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RUDOLF EUCKEN
Der Realismus in der Neuzeit
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"Als der Hauptquell aller Mißstände des modernen Frankreich gilt Comte die intellektuelle Zerrüttung (désordre intellectuell). Das Leben zersplittert sich in lauter individuelle Meinungen und Bestrebungen; so besteht keine genügende Gegenwirkung gegen den Egoismus des Einzelnen, gegen die Übermacht der materiellen Interessen, gegen die politische Korruption; es fehlen zusammenhaltende Ideen, es ist ein Stand der Halbüberzeugungen, indem es unter den Einfluß des flüchtigen Augenblick und jeweiligenn Ausdrucks gerät, auch bloß rhetorische Gewandtheit den Einfluß solider Leistungen weit überwiegt."

"Den Kern des Positivismus bezeichnet sein Name: es ist die strenge Einschränkung des Denkens und zugleich des Lebens auf das Positive, d. h. auf die Welt der unmittelbaren Beobachtung und Erfahrung. Durchaus verfehlt erscheint alles Unternehmen, hinter dieses Gebiet zurückzugehen und seinen Befund anderswoher zu erklären, nicht minder verfehlt ist alle Richtung des Handelns darüber hinaus."

"Neben der Leidenschaft des gewöhnlichen Glücksverlangens wirkt auch eine Sehnsucht nach mehr Entwicklung des Menschen als Menschen, nach einer Höherbildung des menschlichen Daseins. Und was dem Ganzen über das Besondere der Parteilehren hinaus Macht verleiht, das ist ein Verlangen, das heute unverkennbar in immer breiteren Wogen durch die Menschheit geht: das Verlangen der Massen nach mehr Teilhaben am Glück, nach mehr Teilhaben auch an geistigen Gütern. Welche Bahn dieses Verlangen einschlagen wird, das wird namentlich davon abhängen, ob in den ungeheuren Wirren der Zeit die Menschheit die Kraft zu einer geistigen Konzentration und zu einer inneren Erhöhnung des Lebens finden wird. Denn nur dann könnnte die Vernunft die Bewegung lenken und leiten, sondern würden trübe Leidenschaften sie fortreißen."


1. Die innere Bewegung des 19. Jahrhunderts
und die Wendung zum Realismus

Das 19. Jahrhundert hat nicht ein und dieselbe Richtung nur weiterverfolgt, sondern es hat eine völlige Umwälzung der Ziele und der Arbeit vollzogen: von einer Idealkultur, welche gegenüber der sinnlichen Erscheinung eine neue Welt aufbaut, ist es zu einer Realkultur übergegangen, welche im unmittelbaren Dasein alle Aufgaben des Menschen findet und von dieser Aufgaben Lösung alles Heil erwartet. Mit besonderer Deutlichkeit erscheint in Deutschland die Umwälzung in den Jahren von und nach 1830. Die Naturwissenschaften dringen vor und gewinnen einen Einfluß auch auf die allgemeine Weltanschauung; 1826 errichtete JUSTUS von LIEBIG in Gießen sein chemisches Laboratorium, und im Winter 1827/28 hielt ALEXANDER von HUMBOLDT an der Universität und in der Sing-Akademie zu Berlin seiner Vorlesungen über physische Weltbeschreibung. In dieselbe Zeit fallen technische Erfindungen, die den Verkehr unermeßlich erleichtern und in steigendem Maß zur Belebung der wirtschaftlichen Arbeit, zur Umwälzung der bisherigen Produktionsbedingungen wirken: 1827 die Erfindung der Schiffsschraube, welche die Dampfschiffahrt erst recht zum Mittel des Weltverkehrs macht, 1830 die Lokomotiv-Eisenbahn. Zugleich verpflanzen sich von der Pariser Julirevolution Bewegungen wie nach anderen europäischen Ländern, so auch nach Deutschland; das Verlangen nach größerer politischer Freiheit, nach mehr Teilnahme der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten will nicht wieder zur Ruhe kommen. In eben diese Jahre fallen die Verhandlungen der deutschen Staaten zur Herstellung größerer wirtschaftlicher Einheit, aufgrund derer am 1. Januar 1834 der "Deutsche Zoll- und Handelsverein" ins Leben tritt. Gleichzeitig werden die Größen der älteren Epoche abberufen: 1827 stirbt PESTALOZZI, 1831 HEGEL, 1832 GOETHE, 1834 SCHLEIERMACHER; augenscheinlich versinkt eine alte Zeit und eine neue steigt auf.

Dieser neuen Zeit ist eigentümlich die Richtung des Menschen auf die umgebende Welt, die Gestaltung seines Gedanken- und Lebenskreises aus dem Verhältnis zu ihr. Beim Weltbild weicht die spekulative Philosophie den Naturwissenschaften, und das Streben findet sein Hauptziel nicht mehr in der inneren Bildung der Individuen durch Literatur und Kunst, sondern in der Verbesserung des politischen und sozialen Zusammenseins. Zugleich verändert sich die Art der Tätigkeit: nicht mehr trägt ein kühner Flug der Phantasie den Menschen über alles sinnliche Dasein hinaus zur Bildung neuer Welten, sondern das Wirken bindet sich eng und streng an den sichtbaren Vorwurf, es wird jetzt in ausgeprägterem Sinn zur Arbeit. Nichts ist charakteristischer für die eigene Art des 19. Jahrhunderts als dieses Groß- und Mächtigwerden der Arbeit. Gewiß hat es auch den früheren Jahrhunderten nicht an Emsigkeit und Fleiß gefehlt, auch ältere Zeiten bieten bewunderungswürdige Vorbilder gewaltiger Leistung. Aber im 19. Jahrhundert hat sich die Arbeit bei sich selbst gegen frühere Zeiten wesentlich verändert, sie hat sich mehr von der unmittelbaren Empfindung wie den individuellen Zwecken abgelöst und fester mit den Gegenständen verschlungen, sie versetzt sich in ihr Gefüge, ihre Gesetze und Notwendigkeiten und vertritt sie mit siegreicher Kraft gegenüber dem Menschen; so vollzieht sie, wohl die größte Emanzipation des 19. Jahrhunderts, eine Emanzipation vom Menschen, erhebt sich ihm gegenüber wie ein selbständiges Wesen und macht die Individuen zu willfährigen Werkzeugen ihres rastlosen Fortschritts. Bei einer solchen Emanzipation schließt sich die Arbeit mehr und mehr zu riesenhaften Komplexen zusammen, so in der Industrie mit ihren gewaltigen Fabrikbetrieben, so im Handel mit seiner weltumspannenden Organisation, so auch in der Wissenschaft mit ihrer unablässig fortschreitenden Differenzierung. Innerhalb dieser Komplexe muß das Individuum seine Stelle suchen, es bedeutet nichts und vermag nichts, wenn es sich von ihnen absondert und eigene Wege einschlägt. Aber mit der Einschränkung der Individuen wächst das Vermögen der Menschheit. Das Erkennen entringt der Natur ungeahnte Kräfte und Zusammenhänge und zieht sie mit der Wendung zur Technik in den Dienst der Menschheit; auch im engen Kreis des Menschen wird weit mehr Unvernunft ausgetrieben und Vernunft entwickelt, reicher und bewegter wird das Leben, die Organisation der Arbeit lehrt politische und soziale Aufgaben sicher bewältigen, die früher aller Lösung spotteten.

Zu einer solchen Höhe konnte die Arbeit nicht aufklimmen ohne sichere Grundpfeiler, sie erhielt solche durch eine Verstärkung des Miteinander und Nacheinander der Kräfte, durch ein Wachstum von Gesellschaft und Geschichte. Das im vollen Gegensatz zum 18. Jahrhundert. Denn dieses war zur Abschüttelung veralteter Traditionen und zur Ausbildung eines eigenen Lebens auf eine zeitlose, jedem Menschen gegenwärtige Vernunft zurückgegangen und hatte zugleich das höchste Ziel in die Ausbildung kräftiger Individuen gesetzt. Schon innerhalb des Idealismus hatte das Widerspruch gefunden und einen Umschlag erfahren: die Romantik wie die Spekulation hatten die Geschichte zu hohen Ehren gebracht, und die Verehrung des Staates hatte sich bei HEGEL zu einer verderblichen Überspannung gesteigert. Aber dabei stand hinter der Geschichte und der Gesellschaft eine geistige Welt, allein als Darstellung dieser hatten sie einen Wert, nicht in ihrem sichtbaren Befund. Dieser Befund aber wird dem Realismus zur Hauptsache; Geschichte und Gesellschaft, wie sie im unmittelbaren Dasein vorliegen, werden zur erzeugenden Werkstätte alles geistigen Lebens, zum alleinigen Lebenskreis des Menschen. Aus diesen sichtbaren Zusammenhängen muß alle Betätigung hervorgehen, in sie alle einmünden; nur was ihnen angehört, hat volle Wirklichkeit. So wird der Mensch ganz in diese Welt gestellt und an sie gebunden, aber er findet auch in ihr unvergleichlich mehr al frühere Zeiten meinten und ahnten; die Mahnung GOETHEs
    "Er stehe fest und sehe sich hier um,
    Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm"
gewinnt nun volle Wahrheit.

