ra-2M. SalomonP. EltzbacherA. RossF. MünchK. SchneiderJ. Thyren    
 
HANS PRAGER
Über die erkenntnistheoretischen
und metaphysischen Grundlagen
der Rechtstheorie


"Der Begriff ist also Erlebnis und doch nicht mehr dieses, er ist Erlebnis, das das Wesentlichste seiner selbst, seine Erfülltheit und Konkretheit verloren hat und so ein erlebnisloses Erlebnis, ein getötetes Erlebnis geworden ist. Der Begriff ist also wie das Erlebnis dieselbe seelische Wirklichkeit, aber in einer ganz anderen Art."

"Der Begriff ist Erlebnis und als allgemeines Erlebnis ist er erlebnislos; er ist also Erlebnis und ist es nicht, er trägt die Spuren seiner Entstehung in sich und ist doch etwas anderes, als das, aus dem er entstanden ist. Im Begriff der Rose ist die Gebundenheit des Begriffs in das ihm zugrunde liegende Erlebnis versteinert und dadurch ist dieser Begriff völlig erlebnislos und unnuanciert; damit das konkrete Erlebnis wieder entsteht, aus dem der Begriff entstanden ist, muß der Begriff das Erlebnis freigeben, es aus der Umklammerung entlassen. Wie das möglich ist, muß eine Psychologie des Denkens erklären."

"In der Rechtsphilosophie gibt es zwei Grundprobleme von großer Schwierigkeit gibt, die auch Grundprobleme der Erkenntnistheorie sind: das Problem des von vornherein Gegebenen und das Problem des im Nachhinein Erfahrenen."

Das Recht ist ein Begriff, das Unrecht ein Erlebnis; diese prinzipielle Annahme, ihre Deutung und ihre Konsequenzen zum Aufbau einer Rechtsphilosophie sollen dargelegt und bewiesen werden.

Es gibt nichts Seelisches, das nicht Erlebnis wäre, mag es auch noch so dumpf, so traumhaft, unbewußt sein. Die Seele ist ja Erlebnis, wirkt und lebt als Erlebnis und das "Unbewußte" ist als Seelisches, das es ja ist, ebenfalls Erlebnis, Erlebnis, dessen Bestimmtheit nur verborgen bleibt, das aber nichtsdestoweniger eine seelische Wirklichkeit ist. Wenn Erlebnisse als unbewußte unbestimmte sind, so sind sie deshalb als Erlebnisse nicht irreal, d. h. sie sind da und wirken, bedeuten somit Seelisches in seiner Tätigkeit und sind nur Erlebnisse einer speziellen Kategorie, nämlich unbestimmte Erlebnisse, von denen man nichts "weiß", die aber trotzdem da sind und wirken. Die Beobachtungen des Trieb- und Traumlebens, ob es in Form der Ermüdung und Erregung oder in krankhafter Art sich darstellt, bekunden, daß die unbewußte Seelentätigkeit genau so real ist, wie die bewußte. Die Unbestimmtheit nun, die den unbewußten Erlebnissen eignet, ist lediglich eine relative, d. h. relativ auf das betreffende, apperzipierende Ich des Individuums, welches Ich ja auch wieder Seelisches bestimmter Art darstellt. Somit ist die Unbestimmtheit der unbewußten Erlebnisse keine absolute, d. h. keine solche, die das Erlebnis in ein Nichts verwandeln würde, sondern eine, die bloß relativ unbestimmt ist, irgendwie - wenn auch nur leise - gefärbt und gestaltet. Denn es ist ja unmöglich, daß das empirische Ich sich auf ein Absolutes bezieht, das wesenhaft anders gestaltet ist, als jenes; denn damit wäre die Möglichkeit gegeben, daß das Ich kausalitätslos absolut Neues erzeugen kann, was aller Erkenntnistheorie widerspricht. Zwischen unbewußten und bewußten Erlebnissen besteht also nur ein Unterschied des Grades und nicht des Wesens und unbestimmte Erlebnisse im absoluten Sinn sind unmöglich. Jedes Erlebnis hat Farbe und sie sie auch noch so verschwimmender Art. Das Seelische also, das Wirklichkeit ist, hat das, was die Wirklichkeit eben zur Wirklichkeit macht, nämlich Farbe und Ton, wie wenig differenziert deren Nuancen auch in manchen seelischen Zuständen sein mögen. Da der Seele stets Bestimmtheit eignet und nichts Seelisches aus absolut Unbestimmtem kommen kann, so ist die Seele eben eine dauernde Bestimmtheit, ein dauerndes Erlebnis. Nun ist zu beachten: die Seele wirkt nicht ausschließlich als allgemeines Erlebnis, das als solches unbestimmt sein müßte, da dann jede Nuancierung fehlen würde; es gibt bekanntlich keine "Gefühle", keine "Vorstellungen", keine "Empfindungen" kein Mensch erlebt "ein Gefühl", "eine Vorstellung", "eine Empfindung" und damit auch nicht deren Multipla und deren Komplexionen; dies sind Quantifizierungen des Seelenlebens, deren Bedeutung wir für unsere Zwecke noch kennen lernen. Aber vorderhand gilt: wer lebt, der erlebt und erlebt Bestimmtes, welches Empfindung, Gefühl und Vorstellung und noch ein X dazu in Einem ist. Nun erlebt man aber nicht bloß schlechthin, das heißt, unmittelbar und so, daß das erlebende Ich mit seinen Erlebnissen zusammenfällt und dadurch die unmittelbare Tätigkeit der seelischen Wirklichkeit darstellt, sondern man "weiß" auch um seine Erlebnisse (allerdings nur dann, wenn die Bestimmtheit der Erlebnisse einen hohen Grad erreicht hat), man sucht als "Wissender" seine Erlebnisse zu begreifen, sie zu "erfassen". Was bedeutet das nun? Ist die Seele als Wissen zu einer prinzipiell und wesenhaft anderen Wirklichkeit geworden, als die Seele als Erlebnis, so daß der Mensch zwei Seelen in sich hat, zwei Welten, die in einer Art mechanischen oder chemischen Beziehung zueinander stehen? Diese Annahme ist selbstredend widersinnig und es kann nur sein, daß auch das Wissen und seine Erlebnisse ein Erlebnis ist. Wenn aber wieder alles Erlebnis ist, alles gleichsam einen ununterbrochenen dahinfließenden Strom darstellt, dessen Oberfläche nur eine ist, dann kann es kein Wissen um die eigenen Erlebnisse geben, denn dieses besteht ja vor allem in seiner Form darin, daß es sich von Erlebnissen abhebt, sich ihnen gegenüberstellt, Subjekt von ihnen als seinen Objekten ist, Etwas ist, das seinem Ursprung nach wohl Erlebnis, wie alle anderen ist, der Art und Weise seines Daseins aber nach sich prinzipielle von der Erlebnissen unterscheidet. Diese Tatsache führt auf eine sehr wichtige philosophische Einsicht in das Wesen der Seele, nämlich: dieses Wissen um das Erlebnis, diese Wirksamkeit der Seele nicht bloß als erlebtes Erlebnis, sondern als Erlebnis, das sich als das, was es ist, zu erfassen sucht, deutet darauf hin, daß der Seele eine Dualität eignet, die zu ihrem Wesen gehört. Da also jeder Mensch nicht bloß Erlebnisse erlebt, sondern auch von diesen Erlebnissen weiß, daß sie Erlebnisse sind, sie somit ihrer Konkretheit entledigen und sie zu einer Allgemeinheit, zu einem Begriff zu machen vermag, liegt die eigentümliche und prinzipielle Doppeltheit der Seele beschlossen: die Seele ist stets Erlebnis und noch ein Anderes, das prinzipiell anders ist, als das Erlebnis und doch mit diesem genetisch zusammenhängt, nämlich Begriff. Wir könnten hier nicht von der Seele reden, wenn wir sie nicht schon als Begriff hätten und weil wir fähig sind, von der Seele als Erlebnis auch in einem ganz allgemeinen Sinn zu sprechen, ohne daß wir dabei ein konkretes Erlebnis und nur es allein im Auge haben müßten, so zeigt sich da schon die Wirksamkeit des Begriffs, die allgemeines Erlebnis ist. So sind "Gefühle", "Vorstellungen" und "Empfindungen" Begriffe, Abstraktionen, d. h. Erlebnisse, denen jede Konkretheit, Einmaligkeit, Individualität genommen ist, die Typus und Allgemeinheit geworden sind. Der Begriff ist ebenfalls etwas Seelisches, mag er noch so abstrakt sein oder noch so Irreales bezeichnen, aber im Begriff ist das konkrete Erlebnis völlig unbestimmt, d. h. als konkretes unbestimmt geworden. Diese faktische Unbestimmtheit des zum Begriff gewordenen konkreten Erlebnisses findet dann ihr Ersatz in der begrifflichen Bestimmtheit, die jedem Begriff eignet und die nie fehlt, mag si auch nur in geringem Grad vorhanden sein. Diese begriffliche Bestimmtheit ist nur nicht Bestimmtheit als individuelle, einmalige, als seelische (konkrete) im engeren Sinne, sondern sie ist logische Bestimmtheit, eine solche, die ein Minimum von Sinn aufweisen muß, soll das durch sie charakterisierte Erlebnis ein Begriff sein. So ist auch die Seele als Begriff niemals absolut unbestimmt und damit nicht der Gefahr ausgeliefert, absolute Lücken im Fluß des Geschehens zu haben, wodurch sie sich selbst aufheben würde. Die Seele also ist ein Doppeltes: sie ist stets ein bestimmtes Erlebnis, konkret und individuelles Ereignis, aber auch Begriff, der Allgemeinheit und Unbestimmtheit in einem relativen und konkreten Sinn ist. Begreifen und Erleben sind prinzipiell voneinander verschieden, aber wesenhaft Eines, da sie beide Seelisches sind. Das Erlebnis ist unmittelbare dahinfließende seelische Tätigkeit; durch das Begreifen wird sie in eine mittelbare verwandelt, die sich aus dem Fluß des Geschehens abhebt. Aus dem Erlebnis stammt der Begriff, so ist gleichsam das Erlebnis die Mutter des Begriffs; der Begrifff aber ist das Wissen des Erlebnisses von sich selbst und so gleichsam dessen Lehrer: durch die Geburt kommt die Mutter zur Erkenntnis, die sie ihrem Kind verdankt.

