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WILLIAM JAMES
Psychologie
Der Strom des Bewußtseins
[Fortsetzung]
[3/5]

Wir beachten nur jene Empfindungen, welche Zeichen für uns sind von Dingen, die uns gerade praktisch oder ästhetisch interessieren, denen wir deshalb substantivische Namen geben.

Das vor der Seele stehende Objekt hat stets eine "Franse". Es gibt noch andere unbekannte Modifikationen des Bewußtseins, die ebenso wichtig sind wie die transitiven Zustände und die ebensosehr wie diese zur Erkenntnis beitragen. Beispiele sollen erklären, was ich meine.

Nehmen wir an, drei Personen nacheinander riefen uns zu; "Warte!", "Höre!", "Sieh!" Dadurch wird unser Bewußtsein in drei ganz verschiedene Erwartungszustände versetzt, obwohl in keinem der drei Fälle ein bestimmtes Objekt vor ihm steht. Vermutlich wird hier niemand die Existenz einer wirklichen Bewußtseinsaffektion in Abrede stellen, eines Bewußtseins von der Richtung, aus welcher ein Eindruck ungefähr kommen wird, obgleich noch gar kein positiver Eindruck vorhanden ist. Wir besitzen indessen keine anderen Namen für die in Frage stehenden psychischen Zustände, als die Namen  höre, sieh  und  warte. 

Setzen wir den Fall, wir suchten uns zu erinnern an einen vergessenen Namen. Unser Bewußtseinszustand ist dabei ein ganz eigentümlicher. Es ist eine Leere vorhanden; aber keine bloße Leere. Es ist eine Leere in der es intensiv arbeitet. In ihr spukt eine Art Geist des Namens, der uns in bestimmte Richtung lockt, der manchmal ein gewisses Prickeln erzeugt in dem Bewußtsein unserer Konzentration und der uns dann zurücksinken läßt ohne den gesuchten Namen. Wenn sich uns falsche Namen aufdrängen, wirkt diese eigenartig bestimmte Leere sofort so, daß sie dieselben verwirft. Sie passen in ihre Form nicht hinein. Und die Leere, die dem Suchen eines Worts entspricht, macht uns nicht denselben Eindruck wie diejenige, welche einem andern zugehört, so inhaltslos die beiden notwendig auch erscheinen müssen, wenn man sie einfach als Lücken bezeichnet.

Wenn ich vergebens versuche mir den Namen SPALDING zurückzurufen, ist mein Bewußtsein ein ganz anderes, als wenn ich mich fruchtlos bemühe mich auf den Namen BOWLES zu besinnen. Es gibt unzählige Modifikationen im Bewußtsein des Mangels, von denen keine einen besonderen Namen hat, die sich aber alle voneinander unterscheiden. Ein solches Bewußtsein des Mangels ist etwas ganz anderes als ein Mangel an Bewußtsein: es ist ein intensives Bewußtsein. Es kann der Rhythmus eines vergessenen Wortes vorhanden sein, ohne den ihn umkleidenden Klang; oder ein flüchtiger Eindruck davon, wie der Anfangsvokal oder -konsonant lautet, kann uns immer aufs neue foppen, ohne bestimmtere Gestalt anzunehmen. Jedermann wird die Qual kennen, die der leere Rhythmus eines vergessenen Verses uns bereiten kann, der ruhlos in unserem Geist herumwirbelt und nach den ausfüllenden Worten sucht.

Worin besteht jene erste blitzartige Erkenntnis der Gesinnung eines Menschen, die wir haben, wenn wir ihn, wie man gewöhnlich sagt, durchschauen? Gewiß in einer ganz spezifischen Affektion unseres Geistes. Und hat sich der Leser niemals gefragt, was für ein psychischer Tatbestand vorliegt, wenn er die Absicht hat etwas zu sagen, bevor er es gesagt hat? Es ist eine ganz bestimmte Intention, verschieden von allen anderen Intentionen und deshalb ein mit keinem anderen zu verwechselnder Bewußtseinszustand; und doch wird man kaum viel bestimmte sinnliche Bilder daran entdecken können, weder von Wörtern noch von Sachen. Wahrscheinlich kein einziges! Wartet man etwas, bis die Wort- und Sachvorstellungen ins Bewußtsein kommen, dann ist die vorgreifende Intention, die Ahnung des Kommenden nicht mehr vorhanden. Aber beim Auftauchen der an ihre Stelle tretenden Wörter übt sie noch eine Funktion aus, sie besorgt den Empfang derselben, heißt sie richtig, wenn sie mit ihr übereinstimmen und falsch, wenn sie das nicht tun. Die Absicht "so-und-so-zu-sagen" ist der einzige Name, den man ihr geben kann.

