrat, welchen er schon eingesammelt hat, den Sinn in die Worte legt.  (39) Daher ist jeder Vortrag, jede Erzählung, jede Frage des Lehrers eine Aufforderung an den Schüler, das gehörte, an und für sich inhaltsleere Wort zu verknüpfen mit einem in der Kinderseele sich vorfindenden konkreten Vorstellungsgebilde oder Gedanken, eine Aufforderung zur Reproduktion zahlreicher alter Anschauungen, die zum Gegenstand des Unterrichts in naher Beziehung stehen. "So denken und fühlen dann die Schüler bei allem, das sie gelehrt bekommen, etwas Eigenes in sich" (40), jeder in eigentümlicher, individueller Weise, nach Maßgabe des vorhandenen Vorstellungsschatzes.  Diese "stillen Gefühle und Gedanken aber, die neben denen des Lehrers heimlich herlaufen", sind es, welche das gehörte Wort erklären und mit sinnlichem, lebendigem Inhalt erfüllen,  sie sind der Hintergrund, auf dem sich das Neue klar und scharf abhebt,  die apperzipierende Hilfe, mit der es zum Verständnis gebracht wird. 

Soll der Schüler z. B. einem historischen oder geographischen Vortrag mit Verständnis folgen, so muß er zunächst in der Lage sein, dem Gehörten einen sicheren, anschaulichen Grund und Boden zu leihen, sich mit Leichtigkeit  in entlegene  Räume und Zeiten zu versetzen. Wie geschieht das? Wenn wir genauer zusehen, wo wir im Geiste weilten, als wir in unserer Jugend zum erstenmal erzählen hörten vom schönen Paradiesgarten und den ersten Menschen, als wir mit dem Volk Israel durch das rote Meer schritten und am Berg Sinai lagerten, als wir mit MOSES von Nebos Höhen hineinblickten in das gelobte Land, wo Milch und Honig fließen, so werden wir die überraschende Wahrnehmung machen, daß es die Heimat war mit ihren Tälern und Bergen, wo unsere Gedanken wandelten, daß wir die Wälder und Fruchtebenen, die Steppen und Auen, die Brunnen und Häuser, die Menschen und Tiere der heiligen und Profangeschichte verlegt haben in die heimische Flur. An bekannten Lokalitäten also veranschaulichen wir das Fremde, und indem wir in weiter Ferne durch Wüsten und Gebirge, über Meere und Flüsse zogen, deren Name vorher nie unser Ohr berührt hatte, waren wir doch immer daheim. Man wird bei dieser Erscheinung an die Einbildungskraft denken und die reiche Kinderphantasie rühmen, die das Fernste in unmittelbare Nähe zur rücken weiß. Aber es ist unstatthaft, einen Prozeß auf eine besondere, wunderbare Fähigkeit zurückzuführen, der sich nach einem allgemeinen psychologischen Gesetz viel ungezwungener erklären und als eine ganz normale, notwendige Erscheinung des Seelenlebens erweisen läßt. Als wir uns nämlich in eine fremde, entlegene Gegend der heiligen Geschichte versetzten oder diese vielmehr schufen, kamen neueintretenden fremden Namen bekannte, ähnliche Gesamtvorstellungen (nämlich der Name und das Bild heimatlicher Gegenstände) zu Hilfe: die Namen für biblische Lokalitäten, die Vorstellungen von Personen und Ereignissen der heiligen Schrift reproduzierten verwandte heimatliche Gedankengruppen und wurden ihnen eingefügt, so daß sie schließlich einen Teil derselben bildeten und mit ihnen verschmolzen. Es wurde sodann das, was die Erzählung Neues brachte, mit Hilfe alter Vorstellungen angeeignet, und wir verdanken also der Apperzeption, was gewöhnlich der Tätigkeit der Phantasie zugeschrieben wird. Sehr anziehend schildert BOGUMIL GOLTZ, der gemütvolle und geistreiche Kenner der Kinderseele, so eine kindliche Apperzeption. Wie er von jener Zeit an, da er zum erstenmal zu seiner großen Freude in den Besitz eines bunten, in allen Farben schillernden Waldspechtes kam, sich den Himmel als eine Wiese und einem Wald mit lauter zahmen Spechten vorstellte, welche von den Engeln mit bloßen Händen gegriffen werden (Buch der Kindheit, 3. Auflage, Seite 42), so pflegte er auch später jede Stadt und jedes Land, von dem in Geschichte und Geographie die Rede war, sich mit Hilfe heimatlicher Vorstellungen anschaulich vor die Seele zu führen. "Ich sah, so schreibt er, besonders Jerusalem von Anbeginn in ein und derselben Beleuchtung, Naturszenerie, Naturstimmung, Witterung, Tages- und Jahreszeit; alle Gassen ungepflastert, in einem festen Sandboden, fabelhaft breit; die Häuser niedrig und mäßig groß, durch weite Gehöfte voneinander getrennt; eine unbeschreiblich träumerische Ruhe über dem Ganzen ausgegossen, keine Arbeit, Fabrikation und Polizei, kein Handel und Wandel, alles in einem heiligen, beschaulichen Nachdenken, in der Feier des Sabbaths und JEHOVAs" (a. a. O. Seite 276). Wenn zur Osterzeit der Schnee schmolz und die Straßen Königsbergs überflutet wurden, "wenn alle Pregelwiesen weit und breit eine unübersehbare Mengen von Seen bildeten und all die Speicher und Häuser einem nordischen Venedig gleich im Wasser zu stehen schienen, dann hatte ich Gesichte von Urwassern und Sintfluten, von der Arche Noah und der ganzen Genesis dazu, dann rekapitulierte ich in meiner Seele und in meinen Sinnen alle diluvianischen [sintflutlichen - wp] und antediluvianischen [vorsintflutlichen - wp] Geschichten, alle Schöpfungstage" (a. a. O. Seite 170)

Ich kann es mir an dieser Stelle nicht versagen, den interessanten Erinnerungen unseres Kinderfreundes noch ein paar aus meiner eigenen Jugendzeit hinzuzufügen. Ich pflegte mir nämlich ganz wie GOLTZ - durch die Beziehung fremder, entlegender Lokalitäten und Ereigenisse auf bekannte, heimatliche- die Tatsachen der biblischen Geschichte anzueignen. Wenn z. B. in der Schule von der Weltschöpfung erzählt wurde, so stellte sich mein Kindesgeist das Chaos als Überschwemmung vor und zwar an einem Ort, der von der Saale öfters überflutet wurde und in dessen Mitte sich ein von düsteren Linden und Weiden umgebender Teich befand. Die des Morgens und Abends aus dem Wasser aufsteigenden Nebel waren der Geist Gottes, der auf dem Wasser schwebte. Am schilfigen Ufer der Saale wurde MOSES in seinem Kästchen ausgesetzt, während die Schwester auf einer nahen Wiese das Schicksal des Knäbleins verfolgte. Aus demselben Fluß stiegen die 7 fetten und mageren Kühe Pharaos, und da, wo er besonders tief ist, fand der Durchzug der Israeliten durch das rote Meer statt, da wurde das ägyptische Heer von den wiederkehrenden Fluten verschlungen. Der nahe, auf einer Seite ziemlich steil emporsteigende Parnitzberg erschien mir als der Sinai, auf dem das Gesetz unter Donner und Blitz gegeben wurde, und an seinem Fuße lagerte in der freilich sehr fruchtbaren Wüste der Saalwiesen das Volk Israel. Dieselbe Aue, auf der dem MOSES der Herr im feurigen Busch erschienen war, sah in der Christnacht auch die Hirten Bethlehems ihre Herde weiden und vernahm den Gesang der himmlischen Heerscharen. Ich erinnere mich noch mit großer Deutlichkeit an den alten, dunklen Stall - er ist schon längst abgebrochen -, in welchen ich die Geburt des Heilands verlegte. War vom Tempel der Juden die Rede, so versetzte ich mich in unsere Stadtkirche; dort sang der greise SIMEON seinen Lobgesang, und auf ihrem Altarplatz, wo alljährlich die Prüfung der Konfirmanden stattfindet, unterredete sich der zwölfjährige JESUS mit den Schriftgelehrten. Das Amthaus war erst das Gefängnis und dann die Amtswohnung JOSEPHs; der königliche Palast, wo er die Träume des Pharao deutete, lag gegenüber am Markt (ein großer Gasthof), und das Haus des POTIPHAR stand in derselben Gasse. Diese Straße entlang zogen JOSEPHs Brüder, und am Tor des Amtshauses standen sie in banger Furcht, als sie sich wegen des Becherdiebstahls verantworten sollten, hier vollzog sich jene bewegte Erkennungsszene. Die Wohnung des Hohenpriesters KAIPHAS befand sich in einem großen Gebäude, dem Schützenhaus, dessen großer Saal früher öfters zur Abhaltung von Gerichtsverhandlungen benutzt wurde; dorthin wurde JESUS geführt, und im Vorhof des Gebäudes verleugnete PETRUS seinen Herrn. Natürlich wohnte PILATUS dem hohenpriesterlichen Palast gegenüber. Wenn ich mir CHRISTI Kreuz am Abhang eines Hügels an einer Gartenmauer stehend dachte, so befand sich sein Grab in einem nahen Garten der sogenannten Kohlau. Die Straße aber von Jerusalem nach Jericho führte am Kreuz vorüber, denn der Mann, der unter die Mörder fiel, ging hinab nach Jericho. Wenige Schritte davon auf einem zwischen Gärten hindurch führenden breiten Weg lag der Stein, auf den Jakob das müde Haupt legte, als er nach Mesopotamien floh; dann kam man zu dem Garten, wohin ich das Paradies verlegte. In diesem wandelten ADAM und EVA, in seiner Mitte stand der Baum der Erkenntnis, und hinter jenen Busch flüchteten die Schuldbewußten, als sie Gott an sein Gebot erinnerte. Von hier aus sah man den "Galgenberg", wo KAIN seinen Bruder erschlug, den "Birkenhain", in dem ISAAK geopfert werden sollte, und am fernen Horizont tauchte der Nebo auf, von dem MOSES hineinschaute in das gelobte Land.