Der Begriff ist als Erlebnis die Seele selbst, aber er ist das Erlebnis und nicht irgendein Erlebnis. Der Liebende erlebt sich selbst als seine seelische Wirklichkeit in einer ganz individuellen Weise, das Wissen aber um die Liebe, das Erfassen ihres Sinnes, die Liebe als Begriff ist Erlebnis schlechthin, allgemein und unpersönlich; daher die große Gefahr, die dem konkreten Erlebnis durch die Reflexion droht: die Reflexion verdrängt das konkrete Erlebnis, an dessen Stelle der Begriff tritt. Die seelische Wirklichkeit kann also und muß ihre eigene Konkretheit beseitigen können, um Wissen von sich zu haben; diese Beseitigung und Verdrängung der Konkretheit der seelischen Wirklichkeit, d. h. des unmittelbaren erfüllten seelischen Geschehens kann keine absolute sein: denn verlöre die Seele auch nur einmal alle Konkretheit und Bestimmtheit, an deren Stelle dann das Nichts treten müßte, das seinerseits wieder wie durch ein Wunder durch den Begriff abgelöst wird, das seelische Leben wäre unterbrochen und damit zu Ende. Wir können uns also die Beziehung des allgemeinen Erlebnisses als Begriff zum konkreten Erlebnis nicht anders vorstellen, als daß wir sagen, der Begriff sei keine Größe, die nach physikalischen Gesetzen anstelle einer anderen träte, sondern die seelische Wirklichkeit könne ihre Konkretheit verbergen, um die andere Weise ihrer Wirksamkeit zeigen zu können, die sie als Begriff darstellt. Die Seele bringt ihre Farben zum Verblassen, um ihre innere Klarheit erstrahlen zu lassen, sie verbirgt sich, um herauszutreten, sie entäußert sich ihrer eigenen Wirklichkeit, um sich zu erkennen und gelangt so in eine Sphäre einer anderen Wirklichkeit, die nicht mehr real ist, die aber auf Reales geht und es kennzeichnet. In der Seele liegt ein tiefer Widerspruch, der aber ihr Leben und ihren Sinn bedeutet. Im Begriff ist alle Konkretheit, aller Farbenreichtum, alle Melodie des Seelischen verschwunden und zur unbestimmten Allgemeinheit verwandelt. Im scheinbaren Sterben der Seele liegt das Erkennen ihres Lebens und dieser Widerspruch macht die Essenz der Seele aus. Der Begriff ist also Erlebnis und doch nicht mehr dieses, er ist Erlebnis, das das Wesentlichste seiner selbst, seine Erfülltheit und Konkretheit verloren hat und so ein erlebnisloses Erlebnis, ein getötetes Erlebnis geworden ist. Der Begriff ist also wie das Erlebnis dieselbe seelische Wirklichkeit, aber in einer ganz anderen Art. Die Unbestimmtheit des Erlebnisses ist zur Bestimmtheit des Begriffs geworden; der Begriff einer Rose z. B. hat nichts mehr von der Bestimmtheit dieser oder jener Rose an sich, aber als Begriff stellt er seine eigene Bestimmtheit gegenüber den anderen Begriffen dar und kann in dieser seiner Bestimmtheit bis zu einem hohen Grad von Klarheit und Abstraktion gelangen. Aus dem Erlebnis also entspringt der Begriff und der immanente Trieb des Erlebnisses, zum Begriff zu werden, zur Erfassung seiner selbst, treibt es über sich hinaus in eine andere Sphäre, wo es sich in ein Anderes verwandelt hat. Jedes Erlebnis, das seiner selbst inne werden will, sucht seine erlebnisvolle Bestimmtheit zu verlieren und dafür die der Abstraktion, der Umklammerung als durch einen Rahmen in Form des Begriffs, einzutauschen. Der Widerspruch, der im Seelischen liegt, das konkretes Erlebnis ist und doch nicht ist, indem es ja Begriff werden kann, dieser Widerspruch liegt natürlich auch im Begriff, der ja auch die seelische Wirklichkeit ist. Der Begriff ist Erlebnis und als als allgemeines Erlebnis ist er erlebnislos; er ist also Erlebnis und ist es nicht, er trägt die Spuren seiner Entstehung in sich und ist doch etwas anderes, als das, aus dem er entstanden ist. Im Begriff der Rose ist die Gebundenheit des Begriffs in das ihm zugrunde liegende Erlebnis petrifiziert [versteinert - wp] und dadurch ist dieser Begriff völlig erlebnislos und unnuanciert; damit das konkrete Erlebnis wieder entsteht, aus dem der Begriff entstanden ist, muß der Begriff das Erlebnis freigeben, es aus der Umklammerung entlassen. Wie das möglich ist, muß eine Psychologie des Denkens erklären können, welche nicht bloß eine Beschreibung des dem Begriff zugrunde liegenden Erlebnisses zu geben hat, sondern auch den Punkt aufzeigen muß, an dem der Begriff so verschwommen werden kann, daß das ursprüngliche Erlebnis nun geklärt und geläutert, aber doch als konkretes Erlebnis wieder auftaucht. Die Mystik ist hierfür ein reiches Feld der Forschung, indem sie viele prinzipielle Beispiele dafür gibt, wie Erlebnisse nach Begriffen tendieren, sich aber trotzdem wieder durchsetzen, weil die Begriffe verfließen vor dem Feuer des konkreten Erlebens. Als neue Wirklichkeit, die nicht die unmittelbare seelische Erlebniswirklichkeit selbst, sondern eine ideale Wirklichkeit ist, die Reales bezeichnet, hat der Begriff das Bestreben, für sich nun bestimmt und bestimmter zu werden. Darauf ist das Erkennen gerichtet und die Geschichte der Philosophie ist die Geschichte einer zunehmenden Bestimmtheit der Begriffe. Wenn ein Begriff einmal restlos bestimmt sein wird, dann ist der Begriff restlos bestimmt und das Erlebnis, die Seele, die Welt erkannt.

Die Bibel läßt das Leid und die Sünde durch die Erkenntnis in die Welt treten. Es liegt ein tiefer, wunderbarer Sinn, auch für den trockenen erkenntnisstheoretischen Standpunkt in der Erzählung vom Sündenfall. Das Paradies, in dem die Menschheit lebte, war die unmittelbare, erlebte, konkrete Erlebniswirklichkeit; Adam und Eva erleben, erleben fort und fort, und wissen nicht um ihr Erleben, d. h. um sich. Nun tritt durch den Sündenfall eine neue Wirklichkeit in die Welt, das Erlebnis zersprengt seine Grenzen und überschreitet sie. Es verwandelt sich in die Wirklichkeit des Begriffs. Das Streben nach Erkenntnis, d. h. der Trieb des Erlebnisses, Begriff zu werden, ist die Ursache des Sündenfalls. Die beiden ersten Menschen wollen wissen von sich, wollen begreifen, und so verlieren sie das Paradies;, sie streben nach Erkenntnis, die ihnen verboten war, sie zerstören damit die unmittelbare, erlebte, konkrete Erlebniswirklichkeit, indem sie sie versteinern, sie scheintot machen, über sie hinausgehen. Damit verlassen sie die Grenzen des Paradieses, lernen eine neue Welt kennen, in der es nicht so viele Farben gibt;, die Zerspaltung der unmittelbaren Erlebniswirklichkeit, der Dualismus, das Leid ist in die Welt getreten, der Widerspruch, aber damit auch der Sinn; denn nun ist die Erlebniswwelt zum Sinn gekommen und das Leben ist sinnvoll geworden.

