ra-2ra-2D. Koigenvon HallerJ. Mausbachvon HumboldtW. Hasbach    
 
HEINRICH von TREITSCHKE
Regierung und Regierte
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"Man soll sich nun vor allem über die Wirksamkeit der Presse keinen Jllusionen hingeben. Besonders die Tagespresse, welche ein gereiftes und ernstes Nachdenken ihrer Arbeiter nicht vertragen kann, die also leichtfertig ist und sein muß, schafft nichts Neues - wo sollen solche Leute neue Gedanken hernehmen? - aber sie bringt es an den Tag. Sie bringt Bedürfnisse, Leidenschaften zutage, die schon vorhanden sind im Volk und kann solche vorhandenen Ideen und Empfindungen dermaßen steigern, daß sie zuweilen sogar eine schreckliche Macht gewinnt."

"Ein tiefeingewurzelter Schaden der modernen Presse ist die völlig unnatürliche Verbindung ihrer politischen Aufgabe, der Vertretung und Verbreitung bestimmter Parteigedanken, mit dem Inseratwesen. Daß ansich gar kein Zusammenhang besteht zwischen Geschäftsanzeigen von beliebigen Schneidern und Schustern und der Politik, springt doch in die Augen. Das Inseratenwesen ist die materielle Grundlage unserer Zeitungen geworden. Keine Zeitung kann allein durch das Abonnement auch nur annähernd die Kosten ihrer Herstellung decken. Was aber die Inserate anlagt, so ist klar, daß gerade die sittlich verworfensten und ehrlosesten Blätter sich hierbei materiell am besten stellen. Man will Inserate durch jedes Mittel gewinnen; das Haschen nach der gemeinen Gunst des Publikums, das Kitzeln der niedrigsten Instinkte des Menschen wird zur Regel."

"Als Jllusion hat sich auch die Hoffnung erwiesen, daß der Journalismus die von ihm geschlagenen Wunden selbst wieder heilen wird, ebenso wie die andere, daß der freie Verkehr in Handel und Wandel vernünftige Preise herstellt. Die Macht der Gemeinheit und Dummheit ist eben nur zu oft größer als die Macht der Ehrlichkeit und des gesunden Menschenverstandes."

Aus der Aufhebung der Leibeigenschaft folgt aber auch, daß der Bestand geisticher Orden mit dem modernen Rechtsstaat unvereinbar ist. Eine vollständige Sklaverei als in den geistlichen Orden der katholischen Kirche ist unter Menschen gar nicht denkbar. Der Mönch und die Nonne haben sich ihrer Persönlichkeit enthoben, wie unsere alte Sprache sagte, sie haben aufgehört Personen zu sein; sie geben ihr Eigentum, ihren ganzen Status im bürgerlichen Leben hin, sie wollen nur noch dienende Glieder ihrer klösterlichen Gemeinschaft sein. Das ist ein radikaler Widerspruch gegen die Gesetze des modernen Staates. Aus diesen folgt, daß auch das freiwillige Eingehen einer Sklaverei, einer Leibeigenschaft untersagt ist. Um seiner Institutionen willen hält der Staat aufrecht, was der Bürger ums einer Persönlichkeit willen verlangt. Der Staat ist nur eine äußere Drohung des Zusammenlebens der Menschen, er fragt nicht nach den Motiven. Es ist ihm ganz gleichgültig, ob ein Mensch ein Sklave wird, weil er im Spiel alles verloren hat, oder aus religiösen Motiven. Die persönliche Freiheit, welche der Staat allen seinen Untertanen verbürgt, wird in beiden Fällen aufgehoben, und das ist strafbar. Diesen leitenden Grundsatz muß man ins Auge fassen, um die Sophisterei der Klerikalen zu verstehen, wenn sie von den Rechten der Kirche reden. Man muß sagen: wo ein Staat persönliche Freiheit verlangt als conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp], da sind Klöster ansich verboten, und wenn der Staat ein Kloster erlaubt, so ist das eine Ausnahme von der Regel. Das ist der richtige Standpunkt. Klöster sind in ihrem Grundgedanken nach ein radikaler Widerspruch gegen die Rechtsgedanken der modernen Staatsordnung. Der Staat kann Ausnahmen zulassen, aber er soll sich immer klar sein, daß es Ausnahmen sind, und sich vorbehalten eine solche Indulgenz [Nachsicht - wp] jederzeit zurückzuziehen. Er soll sich nicht das Ungesetzliche über den Kopf wachsen lassen.

Im persönlichen Freiheitsbegriff liegt weiter die Sicherung gegen eine willkürliche Verhaftung. Hier ist England mit besonderem Eifer vorgegangen. Der berühmte Artikel der Magna Charta, welcher den Rechtsschutz der Gesetze König EDWARDs von Neuem feierlich zusicherte: daß niemand verhaftet werden sollte als nach dem Urteil eines Richters, ist ohne Frage eine große Errungenschaft; es ist aber ebenso gewiß, daß in modernen Hauptstädten dieses Recht ein veraltetes ist. In einem wohlgeordneten Staat, wo eine Überschreitung der Befugnisse der Polizeibehörden unter strenger Strafe stehen, und man sich also darauf verlassen kann, daß der Beamte seine Schuldigkeit tun wird, muß die Polizei in solchen Städten auch die Häuser betreten können. Daß Diebesspelunken und Bordelle heilig sein sollen ist einfach widersinnig. Man sieht die Folgen in London; daher kommt es, daß man schreckliche Verbrechen gar nicht aufdecken kann. Oder denken wir an den tragikomischen Vorgang vor einigen Jahren in Irland. Einer von den irischen Rebellen, der nichts wollte als Rebellion gegen die Königin, ein Hochverräter war verurteilt, die Polizisten waren ihm auf den Fersen; da zog er sich auf sein sogenanntes Schloß, einen alten, verfallenen Turm, zurück. In diesem Loch war er geschützt. Von Zeit zu Zeit ließ er sich an einem Seil herunter bis zur halben Höhe und hielt von dort eine aufrührerische Rede; die Polizisten hörten zu und mußten ihn gewähren lassen.

Man kommt immer wieder auf denselben Grundsatz zurück, daß alle persönliche Freiheit kein absolutes Recht sein kann, sondern eingeschränkt ist durch die Lebensbedingungen des Staates selber. Ein Staat kann in großen Städten kein geordnetes Leben führen, wenn man die Freiheit der Person in einem so weiten Sinn auslegt. Für die Sicherung einer vernünftigen persönlichen Freiheit genügt es, daß ein Verhafteter in einer bestimmten Frist verhört wird und erfäht, was man ihm vorwirft. Ferner ist wesentlich, daß Strafen bestehen für die Übertretung polizeilicher Rechte. Die diskrete Gewalt der Polizei hat ihre natürlichen Schranken daran, daß jeder, der sich verletzt glaubt, das Recht haben muß, sich zu beschweren und die Bestrafung eines Beamten, der seine Machtbefugnisse überschritten hat zu fordern. Es muß hier irgendeinen Rechtsweg geben, aber die Fassung eines Gesetzes gegen willkürliche Verhaftung ist darum schwer, weil man wiederum die Exekutivbehörde nicht einschüchtern, nicht mutlos machen darf.

Es folgt weiter aus dem Begriff der Persönlichkeit, wie ihn die moderne Humanität versteht, das Recht seine körperlichen und geistigen Kräfte zu allen wirtschaftlichen Erwerbszweigen frei zu gebrauchen, negativ ausgedrückt: der Anspruch darauf, daß niemand von Staatswegen verhindert werden soll, sein Brot auf jede ehrliche Art zu verdienen. Daß aber auch dieses Recht kein absolutes sein kann, leuchtet ein. Jeder geordnete Staat wird irgendwelche Vorschriften der Gewerbeordnung haben. Mag er nun Zünfte, mag er Konzessionen verlangen, gewisse Bedingungen muß er stellen. Ferner gibt es Gewerbe, welche in den Händen von Stümpern gemeingefährlich werden können. In keinem Staat der Welt sind die Baugewerbe vollkommen frei. Jeder hat sich einer vorgeschriebenen Bauordnung zu unterwerfen. Andererseits ist dieses Recht der freien Arbeit einer positiven Erweiterung fähig, die wir jetzt Schritt für Schritt herannahen sehen. Wenn der Grundsatz anerkannt wird, daß jeder Mensch das Recht hat, durch ehrliches Schaffen sich sein Brot zu verdienen, so kann man daraus ein positives Recht auf Arbeit folgern. Daß dieses Recht ein unendlich gefährliches ist und leicht mißbraucht werden kann, springt in die Augen. Es schlechthin zu verwerfen ist bei der großen Gefahr der modernen Großindustrie auch nicht möglich. Der Staat muß dafür sorgen, daß brave Leute, die Arbeit suchen, sie auch finden; er muß weiter für die Invaliden in irgendeiner Weise sorgen. Es liegt hier eines der für die Praxis schwierigsten Gebiete der Rechte persönlicher Freiheit vor uns und man kann durchaus nicht behaupten, daß das Recht auf Arbeit anerkannt ist im allgemeinen Bewußtsein; es gibt gebildete Menschenklassen, die sich dagegen sträuben. Es sind das werdenden Begriffe, denn alles Recht ist eben in einem ewigen Werden.