Diese Erinnerungen zeigen uns, daß die kindliche Auffassung viele Tatsachen, die räumlich und zeitlich weit auseinander liegen, auf engem Raum zusammendrängte, ganz entsprechend dem beschränkten Gedankenkreis, den der Knabe mit zur Schule brachte. Es kann auch nicht geleugnet werden, daß die Aneignung der einzelnen Erzählungen nicht immer in der zweckmäßigsten Weise zustande kam, daß den biblischen Bildern eine lokale Färbung, manch unwesentliche, unrichtige Züge beigefügt wurden. Aber alle diese Mängel werden aufgewogen durch die eine Tatsache, daß das Neue doch sicher apperzipiert wurde, daß die Worte des Lehrers nicht inhaltsleere Worte blieben, sondern farbenfrische, lebendige Anschauungen in der Kinderseele erweckten. Es wird von BYRON erzählt, daß die durch eine Besichtigung der klassischen Stätten der homerischen Dichtung gewonnene Anschauung hinsichtlich ihrer Stärke und Schönheit bei ihm weit hinter dem Bild zurückgeblieben sei, das er sich vorher schon mit Hilfe seiner heimatlichen Umgebung von jenen Orten gemacht hatte. So lebendig vermag sich also unter Umständen die Apperzeption zu vollziehen, daß sie der Perzeption in Bezug auf Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen mindestens gleichkommt. Was aber einmal so die Kinderseele unwillkürlich - denn von einem absichtlichen Suchen nach entsprechenden heimatlichen Bildern kann nicht die Rede sein - geschaffen, das hat sich ihr zu tief eingeprägt, als daß die Reflexion in späterer Zeit alles verändern und verbessern könnte. Gewiß wird durch Abbildungen, Beschreibungen, das eigene Nachdenken manche der jugendlichen Apperzeptionen berichtigt; aber wenn ich genau untersuche, welche Bilder jetzt noch bei der Nennung des Gartens Eden, Golgathas, Jerusalems unwillkürlich und am ehesten und leichtesten in meiner Seele aufsteigen, so finde ich, daß es die frühesten Anschauungen sind und daß spätere Erfahrungen sie nur wenig zu verändern vermocht haben.

Die historische Erzählung oder geographische Beschreibung fordert vom Knaben außer der lebhaften Vergegenwärtigung entfernter Räume weiter eine deutliche Vorstellung von  fremden Lebensverhältnissen, fremden Personen und ihren Schicksalen, ihren Gedanken und Gemütszuständen.  Hier muß wiederum die innere Anschauung das gehörte Wort mit konkretem Inhalt erfüllen. Das geschieht, indem das Kind zurückgreift auf seine eigene Erfahrung, wie sie ihm im wesentlichen die Heimat bisher geboten hat, auf seine eigenen inneren und äußeren Erlebnisse und mit ihrer Hilfe in historische Zeiten und Zustände, sich in fremde Sitten und Gebräuche versetzt. Je dürftiger und unzureichender diese apperzipierenden Vorstellungen sind, desto unvollkommener und naiver wird freilich die Auffassung des Neuen ausfallen. Dann kommt es wohl zu Mißverständnissen, wie bei jenem vogtländischen Knaben, der da meinte, Gott habe ADAM aus einem "Erdäpfelkloß" gemacht, und der Engel des Paradieses habe in der Hand "eine große Schwarte" (ein Brett) gehalten. Oder es entstehen allzukindliche Apperzeptionen, wie wenn ein Schüler meint, der unter freiem Himmel schlafende Jakob "hätte leicht von einem Eisenbahnzug überfahren werden können" und JOSEPH sei bei seiner Erhöhung des ägyptischen Königs "Lehrjunge" geworden.

Am schwierigsten wird es allezeit bleiben, für die  Gedanken und Gemütszustände  historischer Personen apperzipierende Vorstellungen herbeizuschaffen. Da gilt es, den Blick des Kindes zu lenken auf seine eigenen inneren Erlebnisse und rückschauend es verweilen zu lassen bei jenen Augenblicken, da sein Gemüt von Angst und Sorge, Furcht und Reue bewegt wurde, da die Stimme des Gewissens strafend sich erhob oder das Gefühl einer gelungenen Guttat das Herz erfreute. So eine gelegentliche stille Einkehr in die eigene Innenwelt, wie sie eine rechter Geschichtsunterricht taktvoll zu pflegen weiß, lehrt nicht nur fremde Seelenvorgänge besser verstehen, sondern führt auch allmählich zur rechten Selbsterkenntnis, jener Grundbedingung der Selbstzucht.

So erweisen dann jene zahlreichen Vorstellungen und Erfahrungen, die das Kind bisher zumeist auf dem Weg der Apperzeption gewonnen hat, sich im Unterricht selbst wieder als apperzipierend tätig. Sie geben den Worten des Lehrers den rechten Klang und Sinn: sie sind die Werkstücke, mit deren Hilfe sich der jugendliche Geist eine neue, historische Welt nach und nach erbaut. Wahrlich, eine gewaltige Arbeit!

Zu den Worten des Lehrers aber tritt bald helfend und ergänzend das des Buches: das Kind soll  lesend  neue Gedanken ohne fremde Vermittlung aufnehmen und verstehen lernen. Das ist eine noch weit schwierigere Aufgabe als die,  gehörte  Worte in Vorstellungen umzusetzen.  Denn alles Lesen schließt ein dreifaches Apperzipieren ein.  Zuerst wird eine Reihe von Buchstaben oder Wortbildern, sodann die entsprechende Laut- und Wortklangreihe und schließlich die durch beide bezeichnete Gruppe von Sachvorstellungen aufgefaßt, d. h. als mehr oder minder bekannt wiedererkannt. Indem wir gleichzeitig diese Reihen bilden und miteinander verknüpfen, verstehen wir das Gelesene. Dem Kind gelingt nicht im gleichen Maß wie es dem Erwachsenen gelingt auf seiner Entwicklungsstufe dieses Verstehens. Es vermag in der Regel nicht drei Reihen  gleichzeitig  aufzufassen, und wo es dies trotzdem versucht, wo es der Bedeutung der Worte nachgeht, da tritt nicht selten das sogenannte "Raten", das ist eine falsche Apperzeption der Buchstaben- und Lautreihe ein. Das Kind konzentriert darum am liebsten sein Bewußtsein zunächst nur auf die letzteren beiden Reihen; es liest Worte, ohne ihren Zusammenhang vollständig zu verstehen. Die Apperzeption des Inhalts folgt meist erst nach; d. h. das Kind muß die gelesenen Wörter noch einmal besonders auf ihre Bedeutung hin ansehen und sich aneignen, wenn ihr Sinn sich ihm ganz erschließen soll. Es wird auf diese Weise z. B. eine Geschichte beim Lesen nicht sogleich und unmittelbar erfassen, die ihm, mit  denselben Worten vom Lehrer erzählt,  ohne weiteres verständlich ist. Die geläufige und unverzügliche Auffassung des Gelesenen bleibt den nächsten Entwicklungsstufen vorbehalten. -

Je gründlicher die Aneignung zahlreicher neuer Vorstellungen, wie wir sie in vorstehender Skizze kennenlernten, zustande kam, d. h. je vielseitiger und richtiger die Verbindungen sind, welche verwandte Seeleninhalte miteinander eingingen, desto mehr ist auch die logische Gliederung, Ordnung und Durchbildung des Wissensstoffes vorbereitet worden. Die schattenhaften Gemeinvorstellungen, die, wie wir sahen, in der Kindheit, begünstigt durch Gattungsnamen, hervortraten, erhalten nunmehr reicheren Inhalt und schärfere Umrisse. Sie werden zu deutlicheren Gemeinbildern oder  psychischen Begriffen.  Versuchen wir die Entstehung derselben an einem Beispiel zu veranschaulichen. Solange das Kind in früher Jugend ausschließlich rote Zentifolien im Garten gesehen, vermochte es sich die Rose nur rot und gefüllt vorzustellen. Da fand es etwa am Feldrain einen Strauch mit ähnlichen Blüten (Hundsrose), die weder gefüllt noch rot waren. Dem Kind fiel dies auf, und es wußte einen Augenblick nicht, ob es eine völlig neue oder bekannte Pflanze vor sich habe. Denn die durch die neue Wahrnehmung reproduzierte verwandte Anschauung von der Zentifolie widersprach ihr in mehreren auffallenden Merkmalen. Allein, so sehr dies anfangs auch befremdete - der übereinstimmenden Kennzeichen fanden sich entschieden mehr als der unterscheidenden. Und so hob die Seele, ihrer eigentümlichen Natur gemäß, die überall auf Zusammenfassung und Ordnung der geistigen Inhalte hindrängt, das Gemeinsame in beiden Wahrnehmungen als das Wesentliche hervor, sie ordnete die neue Perzeption der älteren als gleichartig unter. Dieser Abneigung gab das Kind Ausdruck in den Worten: Auch das ist eine Rose, aber eine weiße und einfache. Trotz mehrerer widersprechender Merkmale fügte es einer älteren Anschauung die neue Wahrnehmung hinzu und übertrug auf dieselbe den Namen  Rose,  weil sie zuviel mit jener gemein hatte, als daß es beide hätte völlig voneinander trennen können. Wurde dem Kind mit der neuen Anschauung zugleich der Gattungsname Rose gegeben, so vollzog sich die Apperzeption noch wesentlich leichter und rascher. In jedem Fall aber war sie nicht die Folge eines besonderen Willensaktes, einer absichtlichen Denktätigkeit, sondern die Seele schuf die Gemeinvorstellung, unbewußt dem Inhalt der verknüpften Vorstellungen folgend. Auch vermochte keine der letzteren über die andere ein Übergewicht zu behaupten, weshalb es zweifelhaft bleibt, welche von ihnen als das Subjekt oder das Objekt der Apperzeption anzusehen ist.