So erwächst eine Lebensführung realistischer Art, grundverschieden von allem, was bis dahin die Geschichte an realistischen Bewegungen zeigte. Denn der bisherige Realismus war weit mehr eine Kritik, eine Opposition, ein Rückschlag gegen dargebotene Lebensgestaltungen als ein selbständiges Schaffen; das menschliche Dasein aus eigener Kraft tragen und gestalten konnte er nicht und wollte er kaum. Dies aber ist es, was der moderne Realismus unternimmt; wie er die ganze Ausdehnung des Daseins an sich zieht, so möchte er auch die idealen Bedürfnisse der Menschheit aus seinen Zusammenhängen verstehen und mit seinen Mitteln befriedigen.

Sein Streben und seine Hoffnung ist, das ganze Leben wahrhafter, gehaltvoller, kräftiger zu machen, indem er den Menschen von erträumten Höhen abruft und auf den sicheren Boden der nächsten Wirklichkeit stellt; aus Spiel und Tändelei scheint das Leben zu vollem Ernst aufzusteigen, im Ringen mit dem harten Widerstand der Dinge mehr Willensstärke und mehr Charakter zu erzeugen. - Auch die einzelnen Lebensgebiete ergreift eine solche Wandlung. Um von der Religion tief berührt zu werden und sich bejahend zu ihr zu verhalten, dazu hat dieser Realismus sein Streben zu ausschließlich der sichtbaren Welt zugewandt, aber es entfällt der frivole Spott früherer Jahrhunderte, und man ist bereit, die Religion als eine notwendige Entwicklungsstufe des Menschengeistes anzuerkennen. Wohl aber erzeugt das neue Leben aus eigenem Vermögen neue moralische Aufgaben und Antriebe. Wie es die Arbeit auf das Ganze des geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhangs begründet, so verlangt es von den Individuen eine willige Unterordnung, ja Aufopferung für die Zwecke des Ganzen, ein unverdrossenes Wirken in Reih und Glied; das Handeln wird nun an erster Stelle auf die Hebung des gemeinsamen Wohlseins gerichtet, die Ethik gestaltet sich mit der Hervorkehrung der Zusammengehörigkeit zum Handeln für andere, zum "Altruismus". Auch darin liegt ein, wenn auch weniger bewußtes, ethisches Element, daß die neuen Zusammenhänge den Menschen strenger an das Gesetz der Sache und an den jeweiligen Stand der Entwicklung binden; er muß Schranken erkennen und achten, er muß viel Resignation üben, ohne darüber an Kraft und Freude der Arbeit einzubüßen. - Diese Lebensführung erzeugt auch eine eigentümliche "realistische" Kunst, die nicht neue Welten vorspiegeln, sondern die Wirklichkeit selbst genauer sehen lehren möchte, ebenso eine "realistische" Wissenschaft, welche, unter willigem Verzicht auf ein unzulängliches Wesen der Dinge, die Zusammenhänge und Gesetze der Erscheinungen umso klarer zu erfassen und durch diese Einsicht Macht über das Geschehen zu gewinnen sucht.

Solches neues Leben erzeugt notwendig auch neue Lebensanschauungen; je nachdem innerhalb jenes Daseinskreises hier oder dort der beherrschende Mittelpunkt gewählt wurde, mußten diese Lebensanschauungen verschieden ausfallen. In unsere Betrachtung gehören namentlich drei Bewegungen: der Positivismus, die Entwicklungslehre, der Sozialismus. Der Positivismus umspannt den Gesamtkreis des realistischen Strebens und will alle Mannigfaltigkeit ausgleichen, aber er verbleibt am meisten bei einer bloßen Zusammenstellung und erzeugt keine starken Antriebe; die Entwicklungslehre und der Sozialismus bieten eine ausgeprägtere, aber auch einseitigere Gestaltung der Wirklichkeit, jene von einem neuen Bild der Natur, diese von der Forderung einer neuen Gesellschaft aus.

Diesen Lebensanschauungen gibt einen Halt ihr enger Zusammenhang mit der Arbeit der Zeit; das empfiehlt sie zugleich den Söhnen der Zeit. Sie haben den weiteren Vorteil, dem ersten Eindruck der Dinge näher zu bleiben, si können rascher auf weite Kreise wirken, unmittelbarer ins praktische Leben eingreifen. So mag es dünken, als ob nur ein Nebel alter Irrungen und eingewurzelter Vorurteile ihr volles Durchdringen hemmt, und als ob die Verscheuchung dieses Nebels dem Leben einen unermeßlichen Gewinn an Kraft und Klarheit verspricht.

Ob die Sache in Wahrheit so liegt, wird zu erwägen sein. Zunächst ist zu prüfen, ob die realistischen Systeme in dem Unternehmen, alle Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen, mit ihren eigenen Mitteln auskommen und nicht vieles, vielleicht das Bestee, demselben Gegner entlehnen, den sie vernichten möchten. Die Hauptentscheidung aber liegt daran, ob das menschliche Leben in das hier vorgehaltene Bild der Wirklichkeit aufgeht, ob die Einschränkung darauf nicht unerträgliche Verwicklungen bewirkt, ob nicht die eigene Erfahrung und Bewegung des Jahrhunderts zwingend über eine solche Begrenzung hinaustreibt. Doch zuvor gilt es, jene Lebensanschauungen, in ihren eigenen Zusammenhängen zu betrahten und namentlich zu sehen, was sie uns neu an Wirklichkeit zuführen, an Anregung bereiten.


a. Der Positivismus. Comte

Die Hauptidenn des Positivismus stammen schon aus dem 18. Jahrhundert: aber erst das 19. hat sie in AUGUSTE COMTE (1798-1857) zu einem System zusammengefaßt, mit der Arbeit der Zeit eng verbunden und zugleich zu vollem Einfluß auf das Ganze des Lebens gebracht.

Den Kern des Positivismus bezeichnet sein Name: es ist die strenge Einschränkung des Denkens und zugleich des Lebens auf das "Positive", d. h. auf die Welt der unmittelbaren Beobachtung und Erfahrung. Durchaus verfehlt erscheint alles Unternehmen, hinter dieses Gebiet zurückzugehen und seinen Befund anderswoher zu erklären, nicht minder verfehlt ist alle Richtung des Handelns darüber hinaus. Das besagt nach verschiedenen Richtungen hin energische Verneinungen. Hier ist kein Platz, für eine Religion mit ihrem Glauben an eine Gottheit und eine Unsterblichkeit. So gewiß unser Erfahrungskreis als ein Reich bloßer Beziehungen nicht das Ganze der Wirklichkeit bildet, sondern irgendetwas hinter sich hat, die Natur dieses Weiteren bleibt in völligem Dunkel, das sich nie wird aufhellen können. So bleibt nichts übrig als ein Verzicht auf alle Religion im alten Sinn. Aber nicht nur die religiöse, auch die spekulative Denkweise muß fallen. Auch sie überschreitet mit ihren Ideen und Prinzipien die Erfahrung, auch sie führt das Leben in die Irre, indem sie mit ihrer Vorspiegelung absoluter, in einem Aufschwung erreichbarer Ziele eitle Hoffnungen, unnütze Aufregungen, schließlich schwere Enttäuschungen bereitet. So hat das Wissen rückhaltlos alle Fragen nach dem Woher und Wohin einzustellen, das Handeln alle Ziele und Wege innerhalb der nächsten Welt zu suchen. Das unermeßliche Gewebe von Beziehungen, als welches sich nunmehr jene Welt erweist, bildet kein wirres Durcheinander, sondern in aller Mannigfaltigkeit des Geschehens erscheint eine Gleichartigkeit der Verkettung des Nebeneinander wie des Nacheinander, d. h. eine Gesetzlichkeit, jeder einzelne Vorgang bildet einen Fall eines allgemeinen Geschehens. Die Ermittlung dieser Gleichartigkeiten, dieser Gesetze, wird zur Hauptaufgabe der Wissenschaft; wohl bieten sie keine Erklärung, sondern nur eine Beschreibung der Ereignisse, aber wie das Erfassen der einfachen Grundzüge allen Daseins selbst etwas Großes bedeutet, so eröffnet es zugleich die Aussicht auf ein überaus fruchtbares Handeln auf eine durchgängige Erhöhung des Lebens. Denn das Erfassen der Verkettungen der Dinge gestattet, von einem Punkt auf den andern zu schließen und die Folgen vorherzusehen; wo wir aber voraussehen, da können wir berechnen und für unsere Zwecke gestalten; die Voraussicht ist der Hebel der Macht. So bilden Theorie und Praxis eine einzige Kette; echtes Wissen ist Sehen, um vorherzusehen (voir pour prévoir). Demnach läßt die Beschränkung des Lebens auf die Erfahrung einen großen Zuwachs an Glück und mit ihm eine Befriedigung aller wesentlichen Bedürfnisse unserer Natur erwarten; wir gewinnen an echtem Glück indem wir einem erträumten entsagen.

Eine solche Absteckung des Lebenskreises ist zugleich eine Zurückführung des Menschen auf seine wahre Stellung im All. Denn die Erfahrung berschreiten konnten wir nur, indem wir menschliche Gebilde in das All hineintrugen, es nach unseren subjektiven Wünschen zurechtlegten, uns zum Mittelpunkt der Wirklichkeit machten. Dieser Wahn muß verschwinden, wir müssen uns dem All einfügen und wissen, daß nur die Entwicklung der Beziehungen zur Umgebung eine rechte Betätigung unserer Kräfte und ein wahrhaftes Glück verspricht.

