ra-2A. ExnerE. TroeltschM. WentscherSchopenhauerA. Riehl    
 
FRANZ BRENTANO
Über die Zukunft der Philosophie
[Mit apologetisch-kritischer Berücksichtigung der Inaugurationsrede von
Adolf Exner "Über politische Bildung" als Rektor der Wiener Universität]

[2/2]

"In Frankreich, wo der Verfall des christlichen Glaubens am weitesten fortgeschritten ist, und z. B. der allgemein geehrte Präsident der Republik Sadi Carnot nicht einmal mehr die Taufe empfangen hat, stellte sich die Notwendigkeit heraus, einen rein philosophischen Unterricht in der Moral an den Volksschuen einzuführen. Das Gesetz über die Organisation der französischen Volksschule vom 28. März 1882 verlangt in diesem Sinn an erster Stelle eine moralische und staatsbürgerliche Bildung und eine Reihe von Lehrbüchern für elementare und höhere Schulklassen beweisen, daß dieses Gesetz bereits in die Praxis übergeführt worden ist." "Als Lavoisier um einen Aufschub seiner Hinrichtung auf 14 Tage bat, damit er eine wichtige Arbeit, an welche er schon viele Jahre gewandt hatte, zum Nutzen des Vaterlandes vollenden kann, antwortete ihm der Gerichtshof: Die Republik benötigt weder Gelehrte noch Chemiker. Der Gang der Gerechtigkeit kann nicht verschoben werden."

8.Doch nun noch etwas anderes.

Der Herr Rektor sagte uns in seinem Vortrag, das Interesse für Philosophie sei in weiteren Kreisen geschwunden, obwohl vor allem der Vortrag selbst diesen Irrtum schlagend widerlegt. Das war seltsam. Doch noch seltsamer will es mir scheinen, wenn er, nachdem er das Erlöschen dieses Interesses als Tatsache gegeben glaubt, sofort daran auch noch die Überzeugung knüpft, daß in alle Ewigkeit sich nicht mehr entzünden wird. Auch das politische Interesse scheint ihm im 19. Jahrhundert bedenklich schwach geworden. (5) Vorträge über ein naturwissenschaftliches Thema vor gemischtem Publikum sprächen an, über ein politisches begegneten sie meist erstaunlich geringer Teilnahme. Aber doch prophezeit er hier kühn eine Neubelebung, ja ist überzeugt, daß das 20. Jahrhundert vornehmlich von diesem Interesse beseelt wird. Warum also, frage ich, wäre nur bei der Philosophie ein Wiedererstehen von vornherein ausgeschlossen?

Auf diese Frage bekommen wir keinen ausdrücklichen Bescheid und sind auf das, was sich etwa indirekt aus dem Vortrag ersehen läßt, angewiesen. Doch auch so, glaube ich, können wir mit genügender Sicherheit den bestimmenden Grund erkennen, der in nichts anderem als in der durchaus praktischen Sinnesart des Herrn Rektor zu liegen scheint. In der Tat sah ich mit Staunen, bis zu welchem Grad eine solche Geistesverfassung bei einem Forscher, der sein ganzes Leben der Betrachtung praktischer Verhältnisse geweiht hat, sich entwickeln konnte.

Wissen hat, nach EXNER, nur Wert und Berechtigung, wo es einem praktischen Bedürfnis dient. Dies geht bei ihm so weit, daß ihm das Verlangen dient. (6) Dies geht bei ihm so weit, daß ihm das Verlangen nach Kenntnisnahme von Naturgesetzen, zu welchen die neueste Forschung gelangt, und das freudig staunende Verweilen bei der Betrachtung ihrer kühnsten Errungenschaften, ohne Aussicht sie praktisch zu verwerten, geradezu "widersinnig" vorkommt. So nimmt er am allgemeinen Interesse für die Spektralanalyse (7) Anstoß. Daß diese das Mittel ist, uns über die elementaren Bestandteile der fernsten Gestirne zu unterrichten, macht dem Herrn Rektor nicht im Mindesten verständlich, wie mit dem männlichen Geschlecht auch sogar Frauen sich dafür zu interessieren vermögen, bei denen man, meint er, "ein lebhaftes Interesse" (hört! hört!) "weit eher für eine wissenschaftliche Erklärung der Ursachen und Wirkungen des Kaffeezolls erwarten möchte".
    "Aber ganz im Gegenteil", fährt er fort, "der einseitig herrschenden Geistesrichtung zufolge bewundert man dort die Erhabenheit eines ewigen Naturgesetzes und berauscht sich am Scharfsinn des Entdeckers, indessen man hier nur klägliches Menschenwerk erblickt, . . . eine Sache, die willkürlich auch anders oder gar nicht sein könnte, welche darum das nach ewigen Wahrheiten lechzende Gemüt des Bildungsphilisters gänzlich kalt lassen muß."
Also meine Herren, wer populäre naturwissenschaftliche Vorträge aus rein theoretischem Interesse, mit einem nach ewigen Wahrheiten lechzenden Gemüt, besucht, ist nach dem Herrn Rektor - ein Philister! [abwertende Bezeichnung für eine geistig unbewegliche, kleinkariert denkende und ausgeprägt gesellschaftskonforme Person, Synonym für Spießbürger - wp].

ARISTOTELES, für den der Herr Rektor selbst die größte Hochachtung bekennt, hebt seine Metaphysik mit den berühmten Worten an: "Alle Menschen begehren von Natur nach dem Wissen"; und er führt dann aus, wie dies ohne jede Rücksicht auf praktischen Gewinn geschieht. Wir sehen, daß, was ARISTOTELES vom normalen Menschen lehrt, mit dem, was der Redner über den Philister denkt, so ziemlich in eins zusammenfällt.

Derselbe exklusiv praktische Sinn begegnet uns dann auch in seiner erstaunlichen Hochschätzung der Römer, deren Geistesarbeit - obwohl sie nach ihm weder in der Naturwissenschaft (und Philosophie), noch in der Kunst etwas Selbständiges hervorzubringen vermochten - er über die der Griechen zu erheben wagt; freilich ihnen dabei praktische Leistungen zuschreibend, die, meines Erachtens, einen ganz anderen Ursprung genommen haben. So die Entstehung des Reiches der katholischen Kirche, welche wir (wie auch die Kirche selbst es tut) gewiß besser auf die Semiten in Palästina, ähnlich wie die des mohammedanischen Reiches auf die Semiten in Arabien zurückführen werden. Das Römertum trat der Kirche, wie etwas unbegreiflich Fremdem, zunächst nur feindlich entgegen; dort aber sehen wir sie wahrhaft und seit Langem vorbereitet, wie dann auch das Verhältnis von Kaiser und Papst das zwischen König und Hohenpriester im Land der Juden wesentlich wiederholt. Und ebenso unberechtigt schreibt er dem römischen Reich die Verjüngung Europas zu, die sicher vielmehr teils dem Einfluß des Christentums, teils dem Eindringen der germanischen Völkerschaften zu danken war.

Die Römer, sagt EXNER, haben uns alle Schätze des Altertums übermittelt; alle Wege von dorther führen nach Rom. Und hier allerdings kann ich ihm - doch, ich füge hinzu, leider! - nicht widersprechen. Es gibt gegenwärtig Leute, die uns prophezeien, daß ein gewaltiges Reich, das wir im Osten schauen, einmal das ganze zivilisierte Europa unter die Füße treten, und so das gespaltene einigen wird. Wenn solches - wovor Gott uns bewahre - wirklich geschehen sollte, so würde dieses Rußland gewiß ähnlich die westeuropäische, wie damals Rom die griechische Kultur, in sich aufnehmen und späteren Zeiten überliefern. Und dann möchte ein zukünftiger Historiker wohl auch einmal in diesem panslavistischen Staat ein politisches Wunderwerk erblicken, segenspendend, wie es kein anderer unserer Staaten vor und neben ihm gewesen ist. Ich aber muß im Voraus hiergegen protestieren. Ebensowenig kann ich aber dann EXNERs Hochpreisungen Roms in Bezug auf das Altertum gelten lassen; man sieht, hier urteilt kein unparteiischer Richter, hier spricht der Lehrer des römischen Rechts.