Mit diesem Bild will ich folgendes sagen: gerade in der Dualität des Seelischen, das Erlebnis und Begriff ist, hat die Erkenntnis ihre Quelle, mag auch Leid daraus entstehen. Deswegen ist jedweder Monismus erkenntnistheoretisch schon von vornherein widerlegt, weil er die Genese des Begriffs und damit die in ihm liegende Dualität übersieht. Es ist die Aufgabe der Erkenntnistheorie, jeden gegebenen Begriff auf die ihm zugrunde liegende Erlebniswirklichkeit zu untersuchen, so das Wesen des Begriffs zu erfassen und sie will das Universale der Welt, das konkrete und abstrakte Wirklichkeit zusammen ist. Wenn also von Begriffen gesprochen wird, so ist damit gesagt, daß ihnen stets eine konkrete Erlebniswirklichkeit zugrundeliegt, die wir erschauen müssen, sollen wir den Begriff vollständig auf seine Genese und sein Sein hin erkennen.

Auf den Rechtsbegriff übertragen heißt dies: es muß das konkrete Erlebnis erschaut werden, das ihm zugrundeliegt, wodurch seine Existenz, seine reale Wirklichkeit gerechtfertigt wird; als Begriff aber hat er auch ein Sein, welches sich von diesem realen Boden losgemacht und sich dieser Erlebniswirklichkeit gegenübergestellt hat, er ist Objektivität, Bedeutung dieser realen Wirklichkeit geworden, etwas Ideelles, in welchem seine Essenz, sein Wesen beschlossen liegt; diese zweite Seite des Begriffe, also des Rechtsbegriffs muß ebenfalls in Betracht gezogen werden.

Bevor wir nun zu unserem Thema selbst übergehen, seien noch einige Bemerkungen über den Begriff gemacht. Im Begriff steckt der Dualismus, daß er objektiv und subjektiv ist, ideale Wirklichkeit und reale Wirklichkeit als konkretes Erlebnis, das in ihm nicht mehr aktuell, aber noch potentiell vorhanden ist. Den Begriff verbindet mit dem Erlebnis das Substantielle, daß er aus ihm stammt, dessen Wesen in sich trägt. Es liegt also im Begriff ein tiefer Widerspruch: der Begriff ist Erlebnis und muß es immer bleiben, denn nichts Seelisches gibt es, das nicht Erlebnis wäre und das Erlebnis ist unzerstörbar, weil es niemals absolut unbestimmt werden, d. h. verschwinden kann, der Begriff ist aber auch Etwas, das sich vom Erlebnis losgelöst hat, dadurch dieses als aktuelles getötet wurde; denn im Begriff ist das Erlebnis petrifiziert, abgestorbenes Erlebnis, Erlebnis, das doch keines ist. Der Begriff ist also substantiell Erlebnis und aktuell totes Erlebnis, er ist das Erlebnis, das sich selbst transponiert, das sich überschlägt, das sich seines eigenen Lebens entledigt, um sich selbst betrachten zu können. Gäbe es keine Begriffe, so wüßten wir auch nicht, was Erlebnisse sind und was sie bedeuten. Das Erlebnis muß sich selbst transzendieren, muß, damit es das, was sein Sinn, seine Bedeutung ist, erkennen kann, zu dem seiner selbst Jenseitigen, ihm Transzendenten werden. Es liegt eine große Unbegreiflichkeit darin, daß sich Etwas transzendieren soll und doch sich selbst immanent bleiben muß. Eines der schwersten Probleme der Philosophie, das von Immanenz und Transzendenz, ist bereits schon im Problem des Begriffs gegeben und nicht erst in den Urteilen, die das Problem der sogenannten Außenwelt betreffen. Der Begriff als Sinn ist völlig selbständig, objektiv, frei von subjektiver Gebundenheit, die durch das Erlebnis repräsentiert wird und doch substantiell mit diesem verbunden. - Un nun zu unserem Thema:

Ich behaupte nun, daß dem Rechtsbegriff das Erlebnis des Unrechts zugrunde liegt und daß infolgedessen einer Untersuchung des Rechtsbegriffs das Unternehmen vorangehen muß, das, was als Erlebnis dessen Quelle ist, zu finden. Der seelische Tatbestand nun, der durch den Rechtsbegriff nach Aufhebung, nach Verschwinden trachtet, kann nur ein solcher sein, der mit dem Index "Unlust" oder "Leid" versehen ist. Denn: wie wir wissen, eignet es dem konkreten Erlebnis, sich durch den Begriff inaktuell zu machen, d. h. sich beseitigen zu lassen. Es muß nun natürlich nicht jedes Erlebnis zu einem Begriff werden wollen, noch können: es gibt ja sehr bedeutsame Erlebnisse, wie z. B. die künstlerischen und erotischen, welche nach keinem Begriff tendieren, da sie im Erleben ihrer selbst ihre Erkenntnis finden. Daß es nun aber eine Rechtswelt als System von Begriffen gibt, wird niemand leugnen, somit kann auch niemand leugnen, daß es eine Erlebniswelt des Rechts gibt, aus der diese Begriffe seelisch stammen. Und nun ist folgendes zu beachten: Der Zwang zur Begrifflichkeit, dem die Erlebnisse unterliegen, ist dann gegeben, wenn die Erlebnisse so intensiv und plastisch werden, daß ihre konkrete Bestimmtheit, die sie von allen anderen Erlebnissen unterscheidet, immer stärker wird. Diese konkrete Bestimmtheit kann einen Grad erlangen, wo sie das Erlebnis vollkommen in sich aufsaugt und geradezu zu einem Klarheitszeichen des Erlebnisses wird: bei erotischen und künstlerischen Erlebnissen z. B. pflegt die Bestimmtheit des Erlebnisses an einem Punkt festzubleiben, so daß das Umschlagen des betreffenden Erlebnisses in einen Begriff hier niemals stattfindet; dagegen ist bei allen anderen Erlebnissen eine solche Schranke nicht gezogen; es sind dann dies nach Klarheit strebende Erlebnisse, die ihre erlebnismäßige Bestimmtheit, mag sie einen auch noch so starken Grad erreicht haben, so sehr als unbestimmt empfinden (weil diese Bestimmtheit nur eine einmalige, subjektive und deshalb zufällige ist), daß sie nach der Bestimmtheit als solcher streben, die ihnen gegenübergestellt das Licht der Klarheit verleiht. Die nach Klarheit strebenden Erlebnisse wirken trotz ihrer Plastizität und Intensität so unklar, daß sie um den Preis ihrer Realität nach einer idealen Wirklichkeit verlangen, die ihnen die Klarheit ist. Dieses theoretische Charakteristikum des seelischen Tatbestandes, dem die Begriffe zugrunde liegen, stellt sich als Erlebnis dem apperzipierenden Ich in der Gestalt der Unlust oder des Leides dar. Hierfür erbringt die tägliche Erfahrung eine Menge Beispiele. Wer etwas Besonderes erlebt, das sich im plastisch abhebt von allen anderen sonstigen Erlebnissen, kann das Gefühl der in einem Erlebnis liegenden Unklarheit so stark in sich haben, daß er geradezu diese Unklarheit als Qual empfindet. Nun trifft diese Anschauung bei dem dem Rechtsbegriff zugrundeliegenden Erlebnis deshalb ganz besonders zu, weil ja gerade die Rechtswelt eine solche ist, die auf die soziale Beziehung der Individuen geht, somit das Problem "der sozialen Außenwelt" in sich trägt. Korrespondierend zur Rechtswelt ist die Welt der Natur, die das Problem der "naturhaften Außenwelt" in sich trägt. Damit ist nun gesagt, daß im psychologischen Tatbestand, der der Rechtswelt zugrunde liegt, die soziale Wirksamkeit der Individuen beschlossen ist. Haben Naturphilosophen früherer Zeit das Wirken der Naturkräfte aufeinander als ein "Leiden" bezeichnet, welches ein Naturgegenstand vom anderen erfährt, so läßt sich diese naturphilosophische Symbolik völlig real auf das Seelenleben übertragen. Ein Leiden liegt als seelische Quelle dem Recht zugrunde, ein Leiden, welches ein völlig konkretes, individuelles Erlebnis ist und das von einem zweiten oder mehreren Individuen in die Seele des erlebenden Ich gepflanzt wird. Man wird mir nun vielleicht entgegenhalten, daß dies etwa dem Wesen des Strafrechts entspricht, das vor allem im Volksbewußtsein als Recht gilt, daß dies aber bei den übrigen Formen des Rechts, die erst in ihrer Gesamtheit "das Recht" ergeben, nicht gilt. Ich glaube, man wird mir hier folgende Instanzen entgegenhalten, die der Annahme, daß das Recht dem Erlebnis als Leid entspringt, widersprechen.

1. Beim Zivilrecht, das eine bloße Ordnung der sozialen Verhältnisse erstrebt, welcher die einzelnen Individuen ohne eine spezifische persönliche Wertung untertan sind, während beim Strafrecht die persönliche Wertung stattfindet, nach der es eben Achtende und Mißachtende des Gesetzes, Gesetzesfromme und Übeltäter gibt, kann also - so sagt die Gegeninstanz - von einem dem Rechtsbegriff zugrundeliegenden Leiderlebnis nicht gesprochen werden, weil in der völlig unindnividuellen, überpersönlichen Weise des Zivilrechts kein Platz ist für seelische Wertungen (die natürlich deshalb noch keine ethischen sind), welche sich als Lust und Leid qualifizieren.

