Kants Theorie der ErfahrungLogik der reinen Erkenntnis | |||
Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie
Mit der philosophischen Lebensarbeit HERMANN COHENs sind die drei Werke, die der Begründung der Sicherung der Kantischen Lehre gewidmet sind, unlöslich verknüpft. Denn wie sehr sich COHEN im Aufbau des eigenen Systems in einzelnen Punkten von den Ergebnissen KANTs entfernt hat, so ist doch das methodische Bewußtsein, von dem alles seine Einzelleistungen belebt sind, erst an der wissenschaftlichen Durchdringung der Kantischen Grundwerke zur Klarheit und Reife gelangt. Zwischen dem Historiker und dem Systematiker der Philosophie besteht daher hier keine Trennung und keine Scheidewand. Die Wirkung, die COHENs Kantbücher geübt haben, beruth vor allem auf diesem inneren Zusammenhang. Was die eigentliche Kraft und freilich zugleich die eigentümliche Schwierigkeit dieser Bücher ausmacht, ist eben dies, daß das Begreifen KANTs hier nicht als eine Sache abgelöster historischer Fachgelehrsamkeit gedacht wird, sondern durchweg eine eigene systematische Stellung zu den Grundproblemen voraussetzt. Der Denker stellt sich in den großen Zusammenhang der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte: denn dem "Philosophieren auf eigene Faust", bei dem jedes Individuum nur in einem persönlichen zufälligen Reflex die Antwort auf die Rätsel des Seins zu finden sucht, soll eine Ende gemacht werden. Aber damit eröffnet sich zugleich eine historische Perspektive, die von keiner pragmatischen Beschreibung einer bloßen Abfolge von "Systemen" erreicht wird. Jeder Gedanke, jedes echte Grundmotiv des Philosophierens steht mit der Gesamtheit der übrigen in einer ideellen Gemeinschaft: und diese Gemeinschaft der Ideen ist es, die auch der geschichtlichen Betrachtung erst Sinn und Leben verleiht. Mit dieser Auffassung der Aufgaben der Geschichte stellen sich COHENs Werke außerhalb des Interessenkreises jeder bloßen "Kant-Philologie". Die Kantische Lehre gilt hier nicht als ein totes und gleichgültiges Gedankenmaterial, das gleichsam in einem uninteressierten Begriffsspiel in seine einzelnen isolierten Elemente aufzulösen und aus diesen in scharfsinnigen und gelehrten Kombinationen wieder zusammenzufügen wäre. Vielmehr besteht hier von Anfang an ein höchster einheitlicher Gesichtspunkt, von dem aus die Einzelheiten des Systems übersehen und als wahrhaftes Ganzes begriffen werden sollen. Im System KANTs entscheidet sich für COHEN die eigentliche Schicksalsfrage der Philosophie überhaupt: die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft. Die Rekonstruktion dieses Systems aus seinen ursprünglichen Triebkräften führt uns daher mitten hinein in den weltgeschichtlichen Kampf um den Bestand der Philosophie selbst. Darin, daß dieser Kampf in KANT seinen schärfsten, prägnantesten Ausdrück erhält, liegt der Wert seiner Lehre: sie erscheint als die typische Ausprägung eines Gedankens, der seiner Grundbedeutung nach an keine einzelne Zeit und keine einzelne Schule gebunden ist. Um das ganze Gewicht dieser Problemstellung zu empfinden, muß man sich in die Epoche zurückversetzen, in der COHENs Kantische Studien begannen. Die Grundfragen der Philosophie erschienen hier insofern gelöst, als sie an die Gesamtheit der naturwissenschaftlichen Disziplinen aufgeteilt und in ihnen aufgegangen waren. Jede selbständige methodische Besinnung auf die Grundvoraussetzungen der Erkenntnis wurde nunmehr wie ein Rückfall in die Dialektik angesehen, von deren Zwang sich die mündig gewordene Wissenschaft endgültig befreit glaubte. Nicht in den abstrakten Allgemeinheiten der spekulativen Betrachtung, sondern in den speziellen empirischen Methoden und den empirischen Ergebnissen der besonderen Wissenschaft sollte sich der Sinn und Inhalt