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LUDWIG PONGRATZ
Ichtheorien
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Persönlichkeitstheorien Eine Bevorzugung des Sozialcharakters des Ich liegt in der Konsequenz der Milieutheorie, des Dogmas von der Machbarkeit des Menschen.

(3) Die kritische Darstellung einiger moderner Ichtheorien soll den Einblick in die Problematik der Ichpsychologie erweitern.

a) Die am meisten verbreitete Ichtheorie ist die psychoanalytische, deren späte Erweiterung durch FREUD schon besprochen wurde. Das Ich ist in FREUDs Konzept immer mehr in den Mittelpunkt gerückt. Die dreifache Dienstbarkeit dieser "Instanz" gegenüber dem Es, dem Über-Ich und der Außenwelt lassen das Ich als ein "armes Ding" erscheinen. Glanz und Macht des idealistischen Ich sind von ihm gewichen, es sei denn, man sehe in der oft hypostasierenden [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] Darstellung FREUDs und mancher psychoanalytischen Theoretiker noch idealistische Relikte. Das Hauptinteresse gilt gegenwärtig der Mittlerrolle des Ich zwischen Es und Außenwelt. Dieser Aspekt fügt sich in das amerikanische Anpassungsdenken und scheint den Prinzipien der objektiven Psychologie zumindest nicht zu widersprechen.

Als eine "Organisation", die die Triebansprüche des Es zu befriedigen, zu kontrollieren und zu verdrängen sucht, hat es eine Schlüsselposition im Motivationsgeschehen und fungiert damit als zuweilen überstrapaziertes Erklärungsprinzip des individuellen (neurotischen) Erlebens und Verhaltens. Darüber hinaus entspricht die FREUDsche Ichlehre dem überwiegend dynamischen Denken der modernen Psychologie. Ein weiteres dem Geist der modernen Psychologie konformes Moment der psychoanalytischen Ichlehre kommt hinzu. Im FREUDschen System ist das Ich letztlich ein Produkt der sozialen Prägung. Die frühkindliche Identifikation mit den Trägern der soziokulturellen Forderungen, den triebfeindlichen Geboten und Verboten und deren spätere Introjektion ins Über-Ich sind die Grundvorgänge dieses Prägungsprozesses. Damit war in die Meinung vom Ich als dem Exponenten der Individualität und personalen Besonderheit eine Bresche geschlagen.

b) An FREUDs Entwicklungsgeschichte des Ich konnte die Sozialtheorie des Ich anknüpfen. Ihre zweite und schon frühere Wurzel ist in der Sozialphilosophie G.W. FRIEDRICH HEGELs (1770-1831), näherhin seiner Volksgeistlehre, zu suchen: Der Volksgeist wird von den Staatsangehörigen nicht erzeugt, sondern sie selbst gehen aus ihm geistig hervor. Der subjektive Geist wird vom übermächtigen Staatsgeist gleichsam aufgesogen. Wie die Seele im Leibe, so soll der Volksgeist im Individuum leben. Tatsächlich sind die Pioniere der modernen Sozialtheorie des Ich, WILLIAM JAMES (1842-1910), CHARLES HORTON COOLEY (1864-1929) und GEORGE HERBERT MEAD (1863-1931) von HEGEL angeregt worden.

Von WILLIAM JAMES (1842-1910) haben wir schon in einem anderen Zusammenhang berichtet, daß er das "Self" in das "I" und das "Me" differenziert: Das "I" oder das "pure ego" (reine Ich), das der Beobachtung entzogene Subjekt aller Bewußtseinsvorgänge, das "wissende Selbst", dürfen wir hier ausklammern. Hingegen müssen wir uns das "Me", das empirische Selbst, näher betrachten. Von seinen drei Aspekten (das geistige, das materielle und das soziale Ich) geht uns hier nur der soziale an. Das soziale Ich begegnet mir in meinem Ruf, meiner Ehre, meiner Stellung, meinen freundschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen; da ich viele solcher Beziehungen habe und mein Ansehen von Gruppe zu Gruppe verschieden ist, gibt es viele soziale Iche; sie repräsentieren die Vorstellungen, die die verschiedenen Beziehungspersonen von mir haben. Nicht dem Begriff, doch der Sache nach nimmt JAMES damit das Spiegel-Ich bei COOLEY vorweg.