3. Beim religiösen Recht, welches das Verhältnis des Menschen zu Gott betrifft, kann ebenfalls nicht von unserem seelischen Tatbestand gesprochen werden, weil da die beiden Individuen, die hier in einer "sozialen Beziehung" stehen, nämlich Mensch und Gott, so inkommensurabel [unverträglich - wp] sind, daß ein persönliches Erlebnis, ein "Leid", aus dem dieses Recht kommen soll, völlig in der Luft schwebt, und

3. wird man sagen, gibt es zweifellos Leiderlebnisse, wie z. B. den Zahnschmerz, also die physischen Schmerzen, die sich keineswegs in den Rechtsbegriff verwandeln können.

Man wird nun aus diesen drei Gegenargumenten schließen wollen, daß es ein Dogma ist, aus dem Erlebnis des Leids das Recht entstehen zu lassen, da es ebenso aus dem Erlebnis des Glücks, gleichsam als dessen Befestigung und Sicherung, entstanden gedacht werden könnte. Ich erwidere darauf Folgendes:

1. Das Zivilrecht betrifft die Regelung derjenigen Weise der sozialen Verhältnisse, die nur auf die der Außenwelt zugekehrten Seite des Individuums gehen. Nicht ohne tieferen Sinn stellen also den Kern des Zivilrechts die materiellen Seiten des sozialen Lebens dar und schließlich alle die, welche nicht das Individuum als seelische Persönlichkeit, sondern bloß als sozialen Faktor betreffen. Nun ist das Problem von der sogenannten Außenwelt - wie hier nicht auszuführen ist - ein Scheinproblem, d. h. es ist unmöglich, "Außenwelt" und "Innenwelt" so scharf und prinzipiell voneinander zu trennen, wie aus bloß methodologischen Gründen oft nötig erscheint. Das ausschließlich in der Außenwelt sich abspielende und aus ihrem Problem erwachsene Zivilrecht ist deshalb nur methodologisch gerechtfertigt, mit ihm aber nicht das Recht in seiner Essenz: das essentielle Recht umfaßt Zivilrecht und Strafrecht, als seine methodologischen Seiten völlig und ist fundiert im Individuum, das als erlebendes in Beziehung steht zu anderen erlebenden Individuen. Damit ist der seelische Tatbestand des Rechts als einer gegeben, der für das Recht in seiner Gesamtheit gilt, gleichgültig, ob dabei ausschließlich auf das Strafrecht reflektiert wird oder nicht. Das Gegenargument vom Zivilrecht kann also die Tatsache des seelischen Tatbestandes, aus dem das Recht fließt, nicht in Frage stellen.

2. Charakteristikum der Religion, wodurch sie sich prinzipielle von allen anderen geistig-seelischen Gebilden unterscheidet, die auf das Absolute gehen, ist bekanntlich dies, daß sie personalistisch gestaltet ist und sein muß; Gott ist im religiösen Sinn stets eine Persönlichkeit und als solche naturgemäß mit empirischen, d. h. menschlichen Index versehen (der dem Absoluten der Philosophie z. B. fehlt). Damit ist Gott zum Individuum gemacht, das zu den übrigen Individuen in eine rechtliche Beziehung treten kann. Die Rechtsreligion der Juden, die psychologische Erfahrung, in der so oft Gott, wie jedes andere Individuum, "verantwortlich" (für das Leid der Welt) gemacht wird, stimmen dem zu. Infolgedessen ist die erlebende Persönlichkeit des Menschen auch vor Gott nicht ohne Gegenglied, auf die sie sich bezieht, damit auch nicht in der Luft schwebend und deshalb ist das religiöse Recht aus guten Gründen ein Teil des Rechts überhaupt. Und

3., daß es Leiderlebnisse gibt, wie viele physische und psychische Schmerzen, die rein individuell bleiben und sich niemals in den Rechtsbegriff verwandeln können, ist klar; das spricht aber nicht dagegen, daß bestimmte Leiderlebnisse, die sich als interindividuelle darstellen, in den Rechtsbegriff verwandeln müssen, weil sie nach der Auflösung durch ihn streben.

Es kann also nicht geleugnet werden, daß dem Rechtsbegriff das Erlebnis zugrunde liegt und es widerspricht aller Erfahrung, lustvolle Erlebnisse als Quelle des Rechts anzunehmen, weil in den lustvollen Erlebnissen nicht die Tendenz zu ihrer Aufhebung durch den Begriff liegt. Einem Mystiker, der in visionärer Anschauung, Gott erlebt, wird es nicht einfallen, nach dem "Gottesbegriff" zu suchen; der Philosoph aber, dem diese göttliche Gabe überirdischen Glücks nicht gegeben ist, der gequält ist durch sein Erlebnis, das nach Klarheit ringt, sucht nach dem Begriff Gottes, in welchem dieses persönliche Leiderlebnis zur Ruhe kommt.

Somit stellt sich also als seelische Quelle des Rechtsbegriffs das Leiderlebnis dar, und zwar in einem sozialen Sinn, d. h. das Erlebnis entstammt einem Leid, das einem von Jemandem zugefügt wird. Dieses Leid stellt sich als physische Verletzung oder als Eingriff in die Sphäre der Persönlichkeit überhaupt dar, das Unlust oder Widerstand erzeugt; dieses Unlusterlebnis ist bestrebt, eine Klärung und Regelung seines Zustandes herbeizuführen, um ihn dadurch zu beseitigen und seine empirische, mögliche Vielfältigkeit in eine Allgemeinheit aufzulösen, dies nichts mit einer Zahl zu tun hat. Es ist nun hierbei gleichgültig, ob der Täter mit Absicht oder ohne Absicht vorgeht, die bloße Tatsache des durch einen Anderen erlittenen Leids wirkt als Erlebnis so plastisch und bestimmt, daß es nach dem Begriff strebt, durch den es seine Plastizität verliert, wodurch also das Leiderlebnis verschwindet. Nun fragt es sich: gesetzt, unsere Anschauung ist richtig, daß das Recht aus einem Leiderlebnis erwächst, darf dann dieses Erlebnis auch schon ein Unrechtserlebnis genannt werden, somit also der Rechtsbegriff als das Unrechtserlebnis bestimmend aprioristische vorausgesetzt werden, wodurch ein Zirkel gleich am Beginn der Rechtsphilosophie entsteht? Hier erhebt sich sofort das sehr wichtige Problem eines Apriorismus und Aposteriorismus. Es entsteht also folgende Frage: Wenn das Erlebnis die seelische Quelle des Begriffs ist, wenn sozusagen automatisch in gerader Linie der Begriff aus dem Erlebnis kommt, so ist doch dann das Erlebnis für immer verschwunden, wenn der Begriff entstanden ist. Wir sagen nun, damit sich diese Sache klar darstellt: da die Seele eine Einheit ist von Erlebnis und Begriff, da ferner nichts Seelisches verloren gehen kann, da drittens das Erlebnis die faktische Bedingung dafür ist, daß der Begriff entstehen kann, da also Ergebnis und Begriff als die beiden Grundfaktoren der Seele in genetischer Beziehung zueinander stehen, so folgt daraus, daß auch der Begriff in irgendeiner Weise eine Bedingung des Erlebnisses ist. Und diese Bedingung ist er insofern, als er erst die Seele zur Erkenntnis ihrer selbst bringt und damit zur vollen Wirklichkeit verhilft. So ist also der Begriff ebenso ursprünglich in der Seele, wie das Erlebnis, aber so, daß er potentiell da ist, wenn das Erlebnis aktuell ist und aktuell, wenn das Erlebnis potentiell wird. Beide bedingen und erzeugen sich gegenseitig, indem das Eine für den Anderen Ursache im realen Sinn, der Andere für das Eine Grund in einem idealen Sinn ist. Auf unser Thema übertragen: es könnte von einem Unrechtserlebnis nicht gesprochen werden, wenn nicht ein Rechtsbegrifff vorausgesetzt ist. Dem seelischen Geschehen liegt als dessen Deutung und dessen objektiver Sinn unter anderem auch der apriorische Rechtsbegriff zugrunde, aber dieser verdankt seine Existenz der Faktizität des seelischen Geschehens, das sich in unserem Fall als Unrechtserlebnis darstellt. Der Rechtswelt liegt ein unaufhebbarer Zirkel zugrunde, dessen Bedeutung wir noch später kennenlernen werden und der auch am Anfang der Erkenntnistheorie überhaupt liegt.