der Erkenntnis bestimmen. Die Gesamtheit dessen, was Natur- und Geschichtsbetrachtung an positiven Daten liefern, tritt daher nach der Grundanschauung dieser Epoche an die Stelle jeglicher Systematik, die das Ganze der Wirklichkeit zu umspannen trachtet. COHENs Stellung zu dieser Grundanschauung ist von Anfang an sowohl in positiver wie in negativer Hinsicht charakteristisch. Er nimmt das Faktum der Wissenschaft ohne Einschränkung als Grundlage an; aber er verwandelt mit KANT dieses Faktum wiederum in ein Problem. Und nun zeigt es sich, daß mit dieser schlichten methodischen Wendung der Sinn des herrschenden Erkenntnisideals eine radikale Umbildung erfährt. Als metaphysische Ansicht war der "Naturalismus" auch in der Periode seiner allgemeinsten Verbreitung niemals zu uneingeschränkter Herrschaft gelangt. In den Kreisen der spekulativen Philosophie stand ihm SCHOPENHAUERs idealistische Lehre, in den Kreisen der Forschung standen ihm namentlich HELMHOLTZ' erkenntnistheoretische Versuche, die wiederum bewußt an KANT anknüpften, entgegen. Aber gerade an diesen Gegensätzen kann man sich die Macht veranschaulichen, die der Naturalismus in seiner Methodik auch dort ausübte, wo man ihn im eigentlichen Inhalt der Weltanschauung überwunden zu haben glaubte. SCHOPENHAUER blickt zwar von seiner metaphysischen Höhe vornehm herab auf die "Herren vom Tiegel und von der Retorte", aber er verwendet nichtsdestoweniger in seiner Erkenntnistheorie völlig naiv und ohne kritische Prüfung die Sprache, die die Naturwissenschaft und insbesondere die Physiologie geschaffen hatte. Und HELMHOLTZ gibt dieser Sprache zwar eine unvergleichlich größere Schärfe und Genauigkeit; aber auch er gebraucht sie weit über das Gebiet hinaus, für das sie im strengen Sinne gültig ist und innerhalb dessen sie allein eine eigentliche, mehr als bloß metaphorische Bedeutung besitzt. Die gesamte Aprioritätslehre erscheint nunmehr als eine bloße Erweiterung eines bestimmten naturwissenschaftlichen Einzelergebnisses: sie wird zur Fortsetzung und zum Korrelat von JOHANNES MÜLLERs Lehre von den spezifischen Sinnesenergien. Die Macht des allgemeinen naturalistischen Gedankenschemas beweist sich am schlagendsten darin, daß dieses Schema auch die Kantische Erkenntnislehre selbst, die dagegen aufgerufen wird, unmittelbar in seinen Bann zieht. Indem FRIEDRICH ALBERT LANGE die Dogmatik des Naturalismus zu überwinden sucht, bleibt ihm dennoch die "psychophysische Organisation" das letzte Wort, das das Rätsel der Erkenntnis freilich mehr bezeichnet als löst. Auch OTTO LIEBMANNs erste Schriften bewegen sich bei aller Freiheit des Gedankens dennoch durchaus in dieser Richtung. Seine Schrift "Über den objektiven Anblick" (1869) sucht SCHOPENHAUERs und HELMHOLTZs Anregungen weiter auszuführen und auch die Darstellung der "Analysis der Wirklichkeit" sieht in den modernen physiologischen Theorien und Ergebnissen die exakte Bestätigung der Kantischen Lehre von der Phänomenalität des Raums. So nehmen alle diese Versuche gleichsam die Farbe jenes Systems an, das sie bekämpfen. Man versucht indessen vergebens von einem Teil der Naturerkenntnis aus, den man als feststehend annimmt, das Ganze kritisch aus den Angeln zu heben. Die apriorischen Wahrheiten werden, als Ausdruck der "Gattungsorganisation" gefaßt, zu einer besonderen Klasse psychophysischer "Wirklichkeiten", damit aber sind sie unweigerlich den Bedingungen der Wirklichkeitserkenntnis ein- und untergeordnet, statt diese aus sich begründen und kritisieren zu können. Gleichviel, ob die phänomenale Wirklichkeit als "Gehirnprodukt" oder in scheinbar verfeinerter Wendung als "Vorstellungsprodukt" erklärt wird, so ist doch im bloßen Begriff des "Produkts" alles vorweggenommen, was vom Standpunkt der Erkenntniskritik die