Doch lassen wir uns nicht von unserem Thema abbringen!

Es handelte sich uns darum, begreiflich zu machen, warum der Herr Rektor eine Auferstehung des in weiteren Kreisen erstorbenen philosophischen Interesses für ausgeschlossen hält, und ich sagte, daß dies wohl nur aus der eigentümlichen Art verständlich wird, wie er das Wissen allein nach dem Maß des praktischen Bedürfnisses schätzt. Ein praktisches Bedürfnis nach Philosophie wäre nämlich nach dem, was er Seite 55 ausführt, bei der größeren Menge in keiner Weise vorhanden. Sie hat den Arzt und seine Verordnungen, sie hat den Geistlichen und seine Predigt, und indem diese dann bei Gelegenheit die Leute zugleich über politische Fragen beraten, sind sie vollständig versorgt. Sie nennt er darum "die beiden Augen des Volkes in seiner großen Masse, welches durch sie die Welt der geistigen Dinge wahrnimmt". Der Philosoph, was wäre er da anderes als ein drittes Auge im Gesicht und ein fünftes Rad am Wagen? So hatte ann die allgemeine Teilnahme für philosophische Lehren wohl nie eine natürliche Berechtigung und ihr Erlöschen erscheint als ein Fortschritt, der, einmal getan, nicht rückgängig gemacht werden soll und kann.

Aber das Alles ist ja durchaus verwerflich. Sehen wir ab von der allgemeinen Macht des theoretischen Interesses und von jenem natürlichen Verlangen nach Wahrheit, welches für die hohen Fragen unserer Wissenschaft das allerlebendigste war, ist und sein wird: selbst unter einem rein praktischen Gesichtspunkt wird die Philosophie immer und immer wieder als dringliches Bedürfnis weitester Kreise empfunden werden.

Der Geistliche, der positive Theologe, sagt EXNER, sei eines der Augen des Volkesf. Er schreibt ihm hier einen Einfluß zu, von dem es fraglich ist, ob er ihn immer und überall besitzt und besitzen wird. Die Sanktion der positiven Religion ist heutzutage entschieden in Abnahme begriffen. Man mag dies, wie unter den Freidenkern der edle FECHNER es getan hat und wie ich selbst es tue, bedauern, aber man kann es darum nicht leugnen, oder auch nur praktisch ignorieren. Eine Kirche, an die das Volk nicht mehr wie früher glaubt, kann auch nicht mehr wie früher dafür sittliche Stütze sein. Und so hat dann in Frankreich, wo der Verfall des christlichen Glaubens am weitesten fortgeschritten ist, und z. B. der allgemein geehrte Präsident der Republik SADI CARNOT nicht einmal mehr die Taufe empfangen hat, sich die Notwendigkeit herausgestellt, einen rein philosophischen Unterricht in der Moral an den Volksschuen einzuführen (8). Das Gesetz über die Organisation der französischen Volksschule vom 28. März 1882 verlangt in diesem Sinn an erster Stelle: l'enseignement moral et civique [moralische und staatsbürgerliche Bildung - wp]; und eine Reihe von Lehrbüchern für elementare und höhere Schulklassen beweisen, daß dieses Gesetz bereits in die Praxis übergeführt worden ist. Wenn im 19. Jahrhundert so etwas in Frankreich nötig geworden ist, wäre es da nicht vermessen zu leugnen, daß im zwanzigsten Tage kommen könnten, wo ein derartiges Gesetz sich auch in unseren Landen als unentbehrlich herausstellen würde? Wer den so schwachgewordenen Glauben unseres heutigen Volkes (9) mit seiner Glaubensstärke im Mittelalter vergleicht, wird darin wenig Grund finden, die Frage zu verneinen.

Aber nehmen wir an, es gehe bei uns sicher alles einen anderen Weg; die Macht der christlichen Religionen über die Gemüter werde sich erhalten und wieder herstellen: so, sage ich, wird auch dann die Philosophie von höchster praktischer Bedeutung bleiben, indem sie, statt als irgendein denkbarer Ersatz, als Helferin der Theologie angerufen wird. Denn diese ist wie eine fürstliche Frau, die mannigfacher Dienerschaft bedarf. Sie bedarf als Dienerin der Geschichte, sie bedarf als solcher der Philologie, vor allem aber nimmt sie immer wieder die Dienstleistungen der Philosophie in Anspruch, die darum schon das Mittelalter vorzugsweise als die "ancilla theologiae" [Magd der Theologie - wp] zu bezeichnen liebte. (10)

EXNER verlangt die "Harmonie" der Weltanschauungen von Arzt und Geistlichem, indem der "Widerspruch zwischen den von ihnen entworfenen Weltbildern das Volk verwirrt". Er vermeint diese Harmonie durch politische Bildung herstellen zu können. Aber hat er da wirklich das geeignete Mittel bezeichnet? - Wahrhaftig nein! Offenbar tut etwas ganz Anderes dafür not. Denn nicht ob Föderalismus oder Zentralismus, Sozialismus oder Kapitalismus, sondern ob Theismus oder Materialismus, - das ist die Frage, deren gegensätzlicher Lösung den gewöhnlichen Zwiespalt zwischen Arzt und Geistlichem verschuldet. Wie also sollte das Studium der Politik ihre Weltanschauung genugsam einigen? - Ja nicht bloß dies muß bestritten werden; es scheint mir sehr fraglich, ob die Einigkeit zwischen ihnen auch nur in irgendeiner Beziehung größer würde, wenn unsere Ärzte und Geistlichen von heute an sich auf das Eifrigste mit Politik befassen würden. Je mehr Politik, finde ich, umso mehr politischer Dissens. (11)

Doch sehen wir für einen Augenblick von allem hier Gesagten ab und halten wir uns nur an das, was dem Herrn Rektor selbst unzweifelhaft ist, nämlich daß ein allgemeines Bedürfnis nach politischer Bildung immer bestehen bleibt. Ich frage, ist darin dann nicht wiederum enthalten, daß auch philosophische Bildung allezeit erforderlich sein wird? Sind es denn nicht psychologische Gesetze, die im Staat, die in der Gesellschaft walten? - Mir und den Allermeisten scheint dies einleuchtend. Ich bedaure aber, daß wir den Herrn Rektor hier nicht auf unserer Seite haben. Wir stoßen hier auf jene "wesenhaften Dinge" hinter der Summe des Einzelnen, für welche der Herr Rektor die Gemeinde und den Staat erklärt, während ich, ich bekenne es, von diesen metaphysiko-politischen Wesen nichts sehe, sei es daß sie wirklich nur im Geist einiger Juristen bestehen (12), sei es, daß mir, wie der Herr Rektor annehmen wird, "der politische Sinn" fehlt, der zu einer solchen Wahrnehmung nötig ist. Ich tröste mich damit, daß auch LEIBNIZ und ARISTOTELES, denen man doch die politische Einsicht nicht abzusprechen pflegt, sie nachweisbar ebensowenig gesehen haben. (13) Und ganz ausdrücklich sagt dieser auch, daß der Staat den Zweck hat, das Leben des Menschen möglichst edel und glückselig zu gestalten. (14)

Was übrigens hier das Richtigere ist, das sei dahingestellt; bleiben uns doch schon im früher Gesagten der Beweise genug, welche zeigen, daß die Philosophie am allerwenigsten darum, weil kein normales Bedürfnis nach ihr vorhanden wäre, auf Nimmerwiedersehen verschwunden sein kann.