Wie JAMES unterscheidet auch COOLEY eine individuelle und soziale Seite am "self", doch sind ihm zufolge beide sozialen Ursprungs. Die  personel idea  ist keine eigene, sondern eine angeeignete Vorstellung vom Ich. Sie ist die Spiegelung eines Bildes, das andere von mir haben. COOLEY hat diese Auffassung in seinem bekannten Spiegelgleichnis veranschaulicht:  Each to each a lookingglass reflects the other that doth pass,  das heißt, unser Ich ist ein Spiegel-Ich (a looking-glassself); wir sehen uns selbst so, wie wir uns seit unserer Kindheit in den Meinungen, Urteilen und Verhaltensweisen unserer Mitmenschen erlebt haben.

Das Spiegel-Ich enthält demnach all das, was die anderen über mich denken. Sie brauchen mir das gar nicht ins Gesicht zu sagen; ihr Verhalten, die Art, wie sie mit mir umgehen, mich ansehen, was sie nur zumuten usw. läßt mich schon als Kind spüren, wofür sie mich halten. Daß unser Ich durch solche Spiegelungen ganz entschieden mitgeprägt wird, ist unbestreitbar. Bleibt nur die Frage, ob darüber hinaus nicht doch noch etwas ist, das der Spiegel der anderen nicht reflektiert.

Diese Frage wäre auch an MEAD zu stellen, der großen Einfluß auf die Entwicklung der amerikanischen Sozialpsychologie ausgeübt hat. MEADs Ich- oder Selbstbegriff ist ein System von introjizierten sozialen  attitudes.  Diese sozialbedingten Verhaltensweisen und Einstellungen realisieren sich in Rollen, die wir von der Kindheit bis zum Alter auf den verschiedensten Lebensgebieten zu spielen haben. Das Ich ist der Träger dieser sozialen Rollen. Die Sprache, die die Menschen innerhalb eines Kulturkreises verbindet, und das Ausdrucksverhalten sind die wichtigsten Medien der Formung des Rollen-Ich. Eigenschaften sind in diesem Ansatz relativ dauernde Resultate unseres Rollenspiels in der Gesellschaft. MEAD gibt für seine Rollentheorie des Ich eine ganzheitspsychologische Erklärung: Das Ganze ist die Gesellschaft, sie ist vor dem einzelnen (dem Teil). Für MEAD heißt das nichts anderes, als: der einzelne ist so wie die Gesellschaft; er ist ihr gegenüber nichts Neues, nichts Spezielles.

Beide Formen des sozialen Ich, das Spiegel-Ich und das Rollen-Ich, sind in der Ichtheorie von HARRY STACK SULLIVAN (geboren 1892), einem der bedeutendsten Vertreter der Neopsychoanalyse in den USA, verbunden. Das Ich ist für ihn das Ergebnis sowohl der vielen Rollen, die wir im sozialen Feld zu spielen haben, als auch eine Spiegelung von Bejahung und Verneinung, von Lob und Tadel, die der einzelne im Laufe seiner Entwicklung erfährt. Seine Auffassung ist durch das Bemühen bestimmt, das genetische Denken der Psychoanalyse mit dem behavioristischen Konzept zu verbinden.

PHILIPP LERSCH (geboren 1898) nennt neben dem "Spiegel-Selbst" und dem "Rollen-Selbst" noch das "Gruppen-Selbst". Diese dritte Variante des sozialen Selbst entwickelt sich durch Zugehörigkeit von Geburt an zu verschiedenen Gruppen. Ihr Geist, ihr Stil geht in das Selbstkonzept des einzelnen ein. Das Bewußtsein, "Angehöriger einer bestimmten Gruppe zu sein, integriert sich mit dem Bewußtsein, diese und keine andere Person zu sein".