Ist aber diese Klärung samt der Erkenntnis unserer Schranken etwas so Neues und bedeutet sie so viel, daß sie der Ausgangspunkt einer neuen Lebensordnung werden kann? Daß sie es in Wahrheit ist, lehrt die Betrachtung der Vergangenheit, lehrt eine philosophische Durchmusterung der Geschichte. Denn sie zeigt mit unwiderleglicher Klarheit, daß jene Aufklärung den Abschluß einer langen Bewegung bildet, daß sich sehr langsam die Menschheit vom Irrtum zur Wahrheit gefunden hat. In drei Hauptstufen: der religiösen, der metaphysischen, der positiven hat sich jene Bewegung vollzogen. Als der Mensch sich zuerst vom Druck der physischen Not zu einem freieren Denken erhoben und ein Gesamtbild der Wirklichkeit unternommen hat, da konnte er gar nicht anders als menschliche Züge und Zustände in das All hineinsehen, die Dinge nach Art der Kinder mit menschenartigem Leben erfüllen, sie personifizieren. Das ist die Stufe des religiösen Glaubens, der das Weltall von menschenartigen Gottheiten regiert denkt und vom Gewinn ihrer Gunst alles Gelingen erwartet. Diese religiöse Stufe durchläuft verschiedene Phasen vom rohen Fetischismus bis zu einem veredelten Polytheismus, nach COMTE der Höhe der religiösen Lebensführung, und dann zum Theismus, in dem schon, beim Verblassen des Sinnlichen und Menschlichen, der Übergang zur Stufe der Metaphysik beginnt. Nun kommt mehr und mehr die Herrschaft an abstrakte Prinzipien, an Begriffe wie Vernunft, Natur, Zwecke, Kräfte usw.; die gröbere Form des Anthropomorphismus ist überwunden, aber nur zugunsten einer feineren, vielleicht noch gefährlicheren. Nun entsteht der Kampf um Prinzipien, nun hofft man, mittels energischer Durchsetzung abstrakter Ideen der Menschheit mit einem Schlag alles Glück erringen zu können. Endlich muß diese metaphysische Stufe mit ihrer revolutionären Art der positiven weichen, die, schon lange vorbereitet, im 19. Jahrhundert mit voller Klarheit hervortritt und die Herrschaft an sich nimmt. Die Leitung des Lebens kommt nun an die Naturwissenschaft, die mit der Forschung unsere Begriffe und mit der Technik unsere Arbeit gestaltet, ja eine richtige Arbeit, ein zielbewußtes Wirken zur Umgebung überhaupt erst möglich macht. Die Philosophie soll dabei nicht verschwinden, aber ihre Aufgabe wird dahin beschränkt, die Ergebnisse der Naturwissenschaft auf den allgemeinsten Ausdruck zu bringen, sie zu "systematisieren" und zugleich die rechte Methode aller Forschung herauszustellen.

Der Durchblick der Weltgeschichte, der sich von hier aus ergibt, ist recht einseitig und angreifbar. Aber wie er aus einer charakteristischen Grundüberzeugung entspringt, die mit zähester Energie durchgeführt wird, stellt er die Dinge in eine eigentümliche, oft überraschende Beleuchtung. Das Gesamtbild der Geschichte hat viel Verwandtschaft mit LEIBNIZ. Aller Fortgang vollzieht sich langsam und kontinuierlich, alles Spätere war im Früheren schon vorbereitet, auch in scheinbaren Umwälzungen kommt nur das Ergebnis eines schrittweisen Aufsteigens zum Ausdruck. So ist das Vermögen des Augenblicks eng begrenzt, kein ungestümes Gebaren kann Leistungen der Zukunft vorwegnehmen. Aber zugleich ist keine Arbeit vergeblich, auch die geringfügigste Leistung bildet einen Stein zum großen Bau der Zeiten. Die treibende Kraft des Ganzen ist die Intelligenz, ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe entspricht eine eigentümliche Art der Arbeit, entspricht alle Gestaltung des Lebens. War aber bei LEIBNIZ das Erkennen eine Klaren von innen heraus, so wird es bei COMTE ein Richtigstellen unseres Verhältnisses zur Umgebung. Damit gewinnt der Relativismus breiten Raum, strenger werden wir auf die Erfassung des jeweiligen Augenblicks und die Erfüllung seiner Forderung gewiesen; auf die Zeit erfolgreich wirken kann nur, wer ihre eigentümliche Lage präzise erfaßt uns ihr gemäß sein Handeln gestaltet. Das gilt natürlich auch für die Gegenwart.

Es hat aber die Gegenwart ihre Aufgabe darin, die positivistische Bewegung, die in den letzten Jahrhunderten unablässig angeschwollen ist, zu voller Bewußtheit und gleichmäßiger Durchbildung zu bringen. Was immer als ein Rest der früheren Stufen an abstrakten Begriffen und absoluten Theorien noch fortwirkt, wird verbannt, die neue Denkart aber auch den Gebieten zugeführt, die sich ihr bisher verschlossen haben. Dafür gilt es, die verschiedenen Gebiete der Wissenschaft zu durchwandern und zu ermitteln, wieviel an jeder Stelle erreicht ist und was noch fehlt. Es unterscheidet aber COMTE fünf Hauptdisziplinen: Astronomie, Physik, Chemie, Biologie, Soziologie (mit einem neu geprägten Wort); je weiter wir in dieser Folge fortschreiten, desto mehr findet sich für die volle Klärung zu tun. Die Astronomie und Physik sind, unter der Leitung der Mathematik, so gut wie ganz dem neuen Geist gewonnen, die Chemie enthält noch manche unklare Begriffe und subjektive Deutungen, auch die Biologie, deren Schöpfung die wissenschaftliche Haupttat des 19. Jahrhunderts bildet, ist noch mitten im Fluß, vor allem aber harrt das gesellschaftliche Leben, dieser höchste und zugleich verwickeltste Teil unserer Erfahrung, erst einer wissenschaftlichen Durchleuchtung. Zu einer solchen aber drängen mit besonderer Wucht die Probleme und Verwicklungen der Gegenwart.

Diese Lage, - COMTEs Schilderung geht zunächst auf die französischen Zustände zur Zeit des Bürgerkönigtums, aber sie trifft zugleich allgemeine Züge des modernen Lebens -, wird mit großer Lebhaftigkeit vorgeführt. Als der Hauptquell aller Mißstände gilt die intellektuelle Zerrüttung (désordre intellectuell). Das Leben zersplittert sich in lauter individuelle Meinungen und Bestrebungen; so besteht keine genügende Gegenwirkung gegen den Egoismus des Einzelnen, gegen die Übermacht der materiellen Interessen, gegen die politische Korruption; es fehlen zusammenhaltende Ideen, es ist ein Stand der Halbüberzeugungen, indem es unter den Einfluß des flüchtigen Augenblick und jeweiligenn Ausdrucks gerät, auch bloß rhetorische Gewandtheit den Einfluß solider Leistungen weit überwiegt. Früher herrschten in Frankreich die Richter und die Gelehrten, jetzt herrschen die Advokaten und die Literaten. Wohl geht inzwischen technische Arbeit unablässig fort, aber ihrer Größe entspricht keineswegs der Stand der Menschen, die Lehrer (docteurs) sind weit kleiner als die Lehre (doctrine), die Baumeister als die Bauwerke. Eine solche Lage ist kein gedeihlicher Boden für die Kunst, denn sie kann nichts rechts leisten ohne gemeinsame Überzeugungen, welche Autor und Publikum innerlich verbinden. Die Religioin aber hat hier ihre Hauptwirkung darin, ihren Anhängern einen instinktiven und unüberwindlichen Haß gegen alle Andersdenkenden einzuflößen; auch pflegt der heutige Mensch die Religion als unerläßlich für die anderen, dagegen als überflüssig für sich selbst zu betrachten. Das politische Leben endlich leidet schwer unter einer Entzweiung der Ideen von Ordnung und Fortschritt; die Ordnung hat heute ihre Stütze vornehmlich in den überkommenen religiösen und metaphysischen Gedankenmassen, mit denen wir wissenschaftlich gebrochen haben und die uns daher als reaktionär gelten; die neueren Überzeugungen dagegen, die den Gedanken des Fortschritts tragen, entwickeln leicht einen revolutionären Charakter. So ruft alles nach einer neuen Gestaltung des Daseins.