Man kann annehmen, daß ein gutes Drittel unseres psychischen Lebens aus diesen flüchtigen, kritisch wirksamen Überblicken noch nicht formulierter Gedankenreihen besteht. Wie käme es, daß jemand, der etwas zum erstenmal laut liest, imstande ist alle Worte sofort richtig zu betonen, wenn er nicht von allem Anfang an ein Bewußtsein wenigsten von der Form des jetzt kommenden Satzes hätte, welches mit seinem Bewußtsein des gegenwärtigen Wortes verschmilzt, und ihm diejenige innere Betonung zuteil werden läßt, die dem eigentümlichen Akzent des ausgesprochenen Wortes zugrunde liegt? Eine Betonung dieser Art hängt fst gänzlich von der grammatikalischen Konstruktion ab. Wenn wir lesen "nicht mehr", erwarten wir sogleich ein "als"; lesen wir "indessen", dann ist's ein "doch" oder ein "nichtsdestoweniger", was wir erwarten. Und diese Vorahnung des kommenden verbalen und grammatikalischen Scheines ist tatsächlich so genau, daß ein Leser, der unfähig ist, auch nur vier Gedanken des Buches, das er liest, zu verstehen, es nichtsdestoweniger mit einem aufs feinste modulierten Ausdruck des Verständnisses laut lesen kann.

Wie der Leser wohl merken wird, ist es die Anerkennung des Vagen und Unartikulierten nach der ihm in unserem geistigen Leben zukommenden Bedeutung, auf die aufmerksam zu machen ich so eifrig bemüht bin. GALTON und HUXLEY haben einen Schritt vorwärts getan in der Verwerfung der lächerlichen Theorien von HUME und BERKELEY, wonach wir nur Bilder von vollkommen bestimmten Dingen haben sollten. Ein weiterer Schritt besteht darin, daß wir die ebenso lächerliche Meinung zurückweisen, wonach, im Gegensatz zu einfachen objektiven Qualitäten, die unserer Erkenntnis in "Bewußtseinszuständen" gegeben sind, Relationen keine derartige psychische Vertretung finden. Allein diese Reformen sind noch langenicht durchgreifend und radikal genug.

Was zugegeben werden muß ist, daß die bestimmten Bilder der traditionellen Psychologie nur den kleinsten Teil unseres tatsächlichen Seelenlebens ausmachen. Die Ansicht der traditionellen Psychologie gleicht derjenigen, wonach ein Fluß lediglich aus so und sovielen Löffeln, Eimern, Krügen, Fässern oder sonstigen Gefäßen voll Wasser bestünde. Auch wenn die betreffenden Gefäße alle tatsächlich in dem Strom ständen, würde das freie Wasser doch fortfahren, zwischen ihnen hindurch zu fließen. Gerade dasjenige, was diesem freien Wasser im Bewußtsein entspricht, ist es, was die Psychologen so standhaft übersehen. Jedes bestimmte Bild in unserem Geist wird von dem "freien Wasser", das es umspült, benetzt und gefärbt. Neben jedem derartigen Bild geht einher das Bewußtsein seiner Relationen, naher und entfernter, das verklingende Wissen, woher es zu uns kam und die aufdämmernde Ahnung, wohin es führt. Die Bedeutung, der Wert des Bildes, liegt ganz und gar in diesem Hof, diesem Halbschatten, der es umgibt und begleitet, - oder vielmehr der mit ihm in eins verschmolzen, Bein von seinem Beine, Fleisch von seinem Fleische geworden ist. Vergeht er, so läßt er freilich ein Bild von dem gleichen Ding wie vorher zurück, aber das Ding wird dabei neu aufgefaßt und ganz anders verstanden.

Wir wollen das Bewußtsein dieses das Bild umgebenden Hofes von Relationen seinen "psychischen Oberton" oder seine Franse nennen.