Dieses Bedürfnis wird gerade heutzutage so lebhaft gefühlt, daß die Fachphilosophen ihm nicht zu genügen vermögen, und daß wir oft sehen, wie Naturforscher - HENLE, DUBOIS-REYMOND, HELMHOLTZ, TAIT, DARWIN, HUXLEY, BAER, HÄCKEL, HERING, MACH, ROKITANSKY - dem auch noch andere Namen unserer Hochschule zuzugesellen wären - und ebenso berühmte Juristen, wie z. B. JHERING und, wir sahen es, unser Herr Rektor selbst, vielfach in sie übergreifen.

9. Welches ist also das Ergebnis dieser ganzen Betrachtung?

Wie die philosophische Produktion der Gegenwart, mit jener der ersten Hälfte des Jahrhunderts verglichen, nicht im Verfall erschien, so ist auch das philosophische Interesse in ihr nicht erloschen oder auch nur geschwächt. Viel weniger ist Jemand berechtigt, es für etwas, was auf Nimmerwiedersehen verschwunden wäre, zu nehmen.

Über den ersten Punkt, der Einigen von uns Sorge machte, dürfen wir somit beruhigt sein.

10. Aber eine andere wichtige Frage bleibt uns zu erörtern. Haben Diejenigen recht, oder haben sie unrecht, welche heutzutage darauf ausgehen, die auf naturwissenschaftlichem Gebiet so glänzend bewährten Methoden auf Probleme der Geisteswissenschaft anzuwenden?

Ich war im Begriff, mir ein paar Gedanken hierfür zusammenzustellen, als der Brief eines Freundes aus München mich erreichte; und der Zufall wollte es, daß ich darin sogleich auf folgende Worte stieß: "Am Schluß des Winterkollegs der Geschichte der Philosophie", schreibt mir Professor STUMPF, "erwähnte ich diesmal, daß es nun ein Vierteljahrhundert her ist, daß Sie bei der Habilitation die These aufstellten: "Die wahre Methode der Philosophie ist die der Naturwissenschaften", und wie es sich seitdem immer mehr bewährt hat." "Diese These", fügt er bei "und was damit zusammenhing, war es auch, die MARTY und mich mit Begeisterung an Ihre Fahne fesselte."

So spricht ein namhafter, zeitgenössischer Forscher auf geisteswissenschaftlichem Gebiet. Unser Herr Rektor, wir sahen es, ist anderer Meinung und hat in seinem Vortrag sowohl im Allgemeinen, als insbesondere, was die sozialen Disziplinen betrifft, energisch dagegen protestiert. "In fast allen Zweigen der Geisteswissenschaft", klagt er Seite 45, "hat in unserem Jahrhundert eine widernatürliche ... Invasion naturwissenschaftlicher Denkformen Platz gegriffen"; in gewissen Fällen hat sie "gänzlich auf Abwege geführt", in anderen eine "wunderliche Verschrobenheit in der formalen Stoffbehandlung erzeugt", für die "Zopf" die würdigste Bezeichnung wäre.

Und was sind die Gründe?

Ich glaube sie mit wesentlicher Vollständigkeit in vier Momenten zusammenfassen zu können, von denen die beiden ersten deduktive Argumente sind, die beiden andern empirische Verifikationen bieten.

Erstens: Die Mechanik geht bis zu den Grundgesetzen der Natur zurück, sie leitet aus ihnen die sekundären Gesetze ab, und erklärt so die besonderen Erscheinungen.

Auf moralisch-sozialem Gebiet ist so etwas unmöglich die Phänomene sind hier unendlich feiner und tiefer verzweigt: die unabsehbar vielfältigen Voraussetzungen sind nicht vollständig erkennbar, geschweige, daß jede einzelne einer exakten Maßbestimmung unterworfen werden könnte. Wer also nach Art jener Naturforscher vorgehen will, kommt notwendig zu keinem oder zu einem ganz irrigen Resultat.

Zweitens: Die moralisch-sozialen Erscheinungen sind geschichtliche Erscheinungen; die der Mechanik sind es nicht. "Die Mechanik kennt weder Vergangenheit noch Zukunft." Somit muß die Methode hier und dort ganz verschieden sein. Die wahre soziale Methode ist im Gegensatz zur mechanisch-naturwissenschaftlihen, die "historisch-politische".

So die zwei deduktiven Argumente.

Zu ihnen kommt, wie gesagt, eine doppelte Verifikation durch direkte Empirie.

Die eine liegt im geschichtlichen Zusammentreffen von höchster naturwissenschaftlicher Bildung mit tiefster politischer Unbildung, sowie von hoher politischer Bildung mit dem äußersten Tiefstand der Naturwissenschaft. Für jenes gibt das 18. Jahrhundert einen schlagenden Beleg, welches, sagt EXNER, den Höhepunkt seines Aufschwungs der exakten Naturwissenschaften zugleich mit dem tiefsten Tiefstand politischen Elends zeigt. Er erinnert an "die Dekrete des französischen Nationalkonvents", "dessen Mitglieder doch für politisch möglich halten mußten, was sie mit Gesetzeskraft befahlen". Für dieses findet er ihn im alten Rom. "Die Römer ... haben keinen mathematischen Lehrsatz aufgestellt und kein Naturgesetz entdeckt", sie haben aber eine unerhörte politische Macht zu folgerechter Entwicklung gebracht" und die großartigsten "politischen Traditionen geschaffen".

So lautet die erste Verifikation.

Noch entscheidender scheint ihm die zweite. Nicht bloß Gleichzeitigkeit zwischen höchsten naturwissenschaftlichen Aufschwung und tiefstem Verfall politischer Bildung ist, was wir im 18. Jahrhundert in Frankreich finden, sondern wir bemerken geradezu den verderblichen Einfluß, den die naturwissenschaftliche Denkweise damals auf politischem Gebiet ausübte. Der Historiker HYPPOLYTE TAINE hat jüngst den kausalen Zusammenhang überzeugend dargelegt; und auch Verirrungen der Gegenwart auf geistesgeschichtlichem Gebiet tragen deutlich das Zeichen einer solchen Herkunft an sich.

So läge also alles Heil in der Ablehnung des Gedankens, die Naturwissenschaft auf geisteswissenschaftlichem Gebiet methodisch zum Vorbild zu nehmen.

Das dürften in wesentlicher Vollständigkeit die Gründe des Herrn Rektor sein. Wir müssen sie der Reihe nach prüfen.

11. Die Mechanik, sagt uns EXNER, geht auf Grundgesetze zurück und erklärt aus ihnen deduktiv die besonderen Erscheinungen. Bei den moralisch-politischen Phänomenen ist ein solches Verfahren unmöglich. Die feinen, unendlich verwickelten Voraussetzungen sind weder vollzählig erkennbar, noch im Einzelnen meßbar. Wer also hier nach Art des Naturforschers vorgehen will, verfehlt sein Ziel.