Daran schließt sich weiter die Anerkennung des Rechts, daß der Mensch als vernünftiges Wesen seine Meinung und Überzeugung frei äußern können soll; und das führt dann in Zeiten der Kultur und Überkultur zum Recht der Pressefreiheit. Auf dem Kontinent ist überall die Pressefreiheit als ein Grundrecht in die Staatsverfassungen aufgenommen, doch darf man sie nicht leichtfertig aus jenem Recht der freien Meinungsäußerung deduzieren. Jeder Mensch soll die Wahrheit sagen und darin darf ihn der Staat auch nicht stören; die Wahrheit aber ist ein subjektiver Begriff und dem Recht sie überall frei zu äußern steht die ebenso strenge Pflicht entgegen, keine öffentliches Unheil durch das gesprochene Wort anzurichten.

Aus diesem individuellen Recht die Wahrheit zu sagen, folgt ferne noch gar nicht das weitere Recht, die Wirkung des gesprochenen Wortes ins Tausendfache zu verstärken durch die Druckerpresse. Aus dem Begriff des freien Individuums heraus gelangt man also nicht zum Recht einer absoluten Pressefreiheit; man muß auch hier zunächst an das Ganze denken, an den Charakter des modernen Staates. Unser moderner Staat bedarf der öffentlichen Kritik. Jede einsichtige Regierung wird sich das auf die Dauer selber sagen, so groß die Unarten der Presse auch sein mögen. Die Regierung muß in beständiger Fühlung bleiben mit der öffentlichen Meinung. Denken wir an den berühmten Ausspruch des Berliner Kammergerichts zur Zeit FRIEDRICH WILHELMs II. Als eine den König scharf kritisierende Schrift angeklagt wr, da fällte das Gericht das Urteil, es hieße die Majestät selbst beleidigen, wenn eine solche Schrift als gefährlich angesehen würde. Eine Regierung, die ein gutes Gewissen hat, wird die öffentliche Kritik geradezu verlangen müssen.

Ein untergeordneter Gesichtspunkt ist es dagegen, daß der Einzelne wünscht, seine Meinung frei zu sagen; dieser persönliche Wunsch, wie alle anderen, hat vielmehr seine sehr bestimmten Schranken an den gegenüberstehenden Pflichten gegen das Gemeinwesen. Lange Zeit war dieses Recht durch geistliche Mächte gebunden. Die Zensur ist päpstlichen Ursprungs, namentlich ALEXANDER VI. hat sie ausgebildet, als sich die humanistischen Ideen zu regen begannen. Dann in den religiösen Kämpfen wird sie hüben und drüben sehr wirksam gehandhabt, später zu politischen Zwecken vom Staat übernommen. Hier hat England einer freieren Entwicklung die Bahn gebrochen; MILTON verfaßte seine herrliche Areopagitica, die schönste Verteidigung der Pressefreiheit, die je geschrieben worden ist. So wurde in England die Zensur früh abgeschafft. Aber damit hatte man durchaus keine Pressefreiheit; es lag noch immer in der Hand einer rücksichtslosen Regierung, den Verfasser eines unbequemen Libells [Büchlein - wp] verurteilen zu lassen. Er mußte zwar vor das Geschworenengericht gestellt werden; das aber hatte nur über die Frage der Autorschaft zu entscheiden. Erst jurz vor der französischen Revolution wurde den Geschworenen auch die Entscheidung zugewiesen, ob ein Buch ein strafbares Libell ist. Damit hörten die Presseprozesse immer mehr auf und sind allmählich völlig eingeschlafen.

Man soll sich nun vor allem über die Wirksamkeit der Presse keinen Jllusionen hingeben. Besonders die Tagespresse, welche ein gereiftes und ernstes Nachdenken ihrer Arbeiter nicht vertragen kann, die also leichtfertig ist und sein muß, schafft nichts Neues - wo sollen solche Leute neue Gedanken hernehmen? - aber sie bringt es an den Tag. Sie bringt Bedürfnisse, Leidenschaften zutage, die schon vorhanden sind im Volk und kann solche vorhandenen Ideen und Empfindungen dermaßen steigern, daß sie zuweilen sogar eine schreckliche Macht gewinnt. Indem sie diese Interessen vertritt mit dem ganzen Lärm des schamlosen gedruckten Wortes, wird sie zu einer öffentlichen Macht im Staat.

Dazu die entsetzliche Unsitte der Anonymität, eine sittliche Korruption, deren Folgen man nicht stark genug schildern kann. Welch ein Irrtum, daß man glaubte, die freie Presse würde eine hohe Schule des bürgerlichen Urteils werden! Im Gegenteil, eine Schule der moralischen Feigheit ist sie geworden. Als nach 1815, in dem noch unschuldigen Deutschland, die ersten Versuche der Pressefreiheit gewagt wurden, war die allgemeine Meinung unter den Liberalen: wir wollen die freie Presse, doch so, daß jeder mit seinem Namen eintreten muß für das, was er geschrieben hat. Wir haben aber den rechten Augenblick versäumt diesen Vorsatz auszuführen. Dann kamen nach den Karlsbader Beschlüssen die heillosen Mißhandlungen der Presse durch Konfiskationen usw. Da erschien die Anonymität als Werk der Notwehr; und so hat sich besonders durch die Schuld der Regierungen der Unfug der Anonymität ausgebildet. Wir aber fühlen us bei dieser moralischen Pest so wohl wie der Orientale bei seiner wirklichen.

Wenn jetzt der schlichte Leser in seiner Zeitung die Worte findet: "Wir warnen Rußland ...", so denkt er an eine dämonische Macht; wüßte er aber, daß niemand anderes dahinter steckt als ein VEITEL ITZIG oder CHRISTIAN MÜLLER, so würde er einfach darüber lachen. Es entsteht so eine unheimliche Wirkung auf gedankenlose Leute allein durch die Anonymität. Sich gegen jede Verantwortung bei Beleidigungen durch Anonymität zu sichern, gilt überall für eine gemeine Feigheit. Was aber für den einzelnen Menschen unehrenhaft ist, kann für das öffentliche Leben nicht heilsam sein. Und das trifft auf die Presse umso mehr zu, als hier das Gesagte eine größere Verbreitung und Macht gewinnt, die sittliche Verantwortung also auch umso größer wird. Man fühlt sich doch an ein Tollhaus erinnert, wenn man mit ansehen muß, daß Menschen, die sich selber verstecken,, den Beruf haben sollen alles Verborgene ans Licht zu ziehen. In welchem Maß das die öffentliche Meinung korrumpiert, ist gar nicht auszusagen. Und wenn Sie später mehr Erfahrung haben werden und sich über die Durchschnittsmeinung unserer Tage erheben, dann wird Ihnen klar werden, daß das ausgehende 19. Jahrhundert in seiner öffentlichen Sittlichkeit sehr niedrig steht. Dieses Börsenzeitalter nimmt eine sehr niedrige Stellung ein in der Geschichte. Wir haben uns hier an das Gegebene zu halten, daß der heutige Mensch ohne diesen Schmutz nicht mehr leben kann, daß das beständige Zeitunglesen notwendig scheint wie das liebe Brot. Man soll von der einfachen Erwägung ausgehen, daß der moderne Staat dieser freien, öffentlichen Diskussion aller sozialen und politischen Fragen bedarf, und daß die Ungezogenheiten der freien Presse doch weniger bedenklich sind als die Gefahr einer tiefen, grollenden Verbitterung derer, denen man den Mund geknebelt hat.