Das dem Rechtsbegriff zugrundeliegende Erlebnis ist vor allem eine unmittelbar erlebte, konkrete Erlebniswirklichkeit. Wie jedem konkreten Erlebnis eignet auch diesem eine Bestimmtheit, die es von anderen Erlebnissen unterscheidet. Es ist dieses Erlebnis charakterisiert als Erlebnis von Leid, das von außen, d. h. von den Mitmenschen kommt. Es muß dabei keineswegs der Gedanke vorhanden sein, daß das erlebte Leiderlebnis eine Verletztung der Rechtsordnungist, sondern die Unmittelbarkeit des als Leid erlebten Unrechtserlebnisses besteht darin, daß Schmerz erlebt wird, der von einem Anderen - gleichgültig ob mit Absicht oder ohne Absicht - zugefügt wird. Da das Unrechtserlebnis als solches durch keinen Begriff mit der Allgemeinheit in Beziehung steht, da ihm wie jedem unmittelbaren Erlebnis die völlige Subjektivität und Isoliertheit eignet, die erst im Begriff verschwindet, so ist klar, daß ein solches Erlebnis, das z. B. als Erlebnis von Liebe die größten Glücksmöglichkeiten wegen seiner Subjektivität bringt; als Erlebnis von Leid, das es eben ist, den größtmöglichen Schmerz herbeiführt, der nach dem Verschwinden, d. h. nach der Aufhebung durch den Begriff trachtet. Eine Reaktion auf dieses erlebte Leid, die sozusagen eine Vorstufe der Erkenntnis durch den Rechtsbegriff ist, pflegt sich in folgender Weise zu äußern: Wer Unrecht erlebt, der holt zum Schlag aus, weil ihm hierdurch vorderhand bloß die einzige Möglichkeit gegeben ist, die Qual des eigenen Erlebens zu mildern, dadurch, daß er nämlich durch die Wiedervergeltung die Möglichkeit gewinnt, seine Isoliertheit aufzuheben und sein noch nicht zum Erkennen gewordenes Erleben ins Gleichgewicht zu bringen. In der Wiedervergeltung isoliert der Beleidiger auch den Beleidigten und stellt damit in negativer Beziehung wenigstens sein Verhältnis zur Welt wieder her, in der er nun nicht mehr allein steht. Es liegt dem erlittenen Leid sozusagen die Vorstellung zugrunde, als ob das Erlebnis so stark und konkret ist, daß es den Anschein hat, als wollte es hierbei stehen bleiben und nie Begriff werden, wie es ja bei den künstlerischen und mystischen Erlebnissen der Fall ist. Die daraus entstehende große Angst spiegelt dem Beleidigten vor, als hätte der Beleidiger ihn von allem Leben abschneiden wolle, dadurch, daß er ihm die Möglichkeit nahm, sein Erkennen zu betätigen, indem er ihm den Begriff vorenthielt, der ihn mit der Welt verbindet. So entsteht im Beleidigten das Gefühl der Isoliertheit, das die tägliche Erfahrung bestätigt. Durch die Wiedervergeltung wird nun der erste Schritt getan, diese Isoliertheit aufzuheben. Diesem psychologischen Tatbestand liegt des ferneren auch folgende Ansicht zugrunde. Kein Mensch steht im leben in völliger, absoluter Isoliertheit da; mit dem Ich wird auch implizit das Du erlebt. Diese gegenseitige Stellungnahme der Menschen zueinander ist selbstverständlich eine konfliktreiche, ohne daß deshalb in allen Fällen ein apriorischer Rechtsbegriff angenommen werden müßte, dessen Verletzung erst Konflikte zu erzeugen vermöchte. Aus einem Unrechtserlebnis heraus entsteht nun der Rechtskonflikt in seiner primitivsten Form, wenn also in Einem die Konsequenzen einer Verletzung von Seiten des Anderen sichtbar werden, durch die das Bewußtsein entsteht, eine Rationalisierung der Beziehung der Menschen zueinander vorzunehmen, in der jede Verletzung den Verletzten schützt, kurz in der das Individuum und seine Sphäre nach außen abgegrenzt wird. Als Vertreter fühlt sich aber auch der, der sich als zufälliges Subjekt einer Verletzung an einem Anderen fühlt, die ihm nun wieder vergolten wird. Das Bewußtsein nun, zufälliges Objekt einer höheren Macht oder der Willkür der Anderen zu sein, erzeugt auch im Verletzer das Gefühl der Regellosigkeit, Kausalitätslosigkeit. Im Gefühl der Kausalitätslosigkeit liegt das Moment absoluter Isolierung, das Gefühl einer Art punktförmigen Existenz im Weltenraum. So ergibt es also in der Sphäre der sozialen Leiderlebnisse nur "Beleidigte" und der Beleidigte fühlt sich "von aller Welt verlassen", seine Isoliertheit ist eine unerträgliche, der ein Ende gemacht werden muß. Die absolute Isoliertheit kann nur dann schwinden, wenn sie in eine relative verwandelt wird, d. h. wenn noch ein Mensch da ist, der in ebensolcher Isoliertheit lebt, so ist die Absolutheit aufgehoben, die Kausalitätslosigkeit ist zu einer Regel geworden, die Glieder hat. Durch die Wiedervergeltung werden Beleidigter und Beleidiger in Beziehung zueinander gebracht, und diese Beziehung aber ist eine bloß negative. Da nun die negative Beziehung des Beleidigten zur Welt kein Ersatz für die notwendige positive ist, so ist begreiflich, daß das Unrechtserlebnis nach einem Begriff sucht, dem die Aufhebung des konkreten Erlebnisses gelingt. Und dieser Begriff ist der Rechtsbegriff. Die Beziehung des Unrechtsbegriff zum Rechtsbegriff werden wir im Folgenden besprechen.

Die Rache [heymann] allein hat nur ein negatives Ergebnis; der positive Sinn des Unrechtserlebnisses bekundet sich in seiner Tendenz, zum Rechtsbegriff zu werden. Diese Tendenz vollzieht sich psychologisch in einer äußerlichen und in einer innerlichen Weise. Äußerlich, indem das Unrechtserlebnis beseitigt werden kann durch die Begriffswelt der Anderen, innerlich durch die eigene Begriffswelt. Die Begriffswelt der Anderen ist durch die Persönlichkeit der Anderen repräsentiert, die Autoritäten darstellten, denen man die Arbeit überläßt, Begriffe zu schaffen, welche die Qual des erlebten Unrechts beseitigen, diese Autorität ist das Gericht. Die innerliche Weise besteht darin, daß man selbst die Begriffe erzeugt, die als Rechtsbegriffe das erlebte Unrecht zerstören. Nun: jeder Begriff ist der objektive Ausdruck des ihm zugrunde liegenden Erlebnisses. Wäre diese Objektivation der Erlebnisse restlos durchführbar, dann müßte jedes konkrete Erlebnis einen ihm adäquaten Begriff aufweisen, durch den es zum Sinn gelangt. Da dies ausgeschlossen ist- nicht jedes Erlebnis, das stets Qualität ist, läßt sich durch den Begriff quantifizieren - so sind es vor allem nur bestimmte konkrete Erlebnisse, die zum Begriff werden können. Und diese Bestimmtheit der Erlebnisse muß eine ganz besondere, weiter nicht analysierbare sein, damit der entsprechende Begriff entsteht. Nur jene Erlebnisse, die vermöge ihrer besonderen Bestimmtheit sich herauszuheben vermögen aus der Fülle aller möglichen Erlebnisse, sind begrifflich möglich, und dies auch nur dann, wenn sich sozusagen von selbst die Bestimmtheit des Erlebnisses zum Begriff wandelt. Ein der Bestimmtheit ermangelndes Liebeserlebnis z. B. wird unmöglich erfaßbar sein; aber das Erlebnis, das sich z. B. beim Anblick einer Rose einstellt, dem also ein bestimmter, konkreter Gegenstand gegenübersteht, läßt sich verallgemeinern, zum Begriff objektivieren. Der Begriff ist also der Sinn des konkreten Erlebnisses, er ist dieses quasi in einer ganz anderen Sphäre, er ist Etwas, das über das konkrete Erlebnis hinausgeht, wodurch dieses seine Nuancen verliert und allgemein wird. Es ist nun selbstverständliche, daß der Begriff nicht etwas ist, was absolut geschieden vom Erlebnis ist; denn wie könnte dann die eigenartige Identität und Gebundenheit von Erlebnis und Begriff möglich sein? Der Begriff der Rose z. B. muß doch ein Minimum an seelischen Momenten mit dem Erlebnis gemeinsam haben, aus dem er erwuchs, auch wenn er schon längst selbständig geworden ist. Wir können allgemein so sagen: Begriff und Erlebnis sind eine Welt in verschiedener Spiegelung. Der Begriff also, der dem Unrechtserlebnis seelisch und sachlich entspricht, ist der Rechtsbegriff, seelisch, weil das Unrechtserlebnis nach einer Aufhebung seiner selbst durch eine positive Begriffswelt strebt, sachlich, weil der sogenannte Unrechtsbegriff nur in einem bestimmten Sinn eine positive Geltung hat, wie wir jetzt darlegen wollen.

Der Negation des Begriffs eignet es, daß sie dessen Objektivität in der entgegengesetzten Richtung darstellt, nicht unbedingt eine Verneinung, Aufhebung des positiven Begriffs sein muß, sondern eben einen dialektischen Richtungsgegensatz bedeutet. Als Beispiel aus dem alltäglichen Handgebrauch der Begriffe nehmen wir drei Begriffe: Sinn, Widersinn und Unsinn. Der alltägliche Sprachgebrauch pflegt die Begriffe "Widersinn" und "Unsinn" zu identifizieren und beide gleichermaßen als Sinnlosigkeit, als Abwesenheit von Sinn, mit Rücksicht also auf unsere Voraussetzungen, als nicht zum Sinn gelangte Erlebnisse, zu bezeichnen, gleichgültig, welcher Art diese Erlebnisse überhaupt sind.