LERSCH stellt die dreifache Gliederung des sozialen Ich oder Selbst, das Spiegel-, Rollen- und Gruppen-Selbst, unter anthropologischen Aspekt: Der Mensch, so führt er aus, ist
"soziales Wesen, sofern er gar nicht anders leben kann als im Gegenüber und in Interaktion mit Wesen gleicher Art. Dieser interpersonale Urbezug ist es, aus dem sich das Spiegel-Selbst entwickelt. Soziales Wesen ist der Mensch ferner, indem er von Geburt an verschiedenen, durch ihre Mentalität und ihren Stil charakterisierten Gruppen angehört. Aus diesem Bezug resultiert das, was als Gruppen-Selbst bezeichnet wurde. Und schließlich ist der Mensch soziales Wesen, indem er innerhalb solcher Gruppen bestimmte Funktionen auszuüben hat, die sein Erleben und Verhalten wesentlich bestimmen und das ausmachen, was das Rollen-Selbst genannt wurde".
c) Der Sozialcharakter des Ich oder Selbst bildet das Hauptstück der modernen Ichpsychologie, insbesondere in der angelsächsischen und russischen Forschung. Diese Bevorzugung liegt in der Konsequenz der Milieutheorie, des Dogmas von der Machbarkeit des Menschen. Demgegenüber erhebt sich die Frage nach dem Individualcharakter des Ich. Diese Frage geht von dem phänomenologischen Befund aus, daß der Mensch in der selbstverständlichen Gewißheit lebt, er sei ein Eigenwesen, mit keinem anderen zu verwechseln, und wäre es sein Zwillingsbruder. Ist diese Selbstverständlichkeit eine bloße Selbsttäuschung? Ist das individuelle Ich, wie NIETZSCHE sagt, "am Ende doch nur eine äußerst verwundbare Eitelkeit"?

In der Gegenwartspsychologie ist die Sozialtheorie nicht mehr unbestritten gültig. Bedeutende Forscher und Strömungen betonen den Individualcharakter des Ich. Sie ergänzen die Sozialtheorie durch eine Individualtheorie des Ich.

Die historische Vorläuferin der Individualtheorie ist die geisteswissenschaftliche Psychologie. Sie ist nach WILHELM WINDELBAND (1848-1915) nicht nomothetisch wie die naturwissenschaftliche Psychologie, sondern idiographisch ausgerichtet, das heißt, sie erforscht das Einmalige, Besondere, Unwiederholbare. Die geisteswissenschaftliche Psychologie, die erste Gegenbewegung zur klassischen Assoziationspsychologie, ist aus der Lebensphilosophie hervorgegangen. Einer der Begründer dieser um die Jahrhundertwende aufkommenden philosophischen Richtung, HENRI BERGSON (1859-1941), hat den Ichaspekt, auf den es uns augenblicklich ankommt, in seiner Untersuchung über die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins ausdrücklich behandelt.

BERGSON unterscheidet zwei Aspekte des Bewußtseins: Der erste ist das generalisierte, entindividualisierte, objektivierte Bewußtsein, auf das man stößt, wenn man von den seelischen Akten alles Quantative und Persönliche abzieht und nur das zurückbehält, was Geometrisches und Unpersönliches in ihm enthalten ist. Auf diese Weise gewinnt die naturwissenschaftliche Psychologie ihren Gegenstand. Der zweite Aspekt des Bewußtseins ist das ursprüngliche Bewußtsein, das frei und schöpferisch, dynamisch, nicht statisch ist, vom Prinzip der Verschmelzung und Durchdringung, nicht von dem der Geschiedenheit und Abgehobenheit durchwaltet wird.