Unstreitig sagt uns der Redner hier viel Wahres. Aber indem ich dies beifällig anerkenne, muß ich zugleich auf ein Übersehen aufmerksam machen, welches den Schluß seiner Gültigkeit beraubt. Dieses Übersehen ist sehr merkwürdig: EXNER spricht, als ob nicht auch auf dem Gebiet der Natur feine und unendlich verwickelte Erscheinungen vorkämen; Erscheinungen, bei denen teils die mangelhafte Kenntnis der Vorbedingungen, teils die ins Unendliche wachsende Schwierigkeit der Berechnung jeden Versuch einer Ableitung aus den mechanischen Grundgesetzen vereiteln würde. und doch finden wir solche in reichster Fülle; ja in ganzen Zweigen der Naturwissenschaft sind alle Phänomene ausnahmslos von dieser Art.

Betrachten wir den folgenden Fall: Ein Würfel von gleichmäßiger Dichte ist auch sonst regelmäßig gebaut, nur auf einer Seite etwas schief geschnitten: man will bestimmen, mit welcher Leichtigkeit bei einer solchen Gestalt jede einzelne Seite getroffen wird. Dieses verhältnismäßig einfache Problem, mit genau bestimmten Daten, erweist sich bereits als so verwickeltf, daß die Mittel unserer heutigen Mathematik zur Berechnung nicht ausreichen. Was also tun? Etwa die Frage als schlechthin unlösbar aufgeben? - Keineswegs! Der Naturforscher paßt sich den Verhältnissen an und greift zum bescheideneren Verfahren der direkten Induktion. Er würfelt und würfelt wieder und bestimmt so, nach dem Gesetz der großen Zahlen, die gesuchte Unbekannte mit einer ins Unendliche wachsenden Sicherheit und Genauigkeit.

Nehmen wir eine andere, ungleich verwickeltere Aufgabe. Es handelt sich darum, das spezielle Gesetz zu bestimmen, nach welchem bei einer gewissen Bucht, infolge der besonderen Uferbildung, Ebbe und Flut verlaufen. Die Vorbedingungen sind hier unendlich mannigfach und weder unsere Kenntnis von ihnen, noch unsere mathematische Kunst ist irgendwie zur Analyse ausreichend. Die direkte Erfahrung entscheidet.

Dasselbe finden wir im ganzen weiten Reich der Meteorologie. Wer könnte hier die Ursachen so, wie es zu einer deduktiven Behandlung der Erscheinungen nötig wäre, ermessen? Und abermals, ja mehr noch gilt das auch bei den Erscheinungen der Kristallisation. Verschiedene Stoffe kristallisieren nach verschiedenen Gesetzen, und auch derselbe zeigt unter verschiedenen Verhältnissen eine Kristallbildung nach völlig verschiedenen Systeme. Bei Schwefel, Phosphor, Kohlenstoff ist dies z. B. der Fall. Kristalle, so verschieden wie Graphit und Diamant, sind beide aus reinem Kohlenstoff gebildet. Wir wissen dies erfahrungsgemäß; eine Ableitung aus der Natur der Elemente überstiege, wie jeder Chemiker und Mineraloge weiß, weitaus unsere Kenntnis und Kraft.

Und wie nun erst auf dem Gebiet der lebendigen Natur, wo schon die einfachste Zelle etwas unvergleichlich Künstlicheres und in seinen Funktionen Rätselhafteres ist, als die durchgebildetsten kristallinischen Formationen! Wir sind überzeugt, daß hier physikalisch-chemische Gesetze die Unterlage bilden, aber wir vermögen nicht den Aufbau der Zelle durch sie zu begreifen; und wie nun gar sollte einer, bei der Wechselwirkung unzähliger Teile des Organismus unter sich und mit der Außenwelt, dieses ganze Getriebe aus seinen ersten Ursachen deduktiv zu erklären imstande sein? Der Physiologe bestimmt empirisch die gesetzmäßigen Stadien embryonaler Entwicklung und des jungedkräftigen Erblühens und des greisenhaften Verfalls. Der Morphologe zeigt uns empirisch die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen der Änderung eines und aller anderen Organe. Der Zoologe erzählt uns, daß alle weißen Katzen mit blauen Augen taub sind; er bewahrheitet das Gesetz empirisch, ohne es deduktiv von höheren Prinzipien aus voraussehen oder auch nur nachträglich erklären zu können. Der Ethnologe verzeichnet die Änderungen, welche bei der weißen Rasse schon heute, nach wenigen Jahrhunderten, im östlichen Nordamerika zutage treten; er beschreibt uns den Wandel der Gesichtsfarbe, das Kleinerwerden der Hände und Füße, das Durchdringendere im Blick der gleichfalls verkleinerten Augen - lauter Umbildungen, welche die eingewanderte weiße Rasse der eingeborenen roten annähern -: er ermittelt empirisch, daß die Ursachen klimatische Einflüsse sind, die nicht ebenso in den westlichen Teilen, wie z. B. in Kalifornien, bestehen: aber dabei irgendetwas aus den Grundgesetzen der physikalisch-chemischen Urbedingungen abzuleiten, kommt ihm nicht in den Sinn. Auch ist der biologische Forscher vollauf bewußt, daß seine Gesetze, wie nicht die Würde, so auch nicht die Genauigkeit vollanalysierter Lehrsätze haben. Der Pathologe weiß, daß kein Krankheitsfall dem andern gleich ist und so bekannt ist der unanalysierbare Einfluß der individuellen Konstitution, daß man allgemein am liebsten den durch direkte Erfahrung länger mit ihr vertrauten Arzt zu Hilfe ruft.

Die Naturwissenschaft verlangt also keineswegs, wie das Argument voraussetzt, daß wir überall gleichmäßig und so, wie in den einfachsten Fällen der Mechanik, vorgehen sollen. Im Gegenteil, sie unterweist uns und übt uns darauf ein, der besonderen Natur der Gegenstände entsprechend unser Verfahren zu ändern und unsere Ansprüche bald zu steigern, bald herabzustimmen, um dort den volleren Erfolg zu erzielen, hier, auf das Unmögliche verzichtend, das wissenschaftlich Mögliche glücklich zu erreichen.

Die mathematische Analyse, die auf manchen Gebieten der Naturwissenschaft das hauptsächliche Mittel des Fortschritts ist, spielt darum bekanntlich auf anderen so gut wie gar keine Rolle; und so konnte es geschehen, daß große und geniale Entdecker sehr wenig von ihr verstanden haben. BENJAMIN FRANKLIN und DARWIN erzählen uns in ihren durch Aufrichtigkeit mustergültigen Selbstbiographien von ihrem sehr bescheidenen mathematischen Talent, und HÄCKEL rühmt sich geradezu, daß er nicht einmal den pythagoreischen Lehrsatz beweisen kann.

Wenn dem nun so ist, wie könnte etwas anderes rascher und überzeugender, als der Blick auf die Naturwissenschaft erkennen lassen, wie wir bei jenen hochentwickelten Erscheinungen, welche die Geisteswissenschaft begreift, naturgemäß zu verfahren haben werden? - Wir sehen von dem, was der Herr Rektor besorgt, dürfen wir das gerade Gegenteil erwarten.

Soviel vom ersten Argument, bei dem wir ob seiner Wichtigkeit etwas länger verweilten. Das zweite dürfte sich daraufhin mit kürzeren Worten erledigen lassen.

12. Die Soziologie, sagt EXNER, hat es, im Unterschied von der Mechanik, mit geschichtlichen Erscheinungen zu tun; so muß auch ihre Methode, im Unterschied von der mechanisch-naturwissenschaftlichen die historisch-politische sein.