Je mehr nun aber im Laufe der Zeit die Erfahrung und Auffassungskraft des Kindes wächst, je mehr der Knabe neue Rosenarten, also z. B. gelbe, Moosrosen u. a. kennen lernt und sich durch den Unterricht zu einer eingehenden Betrachtung derselben veranlaßt sieht, wird sich der Vorgang der inneren Aneignung bei der fortschreitenden Begriffsbildung etwas anders gestalten. Jeder neuen ähnlichen Wahrnehmung begegnet dann in diesem Gemeinbild ein verwandter Gedankeninhalt,  der ihr hinsichlich des Umfangs und der Stärke seiner Verbindungen überlegen ist.  Indem sie ihm eingefügt wird, gibt sie ihre gesonderte Stellung auf, um die apperzipierende Vorstellungsgruppe mit einem oder mehreren neuen Merkmalen zu bereichern. Jede dieser neuen Wahrnehmungen berichtigt und vervollständigt also das Bild von der Rose, und wenn dieses schließlich nahezu alle wesentlichen Merkmale des Gegenstandes enthält (neben vielen zufälligen, die sich jedoch des Gegensatzes halber, der zwischen ihnen obwaltet, nicht zu der Klarheitsstufe erheben können, welche die wesentlichen, allen Vorstellungen derselben Art gemeinsamen Elemente einnehmen), so sagt man, das Kind habe den  psychischen Begriff  der Rose. Kam in früher Jugend jene Verschmelzung einer neuen Vorstellung mit einer verwandten älteren durchgehend  unbewußt,  obwohl gewissen logischen Gesetzen gehorchend, zustande,  so vollzieht sich nunmehr diese Tätigkeit oft bewußt.  Der Aneignung geht eine Überlegung voraus, der Knabe bildet Schlüsse, er urteilt,  er  denkt. Und das Endurteil ist der einfachste Ausdruck der vollzogenen Apperzeption. Wenn das Kind sagt: Auch das (die Moosrose) ist eine Rose, so heißt das soviel wie: das Subjekt, (nämlich die neue Wahrnehmung, die anfangs nicht gedeutet werden konnte) ist apperzipiert worden vom Prädikat (der bereits vorhandenen Vorstellung von der Rose). Nicht ohne Grund heißt darum die angeeignete, gleichsam der alten Wahrnehmung  unterworfene  Vorstellung  Subjekt.  Daß den auf diesem Weg entstandenen psychischen Begriffen ihrem vollkommenere Inhalt entsprechend eine noch weitaus stärkere apperzipierende Kraft innewohnt als den unbestimmten Gemeinbildern der Jugend, darauf werden wir noch hinzuweisen haben.

Mit den Wandlungen auf intellektuellem Gebiet vollzieht sich allmählich auch beim Kind ein  Fortschritt in ethischer Beziehung.  Wir sahen, daß herrschende Vorstellungskreise und Gemütszustände die sittliche Einsicht des Menschen wesentlich bestimmen: woran sein Herz hängt, was er für sich selbst vornehmlich wünscht und begehrt, danach pflegt er gewöhnlich fremde und eigene Gesinnungen zu beurteilen. Demnach unterliegt es keinem Zweifel, daß im frühen Knabenalter nicht weniger als in der Kindheit  sinnliche Gefühle und Interessen  das sittliche Bewußtsein des Menschen noch ziemlich stark beeinflussen. Ja, sie mögen sich bei unerzogenen oder mißratenen Kindern sogar als einzige herrschende Gedankengruppe geltend machen: erlaubt ist ihnen, was gefällt. Beim wohlerzogenen Kind dagegen treten sie mehr und mehr hinter dem idealen  Bild der Eltern  zurück. Nicht blind mehr folgt es dieser Autorität, an die es sich von Anbeginn gebunden sieht. Sondern aus der Vergleichung derselben mit anderen Personen wie mit seinem eigenen unvollkommenen Wesen entspringt allmählich das Gefühl unbedingter Verehrung, die ihm den freien Gehorsam gegen die Eltern zur inneren Pflicht macht und ihr Bild immer mehr zum Vorbild erhebt. Und zu dieser einen Autorität gesellen sich bald andere: die  Lehrer, nahe Verwandte, die Obrigkeit mit ihren Dienern, hervorragende Mitschüler.  Es tritt ihm namentlich in der heiligen Geschichte als oberste Autorität  Gott,  der Allheilige und Gerechte, entgegen, dessen erhabenes Wollen und Walten sich seinem Gemüt mit unauslöschlichen Zügen einprägt.  Das sind die Vorbilder, welche vor allem die sittliche Auffassung des Kindes bestimmen, deren Gesinnungen seine Apperzeption auf ethischem Gebiet leiten.  Sie stehen dem Knaben bei seinem Tun leibhaftig vor der Seele;  sie sind sein Gewissen.  Nicht als ob er außerstande wäre, aus eigener Kraft zu finden, was gut und böse ist. Er erkennt sehr wohl das Verwerfliche einer Handlung und das Lobenswerte einer Gesinnung ansich,  unabhängig  von dem Gedanken: Was werden oder würden Eltern, Lehrer, Gott dazu sagen? Aber jene reinen, unabhängigen sittlichen Gefühle und Urteile treten auf dieser Entwicklungsstufe selten für sich, sondern meist in Verbindung mit gewissen Musterbildern auf. Wie sich das Denken des Knaben auf allen Gebieten des Wissens in zum Teil noch recht unvollkommenen Gemeinbildern, nicht in allgemeinen Begriffen bewegt,  so erweist sich auch auf ethischem Gebiet bei ihm das Sittliche nicht in der abstrakten Form der Idee, des Grundsatzes wirksam, sondern in der anschaulichen Form des Ideals.  Wenn man genau zusieht, was denn im Knabenalter die sittliche Beurteilung leitet, so findet man, daß meist ein der Wirklichkeit entnommenes und dem Kind persönlich nahe stehendes Musterbild bewußt oder unbewußt bei der Apperzeption den Ausschlag gibt und damit auch vornehmlich den Willen bestimmt. - -

Wir kommen zur  dritten Entwicklungsstufe,  welche das reifere Knaben- und Mädchenalter, die Zeit vom 11. bis 14. Lebensjahr umfaßt. Hier wiederholen sich im wesentlichen dieselben Apperzeptionsvorgänge, die wir auf der vorhergehenden Stufe kennenlernten. Denn auch jetzt fährt der Unterricht fort, den Erfahrungskreis des Kindes durch eine Vorführung neuer Anschauungsobjekte, durch Bild und Wort zu erweitern. Aber die Anforderungen, die er hierbei an die kindliche Auffassungskraft stellt, erhöhen sich. Mehr als bisher tritt die  Welt der Formen und Zeichen  in den Vordergrund, welche der Schüler aus seinem geistigen Schatz mit Vorstellungs- und Gedankeninhalt zu erfüllen hat. Er muß auf dem Gebiet des Zeichnens und der Geometrie, wenn er mit Verständnis arbeiten will, den Figuren körperlichen Schein verleihen können und bloße Umrisse je nach Schattierung und Farbengebung verschieden zu deuten lernen. Die bekannte Formel der Geometrie: "Man denke sich eine Linie gezogen usw." schließt meist die Aufforderung zur Einleitung eines oft recht schweren Apperzeptionsprozesses ein. Nicht Geringeres mutet der geographische Unterricht dem Knaben zu, wenn er verlangt, daß er die stummen Zeichen der Karte umsetzt in farbenfrische Anschauungen von Gebirgszügen und weiten Ebenen, von schneebedeckten Berggipfeln und tiefen Tälern, von Flüssen und Seen und dem unendlichen Meer, von Dörfern und Städten, Festungen und all den verschiedenen Formen menschlicher Ansiedlung. Mehr als vordem bedient sich der Sachunterricht des bloßen Wortes, um neue Vorstellungen und Kenntnisse zu erzeugen, und es bleibt dem Schüler überlassen, aus seinem Innern das Beste hinzuzutun, d. h. durch innere Anschauungen das Wort zu beleben oder, wie man wohl auch sagt, mit Hilfe der Phantasie dem Vortrag des Lehrers zu folgen. Und auch bei der Lektüre muß der Knabe nun lernen, den Inhalt gleichzeitig mit den Zeichen der Schrift zu apperzipieren, denkend zu lesen und lesend zu verstehen.

Solchen hohen, an seine Apperzeptionsfähigkeit ergehenden Anforderungen zeigt sich der Knabe dann auch mehr und mehr gewachsen. Stehen ihm doch zur Aneignung des Neuen jetzt weitaus zahlreichere und richtigere Vorstellungen zur Verfügung als auf den früheren Stufen. Haben sich doch viele seiner Anschauungen zu psychischen Begriffen verdichtet und zu Gruppen und Reihen enger zusammengeschlossen. Dieses gefestigte, reichere Wissen drängt nun nach Betätigung und macht sich daher bei jeder neuen ähnlichen Wahrnehmung geltend. Es schärft nicht nur die Sinne, so daß sie erkennen, was dem ungeschulten Blick leicht verborgen bleibt, sondern es lehrt auch richtiger, sachgemäßer und rascher auffassen. Neue Tatsachen finden mit Hilfe der apperzipierenden Gemeinbilder sicherer die rechte Erklärung, den rechten Platz im Gedankenbau. Und so schaut der Schüler der Oberklasse eine Pflanze, ein Tier, ein Naturereignis mit ganz anderen Augen an als das Kind oder der Knabe der Unterklasse - mit den Augen nämlich seines schulmäßigen Wissens. Er versteht nicht nur kräftiger und umfassender, sondern auch  richtiger  zu apperzipieren. An Stelle der subjektiven, phantasiemäßigen Auffassung tritt nun eine mehr  objektive,  verstandesmäßige. Diese verrät sich auf allen Wissensgebieten in der  kritischen  Art, wie sich der Knabe neuen Eindrücken gegenüber verhält. "Jene harmlose Naivität, mit welcher sich das Kind noch in der ersten Hälfte des schulpflichtigen Alters ungeprüft bei jedem sinnlichen Augenschein und jeder ihm überlieferten Mitteilung beruhigt, macht in der zweiten Hälfte jenes Alters namentlich beim Knaben mehr und mehr einer anderen Stimmung und Haltung Platz. Der reifere Schüler nimmt nicht mehr alles so unbefangen auf Treu und Glauben hin, sondern er fängt auch an, Beweise zu verlangen, und wo ihm Rede und Gegenrede freisteht, da läßt er auch die ihm gegebenen Gründe und Beweise nicht so ohne weiteres gelten, sondern er wägt sie in oft sehr lebhaftem Disput gegeneinander ab." (41)