Diesem Doppelaspekt des Bewußtseins entspricht ein ebensolcher des Ich. Demnach gibt es ein konventionelles Ich (le moi conventionnel), auch oberflächliches, zweites oder soziales Ich genannt, das jeder mit jedem gemeinsam hat. Es entspricht dem generalisierten Bewußtsein, während dem ursprünglichen Bewußtsein das fundamentale, tiefere, wahre Ich (le moi interieur) an die Seite zu stellen ist. Die raumbildliche Vorstellung ist bei BERGSON die von Oberfläche und Tiefe, Peripherie und Zentrum. Das fundamentale Ich ist das eigentliche Ich; es fällt freie Entscheidungen, wird von tiefen Leidenschaften bewegt, manifestiert sich im Traum. Beschwingt vom  elan vital,  ist es immer in Bewegung; seine Zustände sind schwer voneinander abzuheben, darum ist es inexprimable, begrifflich kaum zu fassen. Es ist uns unmittelbar, intuitiv gegeben. Das, was ich wirklich bin, finde ich in der inneren Lebendigkeit, in Liebe, Leidenschaft und Schöpferkraft.

BERGSONs Lehre vom individuellen als dem eigentlichen und wahren Ich hat, wie gesagt, in der geisteswissenschaftlichen Psychologie weitergewirkt, die im ganzen doch eine "typisch deutsche" Richtung in der Psychologie geblieben ist. Fast gleichzeitig mit ihr wurde in Rußland und Amerika die objektive Psychologie begründet und mächtig entfaltet, deren Abkömmling die Sozialtheorie des Ich ist.

Es mehren sich in jüngster Zeit die Stimmen bedeutender Forscher, die an dieser Psychologie aussetzen, sie fahnde allzu einseitig nach den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens, nach universalen Prozessen, die allen Menschen gemeinsam sind, und übersehe dabei die Einzigartigkeit der Persönlichkeit, den einzelnen in seiner besonderen existentiellen Situation. Was die Ichpsychologie anlangt, so hat GORDON W. ALLPORT (geboren 1897) der Sozialtheorie seine Propriumstheorie gegenübergestellt. "Was ist das JOHNartige an JOHN?" Diese Frage war schon das Thema des Werkes, das ALLPORT international bekannt gemacht hat:  Personality - a Psychological Interpretation  (1937). In seinem 1955 erschienenen Buch  Becoming  (deutsch: Werden der Persönlichkeit, 1958) greift er die Frage nach der Einmaligkeit des einzelnen, nach dem "JOHNartigen an JOHN" wieder auf. Der Ausdruck "Proprium" soll, wie oben schon ausgeführt wurde, gerade die individuelle Seite des Menschen bezeichnen. Das Proprium expliziert sich ALLPORT zufolge in acht Aspekte oder Funktionen, die kurz skizziert seien:

Der erste Aspekt ist der Körpersinn. Das Kind erlangt ihn- erst, wenn es die leiblichen Lust- oder Unlustempfindungen als eigene erkennen und lokalisieren kann. Der zweite Aspekt des Proprium ist die Selbstidentität. Bis zum Alter von vier oder fünf Jahren ist sie beim Kind noch nicht sehr stabil. Der Sinn für die persönliche Identität wächst "zum Teil als Resultat davon, daß man gekleidet und benannt sowie auf andere Weise ausgezeichnet wird". Die Erinnerung und die soziale Wechselwirkung helfen die Identität festigen. Den dritten Aspekt nennt ALLPORT die Icherhöhung. Gemeint ist im wesentlichen die Eigenliebe, der Egoismus, die Selbstsucht.