Nun ist es unzulässig, die philosophische Bedeutung der Sprache zu unterschätzen, ohne daß man sie deshalb überschätzen darf, wie es heutzutage so gerne geschieht. Die Sprache sagt uns hier, daß die Begriffe Widersinn und Unsinn nicht identifizierbar sind, weil sie Verschiedenes bezeichnen. Lediglich der Begriff des Unsinns sagt, daß das betreffende Erlebnis überhaupt nichts mit Sinn zu tun hat, also sinnlos ist, während der Begriff des Widersinns darlegt, daß die in der Sphäre des Sinns überhaupt gelegene erkenntnistheoretische Denkrichtung, die auf irgendetwas Bestimmbares und Bestimmtes geht, ihre Richtung geändert hat und nun - in derselben Sphäre verbleibend - von der entgegengesetzten, also negativen Seite her dieses Bestimmbare zu erreichen sucht. Dies nenne ich die dialektische Richtungsänderung des Erkennens und sie ist so alt wie das Erkennen selbst. Wer also von einer Sache etwas Widersinniges aussagt, der sagt etwas Sinnvolles aus, das seine Beziehung zum allgemeinsten, d. h. bereits einen metaphysischen Sinn der Sache geänderthat und zum empirisch Sinnvollen im Gegensatz steht. Daher kommt es, daß etwas Widersinniges von Heute etwas Sinnvolles von Morgen werden kann, weil eben die Beziehung von sinnvoll und sinnwidrig innerhalb der Sphäre des allgemeinsten Sinnes, der empirischen Sinn und Widersinn in sich einschließt, ihrem Inhalt nach stets wechselnd sein kann, wenn sie sich auch ihrer Form nach (als stete Beziehung von Positivem zu Negativem) gleichbleibt. Widersinn ist also gleichbedeutend mit Gegensinn, das Zweite die Antithesis des Ersten als Thesis und beide suchen die Synthesis in der Absolutheit des Sinnes, im allgemeinsten metaphysischen Sinn der Sache, wodurch diese erst aus ihrer empirischen Zufälligkeit zur philosophischen Einmaligkeit und Einzigartigkeit wird. So ist z. B. die platonische Idee irgendeines empirischen Gegenstandes dessen absoluter Sinn und innerhalb dieser Sphäre ist es nötig, den empirischen Sinn der Sache, also deren positive denkmäßig erfaßbare Charakteristik von der Negation dieser, dem Widersinn der Sache, der auch Erkenntnis ist, zu unterscheiden.

Nun gibt es Begriffe, bei denen sich nicht ohne weiteres feststellen läßt, ob sie einen dialektischen Gegensinn nach sich ziehen oder nicht. Denn es ist ja denkbar, daß der Sinn einer Sache schon ohne weiteres ein absoluter sein kann, somit das Stadium des empirischen Sinnes als unnötig beiseite läßt. Es ist denkbar, daß der Rechtsbegriff ohne weiteres eine Absolutheit des Sinnes aller sozialen Erlebnisse darstellt, so daß es nicht nötig erscheint, zunächst einen empirischen, relativen Sinn der sozialen Verhältnisse zu etablieren, der selbstredend seinen Gegensinn, Unrecht als Gegenrecht, als Begriff, nach sich zieht. Gerade nun beim Recht ist diese dialektische Erscheinung sozusagen eine alltägliche Erfahrung, weil ja die Relativität des das Leben regulierenden Rechtes stets auf das Tiefste empfunden wird und weil gerade auf dieser Relativität die Institutionen des Rechts, wie das Gericht usw. basieren. Wäre diese Relativität nicht vorhanden, so würden alle diese Institutionen wegfallen und die Menschen selbst ohne Vermittlung die Umwandlung ihrer Erlebnisse in die Absolutheit des Rechts, das ewig und für alle gilt, übernehmen. Daraus geht also hervor, daß im Unrecht die Dialektik des Rechts deutlich ausgeprägt ist, daß also der Unrechtsbegriff existiert. Wenn er nun existiert, d. h. wenn seine Existenz einen Sinn hat, wieso kommt es, daß das Unrechtserlebnis nach dem Rechtsbegriff tendiert und nicht nach einem Unrechtsbegriff? Wieso kommt es, daß jeder nach Recht schreit, wenn ihm Unrecht geschehen ist und sich nicht damit begnügt, daß er das Unrecht als solches erkennt und damit auch die entsprechende Vorstellung, den entsprechenden Begriff von der Sache gewinnt, die sein Erlebnis verschwinden läßt? Diese psychologische Tatsache, die logisch ausdrückbar ist und auf das Verhältnis von Rechts- und Unrechtsbegriff Licht wirft, will nämlich besagen, daß der Unrechtsleidende unvermittelt nach der Absolutheit des Rechts verlangt, d. h. er würde es nicht ertragen, daß ihm nur aus relativen Gründen, nur aus zufälligen Gründen Recht wird, sondern er fordert, daß das Recht, das ihm wird, ein ewiges, unveränderliches Recht ist. Michael Kohlhaas ist hierfür ein treffendes Beispiel. Das Recht als soziale Erscheinung will die Relativität, die aller Sozialität innewohnt, überwinden und unvermittelt zur Absolutheit werden. So stark ist im Menschen der Drang nach einer Beseitigung von Leid und Erringung metaphysischer Erkenntnis, daß alles, was sich als Stufe dazu darstellt, gleichzeitig als Hindernis empfunden wird. Deshalb hat das Unrecht als Erlebnis seine psychologische Bedeutung als Quelle des Rechts und als Begriff eine bloß methodische (von einer anderen Seite her wird hier die Kriminologie als bloß methodische Seite des Rechts gekennzeichnet, wie wir schon einmal zu bemerken Gelegenheit hatten) keine essentielle Bedeutung, zur schärferen und klareren Erkenntnis des empirischen Rechts, mit dem zusammen es im absoluten Recht seine dialektische Existenz verliert. Unrecht als Erlebnis ist eine Erkenntnisquelle, Unrecht als Begriffein Erkenntnismittel und das Ziel beider ist das Recht, das die Erkenntnis darstellt. Erkenntnismittel in einem wissenschaftlichen Sinn aber ist stets nur Methode, geht auf kein Sein, für uns also hier, wo wir auf das Sein des sozialen Lebens selbst gehen, auf das Recht, ohne Bedeutung. Die Erkenntnis des Unrechts, vermittelt durch den Begriff des Unrechts, findet wissenschaftlich nur in gegebenen Rechtssystemen statt, während dagegen wir hier kein gegebenes Rechtssystem im Auge haben, sondern ausschließlich die philosophischen Bedingungen zum Recht überhaupt. Wir können also bei unserer Ansicht bleiben, daß das Unrechtserlebnis nach dem Rechtsbegriff tendiert.

Und nun wollen wir noch folgende Eigentümlichkeit, die dem Unrechtserlebnis in einem erkenntnistheoretischen Sinn innewohnt und nur ihm zukommt, betrachten. Nämlich: ist es nicht sonderbar, daß ein Erlebnis, das so ausgesprochen destruktiven Charakter zeigt, wie das des Unrechts, einen Begriff zu einem objektiven Korrelat hat, der so ausgesprochen konstruktiv ist, wie der Rechtsbegriff? Man kann nur darauf antworten: es ist nicht nur nicht sonderbar, sondern geradezu selbstverständlich, daß ein destruktives Erlebnis einen konstruktiven Begriff zum Korrelat hat, durch den es erst zum Aufbau einer Welt verwendet werden kann. Es eignet dem Unrechtserlebnis, daß es gleichsam durch einen Sprung über eine Kluft hinweg - wie wir vorher angedeutet haben - zu einem Begriff gelangt, der sein Sinn ist. Es ist dies eine Tatsache, die meines Erachtens lediglich in der Rechtswelt vorkommt, eine Tatsache, durch die die Tragik und Irrationalität des Rechtslebens aufgedeckt wird. Der Rechtsbegriff gehört also aus verschiedenen Gründen in eine Sphäre, die durch ein Kluft von einem Unrechtserlebnis geschieden ist, wenn es natürlich auch in anderer Beziehung notwendig mit ihm zusammenhäng. Dies ist vielleicht das Motiv, daß ziemlich spät erst die Rechtsphilosophie, die sich aprioristisch ausschließlich auf dem Rechtsbegriff aufbaute, eine Analyse des ihm zugrunde liegenden Unrechtserlebnisses unternahm, weil sie fürchtete, dadurch in eine fremde Sphäre hinüberzugreifen. Der Rechtsbegriff muß also, da er dem Unrechtserlebnis entsprungen ist, dessen Züge in objektiver Form an sich tragen, trotz der Geschiedenheit vom Unrechtserlebnis muß er in einer gewissen Bezogenheit zu ihm stehen. Wir stellen nun folgende Frage: Von wo kommt der Rechtsbegriff her? Ist der Rechtsbegriff nur empirisch und evolutionistisch aus dem Erlebnis zu deduzieren oder im Gegensatz hierzu a priori gegeben und gibt es einen dritten Fall, der zeigt, in welcher Weise ein Zusammenhalten und Bezogensein des a priori gegebenen Rechtsbegriffs mit seiner empirischen Entwicklung und Existenz denkbar ist?