Eine scharfe, eindringliche und objektive Erkenntnis der Dinge erschließt sich freilich in vollem Maße erst dem  begrifflichen Denken.  Doch auch zu diesen wird bereits im reifen Knabenalter der Grund gelegt. Wie das Bestreben der Seele, Einheit und Ordnung innerhalb ihrer Erzeugnisse zu stiften, auf den vorhergehenden Stufen in der Bildung von Vorstellungsgruppen und Reihen, von Gemeinbildern sich äußerte, so macht es sich jetzt, da die Menge des Wissens schier unübersehbar zu werden droht, in der Zusammenfassung jenes bereits gegliederten Bildungsstoffes zu Begriffen und allgemeinen Urteilen, zu Gesetzen und Regeln geltend. Der Knabe fühlt das Bedürfnis, seinem Wissen eine größere Einheit und Klarheit zu geben, von schwankenden Gemeinbildern fortzuschreiten zum geläuterten psychischen oder wohl auch zum logischen Begriff. Und so übt sein Denken Kritik an den vorhandenen Gemeinbildern, die sich der wachsenden Erkenntnis als unzureichend erwiesen haben. Kindliche Definitionen wie: "Wer lügt, sagt die Unwahrheit" oder: "Echo ist, wenn man es an die Wand wirft, kommt es wieder" genügen jetzt dem Knaben nicht mehr. Er strebt danach, schon um dem Einwand seiner Schulgenossen zu begegnen, nach schärferer Fassung der Begriffe. Er sucht unter Anleitung des Lehrers verwandte und darum leicht zu verwechselnde Begriffsgebiete streng voneinander zu sondern und all die Vorstellungen, die voraussichtlich ein und demselben Begriff angehören, kennenzulernen und zu überschauen, damit ihm kein wesentliches Merkmal des letzteren entgeht. Aufgrund des gesammelten Materials vergleicht und unterscheidet, stellt er Elemente zusammen, die bisher isoliert in der Seele standen oder löst Vorstellungsgruppen auf, die Ungereimtes enthalten, verbindet das Gleiche und trennt das Ungleichartige und durchläuft bei all dem die verschiedenen Gedankenkreise mit einer Schnelligkeit und Leichtigkeit,  die nur erklärlich wird durch die Apperzeptionstätigkeit, die hier unterstützend eingreift.  Die gleichen oder ähnlichen Glieder der reproduzierten Vorstellungen sind es nämlich, welche die Gedankengruppen, denen sie angehören,  in Bewegung setzen,  die sie  zusammenhalten  helfen und so die denkende, verweilende Betrachtung derselben erleichtern.  ApperzipierendesAufmerken läßt sich so leicht keine  im Umkreis des Bewußtseins erscheinende oder unter der Schwelle desselben befindliche oder "mitschwingende"  Vorstellung, die unter den Begriff fällt oder zu fallen scheint, entgehen. Es erkennt in allen das Wesentliche wieder und erfaßt so gleichsam im voraus instinktiv,  was das nachfolgende Denken bestätigend feststellt. Diesem obliegt nur, aus all den zur Vergleichung aufgerufenen Vorstellungen die dunkel bereits erkannten wesentlichen Merkmale herauszuheben, von den zufälligen zu sondern und alsdann zusammenzufassen zum  reinen Begriff,  zur Definition.

 Logische Begriffe  im strengen Sinn des Wortes, d. h. solche, die durchaus kein unwesentliches, zufälliges Merkmal enthalten, gleichen freilich Idealen, denen menschliches Streben nie vollkommen zu entsprechen vermag. Nur annähernd vermögen selbst Erwachsene in ihrem Denken sie zu erreichen (42). Und so versteht sich von selbst, daß sich der Knabe nur selten zu ihnen wird erheben können. Er denkt zumeist in psychischen Begriffen. Aber diese können eine solche Läuterung erfahren, daß sie der Erkenntnis nahezu dieselben Dienste leisten, wie logische Begriffe. Und solche geläuterte, dem logischen Denken genügende Hauptbegriffe sind es, die sich der Knabe auf allen Gebieten des Wissens apperzipierend erwirbt und zu erwerben imstande ist. Sie bilden mit den Gesetzen und Regeln, zu denen sich der Schüler im reiferen Alter gern aus der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen erhebt, die Apperzeptionsorgane, durch welche er in Zukunft sicherer und rascher als vorher neue Erfahrungen erfaßt. Das eben ist der wichtigste Erfolg des Unterrichts, daß er den Zögling mehr und mehr apperzeptionsfähig, d. h. selbständig macht und damit der Herrschaft der äußeren Eindrücke entrückt. Mit jedem neuen Apperzeptionsakt, den der Unterricht einleitete, hat der Knabe besser gelernt, sich dem Zwang des Vorstellungsmechanismus, der Gewalt der bloßen Einfälle zu erwehren und den Prozeß der Wölbung und Zuspitzung innerhalb seines Vorstellungskreises zielbewußt zu vollziehen. Mit der Summe seines Denkinhaltes wuchs auch die Energie seines Denkens, die Kraft, gleichzeitig viele Gedanken "zusammenzunehmen", große Vorstellungskreise prüfend zu überblicken und so eine möglichst richtige Auffassung, eine  objektive Erkenntnis  herbeizuführen.

Auf dem Gebiet der Gesinnungen, des sittlichen Handelns walten beim heranwachsenden Knaben nicht mehr in dem Grad wie früher sinnliche Gefühle vor: sie erhalten ihr Gegengewicht und ihre Beschränkung durch  höhere, geistige Interessen,  die mit und an den entstehenden wertvollen Gedankenkreisen erwachten. Nicht in leiblichen Genüssen geht mehr das kindliche Streben und Wünschen auf, sondern es lernt auch um Edleres sich zu bemühen: die Freude an reichem Wissen, an schönen Formen und selbständigem Denken erweitert seinen Begriff des Glücks. Aber so sehr diese geistigen Interessen auch die Herrschaft der reinen sittlichen Gesinnung vorzubereiten und zu stützen vermögen, so sind sie doch nicht notwendig mit ihr verbunden. Sie können ebensogut dem nacktesten Egoismus dienen, der die Tugend nur pflegt, um unter anderen etwas zu gelten, der bei all seinem Tun zuerst fragt: Was nützt oder schadet es mir? Wo dieser die Gedanken und Strebungen beherrscht, da kann eine objektive, rein ethische Beurteilung des eigenen und fremden Wollens nicht aufkommen,  da wird mit eudämonistischen Vorurteilen apperzipiert.  Daß der Knabe nicht selten einer solchen Lebensauffassung zuneigt, wer wollte es leugnen? Aber eine sorgsame Erziehung sucht zu verhüten, daß diese Neigung ein bleibender Zug seines Wesens wird. Wir sahen schon, wie das lebendige Beispiel der Eltern und Lehrer dem Kind unter normalen Verhältnissen zu einer  Macht des Gemüts  wird, der es sich nur schwer zu entziehen vermag. Nun erweisen auch jene idealen Gestalten der heiligen und profanen Geschichte, mit denen der Unterricht es vertraut machte, mehr und mehr an ihm ihre bildende Kraft. Und gerade der gedachte Umgang mit historischen Personen vermag in besonderem Maß eine  reine  ethische Gesinnung zu erzeugen. Solange das Kind sein sittliches Urteil nur auf sich und seine Umgebung richtet, ist letzteres selten ganz uninteressiert und darum auch selten objektiv: wie leicht läßt es sich unbewußt leiten von geheimen Wünschen und der Rücksicht auf andere Personen! Anders verhält es sich, wenn das Kind im Umgang mit den idealen Gestalten der Vorzeit zur ethischen Auffassung und Beurteilung veranlaßt wird. Jene historischen Personen sind Wesen, denen es nichts zuliebe und nichts zuleid tun kann, die ihm weder zu nützen noch zu schaden vermögen. Hier kann sich das sittliche Urteil völlig frei bilden, unbeeinflußt durch fremde Interessen, durch die Beziehung auf des Kindes eigenes Tun. Hier zeigt sich der Knabe am ehesten geneigt und fähig, Gesinnungen objektiv zu würdigen und sich an eine streng sittliche Auffassung zu gewöhnen. In der historischen Welt, die da Einzug hält in seinem Kopf und Herzen, gewinnt er eine zweite Macht des Gemüts, dies eine ethische Auffassung bestimmt. Die Musterbilder der Gesinnung aber, die der  wirkliche und gedachte Verkehr mit idealen Personen  ihm vorführt, sind die Grundlage, auf der das begriffebildende Denken allmählich fortschreitet zu allgemeinen Forderungen und Geboten, wie sie z. B. im Dekalog ihren klassischen Ausdruck gefunden haben. Mit Hilfe solcher allgemeiner und allgemeingültiger Sätze, die der Knabe gewinnt und sich einprägt, apperzipiert er nun sein eigenes und fremdes Tun; sie sind die Regel, der er das letztere unterwirft. Noch haben diese Sätze nicht allenthalben für ihn die Bedeutung von Grundsätzen. Denn so sehr sie auch seine volle Anerkennung gefunden haben - sie erscheinen ihm doch immer zunächst noch als der Ausdruck des göttlichen Willens, nicht als selbst gegebene Befehle, sondern als Gebote. Hinter all den ethischen Normen, die er als gültig erkannt hat, steht als ehrfurchtgebietende Macht Gott, der sie aufrecht erhält und um dessen willen der Zögling sie in sein eigenes Wollen aufnimmt.  Gott vor Augen haben  - in diesem Wort der heiligen Schrift könnte man die Art der ethischen Apperzeption, wie sie auf unserer Entwicklungsstufe dem wohlerzogenen Knaben eignet, kurz und anschaulich zusammenfassen. -