Je mehr wir hinzulernen, um so mehr weitet sich der Kreis dessen aus, was wir als zu uns gehörig betrachten. Der Kreis reicht von kleinen Habseligkeiten bis hin zu "meinem" Volk, "meinen" Grundsätzen, "meinem" Gott. Dieser vierte Propriumaspekt heißt Ichausdehnung. Eine fünfte Seite unseres Ich ist rationaler Natur. Es ist ALLPORT zufolge das Ich der Thomisten und zugleich das FREUDs. Dort ist es das denkende, hier das rationalisierende Ich. In beiden Fällen geht es um die Fähigkeit, "innere Bedürfnisse und äußere Realität zur Deckung zu bringen". Das rationale Ich hat die Rechnungen, die uns das Leben aufgibt, zu lösen. An Lösungen lassen die Lebensrechnungen sicher mehr zu als die mathematischen, und so darf man ALLPORT zugestehen, daß die Art der rationalen Auseinandersetzung mit der Welt die einzelnen voneinander unterscheidet.

Eine sechste Erscheinungsform des Proprium ist das Selbstbild. Es hat seinen Ursprung bei FREUD und ist von KAREN HORNEY näher untersucht worden. Es enthält, was einer faktisch ist oder zu sein glaubt, aber auch, was einer meint, noch werden zu müssen. Es greift also auch in die Zukunft hinein. Das in die Zukunft gerichtete Gesicht des Proprium drückt sich im Eigenstreben aus (siebenter Aspekt). "Interesse, Tendenz, Disposition, Erwartung, Planen, Problemlösen und Intention" sind solche in die Zukunft strahlenden Bestrebungen. ALLPORT kommt es vor allem auf die Motivation an, sofern sie das Streben des Proprium widerspiegelt. Er unterscheidet zwischen peripheren und Propriums Motiven: "Auf den rudimentären Ebenen des Werdens" bestimmen die Impulse und Triebe und deren Befriedigung das Verhalten überwiegend."

Auf dieser Ebene scheint die übliche Formel von Trieben und ihren Bedingungen zu stimmen. Psychologen, die nur mit Tieren experimentieren, sehen über diese Stufe nicht hinaus. Je mehr der Mensch aber dem Stadium des Kindes entwächst, um so mehr kommen Propriumsmotive zu Wort, die sich nicht in das Schema "Spannung und Herstellung des Gleichgewichts" fügen wollen. ALLPORT denkt an SPINOZAs Begriff des  Conatus,  an GOLDSTEINs Lehre der Selbstaktualisierung, an McDOUGALL Gesinnung der Selbstachtung, an das mit produktiven Interessen ausgestattete Ich der Neofreudianer. Der Mensch kennt hohe Lebensziele, kennt Interessen, die sich nicht sättigen lassen, hält einen Lebensstil gegen große Widerstände durch. Diese Spannung auf Dauerziele hin ist für ALLPORT der Kern des Eigenstrebens.

Schließlich hat das Proprium noch einen achten Sinn: Der Wissende. Was ist damit gemeint? Dies: "Ich bin es, der Körperempfindungen hat, ich, der die Selbstidentität von Tag zu Tag erkennt, ich bin es, der meine Selbstbehauptung, Selbstausdehnung, meine Rationalisierungen ebenso wie meine Interessen und Bestrebungen feststellt und darüber nachdenkt." Die sieben ersten Aspekte betreffen - so könnten wir sagen - das Ich als Possessivpronomen. Ich ist dann all das, was ich mit "Wärme" und Bedeutungsakzent als das Meine erkenne und anerkenne. Beim Wissenden hingegen handelt es sich um das Ich als Positionsnomen, eben um das Ich, auf das all die einzelnen Besitztümer bezogen sind, auf das all die verschiedenen Aspekte verweisen. KANT lehrt, dieses reine Ich sei transzendental und darum scharf zu scheiden von dem empirischen Ich. JAMES verlegt das reine Ich in den Bewußtseinsstrom: "Die Gedanken sind der Denker." Er stimmt mit KANT und dieser mit DESCARTES darin überein, "daß die Wissensfunktion eine vitale Eigenschaft des Selbst ist, wie immer man es definieren mag". In dem seiner Selbst gewissen Ich sind all die genannten Propriumsfunktionen geeint. Es ist die achte klare Funktion des Proprium. Niemand kann sein Vorhandensein abstreiten.