Natürlich kan und darf der Staat auch die möglichen Ausschreitungen des freien Wortes zu hemmen suchen, hierbei kann er präventiv [vorbeugend - wp] verfahren oder regressiv [nachbehandelnd - wp]. Das Erstere ist bekanntlich Jahrhunderte lang versucht worden durch die Zensur. Die Zensur ist, wie wir gesehen haben, eine päpstliche Erfindung, das sagt schon alles. Sie ist tyrannisch durch und durch, und die Wirkung ist eine für den Staat selber hochgefährliche; eine lange Erfahrung hat gezeigt, daß die Zensur furchtbar erbitternd wirkt. Und ein Staat, der die Zensur hat, sagt daimt, daß alle Blätter, welche in seinem Land erscheinen, seine eigene Meinung ausdrücken; er übernimmt für alles, was gedruckt wird eine Verantwortlichkeit, die er nicht zu ertragen vermag. Das Amt des Zensors ist zu allen Zeiten so gehässig gewesen, daß die Zensoren mit Ausnahme der Geistlichen fast nur aus schlechten Menschen bestanden haben. In der Zeit vor 1848 saß in Leipzig ein Professor vierten Ranges, der war lange Jahre Zensor und verweigerte nun unter anderen Schriften auch denen der Göttinger Sieben die Billigung; darunter waren Männer wie JACOB GRIMM und DAHLMANN. So wird die Dummheit und Mittelmäßigkeit hier willkürlich eingreifen, und das wirkt sehr erbitternd. Unter der Herrschaft der Zensur lernt man auch sehr bald einen gewissen verhüllten Stil schreiben, der durch Winken und Andeuten vergiftend wirkt, weit mehr als eine freie, offene Sprache. Die Zensur ist heute dermaßen gerichtet, daß sich nicht mehr an ihre Wiederkunft denken läßt.

Es ist deutlich, daß außer der Zensur noch andere Präventivmaßregeln möglich sind, so durch Kautionen, die der Staat sich stellen läßt. Eben diese Waffe aber ist die stumpfeste, denn die schlechtesten Blätter sind gerade die reichsten; durch Kautionen erreicht man gar nichts gegen sie. Die moderne Presse trägt einen Januskopf. Ihr zweiter tiefeingewurzelter Schaden neben der Anonymität ist die völlig unnatürliche Verbindung ihrer politischen Aufgabe, der Vertretung und Verbreitung bestimmter Parteigedanken, mit dem Inseratwesen. Daß ansich gar kein Zusammenhang besteht zwischen Geschäftsanzeigen von beliebigen Schneidern und Schustern und der Politik, springt doch in die Augen. Noch mehr. Dem Staat stand ein Monopol des Inseratenwesens zu: der preußische Staat hat aber sein Regal verjähren lassen und heute ist die Verbindung zwischen dem Inseratenwesen und den politischen Parteiblättern eine so innige geworden, daß man gar nicht mehr sieht, wie hier Abhilfe geschaffen werden kann. Denn dieses Inseratenwesen ist die materielle Grundlage unserer Zeitungen geworden. Keine Zeitung kann allein durch das Abonnement auch nur annähernd die Kosten ihrer Herstellung decken. Was aber die Inserate anlagt, so ist klar, daß gerade die sittlich verworfensten und ehrlosesten Blätter sich hierbei materiell am besten stellen. Man will Inserate durch jedes Mittel gewinnen; das Haschen nach der gemeinen Gunst des Publikums, das Kitzeln der niedrigsten Instinkte des Menschen wird zur Regel. Es gibt dann auch brave Leute genug unter den Zeitungslesern, die ihr Blatt verachten und doch gezwungen sind es zu halten. So werden die schlechtesten Blätter am meisten gelesen und sind so reich, daß es ihnen gar nicht darauf ankommt, ein paar Tausend Mark Kaution zu stellen.

Wackere Männer sind darum auf den Gedanken gekommen, man sollte doch ein Examen für Journalisten einführen. Die Engländer haben recht, wenn sie sagen: Die Deutschen sind ein wunderliches Volk, die eine Hälfte ist immer damit beschäftigt, die andere zu prüfen. Daß einer ohne Examen nicht im Besitz seiner menschlichen Würde ist, ist eine chinesische Schrulle unserer Gelehrten. Und welcher Art sollte denn dieses journalistische Examen sein? Es gibt ja eine Menge Blätter und Blättchen in der Provinz, zu deren Anfertigung wirklich nichts gehört als eine gute Papierschere und die Kenntnis des Lesens und Schreibens. Ein Examen für solche leute müßte also eine Prüfung im Lesen und Schreiben sein. Soll man nun verschiedene Examina füür große und kleine Zeitungen einführen? Der Vorschlag trifft nicht den Kern der Sache. Er geht von der verkehrten Vorstellung aus, als ob die Tugend aus der Intelligenz kommen soll. Unter unseren Journalisten gibt es sehr tüchtige und ehrenhafte Männer, die man nur hochschätzen kann, weil sie sich in einer solchen Atmosphäre so rein erhalten haben. Die Mehrzahl aber besteht aus katilinarischen [heruntergekommen, verzweifelt - wp] Existenzen, wie BISMARCK sagte, aus Leuten, die sonst im Leben nicht weitergekommen sind. Durch ein Examen würden sicherlich gerade die Allerschlimmsten nicht auszuschließen sein, denn an der hierzu nötigen Intelligenz mangelt es ihnen durchaus nicht. Man muß leider sagen: einer schlechten Presse gegenüber gibt es in einem freien Staat nur das eine Mittel, daß das Publikum diese Verhältnisse nach ihrem sittlichen Wert zu betrachten lernt und eine solche Presse mit der Verachtung anzusehen, die sie verdient.

In Fällen dringender Gefahr gibt unser Pressegesetz der Polizei das Recht einer vorläufigen Konfiskation. Man stößt hier wieder auf eine zwischen England und Deutschland streitige Frage. Ist es richtiger den Polizeibehörden diskrete Gewalten in die Hand zu geben, welche nur in bewegter Zeit praktisch wirksam werden, oder soll man diese Gewalten ganz beseitigen, dafür aber, wenn die Tage unruhig werden, ,zur Einführung des Belagerungszustandes greifen? Eines von beiden muß in jedem Staat geschehen, weil alle politische Freiheit politisch beschränkte Freiheit sein muß. Die Deutschen sind den ersten Weg gegangen, die Engländer den anderen. Darum ist auch, wie wir schon sahen, dort die Verkündigung des Kriegszustandes eine viel häufigere, als man bei uns erfährt. Die deutsche Methode ist hier die richtigere; man braucht in geordneten Staaten der Polizei kein absolutes Mißtrauen entgegenzubringen. Nun aber ist deutlich, auch diese Konfiskation kann nur selten eintreten und in den meisten Fällen wird sie gar nicht wirksam sein; so kommt man zu dem Schluß, daß bei wirklicher Pressefreiheit es bis jetzt ein in der Regel wirksames Mittel der Präention nicht gibt.

Bleibt also nur die Bestrafung von Vergehen und Verbrechen, die durch die Presse begangen wurden. Hier muß jede Gesetzgebung von dem Grundsatz ausgehen: Pressevergehen und Presseverbrechen sind nicht delicta sui generis [Übertretungen eigener Art - wp], sondern eben Vergehen und Verbrechen der verschiedensten Art durch die Presse begangen. Majestätsbeleidigung bleibt Majestätsbeleidigung und Gotteslästerung bleibt Gotteslästerung, si mögen mit den Lippen, durch Taten oder durch das gedruckte Wort verübt werden; nur daß eine mündlich ausgesprochene Gotteslästerung nicht so weit wirkt wie eine gedruckte, die von Tausenden gelesen wird. Was aber die Gesinnung anlangt, so muß sich die Beurteilung völlig gleich bleiben; der Staat hat gar keinen Grund, einen Gotteslästerer, der in der Presse lästert, anders zu beurteilen als einen, der auf der Straße seine Lästerung ausruft. Darum können auch bei der Presse nur die schweren Verbrechen vor die Geschworenen kommen. Diese unliebsame Wahrheit ist ein Ergebnis der völligen Gleichheit vor dem Richter, die auch zum Nachteil der Presse geltend gemacht werden muß.