Dieses Argument hat, losgelöst vom früheren, gar keine Kraft und Bedeutung; es würde zu einer reinen petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] werden. Denn nicht darum kann es sich handeln, ob in der Soziologie gleichartige oder andersartige Probleme wie in der Naturwissenschaft erforscht werden sollen, sondern darum, ob trotz der Verschiedenartigkeit der Fragen ein analoges Verfahren erfolgreich sein könnte. Dieses von vornherein leugnen, hieße eben das fordern, wofür der Beweis obliegt. So könnten wir, nach der Widerlegung des früheren Grundes, von diesem ganz und gar Umgang nehmen.

Doch ich will es nicht unterlassen, noch im Besonderen zu bemerken, daß der geschichtliche Charakter, den gewisse Erscheinungen vor anderen tragen, gewiß nicht das ist, was die Gebiete der Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft trennt. EXNER erwähnt selbst, was die Geisteswissenschaft betrifft, hier nur die sozialen Phänomene als historische. Was aber die Naturwissenschaft anlangt, so ist es mir höchst auffallend, wie er bezweifeln kann, daß auch sie sich in weitem Umfang mit geschichtlichen Erscheinungen befaßt.

EXNER sagt: "Die Mechanik kennt weder Vergangenheit noch Zukunft." Ich werde darauf nicht antworten, daß dies schon darum nicht richtig sein kann, weil jede Bewegung in einer Zeitfolge von Momenten verläuft; denn dies hieße gewiß seine Meinung mißdeuten. Gestehen wir vielmehr, was er von der Mechanik sagt, willig zu, ohne daran zu nörgeln. Aber was gilt denn von der Embryologie und der Betrachtung verschiedener Stadien der Ausbildung vom Ei zum vollentwickelten Organismus? Was gilt vom Studium der Lebensalter und ihrer beträchtlich verschiedenen Dispositionen? Was gilt vom Krankheitsverlauf im einzelnen Fall, und was von den Änderungen des Charakters einer Epidemie bei ihrer Wiederkehr? Haben diese Phänomene nichts von einem geschichtlichen Charakter an sich? Was ferner soll man sagen von der Kosmogonie und dem Gesetz der Entropie und den Verheißungen, die THOMSON und HELMHOLTZ für das Weltall daran knüpfen? Was von der Geologie und den Gesetzen, die LYELL und andere hier feststellen? Was von Paläontologie der Pflanzen- und Tierwelt, zumal seit die Abstammungslehre an die Stelle von CUVIERs Revolutionen die Kontinuität der Entwicklung gesetzt hat? - Ich weiß eine Antwort, außer etwa die, daß dem Herrn Rektor die Mechanik so vornehmlich imponiert zu haben scheint, daß ihm alles andere in der Naturwissenschaft neben ihr verschwindet. So bemerken wir also hier auf das Deutlichste dasselbe Übersehen, welches schon das vorige Argument ungültig machte.

13. Wenden wir uns jetzt zu den beiden Verifikationen.

Die erste wollte EXNER in einem geschichtlichen Zusammentreffen höchster naturwissenschaftlicher Bildung mit tiefster politischer Unbildung, sowie fortgeschrittenster politischer Bildung mit einem äußerst zurückgebliebenem Zustand der Naturwissenschaft aufweisen. Offenbar meint er, dieses Zusammentreffen kann nicht ohne die größte Unwahrscheinlichkeit als etwas Zufälliges betrachtet werden; vielmehr müsse man darin eine Folge der von ihm behaupteten Verschiedenheit naturwissenschaftlicher und sozialpolitischer Methode erkennen, indem die auf dem einen Gebiet angenommenen Denkgewohnheiten sich auf dem anderen als nachteilig erweisen.

Aber hier ist gar Vieles, was uns hindert, sein Argument irgendwie als vollwichtig gelten zu lassen.

Vor allem, wenn das Zusammentreffen hoher naturwissenschaftlicher und niedriger politischer Bildung und umgekehrt durchgängig in der Geschichte beobachtet würde, so würde dies allerdings etwas Auffallendes sein und Vermutungen wie die des Herrn Rektor nahe legen; anders wenn Fälle eines solchen Zusammentreffens sich nur vereinzelt in der Geschichte zeigen. Es wird also darauf ankommen, ob uns der Herr Rektor die Gesetzmäßigkeit des Zusammentreffens in einer weitgreifenden, gewissenhaft durchgeführten Induktion darzulegen vermocht hat. Aber siehe da! er gibt uns für jede der beiden Seiten nicht mehr als ein einziges Beispiel, hier das 18. Jahrhundert, dort das alte Rom. Und wenn wir nun, was er versäumt hat, nachzuholen versuchen, so stößt unsere Induktion sofort und sozusagen beim ersten Schritt auf eine instantia contradictoria [widersprüchliche Instanz - wp], wie, wenn wir finden, daß das moderne England gleichzeitig durch naturwissenschaftliche und politische Bildung andere Länder überstrahlt. Ja nicht bloß in ein und demselben Volk, sogar in ein und derselben Person finden wir oft der eminenten Befähigung für naturwissenschaftliche Forschung eine hohe politische Einsicht gesellt, sodaß sich uns vielmehr der Gedanke einer Verwandtschaft des Verfahrens hier und dort mit einer kaum abzuwehrenden Macht aufdrängt. PASCAL, der geniale Mathematiker und Physiker, tut in seinen Pensées oft überraschend tiefe Blicke in moralisch-soziale, wie überhaupt in geisteswissenschaftliche Fragen. LEIBNIZ, der in der Mechanik die Maßformel der lebendigen Kraft bestimmt, ist zugleich der aufgeklärteste Politiker seiner Zeit, und zwar so, daß er nicht bloß Vergangenheit und Gegenwart am Besten beurteilt, sondern auch als politischer Prophet in die Zukunft schaut und unter anderem die große Revolution vorverkündet. FRANKLIN, dem wir den Blitzableiter verdanken, übernimmt die erfolgreichsten diplomatischen Missionen und wird einer der hauptsächlichen Begründer der nordamerikanischen Union. Was sollen dem gegenüber ein paar vereinzelt herausgerissene Fälle?

Ja diese können umso weniger etwas beweisen, als sie selbst, jeder in seiner Art, beträchtlichen Bedenken unterliegen.

Nehmen wir den Fall der Römer. Es ist gewiß richtig, wenn der Herr Rektor sagt, daß die alten Römer weniger als andere antike Völker, wie namentlich die Griechen, in der Naturwissenschaft geleistet haben; weder einen Biologen wie ARISTOTELES, noch einen Physiker wie ARCHIMEDES haben sie hervorgebracht. Daß sie aber als Forscher auf sozialem Gebiet so überragend groß gewesen sind, aß sie hier Denker erzeugt habe, welche die großen politischen Denker Griechenlands, wie z. B. unter den praktischen Politikern einen PERIKLES, unter den Schriftstellern einen ARISTOTELES übertroffen haben, das wird mir niemand so leicht glauben machen. EXNER meint die Römer als ein unerreichtes Musterbild politischer Bildung hinstellen zu können, weil sie, wie kein anderes Volk, ein Weltreich gründeten, welches sich die ganze gebildete Erde und mit ihr weite Barbarenländer unterwarf und Jahrhunderte lang sich in seiner Macht behauptete. Beides ist unleugbarf; Rom hat seine Herrschaft riesig ausgedehnt und so fest begründet, daß man schon an einen ewigen Fortbestand zu glauben wagte. Wenn man nun so, wie EXNER es tut, jeden Staat als Selbstzweck betrachtet, und darum auch vielleicht in Wachstum und Selbsterhaltung die wesentliche Aufgabe des Staates sieht, so hat diese der römische Staat unleugbar vollkommener als andere, und insbesondere als irgendeiner der griechischen Staaten gelöst. Gerade hierin aber bin ich, und sind glücklicherweise die Allermeisten durchaus anderer Meinung. Und wir glauben den Staat nicht zu erniedrigen, wenn wir vielmehr in der Beglückung und Vervollkommnung der eigenen Bürger und in dem Segen, welcher weiteren Kreisen, der Mitwelt und der fernsten Zukunft, aus dem Bestand des Staates fließt, die wahre und volle Aufgabe desselben erblicken.