ALLPORT steht in der amerikanischen Psychologie mit seinem Eintreten für die Thematisierung der Einmaligkeit des einzelnen nicht allein. Moderne Strömungen, wie die "Humanistische Psychologie", die "Philosophische Psychologie" und die "Existentialpsychologie", sind Mittlerweile auf seine Seite getreten. Sie fordern unter Berufung auf den phänomenologischen Befund und die psychotherapeutische Erfahrung die stärkere Beachtung der Individualität des einzelnen in seiner Lebenswirklichkeit.

(4) Suchen wir abschließend zu einer konstruktiven Zusammenschau zu kommen.

Es wurde ein wenngleich nur unvollständiger Einblick in die Vieldeutigkeit des Ichbegriffes gegeben und die Auslegung des Ich in zwei repräsentativen Ichtheorien, die unschwer als zwei einander ergänzende Theorien zu erkennen sind, dargestellt.

a) Eingangs wurde gesagt, es gebe moderne Bestrebungen, die auf den Ichbegriff in der wissenschaftlichen Psychologie verzichten wollen. Dafür werden mehrere Gründe angeführt: Der erste ist die Vieldeutigkeit. Wir erwähnten schon GUILFORD, der ob der Uneinheitlichkeit und Unverbindlichkeit des Ich, beziehungsweise Selbstbegriffes, die Bezeichnungen "Individuum" oder "Person" vorzieht. Nun kann aber keiner dieser Termini den Ichbegriff ersetzen: Der Ausdruck "Individuum" ist zu allgemein und zu leer. Der Begriff der "Person" aber, wenn er wie in der amerikanischen Psychologie gleichbedeutend mit "Persönlichkeit" gebraucht wird, steht dem Ichbegriff an Vieldeutigkeit nicht nach, wäre also ein schlechter Ersatz für das Ich.

Innerhalb der deutschen Psychologie trägt THOMAE im Anschluß an ROTHACKER Bedenken gegen den Ichbegriff vor. Er führt neben der Mehrdeutigkeit zwei weitere Gründe gegen den Ichbegriff an: seine substantialisierende Natur und seine kausalistische Verwendung. Das gleiche gilt vom Selbst. Sein terminologischer Gegenvorschlag lautet so: "Das, was in den Begriffen  Ichbezug  oder  Bezug zum Selbst  ausgedrückt werden soll, meint, (wenn wir die unzulänglichen, weil mit irreführenden Substanz-Begriffen arbeitenden Verwendungsweisen und jene, die sich auf die kognitive Struktur des Selbst beziehen) ausscheiden, stets die mehr oder minder große Affinität dieser Geschehnisse zu dem  eigentlich  Bedeutsamen. Dieses  eigentlich  Bedeutsame ist kein  neutrales  Ich, keine  leere  Dynamik, keine stets mit sich selbst identische übergeordnete Schaltstation. Es ist im Grunde selbst ein Teil, eine  Gliedstruktur  dieses Motivationsgeschehens, und zwar dessen zentrales, dominantes Glied". Das ist speziell im Hinblick auf die Motivation gesagt, hat aber einen allgemeinen Kern, auf den es uns hier ankommt: THOMAE nennt unter Vermeidung des Ichbegriffes zwei Grundzüge des Ich: die Zentralität und die Aktualität. Psychische Vorgänge und Zustände, die den Index der Ichhaftigkeit haben, sind eigentlich, zentral, bedeutsam, kernnah im Unterschied zu den mehr peripheren Prozessen und Regulationen.