Wie kann nun COMTE eine solche zu erreichen hoffen? Gemäß seiner Überzeugung, daß aller echte Fortschritt an der "intellektuellen Evolution" hängt, kann nur die Wissenschaft Hilfe bringen, sie tut es, indem sie die ganze Ausdehnung des menschlichen Lebens den positivistischen Überzeugungen unterwirft, es damit bei sich selbst klärt und zugleich dem Ganzen der Natur und Welt enger verbindet. Es gilt vor allem eine Überwindung der Vereinzelung und Verfeindung des Menschen. Das Hauptmittel hierzu bietet der Begriff des Organismus, nicht in der vom Griechentum überkommenen künstlerischen, sondern in der modern naturwissenschaftlichen Fassung verstanden. Ein organischer Komplex ist eine Zusammensetzung, ein Gewebe lauter einzelner Elemente, das sie untrennbar miteinander verschlingt und in Wohl und Wehe, in Tun und Lassen unablässig aufeinander anweist. Diesen Begriff bringt uns die Biologie namentlich mit ihrer Histologie entgegen; die höchste Form des Organismus aber bildet die Gesellschaft. Denn der einzelne Mensch ist so sehr auf die anderen angewiesen, daß er ohne sie gar nicht zu existieren vermag; alles menschliche Leben entwickelt sich nur im Zusammensein, nur innerhalb der Gesellschaft; nach ihrem Stand bemißt sich auch die Art und das Wohl des individuellen Daseins; bis in seine Wünsche und Träume hinein ist jeder abhängig von seiner Umgebung, dem sozialen "milieu". Dieser Gedanke des Organismus der Gesellschaft ist nun mit Hilfe der modernen Naturwissenschaft präziser zu erfassen und energischer in seine Konsequenzen zu entwickeln. Das Bewußtsein, an erster Stelle ein Glied des Ganzen zu sein, muß weit mehr Kraft und Eindringlichkeit erlangen, es muß die "altruistischen" Triebe gegenüber den egoistischen stärken, die nicht schlechthin verwerflich sind, die aber gewöhnlich einen viel zu breiten Raum einnehmen. Niemand soll sich als bloßer Privatmann fühlen, jeder vielmehr als ein öffentlicher Beamter, der Reiche aber als "Depositär des gemeinsamen Besitzes". Die moderne Industrie, welche eine "systematische Tätigkeit der Menschheit auf die Außenwelt" herbeiführt und darin einen philosophischen Charakter trägt, fordert eine größere Teilung der Arbeit, eben damit verbindet sie die Menschen enger miteinander und verstärkt das Gefühl durchgängiger Solidarität. Eine Hauptaufgabe der Regierung ist es, die Gefahren der Arbeitsteilung zu überwinden, sie namentlich dadurch ins Gute zu lenken, daß jeder in eine seinen Anlagen entsprechende Stellung und Tätigkeit gebracht wird. Um aber das gesellschaftliche Leben den Schwankungen des Augenblicks und der Selbstsucht der Parteien zu entziehen, bedarf es eine Scheidung gemäß der Art des mittelalterlich-katholischen Systems, dieses "politischen Meisterwerks menschlicher Weisheit", eine Scheidung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt (pouvoir temporel et spirituel). Direkt soll die geistliche Gewalt nur die Erziehung leiten und sie damit vor den wechselnden Strömungen des politischen Lebens zu behüten; im Übrigen soll sie nur durch Beratung, durch ihre moralische Autorität wirken. Die Ausübung dieser geistlichen Gewalt denkt sich COMTE geleitet durch ein permanentes Konzil der positiven Kirche zu Paris, wozu alle Kulturvölker Abgeordnete entsenden sollen. Augenscheinlich gestaltet sich damit der Positivismus zu einer Art Religion, zu einem neuen Glauben (foi nouvelle), der die Idee Gottes durch die der Menschheit ersetzt. Auch über die Religion hinaus bildet diese Idee den Mittelpunkt der idealen Bestrebungen; so hat die Kunst vornehmlich die Aufgabe, die Gefühle darzustellen, welche die menschliche Natur auszeichnen, die erwartete bessere Zukunft der Menschheit in lebensvollen Schilderungen vorauszunehmen und dadurch das Bedürfnis nach Idealität (besoin d'idéalité) zu befriedigen. Die Idee einer endlosen Weiterentwicklung der Menschheit gewährt auch dem Einzelnen, durch das Beharren seines Wirkens im Ganzen, eine Ewigkeit, die ihm als einem bloßen Individuum versagt ist. Hoffnungsfreudig klingt das Ganze aus: durch wachsende Eintracht der Gesellschaft, Verbesserung der Verhältnisse, Beherrschung der Natur wird die Menschheit immer mehr Größe entfalten, der Verehrung immer würdiger werden.

So ein umfassendes, mit bewunderungswürdiger Energie durchgebildetes, bis in seine Sprache hinein eigentümlich gestaltetes System des Realismus. Auf der Geschlossenheit seiner Art beruth zum guten Teil die Größe seiner Wirkung. Charakteristisch ist hier vor allem das Unternehmen, mit den Mitteln der richtig verstandenen Erfahrung allen Idealen des Menschen gerecht zu werden und eine durchgreifende Erneuerung der Gesamtlage herbeizuführen; an diese Aufgabe hat COMTE seine beste Kraft gesetzt. Gelöst aber hat sie höchstens scheinbar. Denn jede genauere Prüfung seines Gedankenbaus zeigt, daß die Hauptbegriffe im Verlauf der Untersuchung viel mehr und etwas ganz anderes werden als sie zu Anfang waren, daß in sie unvermerkt eben die idealistischen Fassungen und Schätzungen einfließen, die der Plan des Ganzen als eine verderbliche Verirrung unbedingt ausschloß. Läßt sich in der Gedankenwelt eines reinen Realismus konsequenterweise die Menschheit, das "große Wesen" (le grand être), zu göttlicher Verehrung erheben, läßt sie sich auch nur zu einem inneren Ganzen zusammenschließen, das dem Einzelnen Pflichten auferlegt, ist hier ein Bedürfnis nach Idealität, ein Bedürfnis nach Ewigkeit denkbar? Auch das bekundet eine innere Verschiebung, ja Umwälzung, daß die Schilderung des reinen Tatbestandes der Erfahrung beim Menschenleben in eine scharfe Kritik, ja den Versuch einer Reformation umschlägt; beim kritischen Punkt des Übergangs vom Erkennen zum Handeln versagt die eigene Kraft des Realismus, nur die Hilfe des Idealismus läßt ihn diesen Punkt überwinden und vom bloßen Sein zu einem Sollen fortschreiten.

Unverkennbar ist auch ein starkes Mißverhältnis zwischen den aufgedeckten Schäden und den dargebotenen Heilmitteln. Die Schäden des modernen Lebens hat COMTE mit gewaltger Eindringlichkeit geschildert; ihnen entgegenzusetzen aber hat er nichts anderes als eine intellektuelle Klärung und eine andere, im Grunde alte Organisation, die Form des katholischen Systems ohne seinen religiösen Gehalt, als ob sich das eine vom andern so leicht scheiden und beliebig verwenden lassen würde. Schwere Probleme im innersten Kern des Lebens hat COMTE aufgedeckt; durch ein Bauen von außen her, mit bloßem Verstand und Geschick will er sie lösen. Erscheint nicht auch hier jene Überschätzung der Organiation, die das romanische Leben durchdringt?

Aber wie dem auch sein mag, COMTE bleibt ein großer und fruchtbarer Denker. Mehr als irgendein anderer hat er alle Hauptfäden des Realismus zu einem Gewebe verschlungen, namentlich die naturwissenschaftliche und gesellschaftliche Denkweise mit gleicher Kraft entwickelt und miteinander auszugleichen unternommen. Mit seiner energischen Durcharbeitung und seiner, zumindest für den ersten Eindruck, gleichartigen Gestaltung bildet das Ganze ein realistisches Gegenstück zum System HEGELs; wie bei diesem, so reicht auch bei COMTE die Wirkung weit über die besondere Schule hinaus in das allgemeine Leben. Als das Tiefste an COMTE erscheint aber die Belebung all seiner Lehren durch das leidenschaftliche Streben des ganzen Menschen nach Wahrheit und Glück. Mag dieses Streben das System in ärgste Widersprüche verwickeln und es von seinem Ausgangspunkt weit abführen, gerade diese Widersprüche bilden ein ergreifendes Zeugnis eines großen Verlangens, einer tiefen Sehnsucht.


b. Die moderne Naturwissenschaft
und die Entwicklungslehre

Die moderne Naturwissenschaft hat ihre entscheidenden Grundzüge schon im 17. Jahrhundert gefunden, das 19. hat nur die Umrisse weiter ausgeführt, die dort mit sicherer Hand gezogen waren. Aber das Weltbild der Naturwissenschaft war mit jener Leistung noch kein Stück der allgemeinen Lebensanschauung geworden, namentlich die Blütezeit der deutschen Poesie und Spekulation war so erfüllt von der Größe des Menschen und so beschäftigt mit ihrer Entwicklung, daß ihr die ganze Natur zu einem bloßen Hintergrund wurde; wie wäre z. B. ein System wie das HEGELs mit seiner Gleichsetzung von menschlichem Geistesleben und Geistesleben überhaupt, mit seiner Selbstverwirklichung des absoluten Geistes in der menschlichen Geschichte denkbar ohne eine geozentrischen Standort? Das Vordringen des Realismus verändert das gründlich, die Naturwissenschaft wird nun aus einem Sondergebiet die Beherrscherin der Gedankenwelt; was immer die Arbeit der letzten Jahrhunderte am Bild der sichtbaren Welt verändert hatte, das gelangt nun zur vollen Wirkung für die Überzeugung der Menschheit. Und es hatte sich viel gegen die ältere Art verändert, die das Mittelalter und auch die Reformation als ausgemachte Wahrheit beherrschte, namentlich mit den religiösen Vorstellungen so eng verwachsen war. Schon die Veränderung des äußeren Bildes greift weit tiefer ein, als oft zugestanden wird. Unvergleichlich größer mußte die Bedeutung der Menschheit und jedes Menschen erscheinen, solange die Erde als der Mittelpunkt einer geschlossenen Weltkugel galt und das Handeln der Menschheit zum Bewohner eines mittleren Planeten eines anscheinend nicht irgendwie ausgezeichneten Fixsterns im unermeßlichen Weltenraum wird, wenn damit, vom All aus angesehen, sein ganzer Lebenskreis zu winziger Kleinheit herabsinkt. Der äußeren Wandlung des Naturbildes entspricht aber eine nicht geringere innere. Erschien früher die Natur als von seelenartigen Kräften erfüllt oder doch beherrscht, erschien zugleich das menschliche Dasein inmitten eines innerlich verwandten Kreises und in unablässigem Austausch mit der Umgebung, so hat die neue Wissenschaft alles Seelenleben aus der Natur vertrieben und sie dem Menschen dadurch innerlich entfremdet. Wohl ließ ihm die dualistische Denkweise der Aufklärung zunächst einen eigenen Kreis seelischen Fürsichseins, aber je mehr das gewaltige Reich der Natur sich durchbildete, je mehr auch die tausendfachen Beziehungen des Menschen zu ihm ersichtlich wurden, deste mehr Einbuße erfuhr jener Sonderkreis und desto mehr wurde er schließlich im Ganzen erschüttert; immer überwältigender zog die Natur den Menschen an sich, immer unerbittlicher unterwarf sie ihn ihren Ordnungen, zerlegte sie seine Seele in ein Getriebe einzelner Vorgänge und suchte sie ihn ganz und gar in das Stück eines durchgängigen Mechanismus zu verwandeln. Die Anerkennung dieses völligen Naturcharakters des menschlichen Daseins schien aber allererst unser Leben von Wahn und Schein zur Wahrheit zu führen.