Es ist noch zu unterscheiden zwischen dem Aufzeigen der Genese eines Begriffs aus dem Erlebnis und zwischen dem Aufzeigen des objektiven Wesens der Begriffs. Da es nun klar ist, daß auch der Begriff eine ursprüngliche Weise der Seele ist und als solche Bedingung des Erlebnisses, so heißt dies nun Folgendes: im Fluß des Erlebens entsteht der Begriff, somit ist er also genetisch etwas Sekundäres; im Sein der Seele aber, in ihrer ewigen, unwandelbaren Bedeutung ist sie Begriff, der allen Erlebnissen erst Sinn bringt und sie so faßbar macht. Somit ist der Begriff Voraussetzung des Erlebnisses, seine Bedingung, sein Sein, denn die Seele ist weder ausschließlich tatsächliches Geschehen, noch auch ausschließlich ideelles Sein; sie ist eine Synthese von beiden. Insofern ist also der Begriff essentiell primär, existentiell sekundär, er ist seelisch eine Konsequenz, logisch eine Bedingung. Der Rechtsbegriff trägt also, wie jeder Begriff, deutlich einen dualistischen Charakter. Wir wissen nun, daß es in der Rechtsphilosophie ein Grundproblem von großer Schwierigkeit gibt, das auch ein Grundproblem der Erkenntnistheorie ist: das Problem des Apriorismus [von vornherein gegeben - wp] und Aposteriorismus [im Nachhinein erfahren - wp]. Eine formale Rechtsphilosophie zu konstruieren, in der auf die Genese des Rechtsbegriffs gar keine Rücksicht genommen wird, ist nicht schwer, bedeutet aber das Beiseitelassen einer ganzen Welt. Und ebenso stellt sich die Sache dem leichter dar, der bloß eine Psychologie des Erlebnisses gibt, dem genetisch das Recht zugrunde liegt. Daraus aber wird niemals die logische Strenge und apriorische Unabhängigkeit der Rechtswelt deduzieren lassen. Wir wissen also, daß der Rechtsbegriff ein in sich widerspruchsvoller Begriff ist und daß er, wie jeder Begriff, der Schnittpunkt von Apriorismus und Aposteriorismus sein muß, weshalb er somit kein ausschließlich quantitativ formaler Begriff sein kann, sondern ein qualitativ-realer, was für die Methodik der Rechtsphilosophie und Jurisprudenz von ähnlich großer Bedeutung ist, wie für die Psychologie der Gegenwart die Einsicht, daß die Psychologie weder - wie bisher - in einem formal-erkenntnistheoretischen Sinn gefaßt werden darf, noch in einseitig naturwissenschaftlicher Weise, sondern daß sie introspektiv und doch objektiv sein muß. Ebenso also muß die Rechtsphilosophie ihre ideelle Objektivität bewahren können und darf dabei ihre real-subjektive Gebundenheit in ihren Begriffen - das entsprechende Material liefert eine Psychologie des Rechts, d. h. des Unrechtserlebnisses - nicht verlieren.

Und nun wollen wir, nachdem wir ganz allgemein die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Rechtsphilosophie angedeutet haben, irrige Auffassungen abzuwehren suchen, wodurch wir auch gleichzeitig die Konsequenzen unserer These zum Aufbau einer Rechtsphilosophie aufzeigen werden.

Man könnte sich denken, daß der Rechtsbegriff nicht unmittelbar dem Unrechtserlebnis entspringt, sondern einem seelisch zugrunde liegenden Rechtserlebnis, das man Rechtsgefühl nennt. Die Anschauung von der zentralen und fundamentalen Bedeutung des Rechtsgefühls als seelische Quelle des Rechtsbegriffs ist eine allgemeine. Ich behaupte nun, daß sich seelisch eine solche Realität gar nicht vorfinden läßt und daß aufgrund dieser Anschauung sich Konsequenzen ergeben, die für die Rechtsphilosophie von gewisser Bedeutung sind. Nach dem Bisherigen ist die seelisch fundamentale Bedeutung des Unrechtserlebnisses nnicht zu leugnen, da es vermöge seiner Charakteristik als Unlust oder Leid nach einer Aufhebung seiner selbst durch den Rechtsbegriff trachtet. Angenommen nun, es sei tatsächlich eine seelische Realität, die wir Rechtsgefühl nennen, neben diesem Unrechtserlebnis gegeben, wobei ir die Beziehung beider in ganz beliebiger Art denken mögen. Da müßte dann aber die seelische Situation, die hierbei gegeben ist, so gestaltet sein, daß etwa aus dem Unrechtserlebnis, das ja stets voll und unmittelbar erlebt ist, sich ein zweites, gleichsam als obere Schicht, entwickelte, aus dem nun der Rechtsbegriff hervorgehen könnte. (Die andere Annahme, daß aus dem Rechtsgefühl das Unrechtserlebnis erwächst, ist als unmöglich abzulehnen und zwar deshalb, weil es psychologisch völlig unverständlich bleibt, wieso ein Lustzustand erst durch die Vermittlung eines Leiderlebnisses zu einem Begriff wird, was uns keine psychologische Erfahrung bestätigt. Denn entweder bleibt ein Lustzustand als solcher erhalten oder ein Leiderlebnis tendiert nach seinem Verschwinden durch den Begriff. Jedoch so eine komplizierte Annahme, wie die soeben gemachte, läßt sich psychologisch in keiner Weise rechtfertigen.)

Beide Annahmen beruhen auf einer organisierenden Betrachtung des Seelenlebens, die mit Bildern arbeitet, welche dem materiellen Geschehen entnommen sind. Eine Lagerung seelischer Schichten anzunehmen, ist auch bloß symbolisch von schwerer Unzuträglichkeit, da wir über die Grundanschauung aller Psychologie, daß die Seele eine Einheit mit unzähligen Gestaltungsmöglichkeiten eben dieser Einheit bildet, welche Gestaltungsmöglichkeiten aber alle sozusagen in der gleichen Ebene bleiben mit Ausnahme des Begriffs, der das Erlebnis ändert, nicht hinauskönnen und dürfen. Es ist völlig unmöglicch, zwei seelische Realitäten anzunehmen, aus denen die Rechtswelt entsteht. Und das sogenannte Rechtsgefühl allein ist ebenfalls nicht in der Lage, sich zum Rechtsbegriff zu transzendieren, da es aller Erfahrung widerspricht, daß ein lustvolles Erlebnis - und das Rechtsgefühl soll ja die positive Rechtswelt in ihrer ewigen Unzerstörbarkeit aus sich hervorgehen lassen - nach seiner Aufhebung durch den Begriff tendiert. Es bleibt also noch übrig, Unrechtserlebnis und Rechtsgefühl zusammenfallen zu lassen, als ein Erlebnis, das einen doppelten Index trägt. Man könnte sich hierbei vorstellen, daß das Unrechtserlebnis von Gefühlstönen begleitet wird, die Äußerungen eines ursprünglich gegebenen Rechtsgefühls sind. In diesem Fall aber würde das Rechtsgefühl als Rechtserlebnis keine positive Realität mehr darstellen und zu einer bloßen Nuance an der Realtität des Unrechtserlebnisses geworden sein. Es sprechen also vor allem psychologische Gründe gegen das Rechtsgefühl als ursprüngliche, positive seelische Realität, des Ferneren auch erkenntnistheoretische im engeren Sinn, und nun wollen wir auf eine Tatsache aufmerksam machen, die einerseits eine indirekte Beweisführung gegen die Annahme eines Rechtsgefühls darstellt, andererseits aber auch für sich genommen von rechtsphilosophischer Bedeutung ist.

Nämlich: der Annahme eines Rechtsgefühls liegt u. a. auch das Motiv zugrunde, Ethik und Recht, deren innige Beziehung man stets angenommen und vorausgesetzt hat, als bereits an der Quelle des Rechts gemeinsam vorhanden, aufzuzeigen. Denn das sogenannte Rechtsgefühl soll ja unter anderem auch dies bezeugen, daß dem Seelenleben, aus dem die Rechtswelt entsteht, bereits bei seinen anfänglichsten Äußerungen ein moralischer Charakter innewohnt, der die ganze Rechtswelt durchzieht, und diese mit der Welt der Ethik verbindet. Wir ja unter Rechtsgefühl zweifellos auch dies verstanden, daß es ein Gefühl nicht bloß mit dem objektiven Index des Rechts, sondern auch mit dem subjektiven Index der Moral versehen darstellt, eine Art moralischen Bewußtseins, das aus der Rechtswelt zu entfernen unmöglich erscheint. Rechtsgefühl und Moralgefühl schneiden sich also, und dieser Umstand ist meines Erachtens das Hauptmotiv, das Rechtsgefühl als psychologische Quelle des Rechts anzusehen, da man auf diese Weise schon in der Entstehung des Rechts die moralischen Keime vorzufinden in die Lage kommt, die dann ausgebildet die als gang und gäbe erscheinende innige Beziehung zwischen Recht und Sittlichkeit darlegen sollen. Diese Anschauung, die ich für prinzipiell falsch halte, läßt sich auf folgende Weise widerlegen: Sie verwechselt die fundamentale Scheidung von Wert und Wirklichkeit und legt in *seelische Grundtatsachen, die nichts als Tatsachen sind, Wertmomente hinein. Das sogenannte Rechtsgefühl darf nicht mehr als bloße Tatsache sein und doch läßt sich der Zwang nicht vermeiden, dieser seelischen Realität einen Wertcharakter zuzuordnen, der doch erst den Begriffen innewohnt.