Es muß ferner der Zeugniszwang gegenüber der Presse ebenso ausgeübt werden wie bei anderen Personen. Wird durch die Presse ein Vergehen begangen, das seiner Natur nach nicht von Journalisten begangen sein kann, dann statuiert man eine Ausnahme. Wird ein Amtsgeheimnis in der Presse verraten, so daß man sieht: hier hat ein Beamter ein Verbrechen begangen, dann soll der Richter den Redakteur zur Ablegung eines Zeugnisses anhalten können. Wenn man aber hier zugibt, daß ein Zeugniszwang geboten ist, so wird auch überhaupt ein Redakteur nicht das Delikt eines anderen auf sich nehmen können, ebensowenig wie ich den Mord oder Diebstahl eines anderen auf mich nehmen kann. Man muß bei der Erwägung all dieser Fragen bedenken, daß, was hier so anspruchsvoll als öffentliche Meinung auftritt, in den allermeisten Fällen nichts ist als ein ungeheures Selbstlob und Reklame.

Mit all dem ist noch keine Sicherheit geschaffen, daß die Pressen keinen Unfug stiftet. Nur in den seltensten Fällen wird der Ausgang eines Presseprozesses einen allgemein überzeugenden Eindruck machen. Da die zur Entscheidung stehenden Fragen subjektiver Art sind, werden die Prozesse selten im Sinne des Anklägers entschieden werden. Es ist darum für das Ansehen des Staates nicht förderlich, wenn hohe Beamte allzu oft Beleidigungsprozesse anstrengen. Der moderne Staatsmann muß sich vor Allem eine unempfindliche Haut zulegen. CAVOUR war hierin ein Meister; es machte ihm gar keinen Eindruck, wenn er in der gegnerischen Presse geschmäht und beschimpft wurde.

Als Jllusion hat sich auch die Hoffnung erwiesen, daß der Journalismus die von ihm geschlagenen Wunden selbst wieder heilen wird, ebenso wie die andere, daß der freie Verkehr in Handel und Wandel vernünftige Preise herstellt. Die Macht der Gemeinheit und Dummheit ist eben nur zu oft größer als die Macht der Ehrlichkeit und des gesunden Menschenverstandes. Es ist unleugbar, daß die Pressefreiheit den Segen nicht gebracht hat, welchen die Enthusiasten einst erhofften; aber hier gilt es wissenschaftlich unbefangen zu bleiben und nicht Forderungen an die Presse zu stellen, die sie im Durchschnitt nicht erfüllen kann. Wir sollen unbefangen sagen: die Presse ist bestimmt, nicht zu lehren, sondern Nachricht zu geben und, was die Gesinnung anlangt, an den Tag zu bringen, was sich im Volk an verschiedenen Interessen regt. Da in einer Zeit lebendigen Verkehrs das an den Tag bringen notwendig ist, so kann man sagen, dieser Stand von Neuigkeitskrämern ist unentbehrlich.

Damit hängt notwendig der unsagbar verwüstende Einfluß der Zeitungen auf die individuelle Bildung zusammen. Wenn spätere Zeiten einmal über unser Jahrhundert ruhig urteilen werden, so werden sie besonders zwei Momente als Kennzeichen betrachten: sie werden mit Schaudern die Berge Löschpapier ansehen, die wir unter dem Namen: Zeitungen aufgehäuft haben, und mit eben solchem Entsetzen die Eselsbrückenliteratur unseres Jahrhunderts. In welchem Maß die Presse unsere Gesellschaft verödet und geistlos gemacht hat, ist gar nicht auszusagen. Der alte GOETHE hat die Gefahr schon vorhergesehen. Alles, was man sich früher mündlich zutrug, erfährt jetzt jeder durch die Zeitung, und Hunderttausende werden täglich mit derselben Nahrung versorgt. Das Meiste wird sofort wieder vergessen, man weiß nicht mehr was auf dem ersten Blatt gestanden hat, wenn man das zweite liest; nur Skandale und gemeine Witze bleiben haften.

Man kann die allgemeine geistige Verflachgung so recht an unserem Briefwechsel bemerken. Ob eine Zeit wirklich kultiviert gewesen ist, erkennt man doch nicht daran, wie schnell man sich etwas mitteilen konnte, sondern ober das, was man sich mitteilt etwas Gescheites war. Unsere Briefe aber sind infolge der Schnelligkeit des Verkehrs und des billigen Portos so furchtbar inhaltslos geworden, daß man geistreiche Briefe, wie in früheren Kulturperioden, gar nicht mehr findet. Dazu nun die das 19. Jahrhundert beherrschende Vorstellung, die schon in die Leitung des preußischen Unterrichtswesens eindringt, die Vorstellung, daß es das Ideal eines Menschen ist, ein zweibeiniges Konversationslexikon zu werden. Es gilt als unanständig und ungebildet, wenn man nicht über alles mitreden kann. Gerade ein junger Mann soll hier den Mut der Wahrheit haben. Naive Frauen gibt es noch, aber nur wenige ganz hervorragendes Naturen unter den Männern, die den Mut der Unwissenheit haben, die, wenn die Unterhaltung vom Hundertsten ins Tausendste überspringt, noch offen sagen: Das weiß ich nicht. Um unverdaute Notizen nachzusprechen, dafür soll man sich zu gut halten; und wenn man auf ein Gebiet kommt, das einem gleichgültig ist, so sagt man das offen heraus und ist so ehrlich seine Unwissenheit zu bekennen. Dieser Mut der Unwissenheit ist gerade ein Zeichen der Vornehmheit eines Mannes. Heute aber ist die herrschende Vorstellung, daß jeder Mensch eine Masse von Notizen in seinem Kopf herumtragen soll, und das nennt man dann allgemeine Bildung. Es ist das gerade Gegenteil einer wirklichen und wahren Bildung, der Ausbildung einer selbständigen Persönlichkeit, die eine der höchsten und schwersten sittlichen Pflichten des Menschen ist.

Die ganze Tendenz unseres Zeitalters, die Bildung massenhafter Parteien, der wachsende Journalismus hat ein immer stärker Hervortreten der Mittelmäßigkeit zur Folge. Das Mittelalter war adlig in einem guten und einem schlechten Sinn, die heutige Zeit ist mittelmäßig im Guten wie im Bösen. Die Mittelstände, die in demokratischen Zeiten oft eine übermäßige Bedeutung erlangen, haben eben bei vielen großen sozialen Vorzügen auch eine natürliche Neigung für das Mittelmäßige. Die wahrhaft genialen Naturen, alles was hervorragt durch wirklich erlauchte Geburt und durch ein außerordentliches Talent, ist in den mittleren Schichten immer unangenehm gewesen, darum kommt in Zeiten wo sie herrschen die Schablone so stark zur Geltung. Danach gerät man auf einen solchen Unsinn wie das Volapük [Weltsprache - wp] oder die Zonenuhr. Statt der lebendigen Sprache aus dem sprachbildenden Trieb heraus, den uns Gott gegeben hat, soll eine künstliche geschaffen werden! Man hat zuweilen den Eindruck, als ob die Grenzen der menschlichen Dummheit im 19. Jahrhundert sich bedeutend erweitert haben.

Mit dem Recht der freien Meinungsäußerung durch die Presse hängt ein Grundrecht zusammen, dan dem heute niemand mehr zweifelt: das Recht einer freien religiösen Entwicklung, soweit es eine individuelle ist, das Recht der privaten religiösen Übung im häuslichen Leben. Aus der persönlichen Gewissensfreiheit folgt nur das Recht dieser privaten Andachtsübung. Das ist für den Einzelnen genügend, aber wir werden noch sehen, wie wahr es ist, was SCHLEIERMACHER sagt: "Die Religion haßt die Einsamkeit". Die Gewissensfreiheit führt notwendig zur Forderung der Anerkennung großer religiöser Gemeinschaften.