Die zerebralen Bedingungen der "Franse". - Nichts ist leichter als diese Tatsachen in gehirnphysiologischen Begriffen bildlich darzustellen. Wie das verklingende Wissen des  Woher,  das Bewußtsein des Ausgangspunktes eines geistigen Verlaufs wahrscheinich beruht auf dem Verzittern der Erregungsprozesse, die nur einen Augenblick vorher in voller Lebhaftigkeit vorhanden waren, so muß das Bewußtsein des  Wohin,  die Vorahnung des Endziels, bedingt sein durch die anklingende Erregung von Nervenfasern oder Prozessen, deren psychisches Korrelat einen Augenblick später die lebendige Gegenwart unseres Bewußtseins bildet. In einer Kurve dargestellt muß der dem Bewußtsein zugrunde liegende Verlauf der Nervenprozesse in jedem Augenblick aussehen wie folgt:

alemannen routeDie Horizontale in Fig. 52 soll die Zeitlinie darstellen, und die drei, bei a, b, und c beginnenden Kurven sollen die mit den Gedanken an drei solche Buchstaben verbundenen Nervenprozesse bedeuten. Jeder Prozess braucht eine gewisse Zeit, während welcher seine Intensität wächst, kulminiert und abnimmt. Wenn der Prozess für b an seinem Kulminationspunkt angelangt ist, ist der Prozess für a noch nicht vorbei und der Prozess für c hat eben begonnen. An dem durch die vertikale Linie repräsentierten Zeitpunkt sind alle drei Prozesse in den eben durch die Kurve dargestellten Intensitätsgraden vorhanden. Diejenigen vor dem Kulminationspunkt des Prozesses c waren einen Augenblick vorher stärker; die nach ihm werden einen Augenblick später stärker sein. Wenn ich a, b, c hersage, dann befinden sich, in dem Augenblick wo ich b ausspreche, weder a noch c gänzlich außerhalb meines Bewußtseins, aber beide vermengen, entsprechend ihrer jeweiligen Beschaffenheit, ihr schattenhaftes Dasein mit dem lebhafteren von b, weil ihre Prozesse nur in gewisser Abschwächung vorhanden sind.

Es verhält sich gerade wie mit den "Obertönen" in der Musik; sie werden durch das Ohr nicht getrennt wahrgenommen; sie verbinden sich mit dem Grundton, umkleiden und verändern ihn; und geradeso verbinden sich die wachsenden und abnehmenden Gehirnprozesse in jedem Augenblick mit dem psychischen Effekt der auf ihrem Kulminationspunkt befindlichen Prozesse, umkleiden und modifizieren sie.

Der Gegenstand des Denkens. - Wenn wir nun die Erkenntnis-Funktionen der verschiedenen Geisteszustände betrachten, können wir sicher sein, daß der Unterschied zwischen solchen, die ein bloßes "Bewußt-Werden" und solchen, die ein "Wissen um etwas" darstellen, fast gänzlich auf die Ab- oder Anwesenheit von psychischen Fransen oder Obertönen zurückzuführen ist. Wissen um ein Ding ist Wissen von seinen Relationen. Bloßes Bewußt-Werden bedeutet Beschränkung auf den bloßen Eindruck, nur in der unklaren Art, wobei uns eine Fülle ungegliederter Anhängsel in Gestalt einer "Franse" gegeben ist.

Das Bewußtsein wendet stets einem Teil seines Objekts mehr Interesse zu als einem anderen und betätigt sich beständig in anziehender und abstoßender oder in auswählender Weise.

Die Phänomene der selektiven Aufmerksamkeit und des überlegenden Wollens sind natürlich nächstliegende Beispiele dieser auswählenden Tätigkeit.

Die Phänomene der selektiven Aufmerksamkeit und des überlegenden Wollens sind natürlich nächstliegende Beispiele dieser auswählenden Tätigkeit. Aber wenige von uns merken es wie unaufhörlich sie auch bei solchen Operationen am Werk ist, die gewöhnlich mit diesem Namen bezeichnet werden. Akzent und Betonung finden sich in jeder unserer Wahrnehmungen. Es ist uns ganz unmöglich unsere Aufmerksamkeit unparteiisch über eine Anzahl von Eindrücken zu verteilen. Eine monotone Aufeinanderfolge von Schalleindrücken wird durch die verschiedenen Akzente, die wir auf verschiedene Eindrücke legen, bald in diese, bald in jene Art von Rhythmen zerlegt.