Dieser Zwang läßt sich deshalb nicht vermeiden, weil man stets gewöhnt ist, lustvollen seelischen Realitäten einen Realitätscharakter zuzuordnen und sie lustvollen zu verweigern. Bleibt man nun bei dieser Anschauung und kann sich diesem Zwang nicht entziehen, so muß man das Rechtsgefühl opfern, da man nicht berechtigt ist, dem Rechtsgefühl einen Wertcharakter zu verleihen, welches als bloß seelische Tatsache schlechthin wertfrei ist. Das Unrechtserlebnis ist eine bloße Tatsache, nichts weiter, die erst ihren Wert in dem ihm entsprechenden Begriff empfängt, durch den es als Tatsache aufgehoben wird. Auf diese Weise wird die sehr fragliche Beziehung zwischen Recht und Sittlichkeit, die so viel Schuld trägt an mancher Verwirrung der Rechtsphilosophie, des ausgeübten Rechts und der Ethik, beseitigt und die völlige Beziehungslosigkeit beider feststellt. Recht und Ethik, wenn sie in gewissen Punkten zusammenfallen, stellen ja eine Verdoppelung der Welt dar, die völlig unbegreiflich bleibt. Läßt man sie restlos zusammenfallen, wie HEGEL, dann hat man dadurch die Unmöglichkeit ihrer relativen Abgrenzung eingesehen, dieselbe aber durch die Unmöglichkeit dem Beiseitelassen einer ganzen Welt ersetzt. Das Unrechtserlebnis trägt ja auch deshalb gar keinen Wertcharakter in sich, weil es als destruktives Erlebnis jeden ihm innewohnenden Wert sofort vernichten würde. Auch einen sogenannten negativen Wewrt hat es nicht, weil die negativen Werte erst ihren Sinn durch ihre Beziehung auf gegebene positive Werte empfangen. Sittliche Werte und Rechtswelt sind Welten für sich, ebenso wie die der Kunst, der Mystik und der Philosophie. Es ist ja besser, eine pluralistische Weltanschauung zu haben, die reinlich die Erkenntniswelten voneinander scheidet und sie in einem Absoluten zur Einheit bringt, als eine monistische, welche verschwimmend und unklar ist. Man ist gewohnt, Recht und Sittlichkeit insofern bezogen aufeinander zu denken, indem man sagt, daß die Sittlichkeit auf die Gesinnung, das Recht auf die Handlung geht und beide das soziale Leben der Menschen betreffen. Wie falsch das ist, geht daraus hervor, daß die Begriffe Gesinnung und Handlung Abstraktionen aus dem Komplex der Persönlichkeit sind, was vollkommen widersinnig ist. Denn bloße Gesinnungen sind genausowenig gegeben, wie bloße Handlungen, bei denen man etwa von der Gesinnung abstrahieren könnte. Man muß sich Recht und Sittlichkeit deshalb als völlig beziehungslos zueinander denken, will man endlich einmal mit jenen unerträglichen verwirrenden ethischen Einflüssen aufhören, die in der Gesetzgebung herrschen und dieselbe unsicher, verworren und willkürlich machen. Recht ist die begrifflich-wissenschaftliche Regelung des sozialen Lebens, sein Sinn und seine Notwendigkeit und Ethik ist die persönlich erlebte Lebensgestaltung, die aus den Tiefen der Persönlichkeit hervorwächst und in ihrer Sphäre verbleibt, deshalb also unwissenschaftlich in gewissem Sinne ist, weil eine begriffliche Fassung der Persönlichkeit unmöglich erscheint. Deshalb ist Ethik Philosophie, während Recht das Fundament einer Einzelwissenschaft darstellt, die auf das tätige Leben geht. Unter diesem Gesichtspunkt ist Recht und Sittlichkeit unmöglich miteinander zu verwechseln. Beide gehen ganz verschiedene Richtungen, indem das Recht auf die Ordnung des sozialen Lebens geht (auch wenn der Rechtsbegriff - wie wir sehen werden - zur metaphysischen Höhe der Rechtsidee emporsteigt, bleibt diese seine Tendenz erhalten, obwohl er philosophisch geworden ist; denn Philosophie erscheint ja in verschiedenen Gestaltungen mit verschiedenen Zielen unter anderem als wissenschaftliches Recht und unter anderem auch als Ethik, die auf das Wesen der Persönlichkeit geht, somit schon ohne weiteres philosophisch gestaltet ist, während das Recht erst nach seiner philosophischen Vollendung streben muß, wie es Begriffen eignet, die nicht wie das Erlebnis unmittelbar sind), während Ethik auf die Vervollkommnung der Persönlichkeit geht, und das eine kann das andere stören, wenn sie in Beziehung gebracht werden. Und Aufgabe der Philosophie ist es, hier Klarheit zu schaffen.

Der Rechtsbegriff ist also ein transzendenter Begriff; er trägt den Erlebnischarakter an sich und muß ihn haben, obwohl er aus dem Erlebnis hinauswächst; er ist also ein qualitativer Begriff, nicht bloß formal-ideologisch, sondern auch psychologisch-real. Er ist keinem sogenannten Rechtsbewußtsein immanent, sondern transzendent. Er ist etwas ganz anderes als das Unrechtserlebnis und dennoch von diesem nicht zu trennen. Er ist eine Abstraktion, die auf Reales geht. Er ist in sich widerspruchsvoll. Er ist Wert und Sein, da er auch eine Wirklichkeit darstellt; daher auch die Berechtigung, von einer Rechtswelt zu sprechen. Er ist als transzendenter Begriff metaphysisch und weist so darauf hin, daß er in einer Absolutheit aufgehen soll. In dieser Absolutheit muß der widerspruchsvolle Charakter des Rechtsbegriffs, der ihm vermöge seines Erlebnischarakters anhängt, irgendwie aufgehoben erscheinen, damit der Zwiespalt zur Ruhe kommt. Wir konstruieren uns nun als diese Absolutheit die Idee des Rechts, die übergreifend über den Begriff des Rechts und ein Erlebnis des Unrechts gegeben ist, die Idee in einem platonischen Sinn, die sowohl eine Wirklichkeit als auch ein Wert ist. Die Rechtsidee ist diese absolute Wirklichkeit, die zur Erscheinung gelangt als empirisches Unrechtserlebnis und damit den Rechtsbegriff manifestiert. Das Unrechtserlebnis ist die empirisch-realisierte Rechtsidee, die Idee, die nur erlebt werden kann als Leiden von Unrecht. Aus diesem Erlebnis erwächst der Rechtsbegriff, durch den es zum Verschwinden gebracht wird. Der somit erlebnisvoll gewordene Rechtsbegriff sucht im Absoluten als Rechtsidee seinen immanenten Widerspruch zu verlieren und es schließt sich so der Kreis, innerhalb dessen die Menschen als Sozialität leben.

Der Rechtsbegriff muß das Erlebnismäßige und das Metaphysische an sich erkennen lassen; dann hat er die von uns in ihn gelegte Forderung erfüllt und dann werden auch alle die Begriffe, die mit ihm zusammenhängen, kurz das System der Begriffe der Rechtswelt derselben Forderung genügen und die Rechtsphilosophie wird dann nicht mehr zwischen der Scylla einer ideologischen, formalen und quantitativen Jurisprudenz und der Charybdis der empirischen ("naturhaften") psychologisch-relativen Jurisprudenz hin und her getrieben werden, sondern den Weg gehen, der über diese beiden Einseitigkeiten hinausführt.

Das Recht (unseres empirisch-sozialen Lebens) wird als Erkenntnis gesucht, als Idee ersehnt, als Lösung von Konflikten erstrebt, es wird gefordert, als Begriff gedacht, aber erlebt wird es nur als Erlebnis von Unrecht; es gibt kein positives Rechtserlebnis als Rechtsgefühl, sondern nur ein Unrechtserlebnis, aus dem das Recht quillt und die Ethik hat in der Rechtssphäre nichts zu suchen.
LITERATUR Hans Prager, Über die erkenntnistheoretischen und metaphysischen Grundlagen der Rechtstheorie, Archiv für systematische Philosophie, Bd. 20, Berlin 1914