Alle diese individuellen Rechte, von denen wir bisher gesprochen haben, haben, auch wenn sie vom Staat garantiert sind, doch nur geringen Wert, wenn sie nicht gesichert sind durch ein hohes Maß an sozialer Duldung im Volk. In dieser Hinsicht können wir Deutschen wohl sagen, daß wir das freieste Volk auf Erden sind. Bei uns ist jedem Menschen jede Querköpfigkeit erlaubt. Wir haben gar keine nationalen Vorurteile, an denen niemand rütteln darf; nicht einmal das Vaterland wird im Gespräch für heilig erklärt. Im Ganzen ist es doch ein Zeichen der inneren Befreiung, welche sich bei uns herausgebildet hat, durch das lange Nebeneinander der Konfessionen.

In den Ländern angelsächsischer Rasse steht das ganz anders. Es gibt Formen des nationalen Anstandes, die man in England nicht verletzen darf; der weite Begriff des shocking, ist hier eine Macht. Andere Völker haben politische Traditionen, die sie nicht antasten lassen. Es ist keinem geraten, in der Schweiz seine Meinung über die sagenhafte Existenz von WILHELM TELL und anderen Männern der Vorzeit offen auszusprechen. Wir gewahren, daß gerade in freien Staatsformen mit starker politischer Teilnahme der Massen die soziale Duldsamkeit immer geringer wird, daß mit dem Steigen der eigentlichen politischen Freiheit die soziale Duldsamkeit gegen das Ich des einzelnen Menschen immer mehr schwindet und schwinden muß. Wie unvergleichlich größer als heute war die Masse der Originale [indivual] im 18. Jahrhundert unter der Herrschaft absolutistischer Staatsformen. Die gebildeten Männer in Deutschland führten so sehr ein privates Dasein, daß sie virtuos und oft bizarr ihre Persönlichkeit festhalten und ausbilden konnten. Das ganze Leben moderner Menschen dagegen ist darauf gerichtet allein einen gewissen Herdencharakter zu geben; die Gemeinschaft der Sitten und Lebensgewohnheiten ist eine sehr große geworden. Zeugnis dessen schon das Eine, die unwiderstehlich Macht der Mode. Für anständig gilt, daß man gerade so aussieht wie alle anderen Menschen, und so geschieht das Wunderliche, daß sich Millionen einer Tracht fügen die ihnen im Grunde lächerlich erscheint.

Mit dem Recht der freien Entwicklung der Persönlichkeit hängt weiter zusammen ein Recht, das fast über diese Sphäre hinausgeht, das Recht Versammlungen und Vereine zu bilden, um politische, soziale und religiöse Bestrebungen zu verbreiten. Daß hiermit die Sphäre des einzelnen Subjekts schon überschritten wird, springt in die Augen. Ebenso ist deutlich, daß die Gefahr des Mißbrauchs hier viel größer ist als bei der eigentlichen Freiheit der Meinung. Daher sind hier auch engere Schranken gezogen. Wenn Vereinigungen für ansich erlaubte Zwecke permanent werden, so kann daraus sehr leicht eine hochgefährliche Klubherrschaft entstehen, die dazu führt, daß der Klub herrscht und das Parlament dient. Hier ist die Geschichte des Jakobinerklubs für alle Zeiten lehrreich. Der Staat muß also den Vereinen und Versammlungen gegenüber mehr Vorsichtsmaßregeln ergreifen als gegen die Presse. Daher das Verbot von großen Volksversammlungen unter freiem Himmel und zumindest die Forderung der vorherigen Anzeige bei der Polizei. Hier handelt es sich nicht allein um persönliche Rechte des Einzelnen, sondern um die Konstituierung einer Macht, die der rechtmäßigen Gewalt leicht gefährlich werden kann.

Wichtig ist der Grundsatz, daß geheime Vereine im Staat nicht geduldet werden dürfen. Sie sind auch immer nur in unfreien Staaten vorgekommen oder sie sind in einen Anarchismus ausgeartet wie den der Nihilisten. Jede schrullenhafte Bestrebung kann heute bei uns in voller Öffentlichkeit durchgeführt werden, ein Grund für das Geheimnis ist also nicht vorhanden. Eine Ausnahme gestattet der Staat für solche geheime Vereine, von deren Unschädlichkeit er sich überzeugt hat. Die Freimaurerorden haben in protestantischen Ländern nur noch eine harmlose soziale Bedeutung. In katholischen Ländern steht es anders. In Belgien herrscht ein beständiger Kampf zwischen Freimaurerorden und Beichtstuhl. Die Germanen haben glücklicherweise zur Bildung von geheimen Gesellschaften und zu Verschwörungen wenig Talent. Dagegen hat das Verschwörerwesen in den romanischen Ländern, namentlich in solchen, die lange politisch mißhadelt worden waren, von jeher in großer Blüte gestanden.

Unerlaubt sind ferner Vereine, die einen unbedingten Gehorsam gegen eine andere Aufsichtsbehörde als den Staat fordern. Der Staat ist souverän und darf demgemäß die Verpflichtung seiner Angehörigen zum unbedingten Gehorsam gegenüber einer anderen Gewalt nicht zulassen. Daraus folgt, daß mit dem Bestand des modernen Staates der Jesuitenorden nicht vereinbar ist. Der blinde Gehorsam, geschworen fremden Oberen, ist eine geistige Leibeigenschaft und bewirkt zugleich das beständige Eingreifen geheimnisvoller ausländischer Mächte in das Leben des Staates. Eine Duldung der "Gesellschaft Jesu" wäre nur dann möglich, wenn man sie immer im Auge behalten und in Zeiten der Gefahr abschaffen kann, wie das unter FRIEDRICH dem Großen der Fall war. Der hätte sie jeden Augenblick aus dem Land schaffen können; das ist aber in der konstitutionellen Monarchie nicht möglich.

Zum sogenannten Menschenrecht der Freiheit werden nach französischem Muster noch die Rechte der Gleichheit und Brüderlichkeit hinzugefügt. Sehen wir näher hin und betrachten zuerst die Brüderlichkeit, so ist klar, daß für die äußere Ordnung des Staates die Idee der Caritas [soziale Liebe - wp] kein bestimmendes Gesetz sein kann. Die Caritas läßt sich nicht vorschreiben, sondern soll freiwillig aus dem Herzen kommen. Daß man diese Wahrheit nicht erkannte, führte zur Zeit der französischen Revolution zu der unsinnigen Losung: "la fraternité ou la mort!" [Brüderlichkeit oder Tod! - wp] Sie läßt sich aber nicht erzwingen, diese Brüderlichkeit, sie muß von selber kommen mit der reifenden Einsicht. Als ein Grundrecht also ist die Brüderlichkeit in keiner Weise zu gebrauchen, da man keine juristischen Konsequenzen daraus ziehen kann.

Betrachten wir nun die Gleichheit, so ist deutlich, daß das ansich ein inhaltsleerer Begriff ist. Er kann ebensowohl die gleiche Knechtschaft enthalten wie die gleiche Freiheit aller. Es gibt keine größere Knechtschaft als die vollkommene Gleichheit, die in den Klöstern herrscht: hier ist sie in der Bedeutung gleicher Knechtschaft bis in die letzten Konsequenzen durchgeführt. Und so sehen wir in der Geschichte, daß Völker, die den Begriff der Gleichheit über alle anderen stellen, gerade in die gleiche Knechtschaft verfallen. Ein Beispiel dafür sind die Franzosen, die das Straßburger Münster niederreißen wollten, weil es über die anderen Gebäude hinausragt. So kommt man schließlich zur Gleichheitsraserei.

Die Gleichheit kann ein sittliches Postulat offenbar nur sein für jene allgemeinen und höchsten Güter, welche den Menschen zu Menschen machen. Wir haben also alle gleiche Ansprüche auf die Freiheitsrechte, die wir bereits betrachtet haben, auf die Freiheit des physischen Daseins und der rechtlichen Persönlichkeit; wir haben den gleichen Anspruch unsere vernünftige Meinung, unsere religiöse Überzeugung auszusprechen und zu betätigen usw. Unbedingt notwendig ist daher im Staat die Gleichheit aller Bürger vor dem Richter. Auf einer Verwechslung mit dieser vernünftigen Forderung beruth, wie wir schon sahen, die der Gleichheit Aller vor dem Gesetz.