Der einfachste dieser Rhythmen ist der zweigliedrige: tick-tack, tick-tack. Punkte, die über eine Fläche verteilt sind, werden in Reihen und Gruppen aufgefaßt; unzusammenhängende Linien in verschiedenen Figuren. Auch das beständige Unterscheiden in  dies  und  das,   hier  und  dort,   jetzt  und  damals  ist das Resultat der gleichen auswählenden Hervorhebung bestimmter Teile von Raum und Zeit.

Aber wir beschränken uns nicht darauf, auf gewisse Dinge Nachdruck zu legen, gewisse zur Einheit zusammenzufügen und andere davon auszuschließen. Wir ignorieren tatsächlich die meisten vor uns befindlichen Dinge. Ich will kurz zeigen wie das zugeht.

Um von unten anzufangen, was sind unsere Sinne selbst anderes als Selektionsorgane? Aus dem unendlichen Chaos von Bewegungen, die, wie die Physik uns lehrt, die Außenwelt ausmachen, faßt jedes Sinnesorgan diejenigen auf, welche innerhalb gewisser Geschwindigkeitsgrenzen liegen. Auf diese spricht es an und ignoriert alle anderen so vollkommen, als ob sie nicht existierten. Aus dem, was an sich ein ununterscheidbares, ineinanderfließendes, nirgends besondere Stützpunkte bietendes Kontinuum ist, machen unsere Sinne dadurch, daß sie diese Bewegung beachten und jene ignorieren, für uns eine Welt voll von Kontrasten, scharfen Akzenten, jähen Wechseln, pittoresken Licht- und Schattenwirkungen.

Wenn die Empfindungen, die uns ein gegebenes Organ vermittelt, auf diese Weise bereits eine Auswahl bedeuten, indem die Bildung der Sinnesnervenendigungen nur bestimmte Vorgänge als Bedingungen derselben zuläßt, so wählt die Aufmerksamkeit wiederum aus allen ihr zur Verfügung gestellten Empfindungen gewisse als ihrer Beachtung würdig aus und unterdrückt alle übrigen. Wir beachten nur jene Empfindungen, welche Zeichen für uns sind von Dingen, die uns gerade praktisch oder ästhetisch interessieren, denen wir deshalb substantivische Namen geben, und denen wir sonach eine gewisse Ausnahmestellung in bezug auf Unabhängigkeit und Bedeutung zuweisen. Aber an sich, abgesehen von meinem Interesse, ist eine einzelne Staubwolke an einem windigen Tag ein genau ebenso individuelles Ding und verdient ebensosehr oder ebensowenig einen individuellen Namen wie mein eigener Leib.

Und was geschieht alsdann mit den Empfindungen, die wir von jedem einzelnen Ding empfangen? Der Geist trifft wieder seine Wahl. Er hebt gewisse Empfindungen als die wahren Repräsentanten des Dings heraus und betrachtet alle übrigen als ihre, durch die Bedingungen des Augenblicks modifizierten Erscheinungen. So wird meine Tischplatte  rechteckig  genannt, nach nur einem der unzähligen Netzhautbilder, die sie liefert, während alle übrigen Eindrücke die Vorstellungen von zwei spitzen und zwei stumpfen Winkeln sind; aber ich nenne die letzteren  perspektivische  Ansichten, und die vier rechten Winkel die wahre Form des Tisches und erhebe das Attribut der Rechteckigkeit zum Wesen des Tisches, weil ich selbst dafür ästhetische Gründe habe.

In ähnlicher Weise wird die wirkliche Form des Kreises beurteilt nach der Vorstellung, die er hervorruft, wenn die Gesichtslinie senkrecht auf seinem Mittelpunkt steht - all seine übrigen Bilder sind  Zeichen  dieser Vorstellung. Der wirkliche Klang einer Kanone ist die Empfindung, die sie veranlaßt, wenn sich das Ohr ganz in ihrer Nähe befindet. Die wirkliche Farbe eines Ziegelsteins ist die Empfindung, die er veranlaßt, wenn das Auge von einem nahegelegenen Punkt aus ihn gerade anschaut nicht im Sonnenschein und auch nicht im Dunkeln; unter anderen Umständen vermittelt er uns andere Farbempfindungen, die bloß Zeichen jener sind - wir sehen ihn dann mehr blaßrot oder blauer als er ist.