Diese Wendung durchzusetzen, dazu hat namentlich die Entwicklungslehre beigetragen, wie sie umgekehrt ihrerseits aus jener allgemeinen Bewegung vornehmlich ihre Kraft zieht. Die Entwicklungslehre selbst hat eine eigentümliche Geschichte. Dem Hauptzug des klassischen Altertum ist sie fremd, seiner künstlerischen Überzeugung gilt der Grundbestand der Welt, gelten im Besonderen die organischen Formen als unveränderlich; was die Erfahrung an Veränderung zeigt, wird hier als Folge eines Rhythmus des Weltlebens verstanden, der im Auf- und Absteigen immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Das Christentum mit seiner Behauptung einer einzigen großen Weltgeschichte mußte einen solchen Rhythmus und eine endlose Wiederkehr der Welten verwerfen; auf seinem Boden schuf die religiöse Spekulation eine Entwicklungslehre, welche die ganze Welt mit ihrer Vielheit als die Entfaltung, die "Auswicklung" der göttlichen Einheit verstand, als die zeitliche Darstellung unwandelbarer Ewigkeit. Dieser religiösen Entwicklungslehre folgt, entsprechend der Wendung der Neuzeit zum Pantheismus, eine künstlerische, die das All von innen heraus zu immer höheren Stufen der Durchbildung fortschreiten läßt; so bei SCHELLING und GOETHE. Beide Fassungen gaben aber unserer Erfahrung einen unsichtbaren Hintergrund, die schaffenden Kräfte lagen in verborgener Tiefe, das unmittelbare Dasein mit seiner Geschichte war nicht sowohl die Werkstätte der Bildung als der Schauplatz ihres Hervortretens.

Die moderne Wissenschaft, als exakte Naturwissenschaft, hat das völlig verändert. Sie läßt alle Gestaltung auf dem eigenen Boden der Erfahrung, aus den in der Erfahrung gegebenen und zugänglichen Faktoren erfolgen, sie will das Sein ganz und gar aus dem geschichtlichen Werden erklären, ihr wird die Welt nicht durch irgendeinen Einfluß von außen her, sondern lediglich durch sich selbst weitergetrieben; eine solche Fassung stellt die Entwicklungslehre in einen direkten Gegensatz zu aller Erklärung aus dem Jenseitigen und Übernatürlichen.

Gleich beim ersten Entwurf des neuen naturwissenschaftlichen Weltbildes durch DESCARTES erscheint der Gedanke einer allmählichen Gestaltung des Weltbaus von höchst einfachen Anfängen her durch die eigenen Kräfte der Natur, um durch KANT und LAPLACE in eine sichere Bahn geleitet zu werden. Das Seelenleben des Individuums als ein allmähliches Werden und Aufsteigen von kleinen Elementen her zu verstehen, damit ist die moderne Psychologie seit LOCKE eifrigst bemüht. Nicht weniger war man schon im 18. Jahrhundert beflissen, den geschichtlichen Stand der Menschheit aus ihrer eigenen Bewegung auf den Boden der Erfahrung, ohne einen relisiösen oder metaphysischen Hintergrund, zu begreifen. Aber diese geschichtliche Betrachtungsweise behielt bis tief in das 19. Jahrhundert hinein eine arge Lücke in der scheinbaren Unwandelbarkeit und Unableitbarkeit der organischen Formen; einer exakt wissenschaftlichen Erklärung der Wirklichkeit schien dmit eine unüberschreitbare Grenze gesetzt. Anthropomorphe Vorstellungen und die Neigung zum Wunderbaren konnten sich immer wieder auf dieses Gebiet als auf ein unangreifbares Asyl zurückziehen. So griff es tief in das Ganze der Weltanschauung zurück, wenn Männer wie LAMARCK und DARWIN darin einen Wandel brachten. DARWIN, der die Sache zum Sieg geführt hat, verschmilzt bekanntlich zwei Grundgedanken: die allgemeinere Behauptung eines allmählichen Werdens der Organismen von einfachsten Grundformen her, die Einführung der geschichtlichen Erklärung in das Reich der organischen Natur: die Deszendenzlehre [Abstammungslehre - wp] und die nähere Angabe der Mittel und Wege des Werdens: die Selektionslehre [natürliche Auslese - wp] mit ihrem unablässigen Zusammenstoß der Wesen im Kampf ums Dasein, ihrer Auslese des Lebensfähigeren durch die Festhaltung und Ansammlung der für diesen Kampf nützlichen Variationen, ihrer Erklärung von Gebilden hoher Zweckmäßigkeit ohne irgendeinen Zweckgedanken. Diese nähere Ausführung wirkt auch auf den allgemeinen Gedanken zurück, insofern sie dem allmählichen Werden Anschaulichkeit und Eindringlichkeit verleiht.

Uns hat nicht die naturwissenschaftliche Theorie, sondern nur ihr Einfluß auf die Lebensanschauung zu beschäftigen; dafür aber ist es besonders wichtig, jene beiden Stufen der Lehre deutlich auseinander zu halten. - Die Ausprägung einer selbständigen Lebensanschauung hat namentlich die Selektionslehre unternommen; indem sie den Menschen ganz und gar der Natur einfügt, läßt sie die Kräfte, welche die Bildung der Naturformen zu beherrschen scheinen, auch sein Leben gänzlich erfüllen. Es muß damit alles aus ihm verschwinden, was es bisher an inneren Größen und Werten enthalten hat; alle Bildung muß von außen her erfolgt sein, und sie wird nur erhalten durch ihre Nützlichkeit für den Kampf ums Dasein. Das Leben kommt hier nur vorwärts, indem irgendwie nebenbei entstandene Eigenschaften wegen ihrer Nützlichkeit festgehalten, vererbt, im Lauf der Zeiten verstärkt werden. Aber beim Fehlen alles inneren Forttriebes kann dieses Höhere nie zur Sache einer inneren Aneigung werden, kann keine Freude am Guten als Guten, am Schönen als Schönem aufkommen, sondern alles bleibt ein bloßes Mittel der Selbsterhaltung; die innere Erniedrigung des Lebens durch die Tyrannei der bloßen Nützlichkeit, die schon bei ADAM SMITH ersichtlich wurde, erreicht hier den äußersten Gipfel. Zugleich muß bei konsequenter Denkweise alle Gesinnung gegenüber der Leistung gleichgültig werden. Auch gibt es hier kein anderes Recht als das des Stärkeren; alle Humanität, namentlich alle Fürsorge für Schwache und Leidende, würde, als eine Verlangsamung des Kampfes, zu einer verderblichen Torheit; könnte in diesem Getriebe der Kräfte überhaupt von einer Aufgabe die Rede sein, so müßte sie dahin gehen, den Kampf ums Dasein möglichst hart, unausgesetzt, schonungslos zu gestalten zur Ausrottung alles Untauglichen und möglichsten Beschleunigung der Auslese.

Das alles freilich nur bei konsequenter Denkweise, wie sie hier nicht geübt zu werden pflegt. Denn ein verstecktes Eindringen andersartiger Überzeugungen läßt jene innere Zerstörung wohl gar als eine Befreiung von drückender Enge, als eine Erhöhung des menschlichen Lebens begrüßen; unvermerkt werden jene Bestrebungen in eine durch jahrtausendelange Arbeit mit geistigen Werten erfüllte Atmosphäre hineingestellt und wird aus dieser angeeignet, was gerade paßt. Nur diese Ergänzung läßt zu einem leidlichen Lebensbild gelangen und die völlige Sinnlosigkeit übersehen, die bei jener Gestaltung das menschliche Leben erhalten müßte. Denn alles Mühen und Streben, alle Arbeit der Jahrtausende, alle Verzweigung der Kultur, sie dürften nicht hoffen, den Menschen irgendwie innerlich weiter zu bringen und ein Reich der Vernunft zu entwickeln, sondern alles käme darauf hinaus, immer stärkere, d. h. zum Kampf ums Dasein tauglichere Wesen zu bilden. Aber wem frommt dieses ganze Dasein, das so viel Mühe macht und so viel Zerstörung fordert? Weder der eigene Träger noch irgendjemand anders hat etwas davon, schließlich mündet alles in ein großes Nichts und wird damit durchaus sinnlos. - Wegen einer solchen prinzipiellen Zurückweisung auf dem Gebiet der Lebensanschauung ist der Selektionslehre auch hier keineswegs alle Bedeutung abgesprochen. Sie hat die aufrüttelnde Wirkung des Kampfes ums Dasein, den Einfluß der äußeren Lebenshaltung auch auf das Innere, die Summierung kleiner Größen im Verlauf der Zeit u. a. erst voll zur Anerkennung gebracht. Aber das alles ist in einen größeren Zusammenhang zu stellen, um der Wahrheit und nicht dem Irrtum zu dienen.