Der Staat kann überall die Gleichheit der Menschen nur soweit anerkennen als sie wirklich eine allgemeine, in der Natur begründete ist. Wir wissen, daß er die äußere Form ist, die sich ein Volk im Lauf der Geschichte selbst gegeben hat; er wird also auch am gesündesten sein, wenn er die vorhandenen Ungleichheiten berücksichtigt und rechtlich gestaltet, die Ungleichheit des Besitzes, der Geburt, der Bildung usw. - Tut er das nicht, sucht er die von Natur Ungleichen zu Gleichen zu machen, so wird sich das rächen in der Schwäche seiner Verfassung, wie sich dann auch alle Demokratien durch einen krampfhaften Lebenslauf als Aristokratie und Monarchie ausgezeichnet haben, die auf die natürlichen Ungleichheiten Rücksicht nehmen. Nur die gleichen Rechte zum Erwerb kann der Staat gewähren, nicht den gleichen Reichtum. Denn dieser hängt hauptsächlich von den individuell verschiedenen Anlagen und Tüchtigkeiten des Einzelnen ab; hier eine Gleichheit herstellen zu wollen, wäre ein unsinniges Unternehmen. Die ganze Größe, Schönheit und Mannigfaltigkeit unserer Kultur müßte verloren gehen; wir können uns ein Leben in einem so öden Einerlei gar nicht denken. Ein weiteres Moment tritt der Vermögensgleichheit hindernd entgegen. Weitaus der größte Teil unseres Vermögens ist nicht durch das gegenwärtige Geschlecht erworben, sondern ein Erzeugnis des Fleißes gestorbener Generationen. Denjenigen, die das Vermögen erworben haben, muß aus Gründen der Gerechtigkeit die Entscheidung über dessen Verteilung und Besitz anheim gestellt werden. Hieraus folgt ganz naturgemäß die Notwendigkeit eines Erbrechts.

Es gibt ferner keinen Staat, in dem die politischen Rechte völlig gleich verteilt sind. Es ist unwahr, eine revolutionäre Phrase, daß ein jeder Mensch ein natürliches Recht hat an der Bildung der Staatsgewalt teilzunehmen. Jeder Staat setzt durch das Wahlrecht gewisse Schranken, er schließt die Weiber aus, die Minderjährigen, die Bescholtenen usw. Der Staat setzt für die Bekleidung gewisser obrigkeitlicher Ämter einen Zensus fest, und es ist für die Sache ganz gleich, ob es ein Zensus des Vermögens oder der Geburt oder des Wissens ist. Gleichheit besteht nirgends; es wird sich nach Staatsverfassung richten, ob mehr die Geburt oder das Wissen zur Bedingung gemacht wird. Im alten hocharistokratischen England ging man von der Meinung, daß ein junger Mann aus vornehmer Familie auch das Wissen besitzt, das nötig ist, um Menschen zu regieren. Und diese nicht examinierten jungen Leute haben so regiert, daß Englands Macht und Größe ins Unermeßliche gewachsen ist. Wir in Deutschland dagegen verlangen, daß Jeder in einem Examen ein bestimmtes Maß an Wissen nachweist, und wir haben damit auch gute Erfahrungen gemacht. Unser Beamtentum ist vortrefflich und freier organisiert, dem Talent leichter zugänglich als das irgendeines anderen Volkes. Man sieht aber leicht, hier handelt es sich um keine Rechtsgleichheit. Mit dem geistigen Zensus des Examens wird in der Regel doch ein materieller Zensus verbunden sind; die breite Masse des Volkes wird in den Reihen dieses Beamtentums immer nur eine kleine Minderheit stellen, die Hauptmasse wird aus den Schichten der Bemittelten hervorgehen, die ihren Kindern eine reichere Erziehung gewähren können. Die Schranke ist glücklicherweise nicht unüberschreitbar; das Talent kann sie überwinden und man kann ihm nie genug Gelegenheit geben empor zu kommen.

Wir Deutschen sind einmal ein mehr demokratisches Volks als die Engländer jemals waren, danach gestaltet sich auch die Verfassung des Beamtentums. Man kann aber darum noch nicht behaupten, es sei Unrecht, wenn in England soviel auf die Geburt gegeben wird. Wenn bei uns eine Reihe von Familien das Recht haben, erblich im Herrenhaus zu sitzen, so hat das nicht den Grund, daß wir diesen Famiien eine Gunst erweisen wollten; der Staat sagt sich vielmehr ganz richtig: diese alten Familien sind so mit meinem Wohl verwachsen, daß ich sie bei der Gesetzgebung nicht unberücksichtigt lassen darf. Aber neben dem Aberglauben an das Examen begegnen wir heute überall einem anderen Aberglauben an die Wahl. Die Wahl aber hebt als den Mächtigsten in die Höhe, wer augenblicklich den mächtigsten Anhang hat, und das kann sehr häufig der Dümmste und Schlechteste sein. Festzuhalten bleibt: einen Anspruch auf eine unmittelbare Teilnahme an der Staatsgewalt kann man aus der menschlichen Natur ansich nicht begründen; jeder Staat hat das Recht und die Pflicht, die Bedingungen festzusetzen, unter welchen ein solcher Anteil gewährt werden soll. Es ist im Großen gesehen entschieden ein Vorzug, wenn er die natürliche Ungleichheit der Menschen in seinen Staatsgesetzen berücksichtigt und verwertet.

Betrachten wir schließlich das, was als Sicherungsmittel für alle diese Freiheitsrechte hingestellt zu werden pflegt, das sogenannte Recht des Widerstandes. Erst in der christlichen Welt, seitdem die Souveränität des individuellen Gewissens empfunden wird, ist diese Frage eine brennende geworden. Im antiken Staat konnte ein Konflikt zwischen öffentlichem Recht und dem Gewissen des Einzelnen schon darum kaum eintreten, weil hier das ganze Volksleben im Staatsleben aufgeht, und daher der Staat überhaupt kein Unrecht tun kann. Was das souveräne Volk beschließ, ist ansich Recht, und der Einzelne als Teil des Ganzen hat sich zu fügen. Und weil ferner die antike Welt nur Nationalreligionen hatte, ein Gegensatz zwischen Kirche und Staat also nicht möglich war, so folgt, daß diese ganze Frage im Altertum nicht praktisch wurde. Sie wurde erst im Christentum praktisch. Die ersten Christen, wie haben die darunter gelitten! Sie hatten sich auseinanderzusetzen mit einem heidnischen Staat, der ihnen unheimlich, ja verworfen erscheinen mußte. Darum ist in der ersten Zeit des Christentums von einer positiven Bürgergesinnung überhaupt nichts zu finden; was damals der christliche Bürger dem Staat leistete, war nur der leidende Gehorsam. Daher eine eigentliche (Winkel-)stellung der Christen, die ihnen CELSUS und andere vornehme Römer so sehr zum Vorwurf machten. Kommt es zum Äußersten, dann setzen sie sich zur Wehr und finden ihren Ruhm im Martyrium.

So ist die Geschichte der ältesten Christenheit eine Geschichte des beständigen Widerstandes gegen die Obrigkeit. Die ersten Christen waren politisch nichts anderes als Rebellen. Andererseits aber ist der Drang zur Demut und zum Gehorsam so sehr im Geist des Neuen Testaments, daß schon in den ersten Zeiten Zweifel entstehen, wie weit dieser Widerstand gehen darf; und als das Römerreich sich christianisiert, da treten die Grundsätze des leidenden Gehorsams immer stärker hervor. Im Mittelalter wird über diese Prinzipienfrage wenig gestritten. Dagegen ist das Jahrhundert der Reformation die klassische Zeit, wo Jeder die Frage des Widerstandes mit sich und seinem Gewissen abmachen muß. Wir sehen überall Katholiken wie Protestanten fremden Glaubensgenossen gegen einheimische Glaubensgegner zu Hilfe rufen; das war der natürliche Boden, auf dem die Lehre vom Recht des Widerstandes gedeihen mußte. ZWINGLI, als ein entschlossener Republikaner sagte kurzab: "So die Obrigkeit aus der Schnur Christi fährt, mag sie mit Gott entsetzt werden." und CALVIN: "Wenn das weltliche Regiment mit Gottes Wort in Widerspruch gerät, so ist der Untertan seiner Pflicht enthoben. LUTHER dagegen hat erst nach und nach begonnen seine Gesinnung dahin zu wandeln, unter schweren inneren Kämpfen, und kam erst am Abend seines Lebens zu dem Schluß, daß kein Unterschied sei "zwischen einem Privatmörder und dem Kaiser, so er außer seinem Amt öffentlich oder notorie [unverblümt - wp] unrechte Gewalt vornimmt; denn öffentliche violentia hebt alle Pflichten zwischen dem Untertanen und seinem Oberhernn jure naturae auf." Die deutschen Lutheraner aber, politisch unfähig wie sie waren, hatten diese Erkenntnis sehr ungeschickt angewendet und sie darum bald wieder aufgegeben; es wurde jetzt der Ruhm des Luthertums, daß es sich untertänig an den Landesherrn anlehnte.