War dem Kind anfangs der eigene Leib das Ich, der Ausgangs- und Mittelpunkt seines Fühlens und Begehrens, so lernt der Knabe allmählich seinen Körper als ein Stück der Außenwelt ansehen, und mit jeder neuen inneren Erfahrung zieht sich sein Selbstbewußtsein mehr und mehr auf sein Innenleben zurück. In den bereits erworbenen Vorstellungen und Gemütszuständen sucht er nunmehr sein Ich; das Gesamtbewußtsein derselben setzt er äußeren Eindrücken und Störungen als den eigentlichen Kern seines Wesens entgegen. Diese Umwandlung der Ichvorstellung vollzieht sich am vollkommensten in der nächsten Entwicklungsperiode, der wir noch mit einigen Worten gedenken müssen, im Jünglingsalter. Es ist die Zeit des vorherrschenden Gemütslebens, eine Zeit, da gefühlsmäßige Stimmungen vornehmlich den Menschen leiten. Reicher und reiner können jetzt namentlich die geistigen Gefühle sich entfalten, stärker und dauernder sich geltend machen,  weil  die Voraussetzungen hierfür in ganz anderem Maße vorhanden sind als auf den früheren Stufen. Denken wir z. B. an die Entwicklung des  ästhetischen Gefühls.  Wohl trat die Freude an schönen Formen bereits früh hervor: das Kind ergötzte sich am Wohlklang des Reims und an des Taktes anmutiger Bewegung; es wußte den Reiz symmetrischer Figuren und Körper bald zu würdigen und das schöne Gesicht dem häßlichen vorzuziehen. Dazu kam des Unterrichts planvolle Anleitung, das Schöne zu finden und zu fühlen in den einfachsten Raum- und Tongebilden, in den geometrischen und Pflanzen- Ornamenten nicht minder als im Gedicht und in der Melodie. Allein, es waren doch nur vereinzelte, elementare ästhetische Gefühle, die so entstanden, nicht einheitliche, starke Totalgefühle, die in großen, wohlverbundenen Gedankenmassen wurzeln und sich am Gesamtbild eines Kunstwerks in einem höheren Sinn entzünden. Was den Knaben an einem Gemälde, einem hervorragenden Bauwerk interessierte und erfreute, waren weniger die Harmonie der Formenglieder, der Gedankeninhalt, als einzelne, untergeordnete Formen oder wohl gar Nebensächliches, das außerhalb der ästhetischen Beurteilung liegt. Das rechte Verständnis eines Kunstwerkes, das tiefe, reine Gefühl für seine Schönheiten erschließt sich erst dem Jüngling und Mann. Wo die Mannigfaltigkeit der Formen des Knaben Auge verwirrt, weiß der geschulte Blick das Gesetz zu entdecken, nach dem sich alles richtet, die Grundformen, die in der verschiedensten Zusammensetzung wiederkehren, den harmonischen Aufbau des Ganzen. So tritt das Kunstwerk in einem klaren, wohlgegliederten Gesamtbild in das Bewußtsein, als ein Bild, das schon um seiner Form willen ein starkes, erhebendes Gefühl weckt. Dieses geistige Bild aber verdanken wir zu einem geringeren Teil dem Auge, dem Ohr, die uns die Wahrnehmung vermitteln. Es kommt vielmehr zustande unter dem mächtigen Einfluß all der Gedächtnisbilder, die wir von ähnlichen Formen bisher gewannen, der ästhetischen Urteile und Gefühle, die aus ihrer genauen Betrachtung entsprangen. Das Auge, das sich so rasch in einem Gemälde, einem gotischen Dom zurechtfindet und Wichtiges von Nebensächlichem unterscheidet, es wird geleitet von gewissen Regeln, die wir uns früher angeeignet, und unterstützt von der erlangten Fertigkeit, gewisse Formenreihen aus dem Gedächtnis zu ergänzen. Weil wir Verwandtes, Ähnliches in einem Kunstwerk wiedererkennen, braucht sich das Auge nicht im Einzelnen zu verlieren, sondern es kann sich auf die Hervorhebung der Hauptglieder beschränken. So apperzipieren wir das Schöne mit Hilfe der bereits gewonnenen ästhetischen Anschauungen, und das ästhetische Gefühl eines jeden ist abhängig von seinem Gedächtnisinhalt. (43) In einem doppelten Sinn gilt dies von jenen Kunstwerken, die nicht bloß gefallen als  reine Form,  sondern auch wegen dem,  was sie bedeuten,  woran sie erinnern. Denn wenn wir einem Gemälde, einer Bildsäule einen Gedankeninhalt leihen, wenn sie uns erfreuen durch die Handlungen und Gemütszustände, die sie in idealer Weise zum Ausdruck bringen, so fassen wir sie auf mit unserem eigenen Vorstellungs- und Gefühlsinhalt, und das ästhetische Gefühl ist abhängig vom Grad der Gründlichkeit und Leichtigkeit, mit der sich die Apperzeption des Gedankenschönen vollzieht. Eine solche Apperzeption aber setzt einen Reichtum des Wissens, der inneren Erfahrung voraus, wie ihn der Mensch in der Regel vor dem Jünglingsalter nicht erwirbt. Wir denken da nicht bloß an Kunstgebilde wie RAFAELs  Disputa  und die Schule zu Athen, wie KAULBACHs  Zerstörung Jerusalems  oder die Giebelgruppen des Parthenons, deren ästhetische Würdigung wesentlich durch zahlreiche religiöse, historische oder mythologische Kenntnisse bedingt ist, sondern vornehmlich an all jene Kunstwerke, deren Schönheit sich nur einem Gemüt offenbart, das selbst all die Gefühle und Affekte, die Seelenkämpfe und Seelenstimmungen in gewissem Grad erlebt und erfahren hat, welche in jenen Werken zur Darstellung gelangten (44).

In ähnlicher Weise wie das Schönheitsgefühl sind auch die sympathetischen Gefühle des  Mitleids  und der  Mitfreude  abhängig von unserem Gedächtnisinhalt, von dem, was wir selbst im Herzen bewegt und erfahren haben.

Bevor wir die Gefühle eines andern zu teilen vermögen, müssen diese, da sie nicht unmittelbar wahrgenommen werden können, sich kundgeben in eigentümlichen Veränderungen des Organismus, in Worten, Mienen, Gebärden und anderen äußeren Zeichen. In dem Augenblick, da wir diese perzipieren, steigt nach dem Gesetz der mittelbaren Reproduktion die Vorstellung von gleichen oder ähnlichen Gefühlsäußerungen, wie wir sie früher an uns selbst beobachteten, über die Schwelle unseres Bewußtseins und zwar nicht selten mit einer Stärke und Lebendigkeit, die uns die Bewegungen des anderen unwillkürlich nachahmen läßt. Die reproduzierten Gefühlsäußerungen bilden die Glieder eines Gedankenkreises, welcher all die Vorstellungen in sich schließt, die die Seele während einer früheren Gemütsbewegung (derjenigen, von deren Äußerungen wir eben sprachen) erzeugte. Nachdem diese Vorstellungsgruppe ganz oder teilweise zur Reproduktion gelangt ist, treten die fremden Gefühlszeichen, die wir wahrnahmen, zu ihr in Wechselwirkung, um bald darauf, da die gleichen Elemente in beiden Gruppen überwiegen, vollständig mit ihr zu verschmelzen. Jetzt erst vermag sie die neue Wahrnehmung recht zu deuten; sie ergänzt dieselbe, indem sie nach Analogie früherer Erfahrungen erraten läßt, was im Gemüt des anderen vorgeht, wenn er errötend die Augen niederschlägt und verlegene Worte stammelt, welche Gedanken ihn in dem Augenblick bestürmen, da sich Seufzer seiner Brust entringen und Tränen den Augen entströmen. Jetzt verstehen wir die Worte, Mienen und Gebärden des andern, und je zahlreicher und mannigfaltiger die alten, apperzipierenden Vorstellungen sind, desto vollständiger und sicherer vermögen wir in der Seele des Nächsten zu lesen. Und nun ist nur noch ein Schritt zum Mitgefühl.

Die apperzipierende Vorstellungsgruppe war vordem infolge von Hemmungs- und Förderungsverhältnissen, die innerhalb derselben stattfanden oder infolge ihrer Bedeutung für das Ich der Sitz eines Gefühls. Indem nun dieser Gedankenkreis reproduziert und durch die Einschmelzung neuer, ähnlicher Wahrnehmungen verstärkt wird, werden auch jene Hemmungs- und Förderungsverhältnisse von neuem erzeugt, jene Beziehungen zum Ich aufs neue erkannt, und so tritt ein ähnliches Gefühl wieder über die Schwelle unseres Bewußtseins. Es hat aber mit dem Gefühl der anderen Person einen gleichen Ton, da es gleiche oder wenigstens ähnliche Vorstellungen sind, aus denen beide hervorgehen. In dem Augenblick also, da wir den Nächsten verstehen, da die Aneignung seines Seelenzustandes sich in uns vollzogen hat, fühlen wir seine Lust oder sein Weh, als würden wir selbst von der Ursache desselben betroffen sein und wir haben Mitgefühl.