Die Selektionslehre wird selbst auf dem Gebiet der Naturwissenschaft mehr und mehr eingeschränkt, umso weniger kann sie die Führung des Lebens ansich nehmen. Ganz anders steht es mit dem allgemeineren Gedanken der Deszendenzlehre. Wie er in der Naturwissenschaft immer festere Wurzeln schlägt, so wird sich auch die Lebensanschauung mit ihm abfinden müssen, nicht minder als sie sich mit KOPERNIKUS abgefunden hat. Sie wird dabei bedeutende Einflüsse von ihm aufnehmen. Nicht nur gewinnt die Veränderung im Ganzen der Welt eine ausnahmslose Geltung, wenn sich die geschichtliche Betrachtung auch über die organischen Formen ausdehnt, es wird zugleich der Mensch der Natur näher gerückt und enger verkettet. Denn unmöglich kann jene genetische Erklärung die ganze Natur an sich ziehen, vor dem Menschen aber plötzlich abbrechen. Aber die Anerkennung jener Gedankengänge bringt keineswegs einen unsteten Relativismus oder einen geistfeindlichen Naturalismus mit sich. Denn eine allmähliche Bildung der organischen Formen macht sie nicht shcon zu einem gelegentlichen Erzeugnis des bloßen Zusammentreffens; jene Bildung kann eine zeitlose Gesetzlichkeit in sich tragen; was an einem besonderen Punkt hervorbricht, kann in der Gesamtordnung angelegt sein. Nicht die Bewegung ansich, sondern nur eine regellose Bewegung errecht Anstoß. Die Verwandlung in eine Bewegung, in der feste Ordnungen walten, macht das Bild der Natur nicht kleiner, sondern größer; sie löst freilich nicht das Problem des Entstehens, aber sie verteilt es auf eine weitere Fläche und nimmt ihm den magischen Charakter. Auch die Annäherung des Menschen an die Natur kann nach direkt entgegengesetzter Richtung gewandt werden, je nachdem der Inhalt seines Lebens verstanden wird. Bringt dieses Leben nichts wesentlich Neues, vollzieht es nicht eine innere Erhebung über die Natur, so muß allerdings jene engere Verkettung es ganz auf die Natur zurückwerfen; erscheint aber in ihm eine neue Stufe der Wirklichkeit, ein selbständiges Geistesleben, so kann die engere Verbindung mit der Natur nur dahin wirken, diese zu heben, ihr einen tieferen Grund zu geben, sie einem größeren Zusammenhang einzufügen. Es wird dann nicht der Mensch durch die Natur erniedrigt, sondern die Natur durch den Menschen erhöht. - So ist es überhaupt nicht die Naturwissenschaft, welche zum Naturalismus führt, es ist vielmehr die Schwäche der Überzeugungen vom Geistesleben, es ist die mangelnde Gewißheit einer geistigen Existenz, welche einer Populärphilosophie gestattet, die Naturwissenschaft in einen materialistischen Naturalismus umzubiegen. Auch hier liegt die letzte Entscheidung nicht bei den einzelnen Tatsachen, sondern bei den Zusammenhängen, in die man sie bringt, beim Ganzen des Lebens, dem sie eingefügt werden, beim Lebensprozeß, den man der äußeren Erfahrung entgegensetzt.


c. Die moderne Gesellschaftslehre und die
Lebensanschauung der Sozialdemokratie

Die moderne Gesellschaftslehre und die sozialdemokratische Bewegung stehen in keinem direkten Zusammenhang. Aber den radikalen Bestrebungen zur Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung gab eine breitere Grundlage und eine leichtere Anknüpfung die Verstärkung, welche das gesellschaftliche Leben im Bewußtsein des 19. Jahrhunderts erfahren hat. Die Unterordnung der Individuen unter ein soziales Ganzes ist nichts Neues, eher war die von der Aufklärung vollzogene Emanzipation des Individuums ein Ausnahmefall. Aber bis dahin wurde die Gesellschaft - Staat oder Kirche - von unsichtbaren Zusammenhängen getragen und durchwaltet, sie kamen an den Einzelnen als überlegene Ordnungen selbständiger Art. Nunmehr aber wird die Gesellschaft ganz auf den Boden des unmittelbaren Daseins, der natürlichen Existenz gestellt, sie erscheint nun als ein bloßes Nebeneinander der einzelnen Kräfte, als ein unmittelbarer Lebenszusammenhang. Aber zugleich wird klar, wie fest dieses Gewebe in seinen tausendfachen Verkettungen zusammenhängt, und wie abhängig das Individuum bis in alle einzelnen Lebensäußerungen von ihm ist. Weit mehr als es seine Natur fertig mitbringt, wird sie ihm durch die gesellschaftliche Umgebung gebildet. Zugleich aber erhellt sich, wie gleichartig in aller scheinbaren Abweichung die Individuen sind, wie alle ihre Unterschiede zwischen bemessenen Grenzen liegen. Die Beobachtung größerer Zahlen läßt aus dem scheinbaren Chaos Durchschnittswerte, einen "mittleren Menschen" herausheben und zeigt eine Regelmäßigkeit auch in solchen Erscheinungen, die sonst gänzlich dem Zufall unterworfen schienen. Alles zusammen wirkt dahin, die Hauptarbeit den gesellschaftlichen Zuständen zuzuwenden, das Wirken am bloßen Individuum verschwindet hinter der Sorge um die Verbesserung der allgemeinen Verhältnisse, nur diese scheint auch das Individuum sicher zum Glück und zur Vernunft zu führen. So wird die Arbeit für die Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Kern aller praktischen Tätigkeit, die Ethik gestaltet sich zu Sozialethik. Ohne eine solche allgemeinere Tendenz des modernen Lebens ist das mächtige Vordringen der Sozialdemokratie kaum zu verstehen.

Es hat uns aber von der sozialdemokratischen Lehre nur die ihr innewohnende Lebensanschauung zu beschäftigen; daß sie eine solche mit den wirtschaftlichen Problemen verbindet, daß sie ihre Anhänger mit einer eigentümlichen Gedankenwelt umfängt, das begründet und erklärt zum guten Teil ihre Macht über die Gemüter.

Der Zusammenhang beider Schichten wird hergestellt durch eine Überzeugung, welche sich namentlich von ADAM SMITH her im modernen Leben verbreitet hat, die Überzeugung, daß die Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse, die Art des Gewinns und der Verteilung der äußeren Güter, über den Charakter des gesamten Lebens entscheidet, daß Vernunft oder Unvernunft unseres Daseins von der Lösung dieser Aufgabe abhängt. Aber erst der Sozialismus gibt dieser Überzeugung ihre volle Bewußtheit und Eindringlichkeit, zugleich aber ihre verneinende Kraft. Wissenschaftlich verkörpert sie sich namentlich in einer materialistischen oder vielmehr ökonomischen Geschichtsphilosophie; einer solchen scheint der wirtschaftliche Kampf das ausschließliche Triebrad der geschichtlichen Bewegung, selbst die Religionsbildungen wie das Christentum oder Umwälzungen wie die Reformation sind von hier aus zu verstehen; nicht eine Sehnsucht nach geistigen Gütern hat sie hervorgebracht, sondern ein Verlangen der unterdrückten Massen nach einer besseren Lebenshaltung; die Ideen waren lediglich Werkzeuge oder Reflexe wirtschaftlicher Wandlungen. Wie eine solche Überzeugung zum Ziel der Ziele die Besserung der wirtschaftlichen Lage macht, so wird sich nach der Vernunft oder Unvernunft dieser der Wert des gesamten Daseins bemessen.

An diesem Hauptmerkmal aber vollzieht die Sozialdemokratie eine völlige Wendung gegen ADAM SMITH: der starke Optimismus in der Beurteilung der modernen Wirtschaftsordnung schlägt um in einen nicht weniger starken Pessimismus. Von der völligen Befreiung des Individuums und dem unbegrenzten Wetteifer um die äußeren Güter erwartete ADAM SMITH die glücklichste Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens, am Kampf sah er vornehmlich die Freiheit und Willenssstärke der Individuen, an der Gesamtbewegung das sichere Aufsteigen zu immer neuen Höhen. Auch die nähere Zeichnung des wirtschaftlichen Lebens war voller Voraussezungen optimistischer Art; daß jene Verwandlungen des Daseins in ein Getriebe von Naturkräften das Seelenleben schädigen könnte, kam nicht zur Erwägung.

Der Umschlag, den die sozialdemokratische Theorie an dieser Stelle vollzieht, wurde zunächst durch die eingreifende Wandlung des wirtschaftlichen Prozesses im Laufe des 19. Jahrhunderts hervorgerufen. Seine frühere Harmlosigkeit ist gänzlich verschwunden. Die Arbeit steht unter der Herrschaft der Maschine und der Massenproduktion, die Aufhebung der Entfernungen beschleunigt Wirkung wie Gegenwirkung und verschärft dadurch zusehends den Kampf, das Werkzeug und mit ihm die Art der Arbeit befindet sich in einer unablässigen Veränderung, zugleicht sind riesenhafte Ansammlungen wirtschaftlicher Mittel und arbeitender Kräfte entstanden: all das ergibt schwerste Verwickungen, mit unheimlicher Größe und Leidenschaft stehen jetzt die Gegensätze auf dem Plan.