Mit diesem Maßstab gemessen, wie weit ist dann das alte römische Reich, auch in der Zeit seiner höchsten Blüte, davon entfernt gewesen, als das Ideal eines Staates gelten zu können! Wieder und wieder sehen wir es in die blutigsten Kriege nach außen oder in noch schrecklichere Bürgerkriege verwickelt; ungerecht, habgierig, treubrüchig, intolerant in der grausamst tyrannischen Weise, war es ein Fluch der Menschheit und vielen der Edelsten ein Greuel.

Wo in einem Staat die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, wie sie sein sollen, da werden sie dem Emporblühen der höchsten geistigen Bestrebungen günstig sein; die freudige Entfaltung der Wissenschaft und Kunst ist also als natürliche Folge zu erwarten. Der Herr Rektor erkennt aber selbst an, daß diese im römischen Staat nur zu gerigner Vollkommenheit gediehen sind. Rom hat die Bildung der glücklicher zivilisierten hellenischen Staaten verschlungen, wie die mageren Kühe im Traum des Pharao die fetten verschlangen, ohne selbst davon fett zu werden. Wer unter solchen Umständen, bloß um der größeren Ausdehnung und Kraft und um des zäheren Bestandes willen, das römische Reich über die Republik Athen erheben wollte, der würde mit ähnlichem Recht auch den Organismus eines Haifisches über den eines Menschen stellen können.

Das andere Beispiel, welches uns die Kehrseite der Münze zeigen soll, entnimmt EXNER dem 18. Jahrhundert. Er sagt uns, daß der Höhepunkt des naturwissenschaftlichen Aufschwungs sich hier mit dem tiefsten Stand politischer Bildung vereinigt zeigt. Aber auch da scheinen mir die Tatsachen und zwar in jeder der beiden Beziehungen, mit seiner Schilderung nicht ganz übereinzustimmen.

EXNER spricht dem 18. Jahrhundert jede höhere politische Bildung ab. Hat er wohl, als er dies sagte, an LEIBNIZ, hat er an FRIEDRICH den Großen (15), hat er an ADAM SMITH, hat er an BURKE (16), hat er an WASHINGTON gedacht? - Es scheint vielmehr, daß er nur auf Europa und in ihm auf Frankreich am Ausgang des Jahrhunderts achtete. Aber auch hier wie parteiisch unvollständig sind nicht seine Berichte! Er erwähnt die Dekrete des Nationalkonvents in denen sich freilich oft wenig politische Weisheit kundgab. Aber ist es nicht ungerecht, danach die ganze damalige Gesellschaft beurteilen zu wollen? (17) Man denke in dem von ihm gepriesenen alten Rom den Pöbel, in aufgeregter Zeit, plötzlich mit souveräner Macht in Händen, würde er sie wohl mit großer politischer Einsicht zu verwalten gewußt haben? (18) Und hat dieselbe, oder doch eine um ein Geringeres spätere Zeit in Frankreich auch den Code Napoléon geschaffen, ein Gesetzbuch, welches die Juristen zwar viel bemängelt, die Völker aber alsbald so ins Herz geschlossen haben, daß man nach der Befreiung des Rheinlands es nicht zu beseitigen wagte? Und hat sie nicht zuerst jene soziale Frage gestellt, welche im 19. Jahrhundert eine wachsende Bedeutung erlangte und, wie der Herr Rektor meint, die vornehmste Frage des 20. Jahrhunderts werden wird? - Wer hierin Fortschritte sieht, der muß auch die Anregung der Frage selbst als einen großen Schritt vorwärts in der politischen Bildung anerkennen; und das 18. Jahrhundert hat diese Schritt gerade in Frankreich getan.

Das also nach der einen Seite.

Nach der anderen aber muß ich - und jeder Naturforscher wird mir hier zustimmen - dem Herrn Rektor ebenso oder noch entschiedener widersprechen; er hat unter einem naturwissenschaftlichen Gesichtspunkt ungerecht erniedrigt hat. Wie, das 18. Jahrhundert soll die Zeit des höchsten Aufschwungs der Naturwissenschaft gewesen sein? Das 18. Jahrhundert, das in der Physik noch nichts von der mechanischen Wärmelehre kannte, von der Chemie nur die ersten Anfänge sah und die Gründung einer wissenschaftlichen Physiologie gar nicht erlebte ? (19) Das 18. Jahrhundert, wo die Geologie ein Märchen war, (20) das erst LYELL durch geschichtliche Wahrheit ersetzte? und wo Botanik und Zoologie, ohne wahrhaft wissenschaftliche Systeme (21) und ohne das belebende Prinzip der Evolution (22), die Schwelle des mannbaren Alters noch nicht überschritten hatten? - Wir, im Besitz all dieser Errungenschaften 19. Jahrhunderts, möchten hier kaum unseren Ohren trauen.

Also weder Rom noch das 18. Jahrhundert hat der Herr Rektor uns irgendwie mit genügender Treue gezeichnet; und wer dies und alles früher Gesagte überdenkt, wird unmöglich mehr dieser ersten Verifikation eine wahre Bedeutung zuzuerkennen vermögen.

14. Aber auch der zweite Versuch einer empirischen Bewährung, den EXNER macht, erscheint nach der zuletzt gegebenen Berichtigung hinfällig.

EXNER glaubt im 18. Jahrhundert nicht bloß den höchsten Aufschwung der Naturwissenschaft mit dem tiefsten Verfall politischer Bildung gleichzeitig gegeben, er meint, daß sich der schädigende Einfluß der naturwissenschaftlichen Denkweise in den politischen Verirrungen jener Zeit sichtbar erkennen läßt. Der politische Rationalismus, sagte er, habe auch nach absoluten Lösungen der Aufgaben gestrebt, weil er gesehen hat, daß Mathematik und Mechanik solche schlechthin allgemeingültige Lösungen suchten; das aber war der vor allem anderen unheilbringende Wahn.

Die Antwort hierauf ist sehr einfach.

Wir können das, was EXNER sagt, zugestehen, ohne im Geringsten seine weiteren Konsequenzen zuzulassen und von unserer Überzeugung abzugehen, daß die wahre Methode der Geisteswissenschaft, und insbesondere auch die der Politik und Soziologie, in nichts anderem als in einem Verfahren nach Analogie der Naturwissenschaft liegen kann. Nicht daß das 18. Jahrhundert so etwas wollte, war der Fehler, sondern daß es, indem es solches wollte, es nicht wirklich tat. Dasselbe Übersehen, dessen, in einer heute etwas schwer begreiflichen Weise, der Herr Rektor sich schuldig machte, das konnte viel leichter von den Politikern begangen werden; und gar manche mögen ihm wirklich verfallen sein, indem sie neben der dazumal allein vollentwickelten Mechanik die anderen naturwissenschaftlichen Wissenszweige nicht beachteten, um durch die über das Verhalten bei Fällen von hoher Verwicklung und unvollkommener Kenntnis der Vorbedingungen belehrt zu werden. Also nicht der Umstand, daß damals die höchste Höhe naturwissenschaftlichen Aufschwungs erreicht wurde, sondern der, daß die Naturwissenschaft damals von einem solchen Höhepunkt noch allzuweit entfernt war, macht jene Mißgriffe verständlich. Und somit ist es klar, daß man nicht das geringste Recht hat, an die damals eingetretenen Mißstände die Besorgnis zu knüpfen, daß auch heute der Soziologe irregehen wird, der in einem Verfahren nach dem Vorbild der Naturforschung sein Heil sucht.