Der Weg aber zum Mitgefühl, und das wird sich aus der vorstehenden Erörterung erhellen, führt durch die Apperzeption. Ohne sie gibt es kein Verständnis fremder Gemütszustände; wo sie fehlt, da klopfen der Schmerz und die Freude des Nächsten vergeblich an die Pforte unseres Inneren, da bleiben Mitleid und Mitfreude notwendig aus. Und nun begreifen wir, wie das Kind, das sonst leicht geneigt ist, sich fremdem Schmerz hinzugeben, sein Mitgefühl meist nur auf den engen Kreis seiner nächsten Bekannten beschränkt, wie der Knabe oft erbarmungs- und gedankenlos fremdes Wohl zu schädigen und kühl an der Not des Nächsten vorüberzugehen vermag. Wir finden es erklärlich, daß selbst gutgeartete Kinder in der Behandlung der Tiere sich oft eine Grausamkeit zuschulden kommen lassen, die ihrem Wesen sonst ganz fern liegt, daß sie ahnungslos am Sarg eines lieben Toten scherzen können, ohne den Verlust zu fühlen und die Tränen und Klagen der Ihrigen zu verstehen. Man würde sehr irren, wenn man immer da auf einen bösen, verstockten Sinn, auf ein rohes, verdorbenes Gemüt schließen wollte, wo die Teilnahme an fremdem Wohl und Weh fehlt. In sehr vielen Fällen liegt nur ein Mangel an Apperzeption vor: man kann sich nicht in die Lage des Anderen versetzen, da sich dieser in ganz anderen Gedankenkreisen bewegt, man vermag nicht mit ihm zu sympathisieren, da man noch nicht erlebt hat, was ihn bekümmert oder erhebt, sein Gefühl erweckt kein verwandtes in der Seele des Zuschauers. Wo dagegen der Anblick des leidenden oder sich freuenden Nächsten den Menschen lebhaft zurückversetzt in die Zeit des eigenen Glücks oder Unglücks, wo man für sich selbst hofft oder befürchtet, was dem andern zuteil geworden ist, da wird ein starkes und lebendiges Mitgefühl nicht so leicht ausbleiben, da bezwingt es oft selbst harte Herzen. Überaus schön und treffend weiß der unsterbliche Sänger HOMER uns diesen psychischen Vorgang in einer Szene seiner  Ilias  (45) zu veranschaulichen. HEKTOR, der herrliche Held, ist gefallen vor Trojas Mauern. Keine Schonung war ihm von seinem Gegner, dem schrecklich zürnenden ACHILLES zuteil geworden. "Schweig und beschwöre mich nicht bei den Knien, noch bei den Eltern, denn niemand soll die Hunde von deinem Haupt scheuchen!" - so hätte dieser dem Bittenden finster geantwortet, und nicht achtend des Jammers, der verzweifelnden Eltern schleift er den Leichnam durch den Staub, eisernen Herzens Unwürdiges am Feind verübend. Täglich wiederholt er die frevelhafte Tat, noch immer darauf sinnend, wie er den Tod seines PATROKLOS am vollkommensten rächt. Da erscheint in der zwölften Nacht vor ihm der greise Vater des HEKTOR. Den Leichnam seines erschlagenen Sohnes erbittend, erinnert er ACHILLES daran, wie er in der fernen Heimat den alternden Vater zurückgelassen hat, wie dieser vielleicht jetzt von umwohnenden Völker bedrängt wird und der Hilfe und des Schutzes entbehrend sich nach der Freudes seines Alters sehnt, dem einzigen Sohn, wie er von Tag zu Tag die Rückkehr desselben erwartet. Gleiches Leid ist auch mir widerfahren, so fährt PRIAMUS fort, und noch schlimmeres. "Nicht allein verlor ich den Sohn, der die Stadt und uns alle beschirmte und die 50 Söhne, die mir geboren wurden, sondern ich drücke selbst noch die Hand an die Lippen, die meine Kinder getötet hat." Schweigend vernimmt ACHILLES die Worte des Königs. Doch als dieser zu ihm spricht vom lieben Vater daheim, da eilen tausend Gedanken durch seine Seele und erregen in ihm die Gefühle der Sehnsucht und des Leids; denn er denkt daran, wie er nach dem Ratschluß der Götter niemals die Heimat wiedersehen, wie er früh zum Hades hinabsteigen und nie mehr den alternden Vater pflegen wird. Und wie nun der Gram in sein Gemüt einzieht, da geht ihm plötzlich das Verständnis für den Schmerz des bittenden Greises auf. Derselben ACHILLES, der frohlockend aufjauchzte beim Fall seines Feindes und herzlos den Toten mißhandelte und entehrte, weiß jetzt, wie schwer der unglückliche Vater leidet, der vor ihm im Staub liegt, er fühlt im eigenen Weh den fremden Schmerz. Das Eis, welches das kalte, ja rohe Herz des Jünglings umschloß, ist nun geborsten; er weint mit dem König und springt vom Sessel empor, den Greis an der Hand aufhebend und spricht zu ihm die teilnehmenden Worte: "Armer, fürwahr, viel hast du des Wehs im Herzen erduldet!"

So machen Schmerz und Weh das Herz für alle zarteren Regungen und Gefühle empfänglich. Dies eben ist der Segen des Leids, daß es unser Ich, das sich im Glück und in der Freude so leicht isoliert und dem Egoismus verfällt, erweitert zum selbstlosen und mitfühlenden Wir, daß es unser Gemüt vertieft und demselben ein lebendiges Mitgefühl einpflanzt. Es wäre daher ewiger Sonnenschein und eine ununterbrochene Folge von glücklichen Tagen unserem Gemütsleben wenig zuträglich; denn
    "der Fluß bleibt trüb, der nicht durch einen See gegangen,
    das Herz unlauter, das nicht durch ein Weh gegangen." [Rückert]
Je mehr der Mensch in der Schule das Leiden des Herzeleids gekostet hat, je mehr er den Wechsel des Glücks innerlich erfahren hat, desto leichter und tiefer vermag er fremde Gemütszustände zu verstehen, desto eher sich mit den Fröhlichen zu freuen und mit den Weinenden zu weinen. Aus diesem Grund wird sich der Jüngling immer durch die Stärke und Vielseitigkeit seiner sympathetischen Gefühle und Interessen vor dem Knaben auszeichnen.

Und so ist es nicht minder auf dem Gebiet der intellektuellen, moralischen und religiösen Gefühle, deren Lebhaftigkeit und Umfang gleichfalls wächst mit den inneren Erfahrungen, die der Mensch nach und nach erwirbt.

Die Bereicherung und Vertiefung des Gemütslebens aber ist meist gleichbedeutend mit der Förderung der sittlichen Gesinnung, des Wollens. Denn in den Gefühlen wurzeln unsere Interessen und Neigungen, unsere Begehrungen und Strebungen. Je mehr die edleren, geistigen Gefühle erwachen und vorwalten, desto weniger können sich unlautere, niedere Gedanken und Neigungen geltend machen; je stärker das moralische Gefühl zu uns spricht, desto öfter wird der Wille ihm folgen. Dazu kommt, daß mit dem Gefühl auch die innere Wahrnehmung an Lebhaftigkeit und Kraft gewinnt. Die Zeit der vorherrschenden gefühlsmäßigen Stimmungen ist auch die Zeit stiller Einkehr und ernster Selbstbeobachtung. Wie der Jüngling auf dem Gebiet des Wissens gelernt hat, "seine Gedanken zusammen zu nehmen", so vermag er jetzt auch die Bilder seines eigenen Wollens und Handelns besser festzuhalten, zu betrachten und zu beurteilen. Und wenn er nun an sie die im Verkehr mit wirklichen und gedachten Personen gewonnenen Maßstäbe anlegt, wenn er sie apperzipiert mit den ethischen Gesetzen, wie sie der Wille seiner Erzieher und des allheiligen Gottes darstellt, so kann ein lebhaftes  sittliches Gefühl  nicht ausbleiben. Es wird sich als innere Zufriedenheit äußern, wenn sein Tun dem Vorbild entspricht, und den Wunsch erwecken, in ähnlichen Fällen stets so zu handeln. Als Reue, als quälendes Unlustgefühl dagegen wird es die Erkenntnis begleiten, daß sein Wollen nicht bestehen kann vor seinen sittlichen Musterbildern und das dringende Verlangen hervorrufen, künftig besser sich vorzusehen und so die Wiederkehr ähnlicher demütigender Augenblicke zu verhüten. Zwar werden sich egoistische Anschauungen und Beweggründe, die Rücksicht auf das eigene sinnliche Wohlbefinden, niedere Gefühle und Neigungen gar bald einstellen, um die einander verklagenden Gedanken zu entschuldigen, nach selbstsüchtigen Grundsätzen und Interessen die vorliegende Handlung zu apperzipieren und ihr so eine andere, günstigere Deutung zu geben. "Not kennt kein Gebot!" "Jeder ist sich selbst der Nächste!" "Mit den Wölfen muß man heulen" - das sind einige jener Maximen der Weltklugheit, die sich da geltend zu machen suchen und gewiß auch in vielen Fällen die Wertschätzung des sittlichen Objekts leiten.

Allein, je lebhafter dem Menschen das reine, von starken Gefühlen begleitete Musterbild seiner irdischen und himmlischen Autoritäten vor der Seele steht samt der Erinnerung an alle die Fälle, da er zu seiner eigenen Genugtuung ihnen gefolgt ist, je mehr sich sein ethisches Urteil und Gefühl an den idealen Gestalten der Geschichte frei und rein und stark entwickelt hat, desto mehr treten solche Erfahrungen, solche Seeleninhalte als psychische Kräfte, als eine Macht auf, die den egoistischen Neigungen tapfer entgegenwirkt. Sie werden nicht immer im Augenblick der Entscheidung den Ausschlag geben, aber mindestens  nach  derselben als Stimme des Gewissens sich Gehör verschaffen. Und so kann aus solchen mit erhebenden oder demütigenden Gefühlen verbundenen Erfahrungen aus den guten Vorsätzen, die der Reue oder der sittlichen Selbstzufriedenheit entspringen, auf dem Weg der Apperzeption allmählich eine Regel, ein allgemeines ethisches Urteil entstehen, das über eine ganze Anzahl gleicher oder ähnlicher Willensäußerungen ergeht. Es wird aber aufgestellt mit dem festen Entschluß, daß es als Gesetz des  eigenen  Handelns für alle Zukunft gelten soll. Ein neues Wollen entsteht also (46), dessen Gegenstand und Inhalt jene Regel oder vielmehr das entsprechende Gebot ist, das der Jüngling vordem als Gottes und der Menschen Wille kennen und schätzen lernte. Aber nun tritt es ihm nicht mehr als der Ausdruck eines fremden, sondern als der Inhalt seines eigenen Wollens entgegen, nicht als ein Befehl, sondern als ein eigener, freier Entschluß, nicht als ein Lehrsatz, dem man beistimmen kann, ohne sich nach ihm zu richten, sondern als ein  Grundsatz,  der für das eigene Tun verbindlich ist. Auf diese Weise wandelt der Jüngling nach und nach die fremden Gebote zu  eigenen Maximen,  die Erkenntnis eines autoritativen Willens zur  eigenen sittlichen Einsicht um. 

Diese Maximen und Grundsätze aber, die wir auf Veranlassung und mit Hilfe apperzipierender Tätigkeit entstehen sahen, sind unter allen sittlichen Normen wiederum am meisten geeignet, verwandte Gesinnungen und Handlungen leicht und kräftig zu apperzipieren. Denn sie erhalten einen hohen Motivwert durch die Gefühle, aus denen sie hervorgingen und durch den Willen, der sie trägt. Sie sind die Maßstäbe, mit denen der Erwachsene fremdes oder eigenes Tun mißt; durch sie erlangen wir die Fähigkeit, innerhalb der sittlichen Welt neue Eindrücke rasch aufzufassen und ihnen mit der entsprechenden Willensentschließung zu antworten. Mit ihrer Hilfe beobachten und regeln wir unsere Einfälle und Begehrungen, unsere dem psychischen Mechanismus folgenden Wünsche und Willensansätze. Entspricht einer derselben nicht der allgemeinen Maxime und vermag er einen gleichgroßen Motivwert als diese nicht zu erlangen, so wird er als unzulässig zurückgewiesen. Und nun gibt man einen Wunsch, einen Vorsatz auf, "weil man die Sache anders überlegt hat", man versagt sich einen Genuß, um nicht unvernünftig zu handeln, legt sich eine Anstrengung auf, um dem Gefühl der inneren Mißbilligung zu entgehen. Stimmt dagegen die Einzelbegehrung mit dem im Bewußtsein stehenden Grundsatz überein, wird sie mit seiner Hilfe als statthaft apperzipiert, so erlangt sie eine Kraft und Energie, die sie für sich allein nie erreicht hätte, während andererseits der praktische Grundsatz selbst wieder durch das apperzipierte Einzelwollen bestätigt und befestigt wird. Ist das Wollen ans Ziel gelangt, so erscheint die Maxime abermals mit der Frage, ob das verwirklichte Begehren ihrem Inhalt entspricht. Das Ergebnis der sich vollziehenden Apperzeption kommt uns in jenen Lust- oder Unlustgefühlen besonders stark zum Bewußtsein, die wir oben als innere Zufriedenheit und Reue bereits kennenlernten.