Aber so groß diese Verschiebungen sind, sie hätten nicht so stürmische Bewegungen bewirkt, wären sie nicht von Wandlungen innerer Art aufgenommen und weitergeführt. Das Subjekt ist seit ADAM SMITH stark gewachsen, und zwar das Subjekt des unmittelbaren Daseins, der empfindende und genießende Mensch. Indem dieses Subjekt die Erfahrungen eifriger auf sein Befinden bezieht und seinen Anteil am Glück und Lebensgenuß berechnet, indem dabei nicht einzelne begünstigte Klassen, sondern die große Menge zu Wort kommt, fühlt es sich durchaus unbefriedigt uns sieht aus einer solchen Stimmung die bestehenden Verhältnisse in trübster Beleuchtung. Jetzt verweilt der Blick vorwiegend bei den Mißständen; was sich an Unerquicklichem findet, das wird verallgemeinert und ausgemalt, die dunkelsten Züge beherrschen das Bild des Ganzen, der Pessimismus entfaltet sich hier nicht weniger stark und einseitig, als es der Optimismus bei ADAM SMITH getan hat.

Zugleich wirkt zur Verschärfung der Probleme die Erhebung aller Fragen ins Universelle und Prinzipielle, wie das dem Zug der gesamten Neuzeit entspricht, im 19. Jahrhundert aber namentlich durch Hegel vertreten wird. Dieser Denkweise fassen sich alle einzelnen Fragen in eine einzige zusammen und wirken dadurch mit erhöhter Macht, sie schon der Ausdruck "soziale Frage" die gesamte Lage als problematisch darstellt; dabei erscheinen die Gedankenmassen mit ihren Forderungen als selbständie und überlegene Mächte, gegenüber deren Walten das Vermögen wie der gute Wille einzelner Persönlichkeiten gänzlich verschwindet, die sich bis in die äußersten Konsequenzen entfalten und gegen allen Widerspruch durchsetzen. Als Hauptgegensätze erscheinen hier Kapital und Arbeit, das Kapitl - vorwiegend als Geldkapital vorgestellt - mit einer unausrottbaren Tendenz, weiter und weiter zu wachsen und sich die Arbeit immer sklavischer zu unterwerfen. Der Sache gibt dabei eine arge Verbitterung und leidenschaftliche Aufregung die Behauptung, daß das Kapital nicht rechtlich erworben, sondern dem Arbeiter entzogen wird.

Die Aufhebung des Kapitals und die Einsetzung der Arbeit in volle Herrschaft verheißt dagegen eine gänzliche Wendung zum Guten, eine neue Ordnung der DInge. Sie wird mit Sicherheit erwartet gemäß der den Lauf der Geschichte beherrschenden Dialektik. Nach MARX war die "kapitalistische Phase" die "erste Negation des individuellen, auf eigene Arbeit gegründeten Privateigentums"; nun wird diese Negation durch den inneren Fortgang der Bewegung selbst negiert werden und aus der Überwindung der Gegensätze eine höhere Stufe hervorgehen.

Diese höhere Stufe wird aber mit ebenso liebevollem Optimismus ausgemalt wie der bisherige Stand mit düsterem Pessimismus. Die Einsetzung der Arbeit in ihr Recht und die Ordnung aller Verhältnisse vom Ganzen her, bei gleicher Fürsorge für alle Individuen, verheißt das volle Lebensglück und auch die Befriedigung aller idealen Bedürfnisse. Die Gesellschaft erscheint jetzt als ein innerer Zusammenhang, von dem ethische Kräfte ausströmen; durch die Steigerung der Macht glaubt man, bei demokratischer Ordnung, die Freiheit der Einzelnen keineswegs gefährdet. Dabei erfolgt oft, namentlich bei LASALLE, eine Idealisierung der Volksmasse, eine Höherschätzung der Menschen in einfacher Lebenslage. ROUSSEAUsche Stimmungen erwachen von Neuem. Der Mensch ist im Grunde gut und unverderblich, alles Böse kommt von einer schlechten Einrichtung der Gesellschaft; gewähren wir allen Individuen die freie Entfaltung ihrer Kräfte, und der Sieg der Vernunft ist gesichert. Alsdann wird sich der Gesamtstand des Lebens unermeßlich heben und bessere, glücklichere, "vollseitig entwickelte" Menschen, eine höhere Form der Erziehung, des Familienlebens usw. erzeugen, kurz die alte Hoffnung eines vollkommenen Reiches auf Erden ersteht neu inmitten des Realismus unserer Zeit. Umso weniger ist hier Platz für die Religion; sie pflegt als eine bloße Erfindung zugunsten der bevorzugten Klassen schroff abgelehnt zu werden, unter völliger Verkennung ihrer eigentümlichen Art und ihrer geschichtlichen Wirkungen.

Das Technische dieser Lehre zu erörtern, gehört nicht hierher. Das Ganze der Bewegung ist deswegen nicht leicht genommen, weil es eingreifende Wandlungen der Arbeit, ungeheure Verwicklungen des wirtschaftlichen Lebens, wenn auch in greller Parteibeleuchtung, zum Ausdruck bringt und zugleich bedeutende Probleme aufwirft, die, einmal mit solcher Energie gestellt und so sehr zu einem allgemeinen Bewußtsein gelangt, nicht wieder einfach verschwinden können. Namentlich läßt sich das Verlangen nach einer Verbreiterung der Kultur und des Geisteslebens, nach mehr Teilnahme aller Einzelnen am Ertrag der Arbeit des Ganzen nicht so leicht abweisen; wer in einem Verlangen danach nicht auch einen idealen Zug erkennt und es nicht als einen Schaden und Schmerz empfindet, daß die volle Entwicklung der geistigen Kräfte nur einem kleinen Teil vergönnt ist, dem wird das Verständnis jener Bewegung stets verschlossen bleiben. Auch bildet dieselbe in mancher Hinsicht nur den Höhepunkt allgemeiner Tendenzen des 19. Jahrhundert. Durch die Zeit geht ein starker Glaube an die Allmacht politischer und sozialer Einrichtungen, der Stand der Gesellschaft ist zum Hauptproblem geworden, fast jeder Parteimann erwartet von der strikten Durchführung seines Programms volles Glück und volle Tüchtigkeit der Menschen; der freie Spielraum der Individuen ist gegen frühere Zeiten sehr beschränkt, die Sorge um eine Freiheit innerhalb des Staates läßt die um eine Freiheit gegenüber dem Staat fast vergessen; dazu hat eine hochentwickelte und komplizierte Kultur die Schätzung wie den Wert der materiellen Güter sehr gesteigert. Das alles ergreift der Sozialismus und zieht es mit schärfster Zuspitzung und aggressiver Wendung, in seine Bahnen; die Verbindung zu einem Gesamtbild und die Aufrufung des ganzen Menschen gibt ihm eine Überlegenheit gegen die Durchschnitssart, die unsicher zwischen widerstreitenden Antrieben hin und her schwankt.

Das Besondere der Lösung muß freilich, auf die Lebensanschauung angesehen, scharfer Kritik begegnen. Dem einen herrschenden Impuls, dem stürmischen Verlangen nach mehr Macht und mehr Glück der Massen, ist hier alles Sehen und Denken untergeordnet und damit die Erfahrung des Menschenlebens in eine viel zu enge Bahn gedrängt. Indem ein solches Streben eifrig alles ergreift und ausnutzt, was die Hauptrichtung zu fördern verspricht, werden verschiedenartige, ja widerstreitende Gedankenmassen unbedenklich aufgenommen und zusammengeschoben. Ein Materialismus und Sensualismus seichtester Art wird begrüßt, weil er die überkommene Religion auf das Gründlichste zu erschüttern scheint, obwohl jene Richtungen ansich, als Erzeugnisse einer überreifen Kultur, wahrlich nicht geeignet sind, eine Begeisterung für neue Ideale zu unterstützen; ROUSSEAU wird geschätzt, weil der die Volksmassen verherrlicht und die Menschenrechte proklamiert hat; die romantisch-sentimentale Grundanschauung aber, aus der jenes hervorgegangen ist, liegt jetzt in weitester Ferne; auch HEGEL findet soweit Anerkennung, als seine Lehre von einer die Geschichte durchwaltenden Dialektik, einer Bewegung in lauter Gegensätzen, den eigenen Sieg zu verbürgen scheint; daß diese Überzeugung eine Verwandlung der Welt in einen Denkprozeß und damit in ein Innenleben voraussetzt, daran wird kaum gedacht.

Schon dieses Durcheinander widerstreitender Gedankenmassen verrät, daß die Bewegung hier nicht zur erforderlichen Tiefe vordringt; es kommt dies aber letztlich daher, weil hier das Hauptproblem des menschlichen Lebens unrichtig gefaßt wird. Als solches Hauptproblem erscheint nämlich in diesen Zusammenhängen die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, namentlich die Verteilung der wirtschaftlichen Güter; von einer Neuordnung dessen wird eine Wendung des gesamten Daseins zur Vernunft und zum Glück, wird ein Idealstand des Menschenlebens erwartet. In einer solchen Erwartung stecken eigentümliche Überzeugungen vom Seelenleben und vom Glück des Menschen, die der weltgeschichtlichen Erfahrung nicht entsprechen, ja ihr direkt widersprechen.