eigentliche Frage bildet. An diesem Punkt setzt die originale Wendung von COHENs Kantauffassung und Kantkritik ein. Sie entsteht durch die schlichte Rückbesinnung auf denjenigen Gedanken, den KANT selbst beständig als den Mittelpunkt seiner Lehre hervorhebt. Die "Revolution der Denkart", die sich in der Vernunftkritik vollzieht, wurzelt in der transzendentalen Problemstellung; "transzendental" aber heißt nach KANT diejenige Betrachtungsweise, die nicht sowohl von den Gegenständen als von unserer Erkenntnisart von Gegenständen überhaupt ihren Ausgang nimmt. Im Licht dieser Begriffsbestimmung tritt das proton pseudos [der erste Irrtum - wp] der "naturalistischen" Ableitungen alsbald deutlich hervor. Denn es ist stets ein bestimmter Kreis von Objekten und eine bestimmte Form der Wechselwirkung zwischen ihnen, die hier zur Erklärung des Erkenntnisprozesses vorausgesetzt werden muß. Die Frage nach dem Sein des Objekts aber bleibt im transzendentalen Sinn solange unbestimmt und unlösbar, als nicht die Frage nach der Erkenntnisart beantwortet ist, in welcher sich das Wissen um das Objekt begründet. Den eigentlichen Gegenstand der Philosophie bildet demgemäß nicht die "Organisation" der Natur, noch die der "Psyche", sondern was sie zunächst allein zu bestimmen und aufzudecken hat, ist die "Organisation" der Naturerkenntnis. Die Richtung aller folgenden Untersuchungen ist mit diesem Anfang zwingend gegeben. Von jetzt an gibt es in der Tat keine unvermuteten oder paradoxen Wendungen mehr: der neue Ausgangspunkt bestimmt den Fortgang in eindeutiger und notwendiger Weise. Die "Fakta" der Naturwissenschaft gelten fortan nur insoweit, als sie sich in sicheren und exakten Urteilen beglaubigen lassen. Zu solcher Sicherheit aber ist lediglich dadurch zu gelangen, daß die besonderen Natururteile in den allgemeinen Grundurteilen der Mathematik gleichsam verankert werden. Die Ordnung der Gewißheit geht von der Mathematik zur Physik; nicht umgekehrt. Somit ist es die mathematische Naturwissenschaft, an die die transzendentale Frage in erster Linie zu richten ist. Zwar ist es keineswegs zutreffend, wenn behauptet wird, daß COHENs Erkenntniskritik sich in einseitiger Weise lediglich der mathematischen Naturtheorie zuwendet. Schon die Genesis des Grundgedankens verbietet eine derartige Auffassung; denn sie zeigt, daß es den allgemeinen Problembedingungen nach, die COHEN vorfand, nicht minder auf eine Kritik der Physiologie, als auf eine solche der Physik abgesehen sein mußte. Aber der Objektbegriff selbst, den auch die Physiologie voraussetzt, läßt sich seiner allgemeinsten Grundbedeutung nach nicht anders als in der Sprache der mathematischen Physik scharf und sicher fixieren. Der Begriff der Empfindung führt auf den des "Reizes", dieser aber auf den allgemeinen Begriff der Bewegung zurück. So muß die "Natur" für die Erkenntnis als ein System von Bewegungsvorgängen, die in einem gesetzlichen Zusammenhang miteinander stehen, begriffen sein, ehe wir mit ihr wie mit einem festen Datum innerhalb der Begründung rechnen können. Wenn der dogmatische Materialismus den Gedanken als einen Spezialfall der Mechanik abzuleiten sucht, so braucht diese Betrachtungsweise nur fortgesetzt und zu Ende gedacht zu werden, um alsbald eine eigentümliche Rückwendung zu erfahren. Denn die Mechanik selbst führt, wenn ihr Begriff nicht in der Unklarheit eines populären Schagwortes, sondern in der Schärfe seiner wissenschaftlichen Bedeutung gebraucht wird, auf mathematische, d. h. auf ideelle Grundfaktoren zurück. Was Bewegung "ist", läßt sich nicht anders als in Größenbegriffen aussagen: diese aber setzen zu ihrem Verständnis ein Grundsystem der reinen Größenlehre voraus. So werden die Prinzipien und Axiome der Mathematik zum eigentlichen Fundament, das als