Der Leser kennt kein Objekt, das er sich nicht vorzugsweise als in irgendwelcher charakteristischen Distanz, irgendeine Originalfarbe usw. vorstellt. Aber all diese wesentlichen Merkmale, die zusammen für uns die unverfälschte Objektivität des Dinges und den Gegensatz bilden zu dem, was wir die subjektiven Empfindungen nennen, die es uns in einem gegebenen Moment vermitteln kann, sind ebensowohl bloße Empfindungen wie die letzteren. Der Geist trifft nach seinem eigenen Gesetz die Auswahl und entscheidet darüber, welche besondere Empfindung für realer und gültiger gehalten werden soll als die übrigen.

Was dann, in einer durch die selektive Tätigkeit unseres Geistes derart individualisierten Welt, unsere "Erfahrung" genannt wird, ist fast gänzlich bestimmt durch unsere Aufmerksamkeitsgewohnheiten. Es kann irgendein Ding einem Menschen hundertmal gezeigt werden, aber wenn er beharrlich unterläßt es zu beachten, kann man nicht sagen, daß es in seine Erfahrung eingegangen sei. Wir sehen alle Tausende von Fliegen, Motten und Käfer, aber wem außer dem Entomologen (Insektologe) sagen sie etwas besonderes?

Andererseits kann etwas, was nur einmal im Leben vorkommt, eine unauslösliche Erfahrung im Gedächtnis hinterlassen. Laßt vier Menschen eine Reise nach Europa unternehmen. Da wird der eine nur künstliche Eindrücke mit nach Hause bringen - Erinnerungen an Kostüme und Farben, Gartenanlagen, Landschaften und Gebäude, Gemälde und Statuen. Für einen anderen wird alles das gar nicht existieren; statt dessen interessiert er sich für Entfernungen und Preise, Einwohnerzahlen und Entwässerungsanlagen, für Tür- und Fenstereinfassungen und andere nützliche Statistiken. Ein dritter wird viel zu erzählen haben von Theatern, Restaurants und Vergnügungslokalen, und von sonst nichts; während der vierte vielleicht so sehr in seine eigenen subjektiven Betrachtungen versunken war, daß er wenig mehr anzugeben weiß, als die Namen einiger Orte, durch die er gekommen ist. Jeder hat aus der gleichen Masse der ihnen dargebotenen Objekte diejenigen, die zu seinen privaten Interessen paßten, herausgesucht, und daraus seine Erfahrung gebildet.

Wenn wir nun von der empirischen Kombination von Objekten absehen und fragen, wie der Geist verfährt, um sie rational zu verknüpfen, so stoßen wir wieder auf die Allmacht der Selektion. In einem späteren Kapitel werden wir sehen, daß alles logische Denken auf der Fähigkeit des Geistes beruth, die Gesamtheit des betrachteten Phänomens in Teile zu zerlegen und unter diesen die besonderen herauszufassen, die im gegebenen Fall zu der geeigneten Schlußfolgerung führen können. Der geniale Mensch ist derjenige, der bei seinem Überblick über einen Tatbestand stets an der rechten Stelle innehält und den betreffenden Punkt mit seinen richtigen Konsequenzen hervorhebt, die wir "Gründe" nennen, wenn der Fall ein theoretischer, Mittel, wenn er ein praktischer ist.

Gehen wir nun auf das ästhetische Gebiet über, dann tritt unser Gesetz noch offener zutage. Der Künstler trifft bekanntlich eine sorgfältige Auswahl unter seinen Mitteln und verwirft alle Töne, Farben, Formen, die nicht miteinander und mit dem Hauptzweck seines Werks übereinstimmen. Jene Einheit, Harmonie, "Konvergenz der Charaktere", wie sie TAINE nennt, die den Kunstwerken ihre Superiorität über die Werke der Natur verleiht, beruth einzig auf der Elimination. Jeder natürliche Gegenstand bildet einen geeigneten Vorwurf, wenn der Künstler Geist genug besitzt, um irgendeinen Zug an ihm als charakteristisch herauszugreifen, und alle bloß nebensächlichen Züge, die damit nicht harmonisieren, beiseite zu lassen.