So ist also die Apperzeption die erste Voraussetzung der Selbstkritik und Selbstbeherrschung. Indem die sittlichen Grundsätze apperzipierend sich betätigen, werden sie zu Wächtern des Gemüts, welche dasselbe vor feindlichen Überfällen, wie sie von Leidenschaften und geheimen Trieben nicht selten versucht werden, vor gewaltsamen und plötzlichen Umwälzungen zu schützen suchen. Schließen diese Maximen sich mehr und mehr zu einem das gesamte Wollen umspannenden System zusammen, werden sie also von gewissen allgemeinen, obersten Grundsätzen wie der Einzelbegriff vom Gattungsbegriff selbst wieder apperzipiert und zusammengehalten, dann empfängt das Innere des Menschen jenes einheitliche Gepräge, das man als  Charakter  bezeichnet. Dann herrscht  ein  Gedankenkreis, der sittliche, mit seinen Gefühlen und Strebungen in der Seele, um nicht bloß dann und wann, etwa in der Kirche, bei feierlicher Gelegenheit, sondern immer und überall apperzipierend sich geltend zu machen und wie eine geheime Macht unser Tun und Wollen zu leiten.

Und diese dem Bewußtsein allzeit nahestehende, von starken Gefühlen und Willensakten begleitete Vorstellungsgruppe wurzelt umso tiefer und wirkt umso sicherer, je mehr sie getragen und durchdrungen wird von  religiöser Gesinnung.  Wer den Ursprung der sittlichen Ideen sucht in jenem höchsten, allheiligen Wesen, das sie zuerst gewollt, der gehorcht ihnen nicht, ohne zugleich verehrungsvoll aufzuschauen zu Gott, dem einzigen vollkommenen Ideal einer sittlich freien Person, von dem ihm Kraft und Mut im Kampf gegen das Böse herabkommt. Für den gewinnen die ethischen Musterbilder in Gott und seinem uns zur Heiligung gesandten Sohn persönliches Leben, so daß sie mächtiger und tiefer mit allen Kräften konkreter Wirklichkeit sein Wollen bestimmen. Dem wandelt sich die Begeisterung für die sittlichen Ideen um in innige Liebe zum höchsten Ideal, und der Gehorsam gegen die selbstgewählten Grundsätze wird mehr und mehr zum freien, willigen Gehorsam gegen den obersten Gesetzgeber. Wer mit derart herrschenden Gedankenkreisen und Gesinnungen sein Wollen und Tun apperzipiert, von dem sagt die Schrift,  daß er Gott vor Augen und im Herzen hat.  Der nähert sich der  sittlichen Freiheit,  jenem Ideal, das der Jüngling wohl selten und auch der Mann nur in einem beschränkten Sinn zu erreichen vermag.

Blicken wir noch einmal zurück auf die Ergebnisse unserer Untersuchung. Wir sahen zunächst, welche wesentlichen Dienste die Apperzeption dem menschlichen Geist bei der Erwerbung neuer Anschauungen leistet, welch außerordentliche Erleichterung und Entlastung ihr die wahrnehmende Seele verdankt. Bliebe die Apperzeption einmal aus, oder wäre sie der Natur unseres Geistes überhaupt nicht gegeben, so würden wir zur Aufnahme von Sinneseindrücken jeden Tag aufs Neue so viel Kraft aufwenden müssen, als das Kind in frühester Jugend, da die ewig wechselnden Gegenstände der Außenwelt uns fast immer neu und fremd erscheinen würden. Wir würden viel langsamer und mühevoller uns der Außendinge bemächtigen, viel später zu einem gewissen Abschluß unserer äußeren Erfahrung gelangen, als dies jetzt geschieht, und damit auch in der geistigen Entwicklung merklich zurückbleiben. Unsere Sinne hätten ununterbrochen zu arbeiten. Wir würden beim Lesen wie ABC-Schützen jedes Wort genau für sich anschauen müssen und uns nicht gestatten dürfen, von jedem Satz nur ein paar Wörter wirklich zu perzipieren. Mit einem Wort: Ohne Apperzeption würde unser Geist bei ungewöhnlich großer, aufreibender Anstrengung unverhältnismäßig geringe Erfolge erzielen. Freilich werden wir uns dessen selten bewußt, wie sehr die Apperzeption unser Wahrnehmen unterstützt, wie sie den Sinnen einen großen Teil ihrer Arbeit abnimmt, so daß wir eigentlich in der Regel mit halbem Ohr nur hören und mit geteiltem Bewußtsein perzipieren, wie sie andererseits aber auch den Sinnesorganen ein höheres Maß von Energie verleiht, so daß sie schärfer und gründlicher wahrnehmen, als ihnen sonst möglich wäre. Wir denken nicht daran, daß die Apperzeption uns die Mühe erspart, alle uns begegnenden Erscheinungen und Gegenstände immer aufs neue und bis ins einzelnste zu erforschen, um zu wissen, was sie bedeuten, daß sie somit unsere geistige Kraft vor Zersplitterung und dem Aufgehen in ermüdender, fruchtloser Kleinarbeit bewahrt. Das Geheimnis ihrer außerordentlichen Erfolge ist aber darin zu suchen, daß sie "Neues auf Altes, das Fremde auf Geläufiges, das Unbekannte auf Bekanntes, das Unbegriffene auf solches zurückführt, was bereits als Begriffenes unser geistiges Besitzum bildet", daß sie Schweres, Ungewohntes in Gewohntes verwandelt und alles Neue erfassen läßt mittels altgewohnter geläufiger Vorstellungen. Indem sie sonach mit kleinen Mitteln Großes, Ungewöhnliches leistet, insofern sie der Seele möglichst viel Kraft für andere Zwecke erspart, entspricht sie dem allgemeinen Gesetz des kleinsten Kraftmaßes, dem Prinzip größter Zweckmäßigkeit. (47) Wir haben allen Grund, in diesem Prozeß die Weisheit des göttlichen Schöpfers zu erkennen und zu bewundern, die so zweckmäßige Veranstaltungen zur Entlastung und Förderung unseres Seelenlebens getroffen hat.