feststehend angenommen werden muß, um irgendeiner naturwissenschaftlichen Aussage über die Wirklichkeit Halt und Sinn zu verleihen. Damit aber ist unmittelbar und in strenger Kontinuität des Gedankens ein zweites Moment gewonnen. Die Analyse der Erkenntnis bewegt sich nicht in einem Gebiet, in dem von irgendwelchen existierenden Wirklichkeiten und ihrer kausalen Wechselwirkung die Rede ist, sondern sie entwickelt, vor allen solchen Annahmen über die Wirklichkeit der Dinge einen allgemeinen idealen Zusammenhang von Wahrheiten und dem Verhältnis ihrer wechselseitigen Abhängigkeit. Die reine Bedeutung dieser Wahrheitsbezüge gilt es zu sichern, ehe von ihnen irgendeine Anwendung auf existierende Dinge zu machen ist. Damit erhält die Erkenntniskritik gerade in ihrer Idealität eine streng objektive Wendung: sie handelt nicht von Vorstellungen und Vorgängen im denkenden Individuum, sondern vom Geltungszusammenhang zwischen Prinzipien und "Sätzen", der als solcher unabhängig von jeglicher Betrachtung des subjektiv-psychologischen Denkgeschehens festgestellt werden muß. In der Entwicklung der Philosophie des 19. Jahrhunderts hat sich dieser Grundgedanke der "transzendentalen" Methodik als besonders wirksam und fruchtbar erwiesen. Die gesamte Logik der Gegenwart zeigt sich von ihm beherrscht und durchdrungen. Der Gedanke, der gegenüber dem herrschenden Naturalismus und Psychologismus der 70-er Jahre zunächst wie eine Paradoxie erscheinen mußte, beginnt mehr und mehr wissenschaftliches Gemeingut zu werden. Von den verschiedensten Ausgangspunkten her hat sich ihm die philosophische Entwicklung wieder genähert: die "reine Logik", deren Aufgabe HUSSERL im Anschluß an BOLZANO entwickelt hat, wie die neueren "gegenstandstheoretischen" Untersuchungen, die sich allmählich von der Psychologie abgelöst haben, liegen in der Richtung auf jenes Ideal, das die Kantwerke COHENs zuerst in voller Schärfe und Eindringlichkeit herausgearbeitet haben. Aus dieser Notwendigkeit, die "objektive" Bedeutung des Kantischen Idealismus zu wahren, erklärt sich die Energie, mit der hier immer wieder auf die Wissenschaft als das eigentliche und unentbehrliche Korrelat der transzendentalen Methodik verwiesen wird. Wo diese Korrelation gelockert wird, da fehlt dem theoretischen Idealismus die sichere Richtschnur. Er gerät alsdann, trotz aller Bemühungen um einen überpersönlichen Gehalt, immer von neuem in die gefährliche Nähe des psychologischen Vorstellungsidealismus. Für COHEN dagegen bildet die "Einheit des Bewußtseins" nur einen anderen Ausdruck für die Einheit der synthetischen Grundsätze, auf deren Gültigkeit die Möglichkeit der Erfahrung und damit die Möglichkeit der Gegenständlich überhaupt beruth. Die Organisation des "Geistes", die der Idealismus sucht, kann nirgends anders als im Strukturzusammenhang der Naturwissenschaft, wie der Ethik und Ästhetik abgelesen werden.
Diese Umformung bedingt zugleich eine völlig veränderte Fassung der Gegensätze, von denen aus bisher das Problem der Erkenntnis betrachtet und beschrieben wurde. Vor allem ist es der Gegensatz des "Subjektiven" und "Objektiven" selbst, der nunmehr zurücktreten muß, da er in keiner Weise mehr als ein eindeutiger Ausdruck des Verhältnisses gelten kann, das die "transzendentale" Betrachtungsweise zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit herstellt. Daß dieser Gegensatz die Sprache KANTs noch völlig beherrscht, ist freilich unleugbar; aber der kritische Grund gedanke ist über ihn prinzipiell hinausgewachsen. Denn das Transzendental-"Subjektive" ist dasjenige, was als notwendiger und allgemeingültiger Faktor in jeglicher Erkenntnis nachgewiesen ist; eben dies aber ist es, was die höchst erreichbare "objektive" Einsicht für uns ausmacht. Es gilt demnach vor jedem