15. Oder stiftet dennoch das Forschen nach einer naturwissenschaftlichen Methode auf moralisch-politischem Gebiet sichtlich auch heute Schaden und Verwirrung? - EXNER behauptet es, ohne es aber, zumindest was die deutsche Wissenschaft betrifft, anders als durch Beispiele jener, wie er sagt, "verschrobenen" Ausdrucksweise zu belegen, die er als "Zopf" bezeichnet, und die wesentlich darin besteht, daß man gewisse in der Naturwissenschaft gebräuchliche Termini in der Benennung politischer Phänomene nachahmt.

Dieser Zopf ist er denn aber etwas gar so Schlimmes, gar so Verdammenswertes? - Ich glaube kaum, und möchte mich sogar anheischig machen, etwas Ähnliches wie diesen "Zopf", wenn wir einmal den Namen gelten lassen wollen, schon beim geschmackvollen PLATON und dem in seinen Terminis wählerischen ARISTOTELES nachzuweisen. Ja EXNER selbst - so sehr ist die Übertragung gewisser Ausdrücke vom physiologigschen auf das politische Gebiet nahegelegt - verfällt in seiner Sprechweise unwillkürlich ein wenig in den von ihm verpönten Zopfstil, wenn er Seite 24 sagt, wir fühlen uns "als ein lebendiges Atom im Leib des siegenden oder fallenden, gesunden oder kranken, vor- oder rückwärtsschreitenden Ganzen" - nämlich des Vaterlandes. (23) Und so ist es dann gewiß auch das größte Unglück nicht, wenn SCHAEFFLE in einem anerkannt bedeutenden Werk vom "Bau und Leben des sozialen Körpers" die technische Terminologie physiologischer Systeme benützt; abgesehen davon, daß es dem Herrn Rektor zu einigen recht artigen Scherzen Gelegenheit bietet.

16. So wären wir dann auch in Anbetracht des zweiten Punktes zu einem uns beruhigenden Ergebnis gelangt. Bleiben wir nur unserer Überzeugung und der Überzeugung der philosophischen Gegenwart treu, daß nur ein Verfahren nach Analogie der Naturwissenschaft der Geisteswissenschaft zum Heil gereichen kann! Das goldene Zeitalter der Philosophie, welches der Herr Rektor hinter uns gelegen glaubte, wird dann vielmehr vor uns liegen, und die Zukunft wirkliche Lösungen von Fragen geben, über welche jene "klassische Zeit" nur in arrogantester Weise abzusprechen wußte. Die Ausführungen der Rede enthalten nach den Erörterungen, in welche wir eingegangen sind, sicher nichts, was geeignet wäre, unser Vertrauen zu erschüttern.

Ja noch mehr; ich darf sagen, daß sie, genau betrachtet, eine Bekräftigung dafür sind. Denn mit Befriedigung werden Sie bereits erkannt haben, was ich aber doch auch noch ausdrücklich hervorzuheben verpflichtet bin, daß der ausgezeichnete Gelehrte, dem ich mehrfach entgegentreten mußte, im Grunde genommen die naturwissenschaftliche Forschungsweise auf dem Gebiet der Geisteswissenschaft selbst wesentlich für die richtige hält.

Hören Sie insbesondere noch folgende schöne Stelle:
    "Hier (auf moralisch-politischem Gebiet) wie auf jedem Gebiet menschlicher Erkenntnis", sagt er Seite 35, "kommt es auf die Kausalzusammenhänge an, die nur mittels methodischer Beobachtung des wirklichen Geschehens erkannt werden; einer Beobachtung, die freilich auf diesem Gebiet ihre besonderen Schwierigkeiten hat, wegen der Übersinnlichkeit der Objekte, wegen der Unmöglichkeit, die Erscheinungen durch das Experiment zu isolieren, wegen des weiten Abstandes von Ursachen und Wirkungen." -
Welcher Anhänger unserer Richtung könnte hier nicht jedes Wort unterschreiben? (24) Wenn EXNER trotzdem die naturwissenschaftliche Methode verwirft, so kommt dies daher, weil er mit dem Namen speziell das Verfahren auf dem Gebiet der rationalen Mechanik bezeichnet. So haben wir zunächst einen Streit nur im Wort, obwohl ich nicht leugnen kann, daß die ungewöhnliche, und wohl darum auch unpassende, Ausdrucksweise im Verlauf zu fachlich irrigen Konsequenzen verleitet. Prinzipiell aber sind und bleiben wir eigentlich einig.

17.Und wenn ich mich hierüber freue, so kann ich von dem vielen Trefflichen, was die inhaltsreiche Rede umschließt, noch ein anderes Moment nicht unerwähnt lassen, nämlich daß Seine Magnifizienz in einer in unseren Tagen nicht eben gewöhnlichen Weise ihre Überzeugung vom besonderen Adel der Philosophie zu erkennen gibt. Von den ersten Dezennien des Jahrhunderts, sagt der Herr Rektor, daß damals alles nach philosophischer Bildung verlangte; und so habe sich in jenen Zeiten insbesondere auch "jeder Student, mochte er sonst Theologe, Jurist, Mediziner usw. sein, vor allem in den tonangebenden Kollegien sein Teil an philosophischer Bildung" geholt. "Das", sagt er, "ist dahin". Dann aber fügt er die Worte bei: "Aber muß und darf der Thron leer bleiben, von dem eine Königin herabstiegt?" Diese Frage erscheint beim ersten Blick befremdend, ja wie ein Widerspruch. Denn von der Jetztzeit, wie wir uns erinnern, hatte er uns nicht gesagt, daß sie eines einheitlich dominierenden wissenschaftlichen Interesses entbehrt, sondern daß alles in ihr, selbst die bürgerliche Hausfrau, nach naturwissenschaftlicher Bildung lechzt. Man sollte also vielmehr erwarten, EXNER werde sagen: "Aber von dem Thron von dem eine Königin herabstieg, hat bereits, als eine andere Königin, die Naturwissenschaft Besitz ergriffen." Nein! der Thron erscheint ihm leer. Um unter den wissenschaftlichen Disziplinen an der Universität als Königin geehrt zu werden, dazu genügt ihm offenbar nicht die allgemeine Teilnahme, die eine Wissenschaft findet; es muß noch eine andere Bedingung erfüllt sein, welche nicht wohl in etwas anderem als in der besonderen Würde bestehen kann, die der Gegenstand ihr verleiht. Nur eine Geisteswissenschaft, meint er, könne darum rechtmäßige Königin der Wissenschaft genannt werden. Und so meldet er seine "politische Wissenschaft" als etwaige Erbin der Philosophie, der sichtlich hier, wegen des hohen, königlichen Adels ihrer Bestrebungen, eine Huldigung gebracht wird, die der Redner selbst der hochangesehenen Naturwissenschaft zu bringen sich weigert.

Mit diesem Gefühl für die überragende Würde unserer Wissenschaft können wir nicht anders als auf das Lebhafteste zu sympathisieren. Es beruth auf Wahrheit. Und diese Wahrheit bleibt, auch wenn manches andere, was die gedankenreiche Rede aussprach sich uns als weniger haltbar erwiesen hat.