In diesen Kämpfen erstehen auch theoretische Streiter, die sogenannten Monarchomachen, die das Widerstandsrecht der Untertanen verteidigen. Sie gehen von alttestamentlichen Vorstellungen aus. Jedes wahrhaft gläubige Volk schließt mit dem Herrn einen Bund, und kraft dieses Bundes verpflichtet sich die Obrigkeit das Wort Gottes einzuhalten. Solange sie diesem Wort treu bleibt, gehorcht ihr das Volk: bricht sie es, so sind die Untertanen all ihrer Pflichten entbunden. Die Jesuiten sind derselben Meinunge, ihre Begründung ist aber verschieden. Für sie ist die Kirche der allein unmittelbar von Gott gesetzte Staat; folglich hat kein weltlicher Staat das Recht zu sein, wenn er nicht der Kirche gehorcht und dient. Tut er das nicht, so kann er beseitigt werden. Daher lehren sie sogar den Fürstenmord; und die Ermordung des dritten und des vierten HEINRICH von Frankreich ist von Jesuitenschülern ausgeführt worden.

Zur Zeit dieser selben Wirren nun tritt auch der Hugenotte LANGUET hervor mit seinem Buch "Vindicae contra tyrannos". Er faßt die Summe seiner Weisheit zusammen in dem Satz: "Wir wollen uns vom König regieren lassen, wenn er sich vom Gesetz regieren läßt." Hier liegt also schon die Vorstellung von einem Kontrakt mit gegenseitiger Kontraktspflicht zugrunde. Diese Auffassung wird dann allmächtig, und im 17. und 18. Jahrhundert sind nahezu alle politischen Denken von der Theorie erfüllt: Obrigkeit und Volk haben einen Kontrakt geschlossen; wird der eine Teil kontraktbrüchig, so kann auch der andere Teil sich seiner Pflicht entbunden fühlen. Diese Ansicht war dermaßen herrschend, daß das gesamte englische Staatsrecht auf ihr beruth. Das ist auch eine von den Gedankenlosigkeiten des heutigen Liberalismus, daß er ganz übersieht, wie die Grundlage des bewunderten englischen Staatswesens eine völlig verkehrte Vertragslehre ist. Man soll das nicht vertuschen, wenn es auch den meisten gemäßigten Konstitutionellen unangenehm ist daran erinnert zu werden. Dieser Vertragslehre allein verdanken die Welfen die Krone von England. Der König steht in einem Vertragsverhältnis mit seinem Volk; er hat den Vertrag gebrochen, folglich wird er vertrieben. Das ist der herrschende Grundsatz. Selbst FRIEDRICH der Große hat sich dazu bekannt. Er sagt: "Der Fürst hat versprochen, die Rechte seines Volkes zu wahren; wenn der eine Teil eidbrüchig wird, so wird der andere Teil seinerseits frei von aller Verpflichtung. Praktisch freilich hätte man Keinem raten dürfen, den alten FRITZ gegenüber diese Anschauung zu vertreten.

Es besteht eben überhaupt zwischen Theorie und Praxis im 18. Jahrhundert ein großer Unterschied. Theoretisch war man über diese Widerstandslehre kaum im Zweifel. Man muß es dem alten KANT sehr hoch anrechnen, daß er ihren inneren Widersinn empfand, obwohl er sonst in seinen politischen Lehren sehr radikal ist und ROUSSEAU nahe steht. Er spricht in seinem Naturrecht über die Widerstandslehre eine Reihe von Sätzen aus, die ihm zur Ehre gereichen. Das ist überhaupt eine merkwürdige Erfahrung: nur bedeutende Männer haben den Mut der Inkonsequenz. Jeder, der innerlich an sich weiter arbeitet, wird in die Lage kommen, sich selbst zu widersprechen, etwas zurückzunehmen, was er früher geglaubt und behauptet hat. Bedeutende Naturen tun das ganz unbefangen, mittelmäßige fürchten sich davor. KANT bemerkt ganz richtig, daß in der Lehre vom Recht des Widerstandes ein Widerspruch steckt. Er sagt, damit das Volk hierzu befugt wäre, "müßte ein öffentliches Gesetz vorhanden sein, welches diesen Widerstand erlaubt, d. h. die oberste Gesetzgebung enthielte eine Bestimmung in sich, nicht die oberste zu sein." KANT hatte also die richtige Ahnung; er war aber selbst zu sehr Sohn des 18. Jahrhunderts, um aus dem Widerspruch herauszukommen.

Erst mit dem Heraufkommen der historischen Schule verschwindet in Deutschland die lächerliche Vorstellung, daß der Staat, der der Urheber des Privatrechts ist, als unter dem Privatrecht stehend betrachtet werden soll. Man sieht ein, daß der Vertrag seine bindende Kraft erst durch den Staat gewinnt und zumindest auf die alte Lehre von einem gegenseitigen Vertragsverhältnis wagt niemand mehr das Widerstandsrecht zu begründen. Auf den wirklichen Höhen der Wissenschaft sah man ein, daß die Vertragslehre ein Unsinn ist. Es ist ganz deutlich, SAVIGNY und NIEBUHR waren hier die liberalen Politiker, WELCKER und seine Genossen die reaktionären.

Von einem positiven Widerstandsrecht kann also nicht die Rede sein, auch weiß keine moderne Verfassung davon; nicht einmal die Norweger und die Rumänen haben diesen Satz aufgenommen. Nun muß es aber doch irgendeine Schranke für die Willkür der Obrigkeit geben und so entsteht die Lehre vom sogenannten verfassungsmäßigen Gehorsam, von der man sagen kann, daß sie heute unter den Durchschnittsliberalen vorherrscht, so daß man sich über jeden Zweifel wundert. Man sagt: Wenn eine Obrigkeit einen gesetzwidrigen Befehl erläßt, so ist das als eine Willkürhandlung zu betrachten, also darf sich jeder Untertan einem solchen Befehl widersetzen. Die Meisten nehmen diesen Satz ungeprüft an; mir selber ist es so gegangen, als ich noch in junger Doktor war. Zur Zeit des Deutschen Bundes waren wir alle Radikale, und damals glaube auch ich, es verstünde sich der Widerstand gegen gesetzwidrige Anordnungen der Obrigkeit ganz von selber. Da kam ich einmal zu meinem väterlichen Freund, dem berühmten Rechtslehrer ALBRECHT in Leipzig, einem der Göttinger Sieben, der sein Einkommen verloren und große Opfer gebracht hatte; und als ich diesem meine Ansicht offen aussprach, da sagte er: Ach, junger lieber Freund, denken Sie einmal über die Sache nach, das ist wohl weiter nichts als eine petition principi [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen wäre - wp] Und er hatte doch selber dieses Recht praktisch ausgeübt. Gleichwohl mußte ich mir sagen, daß er es mit vollem Grund theoretisch verwarf. Denn der Obersatz ist allerdings richtig, daß es eine Willkürhandlung ist, wenn die Obrigkeit einen gesetzwidrigen Befehl erläßt, aber der Schluß, daß einem solchen Befehl nun Jeder widerstehen darf, ist offensichtlich falsch. Denn er ist erschlichen, es fehlt das Mittelglied. Wer soll denn entscheiden, ob ein Beschluß verfassungsgemäß ist oder nicht? Es läuft diese Lehre theoretisch und praktisch darauf hinaus, daß jeder Untertan in seinem Gewissen der Souverän ist über die Obrigkeit. Damit wird die Pyramide des Staates auf die Spitze gestellt; damit wird gesagt, daß die Gehorchenden die Befehlenden sein sollen.