Die Aktualität steht bei THOMAE in deutlichem Gegensatz zur Substantialität. Die Gefahr einer substantiellen Auslegung des Ich soll um jeden Preis gebannt und darum der Ichbegriff vermieden werden. Als zweite Gefahr kommt hinzu, daß die Substantiallsierung eine zu einfache Erklärung psychischer Vorgänge durch Rekurs auf die Aktivitäten des Ich mit sich bringt. Diesen Gefahren sucht THOMAE durch die aktual-dynamische Interpretation des Ich zu begegnen, für die er schon 1940 in seiner Arbeit über Bewußtsein und Leben eingetreten ist. Darin wird das Bewußtsein als "aktuelle Subjekt-Objekt-Relation" definiert.

b) In der Aktualität ist ein weiteres Merkmal der Ichhaftigkeit schon eingeschlossen: die Entwicklung durch Prägung. Dies ist der Beitrag der Sozialtheorie des Ich. Das Ich expliziert sich allmählich und verändert sich im Laufe der Lebensgeschichte. Und dieser Prozeß wird entscheidend durch die Außenkräfte der Um- und Mitwelt beeinflußt.

Zur Sozialität des Ich, wie wir statt "Entwicklung durch Prägung" abgekürzt sagen können, kommt von seiten der Individual- oder Propriumstheorie als vierter Ichzug die Individualität. Sie ist ein wesentliches Moment der Rede vom Ich, in der der einzelne sich in seiner Unverwechselbarkeit mit anderen meint. Dieses Moment ist unseres Erachtens durch keinen anderen Begriff angemessen zu treffen.

Als fünftes Kennmal des Ich ist sodann die schon früher ausführlich behandelte Identität zu nennen. Dort wurde auch bereits zum Ausdruck gebracht, daß Identität nicht mit Unveränderlichkeit, Selbigkeit nicht mit Starrheit gleichzusetzen sei. Identität widerstreitet der Aktualität nicht. Sie erreicht ihre Hochform überhaupt erst, wenn sie über aller Veränderung, die auch das Ich erleidet, erhalten bleibt.

Ein sechster Aspekt des Ichbegriffes ist die Subjekthaftigkeit. Das Ich ist der erlebte Träger der psychischen Akte, des Verhaltens und Handelns. Subjekthaftigkeit muß auch dem tierischen Individuum zugesprochen werden, sofern es sich zu etwas verhält. Subjekthaftigkeit auf dem Ichniveau ist höher strukturiert. Die Abgehobenheit des Ich vom Nicht-Ich und die Reflexivität zeichnen sie aus. Subjekthaftigkeit ist nicht gleichsinnig mit autochthoner [althergebrachter - wp] Urheberschaft (etwa im Sinne FICHTEs), die Akte des psychischen Ich sind motiviert.

c) Zentralität, Aktualität, Sozialität, Individualität, Identität und Subjekthaftigkeit sind sechs Elemente oder Teilbestimmungen, die bei der Erarbeitung einer umfassenden Ichtheorie unseres Erachtens mit zu berücksichtigen wären. Mehr als eine derartige Anregung will diese Zusammenstellung nicht sein.

Was den Ichbegriff und analog den Selbstbegriff und seine künftige Verwendung in der Psychologie anlangt, so geht unser Vorschlag dahin, mit ihm zu verfahren wie mit dem Persönlichkeitsbegriff, mit dem er, wie gesagt, die Vieldeutigkeit teilt: Ihn nicht (noch nicht?) allgemein verbindlich, sondern systemimmanent zu verwenden, das heißt die Rede vom Ich zu spezifizieren und zum Beispiel vom Ich im psychoanalytischen oder im FREUDschen Sinne, im Sinne von KLAGES, von ROTHACKER, von THOMAE, von JAMES, von MEAD, von ROGERS usw. zu sprechen. Dadurch wird nicht nur terminologische Klarheit geschaffen, sondern auch das Bewußtsein der Relativität und Problematik dieses Begriffes wachgehalten.
LITERATUR - Ludwig Pongratz, Problemgeschichte der Psychologie, München 1984