Möge sich auch die Prophezeiung von der hohen politischen Bildung des kommenden Jahrhunderts bewähren! Darin läge, beim Zusammenhang, der nach meiner Überzeugung zwischen der Politik und den anderen, und insbesondere den theoretischen Geisteswissenschaften besteht, beschlossen, daß die Philosophie im 20. Jahrhundert nicht bloß als theoretische Königin wieder mächtiger das Zepter führen, sondern auch eine praktische Herrschaft gewinnen wird, wie sie selbst vergangene Jahrhunderte noch niemals geschaut haben.
LITERATUR: Franz Brentano, Über die Zukunft der Philosophie, Wien 1893
    Anmerkungen
    5) Daß dem so ist, dürften ihm Wenige zugeben, ich jedoch will es dahingestellt sein lassen.
    6) Hiermit stimmt es, wenn er, wie wir schon oben hörten, den Intellekt und das Wissen nicht zu dem rechnet, was als solches dem Menschen einen höheren Wert verleiht. Das Gegenteil ergibt sich aus Betrachtungen wie die in meiner Abhandlung "Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis" (§§ 27 und 32).
    7) einer keineswegs so, wie EXNER sagt, schwierig zu popularisierenden Lehre.
    8) Es wurde mir dies von einem geistlichen Würdenträger mitgeteilt.
    9) Man sehe, wie leicht die irreligiöse Propaganda der Sozialistenführer die Arbeiterkreise gewinnt, und wie die Päpste selbst die schwersten Übelstände unserer Zeit überall mit dem Verfall des Glaubens in Zusammenhang bringen.
    10) Die Theologen bilden und bildeten immer einen verhältnismäßig kleinen Teil der Gläubigen. Daher ist für das Verlangen der Kirche nach möglichst allgemeiner Teilnahme an philosophischer Erkenntnis, mehr noch als das Prädikat "ancilla theologiae" für die Philosophie, das Attribut "praeambula fidei" [Einleitung des Glaubensbekenntnisses - wp] bezeichnend, das sie ebenfalls schon im Mittelalter gewissen philosophischen Theoremen gegeben hat. Sie dürfte kaum auf EXNERs Stimme hören, wenn er ihr raten sollte, dieselben durch politische Betrachtungen zu ersetzen.
    11) Die Wahrheit ist nur eine, aber einen chimärischen Utopisten könnte es nicht geben, als den der glaubt, daß ein energisches Studium der Politik Alle sofort in der Wahrheit einigen wird. EXNER weist selbst auf das Übermaß der Schwierigkeit hin, die sich aus einem vielfachen Grund gerade hier für den Beobachter ergibt. Und wenn er noch immer ein nüchterner Beobachter wäre! aber für Nichts wird ein solcher seltener als für politische Erscheinungen gefunden.
    12) wohl als Nachklang einer schelling-hegelschen Lehre (vgl. auch SCHELLINGs "Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums", 1803).
    13) Der Staat ist für ARISTOTELES kein Reales, kein on [Sein - wp] im Sinne einer der Kategorien, weder eine Substanz, noch eine Akzidenz [Eigenschaft - wp]. Denn nichts aktuell Reales setzt sich nach seiner ausdrücklichen Lehre aus aktuell Realem zusammen; der Staat aber ist ihm die Gemeinschaft der Familien und Gemeinden um eines vollendeten und glücklichen Lebens willen (Politik III 9, vgl. I. 1, 1252, a 17). - - - Daß ARISTOTELES den Staat als etwas von der Natur Beabsichtigtes bezeichnet, steht damit nicht im Widerspruch. Auch das Weltall, und vor allem dieses, gilt ARISTOTELES als Zweck der Natur, aber darum wahrhaftig nicht als ein "wesenhaftes" Ding (vgl. EXNER, a. a. O., Seite 33) hinter der Summe des Einzelnen (vgl. a. a. O. Seite 34) vielmehr offenbar als diese Summe (to pan) selbst (vgl. Metaphysik A. 10)
    14) ARISTOTELES, Politik III, 9. 1280, b 39
    15) COMTE, dem die historische Schule nicht abhold ist, hat seinem Andenken, als Gründer der modernen Politik, einen seiner 13 Jahresmonate gewidmet.
    16) EXNER selbst nennt (a. a. O. Seite 50) diesen hervorragenden englischen Politiker des 18. Jahrhunderts neben SAVIGNY als Musterbild echter politischer Methode.
    17) Es war eine Epoche, wo, wie EXNER selbst betont, die Naturwissenschaft in hoher Blüte und dementsprechend bei allen Intelligenten in hohen Ehren stand. Nicht so bei den Machthabern. Als LAVOISIER um einen Aufschub seiner Hinrichtung auf 14 Tage bat, damit er eine wichtige Arbeit, an welche er schon viele Jahre gewandt, zum Nutzen des Vaterlandes vollenden kann, antwortete ihm der Gerichtshof: "Die Republik benötigt weder Gelehrte noch Chemiker. Der Gang der Gerechtigkeit kann nicht verschoben werden."- - - Hier sprach sich gewiß eine große politische Unbildung aus; daß dieselbe aber in übertriebener Ehrfurcht vor naturwissenschaftlicher Forschung ihre Ursache gehabt hat, wäre wohl eine allzu paradoxe Behauptung. So beschließt auch der Konvent in einem seiner hochtrabenden Dekrete, die demokratische Republik siegreich zu machen, nicht etwa "gestützt auf die Errungenschaften der französischen Naturwissenschaft" die ihm wirklich dabei die besten Dienste leisteten, sondern nur "gestützt auf die Tugend der Bürger".
    18) Ein Plebiszit wie die Lex Genucia, aus der Zeit einer unvergleichlich milderen Fieberkrise, belehrt uns hierüber in anschaulicher Weise.
    19) BICHATs Hauptwerk erschien 1801.
    20) BUFFON gab in seiner verwegenen Art nacheinander zwei ganz verschiedene Theorien der Entstehung und Ausbildung der Erde; die letzte 1778. Beide sind längst einer verdienten Vergessenheit verfallen.
    21) Das Studium der Physiologie allein konnte in der Botanik und Zoologie zu einer natürlichen Systematisierung verhelfen; sie aber, wie gesagt, war damals noch nicht vorhanden. Und darum mußte selbst der große LINNÉ beim Versuch natürlicher Ordnung unglücklich sein, obwohl er die Methode, die zu ihr führt, schon vollkommen richtig erkannt hatte.
    22) Wohl blitzte im Kopf des ideenreichen LAMARCK schon damals der Gedanke auf. Aber man lese in ARAGOs selbstgeschriebener Jugendgeschichte, wie wenig zu jener Zeit selbst ein BONAPARTE fähig war, den Geist des Mannes zu würdigen. LAMARCK überreicht dem Konsul ehrerbietig ein Werk vieler Jahre, und dieser, es ist empörend, fährt ihn wie einen Schulknaben an, so daß er die Schwäche hat, in Tränen auszubrechen. Auch ist LAMARCKs berühmtestes Werk, seine "Histoire des animaux sans vertébres" erst im 19. Jahrhundert (1815-1822) erschienen.
    23) Auch SAVIGNY nennt den Staat ein "organisches Wesen" und spricht von einer "Gesundheit" des Staates (Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebund und Rechtswissenschaft, dritte Auflage, Seite 42)
    24) Wenn ich dies sage, so gebe ich den Worten "auf jedem Gebiet menschlicher Erkenntnis" eine im Zusammenhang wohl selbstverständliche Beschränkung. Wissenschaften, die gar nichts mit ursächlichen Verhältnissen zu tun haben, sondern, wie die reine Mathematik, nur Größenverhältnisse erforschen, sind nicht einzubeziehen.