Wie bei der Aufnahme neuer Wahrnehmungen, so macht sich auch bei der Verarbeitung und Durchbildung des erworbenen Seeleninhaltes die fördernde Kraft der Apperzeption geltend. Indem sie Vereinzeltes an vorhandene Vorstellungsmassen anschließt und dem Neuen den richtigen Platz innerhalb derselben anweist, gewinnt dieses nicht nur an  Klarheit  und Bestimmtheit, sondern es wird auch  fester  mit unserem Bewußtsein verknüpft. Apperzipierende Vorstellungen sind die besten Gedächtnishilfen. So oft die Apperzeption ferner neue Eindrücke den älteren unterordnet und Unbekanntes auf Bekanntes zurückführt, arbeitet sie an der Zusammenfassung und Gliederung des mannigfaltigen Wahrnehmungs- und Gedankenstoffes. Durch die Verdichtung der Vorstellungs- und Denkinhalte zu Begriffen und Regeln, zu allgemeinen Erfahrungen und Grundsätzen, zu Idealen und Ideen schafft sie  Zusammenhang und Ordnung  in unserem Wissen und Wollen. Unter ihrer Beihilfe entstehen jene allgemeinen Bewußtseinsinhalte, die je nach Vorstellungsgebiet, dem sie angehören, als logische, sprachliche, ästhetische, sittliche und religiöse Normen auftreten. Erlangen dieselben für uns einen hohen Gefühlswert, sehen wir uns innerlich an sie gebunden, so daß wir sie all dem vorziehen müssen, was ihnen widerspricht, so werden sie zu mächtigen Vorstellungsgruppen, die unabhängig vom psychischen Mechanismus hervortreten, so oft verwandte Seeleninhalte im Bewußtsein erscheinen. Diesen gegenüber machen sie nun ihre apperzipierende Kraft geltend. Wir messen und beurteilen jene nach den allgemeinen Normen.  Sie  sind gleichsam die Augen und die Hand des Willens, mit der er regelnd und ergänzend, zurückweisend und verbessernd in den Inhalt wie in die Aufeinanderfolge der Vorstellungen eingreift; sie verhüten den rein mechanischen Ablauf von Vorstellungs- und Begehrungsreihen, die willenlose Hingabe an äußere Eindrücke, an das bunte Spiel der Phantasie. Wir lernen regellose Einfälle durch Gesetze, Gedanken durch Gedanken beherrschen. An die Stelle des mechanischen tritt ein normierter Gedankenlauf (48), an die Stelle psychischer Willkürherrschaft das monarchische Regiment oberster Gesetze und Grundsätze.  So erheben wir uns mit Hilfe der Apperzeption allmählich von psychischer Unfreiheit zu geistiger, sittlicher Freiheit.  Und nur da, wo ideale Normen auf dem Gebiet des Wissens und Denkens, Fühlens und Wollens sich apperzipierend betätigen, wo sie den psychischen Mechanismus beherrschen, ist wahre  Bildung  vorhanden. (49)
LITERATUR Karl Lange, Über Apperzeption, Plauen 1889
    Anmerkungen
    27) STEINTHAL, Abriß der Sprachwissenschaft, Seite 158
    28) LEHMENSICK in JUSTs "Praxis der Erziehungsschule", Heft 2, 1888, Seite 75.
    29) Daß die  Erlernung der Sprache  selbst ein Apperzeptionsvorgang ist, weist LAZARUS nach in seinem "Leben der Seele II" (3. Auflage), Seite 168f und 173.
    30) WILHELM PREYER, Die Seele des Kindes (2. Auflage) Seite 325.
    31) GUSTAV FRIEDRICH PFISTERER, Pädagogische Psychologie, Seite 95
    32) Wenn Bauernkinder beim Eintritt in die Schule in der Regel weniger des Wortes mächtig sind als Stadtkinder, so dürfte dies, abgesehen von der geringeren Übung im Sprechen, wohl auch auf den Umstand zurückzuführen sein, daß sie nicht so viele Ausdrücke für Allgemeines (Gattungsnamen) im Familienverkehr kennen gelernt haben und sich darum auch nicht so leicht verständlich machen und fremde Rede verstehen können, als Kinder der Stadt, die inmitten eines lebhaften Verkehrs aufwuchsen. Aber die Apperzeption des Dorfkindes ist dafür oft kräftiger und urwüchsiger.
    33) Vgl. SIGWART, Logik I, Seite 49: "Ganz entgegen der gemeinen Lehre von der Bildung der allgemeinen Vorstellungen ist im Individuum wie in der Sprache  das Allgemeine früher als das Spezielle,  so gewiß die unvollständige Vorstellung früher ist als die vollständige, die eine weitergehende Unterscheidung voraussetzt." Hiernach betrachtet SIGWART die  unbestimmte  Auffassung des Kindes als eine  logische  Tätigkeit, die von vielen wahrzunehmenden Merkmalen die wesentlichen heraushebt. Aber das ist sie nicht. Sie ist die Folge eines  psychischen  Unvermögens, nicht eines  logischen Könnens.  Daß der Mensch im Laufe seiner geistigen Entwicklung vom Allgemeinen zum Speziellen herniedersteige, kann nur zugegeben werden hinsichtlich des  Namens,  nicht hinsichtlich des  Inhalts  der entstehenden Vorstellungsgebilde.
    34) Ein noch nicht zweijähriges Kind sagte beim Anblick tropfender Pflanzen bedauernd: "Baum weine weine - wehweh."
    35) Das läßt uns auch manches schier wunderbare und seltsame Jugendereignis als sehr begreiflich erscheinen. Ein befreundeter Kollege erzählte mit z. B. folgendes Erlebnis aus seiner Kindheit. "An unser Wohnhaus, das am Ende des Dorfes stand, stießen die Auen der Elster. Dort war ein Kegelschub, an dessen einer Seite allerlei Unkraut, Schöllkraut, Nesseln, Disteln und Löwenzahn lustig durcheinander wucherten. Der Ort, dessen feuchter Boden den Sonnenstrahlen verborgen blieb, hatte für mich einen ungemeinen Reiz, da ich hinter seiner wildverschlungenen Blätterwelt allerlei Wunderbares vermutete. Immer ging ich mit einiger Scheu und doch wieder mit der Hoffnung und Ahnung von Geheimnnissen hin. Eines Morgens wieder. Der Tau glänzte noch auf den schön geformten Blättern des Frauenmantels (Alchemilla), die ich so lieb gewonnen hatte und die der Vater zu meinem großen Verdruß mit dem äußerst profanen Namen "Gänselatsch" bezeichnete. Alles hatte einen zauberhaften Reiz. Da lief ein großer, grüner Frosch mit goldglänzenden Augen auf jenes Blätterchaos zu. Die Einsamkeit des Ortes, das eigene lebhafte Gefühl  ließen mich allen Ernstes in demselben ein kleines Männchen mit grünem, schillerndem Kleid erkennen.  Oftmals danach noch suchte ich mir den Anblick desselben wieder zu verschaffen oder wenigstens das Häuschen desselben zu erspähen." Als derselben Knabe mit 6 Jahren zum erstenmal in die Stadt kam, hielt er den roten Handschuh am Aushängeschild eines Handschuhmachers für eine blutüberströmte abgehauene Riesenhand. Die rotglänzenden Räder der Lokomotive erschienen ihm feurig und glühend.
    36) Eine Beobachtung aus der Schulpraxis mag dies bezeugen. Der Lehrer spricht mit den Kleinen des 1. Schuljahres von der  Sonne.  Nachdem für die erforderliche Anschauung gesorgt ist, soll zum Verständnis gebracht werden, daß die Sonne scheint, wärmt, am Himmel steht und vom lieben Gott geschaffen ist. Der Lehrer gibt sich die erdenklichste Mühe, es den Kindern klar zu machen - es will ihm aber nicht gelingen. Wohl sprechen sie ihm das Besprochene nach; aber es scheint, als sei ihnen das so fremdartig, wie etwas, was man aussprechen muß, ohne daß man es selber recht glaubt. Da fällt seitens eines Kindes die Bemerkung: "Die Sonne ist dem lieben Gott seine Lampe." Sofort erhält die Unterredung ein ganz neues Leben. Zahlreiche Vorstellungen erwachen und drängen sich hervor und stellen die Sache in das rechte Licht. Nun wird die Sonne apperzipiert mit Hilfe der wohlbekannten Stubenlampe. Nun sehen die Kinder gleichsam frühmorgens den lieben Gott die Sonne am Himmel anzünden, damit seine Kinder den tag über auf Erden sehen können, und abends sie auslöschen, wenn alles zu Bett geht oder sie eindrehen, wenn es trüb ist. daß die Sonne scheint als Leuchte des Himmels, daß sie alles erhellt und uns zu unserer Arbeit leuchtet, daß dann, wenn sie nicht mehr strahlt, ein Dunkel die Erde bedeckt - dies und noch viel mehr ist dem Kind jetzt verständlich und zum geistigen Eigentum geworden. Zwar in sehr kindlicher Form! Aber wenn die Kleinen die Dinge der Außenwelt nun einmal nicht anders als phantasiemäßig aufzufassen vermögen, so werden wir es ihnen wohl erlauben dürfen. (siehe LEHMENSICK in JUSTs "Praxis der Erziehungsschule", 1888, Seite 73f
    37) WILHELM PREYER, Die Seele des Kindes, Seite 466 und 484.
    38) Mein ältestes Töchterchen bezeichnete nach dem 1. Jahr schon die Blätter und Ranken der Fenstervorhänge als Baum. Als ich ihm in seinem 22. Monat die Lichtbilder der  Juno Ludovisi  und des  Zeus von Otricoli  nacheinander vorlegte, deutete es sofort dieselben als "Mama" und "Mann" (oder "Papa", "schöner Papa").
    39) HERBARTs "Pädagogische Schriften II", hg. von WILMMANN, Seite 541 und 605
    40) HILDEBRAND, Vom deutschen Sprachunterricht (3. Auflage), Seite 54
    41) PFISTERER, a. a. O. Seite 241
    42) Das liegt im Wesen des Begriffs. Ist er doch nicht, wie unsere Darstellung noch in den früheren Auflagen annahm, ein besonderes, neues Gebilde der vorstellenden Seele, entstanden aus der Verschmelzung der gemeinsamen und wesentlichen Merkmale ähnlicher Vorstellungen. Wir verstehen vielmehr unter ihm die  Gesamtheit der gleichen, wesentlichen Merkmale  (Bewußtseinsmomente)  mehrerer Vorstellungen, welche das Denken,  jene Vorstellungen rasch überfliegend,  aus ihnen hervorhebt und nebeneinander im Bewußtsein festhält. Er ist nicht ein neues geistiges Produkt, das losgelöst von den Vorstellungen und außerhalb derselben besteht.  Sondern er wird gedacht, indem man von zahlreichen Vorstellungen derselben Art (oder auch bloß von einer) ausschließlich die wesentlichen Merkmale in den Blickpunkt des Bewußtseins erhebt und nur annähernd gelingt). Er gleich der Melodie, dem Thema, das in einem mehrstimmigen Tonstück infolge stärkerer Betonung oder eigentümlicher Registrierun (cantus firmus!) besonders scharf hervortritt, ohne daß diese Tonfolge aufhört, einen Bestandteil der einzelnen Akkorde zu bilden. Widerfährt es uns doch regelmäßig, daß wir, wenn es gilt einen Begriff wirklich zu denken und nicht bloße die Worte der Definition zu wiederholen, unwillkürlich herabgleiten in seine Vorstellungen, daß wir diese rasch durcheilen und das Gemeinsame, Wesentenliche betonen, das Unwesentliche zurückweisen. Das Allgemeine ist vom Besonderen eigentlich nicht  ge schieden, sondern nur  unter schieden; denn im Untergrund des Bewußtseins hängt es immer noch mit dem Konkreten zusammen. Und eben darum, weil der Begriff  kein fertiges Produkt, sondern das jeweilige Ergebnis einer sehr energischen Konzentration des Bewußtseins ist,  fällt es so schwer, ihn streng logisch zu denken.
    43) Die Erkenntnis dieser Abhängigkeit unseres Formgefühls von den vorhandenen Gedächtnisbildern hat sogar zur Aufstellung eines die gesamte Formästhetik beherrschenden neuen Gesetzes geführt. Vgl. GÖLLER, Zur Ästhetik der Architektur, Seite 16f, 56f, 149f
    44) Anders wird der Jüngling nunmehr die Stimmen der Natur deuten als vordem das Kind, einen anderen Inhalt jetzt z. B. dem schlichten Jugendgesang von der Schwalbe geben und mit poetischem Sinn dem Dichter nachfühlen, der da singt:
      Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
      war die Welt mir voll so sehr;
      als ich wiederkam, als ich wiederkam,
      war alles leer.
    45) HOMER, Ilias XXIV, Seite 485f
    46) STRÜMPELL, Psychologische Pädagogik, Seite 192: "Der Mensch übernimmt bewußtvoll mit einem neuen Willensakt den Kampf mit den Wirkungen des psychischen Mechanismus, wann und wo dieser dazu auffordern mag."
    47) RICHARD AVENARIUS, Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes, Seite 9f.
    48) Vgl. hierzu STRÜMPELL, Psychologische Pädagogik, Seite 48f
    49) LESSING, Briefe, die allerneueste Literatur betreffend, X. Brief: "Nur die Fertigkeit, sich bei einem jeden Vorfall schnell bis zu allgemeinen Grundwahrheiten zu erheben, nur diese bildet den großen Geist, den wahren Helden in der Tugend und den Erfinder in Wissenschaften und Künsten." - - - Die Darlegung der bedeutsamen Rolle, welche die Apperzeption bei der geistigen Entwicklung  ganzer  Völker spielt, müssen wir uns an dieser Stelle leider versagen.