Steigen wir noch eine Stufe höher, dann gelangen wir in das Gebiet der Ethik, wo die Wahl bekanntlich die allergrößte Bedeutung besitzt. Eine Handlung hat keinerlei sittliche Qualitäten, wenn sie nicht unter mehreren gleichen möglichen Handlungen ausgewählt worden ist. Die Argumente für einen guten Lebenswandel festzuhalten und uns ihrer stets bewußt zu sein; unsere Sehnsucht nach blumigeren Pfaden zu unterdrücken und den Fuß mutig auf den steinigen Pfad zu setzen, das charakterisiert die sittliche Energie. Aber es gibt noch höhere Leistungen als diese; denn sie gehen hervor aus richtunggebenden Interessen, die von den Menschen bereits als die wichtigsten empfunden werden. Die ethische Leistung par excellence dagegen hat weiter zu gehen und hat auszuwählen, welches Interesse von verschiedenen gleich zwingenden das höchste werden soll. Der Erfolg ist hier von größter Wichtigkeit, denn er entscheidet über das ganze Leben eines Menschen. Wenn er überlegt: Soll ich dieses Verbrechen begehen? diesen Beruf wählen? dieses Amt annehmen oder dieses Vermögen heiraten? dann hat er tatsächlich die Wahl unter mehreren gleich möglichen zukünftigen Charakteren. Was aus ihm werden wird, ist durch sein Benehmen in diesem Augenblick bestimmt. SCHOPENHAUER, der seinen Determinismus durch das Argument stützt, daß bei einem gegebenen feststehenden Charakter nur eine Reaktion unter bestimmten Umständen möglich ist, vergißt, daß in diesen kritischen sittlichen Momenten dasjenige, was im Bewußtsein gerade entschieden zu werden scheint, die Gestaltung des Charakters selbst ist. Die schicksalsbedeutende Frage für den Menschen ist nicht die, welche Handlung er jetzt zu vollbringen sich entschließen, sondern die, was für ein Wesen zu werden er jetzt wählen soll.

Nimmt man die menschliche Erfahrung im allgemeinen, dann ist die Auswahl der verschiedenen Menschen in weitem Umfang die gleiche. Die Rasse im Ganzen genommen zeigt eine bedeutende Übereinstimmung in der Entscheidung darüber was bemerkt und benannt werden soll; und unter den beachteten Teilen verhalten wir uns in Bezug auf die Hervorhebung und Vorliebe oder Unterordnung und Abneigung sehr gleichartig. Es gibt jedoch einen ganz außergewöhnlichen Fall, in welchem, soweit ich weiß, noch nie zwei Menschen die gleiche Wahl getroffen haben. Eine große Spaltung des ganzen Universums in zwei Teile wird durch jeden von uns ausgeführt. Und jeder von uns konzentriert fast sein ganzes Interesse auf die eine der beiden Hälften. Aber wir alle ziehen die Trennungslinie zwischen diesen Hälften in verschiedener Weise. Wenn ich sage, daß wir alle die beiden Hälften mit dem gleichen Namen benennen, und daß wir dafür die Bezeichnungen "Ich" und "Nicht-Ich" haben, dann wird man sofort sehen, was ich meine. Das ganz eigenartige Interesse, das jedes menschliche Bewußtsein an denjenigen Teilen der Schöpfung besitzt, die es als Ich oder ihm gehörig auffaßt, mag ein moralisches Rätsel sein, aber es ist eine fundamentale psychologische Tatsache. Keine Menschenseele kann am Selbst des Nebenmenschen dasselbe Interesse haben wie am eigenen Selbst. Das Selbst des Nebenmenschen bildet mit allen übrigen Dingen zusammen eine fremde Masse, der das eigene Selbst durch eine tiefe Kluft getrennt gegenüber steht. Selbst der getretene Wurm bringt, wie LOTZE irgendwo sagt, sein eigenes leidendes Selbst in einen Gegensatz zum ganzen übrigen Universum, wenn er auch keinen klaren Begriff davon haben mag, was er selbst und was das Universum bedeutet. Er ist für mich ein bloßer Teil der Welt; für ihn bin ich ein derartiger bloßer Teil. Jeder von uns vollzieht den Schnitt durch das Universum an verschiedener Stelle.

Indem wir nun von dieser ersten allgemeinen Skizze uns der detaillierten Ausführung zuwenden, wollen wir im nächsten Kapitel versuchen, diese Tatsache des Selbstbewußtseins, auf die wir bereits mehrfach gestoßen sind, psychologisch zu behandeln.
LITERATUR - William James, Psychologie, Leipzig 1920