weiteren Schritt einzusehen, daß "subjektiv" und "objektiv", nachdem einmal die "Kopernikanische Drehung des Problems" vollzogen ist, nicht mehr als Glieder einer korrekten Disjunktion anzusehen sind. Wie die transzendentale Erkenntnis niemals vom Gegenstand als solchem, sondern von der Erkenntnisart von Gegenständen überhaupt, sofern diese a priori möglich sein soll, beginnt: so kann auch der Wertausdruck des a priori niemals direkt irgendeiner Klasse von Gegenständen als Prädikat zukommen, sondern immer nur als Charakteristik einer bestimmten Erkenntnisart gemeint sein. "Diese komplementäre Zusammengehörigkeit beider Begriffe hebt das a priori aus dem Bereich der Gegensätze: wirklich - möglich; Gegenstand - Begriff; Sache - Idee; objektiv - subjektiv." (Kants Theorie der Erfahrung, Seite 135). Die Idee begründet die "Sachheit", aber freilich nur als Sachlichkeit und Notwendigkeit des Urteils; der Begriff wird zum "Grund" des "Gegenstandes", wobei aber die Gegenständlichkeit als nichts anderes, denn als Ausdruck eines gedanklich notwendigen Verhältnisses der Zusammengehörigkeit zu verstehen ist. Der Oberbegriff, der all jene verschiedenen Gesichtspunkte umfaßt und ihnen ihre Einheit und ihre relative Bedeutung gibt, ist die "Möglichkeit der Erfahrung". "Dinge" sind uns nicht anders denn als Inhalte möglicher Erfahrung gegeben; diese letztere selbst aber erschöpft sich niemals in der Materie der besonderen Wahrnehmungen, sondern schließt die Beziehung auf bestimmte formale Grundsätze der Verknüpfung notwendig ein. Auch der Gegensatz des "Empirismus" und "Rationalismus" ist kraft dieser Einsicht aufgehoben; denn die "Vernunft", von welcher der theoretische Idealismus spricht, muß im System der Erfahrung selbst aufgewiesen werden. So wird in der Erfahrung, sofern sie als Einheit gedacht werden muß, das Moment des Logischen, in den logischen Funktionen dagegen die notwendige Beziehung auf die Aufgabe der Gestaltung des Emprischen hervorgehoben und hierdurch eine unlösbare Beziehung zwischen beiden Elementen geschaffen. Ohne die Erkenntnis dieser Korrelation bleibt die Erfahrung selbst nur ein unklares Schlagwort; und der Mangel des historischen "Empirismus" besteht eben darin, daß er dieses "unklarste unbestimmteste Wort, bei dem sich alles Rechte, wie das Verkehrteste denken läßt, als letzten Aufschluß aller Fragen nach dem Grund, wie nicht minder nach dem Wert der Erkenntnis betrachtet und ausgegeben hat." Am klarsten tritt der wechselseitige Zusammenhang des logischen und des empirischen Moments der Erkenntnis in der Fortbildung hervor, die COHEN KANTs Grundsatz von den "Antizipationen der Wahrnehmung" gegeben hat. Hier liegt der Weg, der in seiner Weiterführung zu seiner eigenen systematischen Gestaltung der "Logik der reinen Erkenntnis" hingeleitet hat. Die Gedankenreihe, die hier anknüpft, bildet den letzten und konsequenten Abschluß der Gesamttendenz, von der COHENs Erneuerung der Kantischen Lehre geleitet war. Die naturwissenschaftlichen "Realitäten" sollten nicht länger als der selbstverständliche und fraglose Anfang der Erkenntniskritik gelten. Sie selbst enthüllen sich vor der fortschreitenden Analyse als ideale Gebilde: als Inhalte, deren Bestimmtheit auf dem logischen Gehalt beruth, den sie in sich bergen. Materie und Bewegung, Kraft und Masse werden in dieser Weise als Instrumente der Erkenntnis begriffen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung aber wird erst dann erreicht, wenn wir auf das mathematische Grundmotiv zurückgehen, das allen besonderen naturwissenschaftlichen Begriffsbildungen vorausliegt. Dieses Motiv liegt in der gedanklichen Methodik des "Infinitesimalen" vor uns. Ohne sie wäre es nicht möglich, den Begriff der Bewegung, wie die mathematische Naturwissenschaft ihn