Der Mensch muß keine inneren Verwicklungen in seinem Wesen tragen, wenn eine besondere Art des gesellschaftlichen Zusammenseins ihm zu voller Tüchtigkeit verhelfen soll, und es muß ihm die Befreiung von den Sorgen der Lebenserhaltung und eine Einschränkung der Arbeit volles Glück bereiten, wenn jene neue Ordnung alle Wünsche befriedigen soll. Nun braucht man kein Anhänger der Lehre vom Sündenfall oder einer durchgängigen Schlechtigkeit des Menschen zu sein und muß doch eine schwere innere Verwicklung bei ihm anerkennen. Der Mensch überschreitet nun einmal die Natur und beginnt sich zur Stufe des Geisteslebens, d. h. einer bei sich selbst befindlichen Innerlichkeit, zu erheben. Dieses neue Leben stellt neue Ansprüche auch an seine Gesinnung, es verlangt eine Arbeit, eine Hingebung, ja eine Aufopferung für Ziele, welche jenseits des individuellen Lebenskreises liegen; andererseits vermag das mit jener Wendung erfolgende Wachstum von Intelligenz und Kraft die begrenzte natürliche Selbsterhaltung zu einem schrankenlosen und zerstörenden Egoismus, zu unermeßlicher Habsucht, Genußsucht, Herrschsucht zu steigern. So liegen große Spannungen und Entscheidungen in unserem Leben, es steht, nicht etwa blloß theologische Dogmen und philosophische Spekulation, sondern durch seine eigensten inneren Erfahrungen unter einem durchgehenden moralischen Gegensatz. Was immer diesen Gegensatz versteckt oder abschwächt, das wirkt, mag es nach außen hin noch so viel erregen und bewegen, am innersten Punkt zur Trägheit und Verflachung; es kann leicht das Gegenteil seiner eigenen Absicht erreichen, indem es die Aufmerksamkeit und die Arbeit von dem Punkt ablenkt, wo sie vor allem notwendig sind. Uralt sind Theorien, welche von einer Vernichtung oder doch Einschränkung gesonderter Lebenskreise eine Veredlung des Menschen, ein Verschwinden alles Bösen erwarteten; schon vor Jahrtausenden hat ARISTOTELES ihnen die Erwägung entgegengehalten, daß die Verwicklung tiefer liegt, daß die schlimmsten Verbrechen nicht aus Not, sondern aus Übermut und "Mehrhabenwollen" entstehen, daß wenn eine neue soziale Ordnung besondere Verfehlungen aufheben oder mindern mag, sie dafür andere einführen oder vermehren wird.

Wie sich aber das moralische Problem nicht als ein bloßer Anhang zum sozialen behandeln läßt, so wird auch das Glücksproblem durch die dort vorgehaltene sorgenfreie und behagliche Lebenshaltung nicht gelöst. So gewiß und so weit der Mensch ein geistiges Wesen ist, kann ihm jenes Ziel nicht genügen; einem solchen Wesen müßte ein solches Behagen rasch in eine innere Leere umschlagen, es müßte unbedingt auf einem Inhalt, einer inneren Erfüllung des Lebens bestehen; einen solchen kann es aber unmöglich finden, ohne auf sein Grundverhältnis zur Wirklichkeit zurückzugehen, ohne eine innere Aneignung der Welt, ohne eine sichere Begründung seines Lebens und Wesens in einem Reich von Wahrheit und Liebe. Das aber erhebt wiederum die Probleme zur Hauptsache, welche die sozialistische Lebensgestaltung als Nebensache behandelt.

So müssen wir uns zum Charakteristischen jener Lebensgestaltung ablehnend verhalten. Aber es sei nicht verkannt, daß in dieser Bewegung manches wirkt, was jenen engen Rahmen überschreitet, daß hier im Besonderen neben der Leidenschaft des gewöhnlichen Glücksverlangens auch eine Sehnsucht nach mehr Entwicklung des Menschen als Menschen, nach einer Höherbildung des menschlichen Daseins wirkt. Und was dem Ganzen über das Besondere der Parteilehren hinaus Macht verleiht, das ist ein Verlangen, das heute unverkennbar in immer breiteren Wogen durch die Menschheit geht: das Verlangen der Massen nach mehr Teilhaben am Glück, nach mehr Teilhaben auch an geistigen Gütern. Welche Bahn dieses Verlangen einschlagen wird, das wird namentlich davon abhängen, ob in den ungeheuren Wirren der Zeit die Menschheit die Kraft zu einer geistigen Konzentration und zu einer inneren Erhöhnung des Lebens finden wird. Denn nur dann könnnte die Vernunft die Bewegung lenken und leiten, sondern würden trübe Leidenschaften sie fortreißen.

Den Lebensanschauungen des Realismus gab und gibt ihre Macht in der Zeit ihr enges Verhältnis zur Arbeit der Zeit; indem sie Hauptleistungen und Hauptprobleme dieser Arbeit mit besonderer Lebhaftigkeit ergreifen und von ihnen aus charakteristische Gesamtbilder der Wirklichkeit entwerfen, wirkt die Überzeugungskraft der grundlegenden Einzelerfahrungen auch zur Empfehlung des daraus entwickelten Gesamtbildes. Daß sie keine verwickelten Voraussetzungen in sich tragen, daß sie jedem unmittelbar zugänglich und verständlich sind, das fördert ihr Durchdringen namentlich in einer Zeit, wo ein Aufstreben durch weiteste Kreise geht und jeder Einzelne unbedenklich ein Urteil über die höchsten Dinge wagt. - Aber was eine Stärke für die Wirkung, ist oft eine Schwäche in der Sache. Jenes Ausgehen von besonderen Erfahrungen und Erfahrungskreisen wird gefährlich, indem es in einem hastigen Vordringen dem Ganzen der Welt- und Lebensanschauung die Art des Besonderen aufzuprägen sucht; es wird das immer nur teilweise gelingen, und es muß schließich wohl oder übel eben das zur Hilfe gerufen werden, was man überwinden wollte: der Idealismus mit seinem Aufbau von innen her. Je mehr die realistischen Bewegungen sich zu einem System ausbauen, desto mehr geraten sie in Widerspruch mit ihren eigenen Voraussetzungen; die Systeme streng auf diese Voraussetzungen zurückführen, das heißt sie von innen her zerstören. Jene Systeme pflegen sich tatsächlich rasch in die Gedankenwelt des Idealismus zu versetzen und dort ihre Kraft zu entfalten; wird dabei ein leidliches Ziel erreicht, so scheint es fälschlich aus eigener Kraft gewonnen.

Der Realismus glaubt sich oft deswegen überlegen, weil er die Leitung des menschlichen Lebens glaubt ohne die Weiterungen und Verwicklungen ausüben zu könenn, die dem Idealismus zu schaffen machen. Aber nicht nur vergißt er dann jene unablässige Ergänzung aus dem feindlichen Lager, er übersieht auch das Sinken der Ziele, sowie die optimistische Verflachung hinsichtlich des menschlichen Seelenstandes, welche jenen Versuchen untrennbar anhaftet. Soweit diese Versuche aus eigenem Vermögen bauen, bauen sie von außen nach innen, sie kennen keine Tiefe der Seele, keine Probleme und Konflikte innerer Art, sie kennen nichts Dunkles und Geheimnisvolles im Menschenleben. So können sie alles Heil von verständiger Aufklärung oder auch geschickter Organisation erwarten; namentlich bei den naturwissenschaftlichen Lebensgestaltungen ist bemerkenswert ein so starker Intellektualismus, wie ihn die Aufklärungswelt kaum kannte. Durch neue Begriffe von der Weltumgebung scheint ohne Weiteres die innereste Gesinnung gewonnen und veredelt, die Größe des ganzen Menschen gesteigert. Wer die Aufgabe so kindlich leicht nimmt, kann sich freilich rasch am Ziel glauben.

So taugt der Realismus nicht zu einem allumfassenden Lebenssystem, vielmehr müssen seine Welten der Natur und der Gesellschaft als Teilwelten in ein überlegenes Gesamtleben aufgenommen werden, um ihren Wahrheitsgehalt rein zu erschließen. Aber dann erschließen sie in der Tat mit der Frische ihrer Anschauung und dem Eifer ihrer Arbeit viel fruchtbare Wahrheit, Wahrheit nicht nur an Einzelpunkte, sondern auch für das Ganze des Lebens; sie treiben zu einer Weiterbildung und Vertiefung dieses Lebens, indem sie eine bisher unterschätzte und vernachlässigte Seite nachdrücklich hervorkehren. Der Idealismus älterer Art begnügte sich gewöhnlich damit, geistige Inhalte und Bewegungen dem menschlichen Lebenskreis überhaupt zuzuführen; ihm fehlte ein energisches Streben, die ganze Menschheit und die volle Breite der menschlichen Verhältnisse damit gleichmäßig zu durchdringen. Zugleich aber fehlte ein gehöriger Kampf mit den Widerständen und damit nicht nur eine Aufbietung höchster seelischer Kraft, sondern auch eine Durchbildung der geistigen Inhalte zu voller Wirklichkeit und anschaulicher Gegenwart. Diese mehr der Erfahrung zugewandte Seite vertritt nun der Realismus mit eindringlicher Kraft, er zwingt, das Leben auf eine breitere Basis zu stellen, er wirkt damit als ein Stachel zur Ausbildung eines wesenhaften Lebens und zugleich zur Entwicklung eines wahrhaftigeren Idealismus. Sofern der Realismus in dieser Weise auch der Innerlichkeit des Lebens mehr Erz und Kraft zuzuführen verspricht, soll er freudig begrüßt sein. Einstweilen aber liegt diese Wirkung noch in weiter Ferne.
LITERATUR - Rudolf Eucken, Die Lebensanschauungen der großen Denker, Leipzig 1905