Also ist klar, daß diese ganze Lehre nichts taugt; und das ist auch in allen praktischen Gesetzgebungen des 19. Jahrhunderts anerkannt worden. Ein positives Widerstandsrecht gewährt keine mehr, seit man einmal die verhängnisvolle Erfahrung damit in Frankreich gemacht hatte. In der Konventsverfassung steht der Satz:
    "Wenn die Regierung die Rechtes des Volkes verletzt, so ist der Aufruhr für das Volk und für jeden Teil des Volkes das heiligste Recht und die unumgänglichste Pflicht."
Jedem der 30 Millionen Franzosen wird aso ein Richteramt darüber zugeschrieben, ob die Obrigkeit die Rechte des Volks verletzt hat. Aber diese Verfassung ist auch nur drei Wochen in Geltung gewesen, dann begann praktisch der Bürgerkrieg, der Krieg Aller gegen Alle.

Der Doppelsinn des Wortes "Recht" hat in den Elementen der Staatslehre viel Unheil angestiftet, das sieht man recht deutlich an der Lehre vom Widerstandesrecht. Weil Jedermann von einem berechtigten Widerstand sprach, wenn er glaubte, sein Ungehorsam gegen die Gesetze des Staates sei sittlich gerechtfertigt, darum meinen Halbdenker ein positives Recht des Widerstands konstruieren zu können, das in der Tat undenkbar ist. Denn ein Recht auf den Bruch der Rechtsordnung des Staates, folglich ein Recht auf Unrecht kann es in keinem Fall geben. Auch kein Recht des Widerstandes gegen Handlungen der Obrigkeit, die materielle gegen das Recht verstoßen. Darum erklärt das Deutsche Strafgesetzbuch jeden Widerstand gegen einen Beamten für strafbar, den den Befehl einer zuständigen Behörde in gesetzlicher Weise zur Ausführung bringt, einerlei ob der Befehl selbst ungesetzlich ist oder nicht. Es bleibt dem Einzelnen, gegen den der ungesetzliche Befehl gerichtet war, nichts übrig als sich über die Anordnung der Behörde zu beschweren; auf diese Reklamation läßt der Staat selber dann den Sachverhält untersuchen.

In all dem liegt nicht das Mindeste von Servilität [knechtischer Gesinnung - wp]. Es ist dann auch deutlich, daß, wenn ein Recht des Widerstandes nicht dem einzelnen Gewissen des Bürgers zugeschrieben werden kann, man damit noch nicht sagt, die Regierung dürfe sich von der sittlichen Zustimmung der Bürger völlig trennen. Denn so gewiß wir die Sätze der Amerikaner von den angeblich allen Menschen angeborenen Rechten nicht billigen können, ebenso gewiß enthalten sie einen richtigen Grundgedanken. "Die gerechten Gewalten der Regierungen rühren her von der Zustimmung der Regierten", dieser Ausspruch der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten ist allerdings übertrieben; aber in allen Staaten ohne Ausnahme wird sich eine Regierung auf die Dauer nicht behaupten können, wenn sie nicht zum Wohl des Volkes regiert und nicht der sittlichen Zustimmung des Volkes sicher ist. Salus civium suprema lex [Das Wohl der Bevölkerung ist oberstes Gesetz. - wp], das gilt ausnahmslos für alle Staaten. Durch diese Gesinnung ist Deutschland groß geworden, und wir würden in Anarchie und Ohnmacht verfallen, wenn wir sie aufgäben. Schon CROMWELL hat gesagt: "Der Wahn, daß das Volk den Königen gehört, beginnt in der Welt ausgepfiffen zu werden." Wenn eine Regierung wirklich grundsätzlich sündigt gegen das Wohl der Bürger, dann kann ein solcher Widerspruch eintreten, daß schließlich die Rechtsordnung gebrochen wird. Das wird auch von den Allerkonservativsten anerkannt: es gibt große sittliche Güter der Menschheit, die so hoch stehen, daß ihnen gegenüber die Rechtsordnung des Staates gering erscheinen kann; es können sich Bürger gedrungen fühlen, vor allem um ihres Glaubens willen, die bestehende Rechtsobrigkeit zu verwerfen und eine Revolution zu wagen. Aber daraus wird doch nie ein Recht. Man kann die niederländischen Rebellen und viele andere historisch rechtfertigen, man soll sie nur nicht als auf dem Boden des Rechts stehend bezeichnen.

Diese Wahrheit wird besonders klar, wenn man ein ähnliches Verhältnis heranzieht zum Vergleich, das ebenso unzerstörbar sein soll wie das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertan, die Ehe. Es werden zuweilen Ehen getrennt werden müssen; wenn aber in einem Ehevertrag hineingesetzt würde: die Ehe soll getrennt werden in dem und dem Fall, so wäre das keine Ehe mehr, sondern ein Konkubinat. Die menschliche Sünde und Schwäche kann notwendig zur Auflösung einer Ehe führen, man soll das aber nicht vertragsmäßig festsetzen. Ebenso kann nicht bestimmt werden, unter welchen Verhältnissen der Gehorsam gegen die Staatsgewalt verweigert werden darft. Die edlen und hochherzigen Impulse, die ein Volk zur Zerstörung seiner Verfassung treiben, mag man anerkennen, aber als ein Recht wird man das nicht ansehen können.

Darin ist schon die ungeheure Bedeutung des Eides gegeben. Der politische Eid ist notwendig für den Staat, um ihn vor fortwährenden Revolten und Unruhen zu schützen. Der Eid schafft keine neuen Verpflichtungen, aber er verschärft das Bewußtsein der schon vorhandenen. Der Unsinn der radikalen Lehre, welche die Abschaffung des Eides fordert, beruft sich auf die Atheisten. Aber es ist eine Anmaßung, wenn eine kleine Minderheit verlangt, daß sich nach ihr der ganze Staat richten soll. Eine tausendjährige Erfahrung hat gelehrt, daß der Eid nötig ist; ein Heer läßt sich ohne Fahneneid nicht denken. Die Franzosen haben bekanntlich innerhalb der letzten hundert Jahre ihren Staatseid ziemlich oft gebrochen; aber bezeichnenderweise ist jedesmal nach einem solchen Eidbruch der Vorschlag aufgetaucht, den politischen Eid in der neuen Verfassung zu beseitigen. Man war sich der Schuld des Eidbruchs bewußt und wollte sich für die Zukunft ein solches unangenehmes Gefühl ersparen. Dieses Beispiel beweist genugsam, daß der Eid noch immer eine reale Macht ist.

Die treue und gewissenhafte Wahrung des Eides, seine Heilighaltung ist stets ein untrügliches Zeichen vom sittlich hohen Wert eines Volkes. Über den alten Deutschen Bund hat SCHLEIERMACHER bald nach den Freiheitskriegen das treffende Wort gesagt: "Was hält denn diesen unsinnigen Zustand zusammen? Nichts als die Rechtlichkeit der Deutschen." Das feste, ja beschränkte und einseitige Festhalten an Pflichten, Sitten und Einrichtungen ist im deutschen Charakter begründet. Dieses starke Rechtsgefühl kann unter Umständen ein Volk in seiner Entwicklung sich verspäten lassen, aber sieht man schärfer hin, so ist der sittliche Vorzug dieser ungeheuren Rechtlichkeit doch weit größer als ihr politischer Nachteil. 1866, in den Tagen leidenschaftlicher Aufregung haben wir alle, die wir preußisch gesinnt waren, uns innerlich gefragt: warum die süddeutschen Truppen nicht zu den schwarzweißen Fahnen überlaufen? Aber mit kühlem Blut haben wir nachher doch selbst gestehen müssen: es war ein Zeichen der moralischen Tüchtigkeit dieser Soldaten, daß sie ihrem Fahneneid treu geblieben sind; es war eine feste Bürgschaft, daß sie späterhin mit noch viel freudigerem Mut für die deutsche Sache kämpfen würden. Und wie haben sie sich dann geschlagen in den blutigen Jahren 1870 und 1871, die braven Bayern, Württemberger, Hessen, Sachsen, denen wir vorher zürnten! Haben wir einen Grund, die Italiener zu beneiden, weil bei ihnen schließlich alles zu GARIBALDI überlief? Es wird also als Regel gewiß dabei bleiben, daß die feste Treue, selbst wo sie blind ist und politisch schädlich wirken kann, ein Zeichen einer gesunden staatlichen Anlage eines Volkes ist.
LITERATUR - Heinrich von Treitschke, Politik [Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin] hg. von Max Cornelius, Bd. I, Leipzig 1899