voraussetzt, auch nur streng zu bezeichnen, geschweige die Gesetzlichkeit der Bewegungen begrifflich zu beherrschen. So schließt sich hier der Kreis der kritischen Untersuchungen. Denn es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Begriff des Unendlich-Kleinen kein sinnlich faßbares "Dasein", sondern eine eigentümliche Art und Grundrichtung des Denkens bezeichnet: in dieser Grundrichtung aber ist nunmehr die notwendige Voraussetzung für das naturwissenschaftliche Objekt selbst erwiesen. Gegenüber dieser engen Anlehnung der Logik an die Grundgestaltungen der mathematischen Naturwissenschaft kann sich freilich ein Einwand erheben. Die Philosophie scheint hierdurch ihrer Selbständigkeit beraubt und mit den zufälligen Besonderheiten der jeweiligen Wissenschaft unlösbar verknüpft zu werden. Wird sie damit nicht auch in das Schicksal dieser Wissenschaft, in ihr zeitliches Entstehen und Vergehen verstrickt? Wenn es wahr ist, daß, wie COHEN es ausdrücklich formuliert, "nur ein Newtonianer als KANT aufstehen konnte", so bedroht jede Umbildung von NEWTONs Mechanik das System der "synthetischen Grundsätze" in seinem eigentlichen Kern. Indessen hat COHENs eigene Entwicklung diese Auffassung seiner Lehre widerlegt. Er ist bei aller Energie, mit der er die NEWTONsche Systematik in den Mittelpunk der Betrachtung rückt, doch gerade den Umformungen, die diese Systematik in der Physik des 19. Jahrhunderts erfahren hat, mit entschiedenstem Interesse und mit unbefangener Würdigung gefolgt. Wie er einer der ersten war, der auf die philosophische Bedeutung FARADAYs hingewiesen hat, so ist er auch den Prinzipien von HEINRICH HERTZ' Mechanik nachgegangen, um sie in ihrem erkenntniskritischen Gehalt zu verstehen und zu begründen. Die Orientierung an der Wissenschaft bedeutet ihm demnach keine Bindung an ihre zeitlich zufällige Form. Die "Gegebenheit", die der Philosoph in der mathematischen Naturwissenschaft anerkennt, bedeutet eben zuletzt lediglich die Gegebenheit des Problems. In ihrer tatsächlichen Form such und erkennt er eine ideale Firnm die er heraushebt, um sie wiederum den wechselnden historischen Gestaltungen als Maßstab gegenüber zu stellen. Wenn hierin ein scheinbarer Zirkel liegt, so ist es doch ein Zirkel, der unvermeidlich ist, weil er auf jener Wechselbewegung von Idee zu Erfahrung beruth, durch die - nach dem GOETHEschen Wort - die sittliche und wissenschaftliche Welt regiert wird. Auf der anderen Seite ist ein Fortschritt über die Problemgrenzen der mathematischen Naturwissenschaft durch COHENs eigene Systematik nicht nur zugelassen, sondern unmittelbar gefordert. Das Problem des Organismus, das Problem des Lebens geht niemals in den Bewegungsformen der reinen Mechanik auf. Indem die Idealität dieser Bewegungsformen erkannt ist, ist damit zugleich eingesehen, daß die wirklichen Lebensformen, die Individuen der Biologie, ihnen zwar ohne Einschränkung unterstehen, aber zugleich durch sie niemals in ihrem vollen Gehalt erschöpft werden können. Die Massenpunkte, die die reine Mechanik ihren Bewegungen als Subjekte unterlegt, bilden nur den ersten abstrakten Ansatz des Problems. Schon die Besonderung der chemischen Stoffe stellt die Wissenschaft vor eine neue Aufgabe, die sich immer weiter und unermeßlicher vor uns ausdehnt, je mehr wir den Inbegriff der Naturgeschichte in unsere Betrachtung aufnehmen. Neben den synthetischen Einheiten der mathematisch-dynamischen Grundsätze kann die Aufstellung von "systematischen Einheiten", wie sie jede beschreibende Naturwissenschaft voraussetzt, nicht überflüssig sein:
"Angenommen, das Ideal der mathematischen Naturwissenschaft sei gänzlich verwirklicht und wir vermöchten alle Naturformen in statischen Bewegungsgleichungen auszudrücken, so hätte die Mechanik darum doch nicht das Interesse der Naturbeschreibung absorbiert. Denn die Naturformen wollen nicht nur als Gleichgewichtsverhältnisse unter den Bewegungsvorgängen, sie wollen vielmehr in der Qualität ihrer Struktur bestimmt sein. Es genügt nicht, die Sonne als Gravitationszentrum zu fixieren, sie soll auch nach der Art der Stoffe beschrieben werden, die in ihr verbrennen. Und wenn nun gar die pflanzlichen und tierischen Körper, die von ihr gespeist werden, in Frage kommen, so wird es augenscheinlich, daß dabei Gestaltungen und Objektivierungen Probleme werden, welche zwar auf die mechanischen Abstraktionen der Bewegungspunkte zurückgehen, aber in denselben keineswegs ohne Rest aufgehen. Bei den chemischen Reaktionen könnte sich allenfalls noch die Meinung zu behaupten scheinen, als ob sich wenigstens dem Ideal der Forschung gemäß alle Naur im System der Bewegungspunkt erfülle. Aber wenn schon in der Chemie selbst die Anordnung und Unterscheidung der Elemente als solcher ein anderes Prinzip neben dem des materiellen Punktes notwendig macht, so wird die Dringlichkeit eines solchen unverkennbar bei den Organismen, die immerhin zwar als mechanisch-chemische Aggregate erforscht werden mögen, dennoch aber Einheiten bilden, die sich von jenen Punkteinheiten der Mechanik der Aufgabe und dem Interesse der Forschung nach unterscheiden" (Kants Theorie der Erfahrung, Seite 508f). Die Grundlegung der theoretischen Philosophie, die sich in der transzendentalen Fragestellung vollzieht, hat für die Begründung der Ethik eine völlig neue Dispositioni geschaffen. Jede Weltansicht, die von den "Dingen" und ihrer realen Wechselwirkung ausgeht und mit ihnen wie mit feststehenden absoluten Daten rechnet, sieht sich dem Problem der Ethik gegenüber in eine eigentümliche Schwierigkeit versetzt. Denn wie immer man diese Dingwelt auch bezeichnen und zergliedern mag: das Phänomen des "Sollens" hat in ihr keine Stätte und läßt sich aus ihr durch keine noch so scharfsinnige Analyse hervorlocken. Dieses Phänomen bleibt daher, von diesem Standpunkt aus gesehen, ein Fremdling in der Philosophie. Die Skepsis, ob es sich in der ethischen Problemstellung überhaupt um eine sinnvolle, sachlich notwendige Frage oder vielmehr um eine eigentümliche Vorstellungsillusion handelt, muß sich daher immer von neuem wiederholen. Im günstigsten Fall erscheint das Ethische als eine eigentümliche und paradoxe Nebenerscheinung in der Welt des Existierenden und Wirklichen: als ein Epiphänomen, das sich auf einer bestimmten einzelnen Stufe des "Seins" einstellt, mit der Konstitution des Seins überhaupt aber in keiner inneren und notwendigen Beziehung steht. Die kritische Reduktion des Seins auf die Geltung oberster Grundsätze gibt dagegen auch der Bestimmung der Sittlichkeit von Anfang an eine veränderte Richtung. Die "Maximen" und "Regeln" bilden nun kein schlechthin Neues mehr, für das erst eine logische Stelle ausfindig zu machen wäre: sondern sie sind das eigentliche Material jeglicher philosophischen Betrachtung überhaupt, das schon von der Grundlegung der theoretischen Wissenschaften her feststeht. Der Frage nach der Gesetzlichkeit der Erkenntnis tritt die Frage nach der Gesetzlichkeit des Willens unmittelbar zur Seite. In beiden Fällen aber wird das Gesetz nicht wie ein eigenes naturwirkliches Agens gedacht, das irgendwie in der Organisation der Einzelindividuen aufzuweisen wäre. Die ethische Norm kann nicht als eine Art naturwissenschaftlichen Durchschnitts dargestellt werden, der aus der Betrachtung der tatsächlichen menschlichen Handlungen zu abstrahieren wäre. Schärfer noch als auf dem Gebiet der reinen Erkenntnis, wird daher an dieser Stelle im vollen Einklang mit KANT, jede anthropologische Wendung abgewehrt. Eine derartige Wendung löst die Frage nicht, sondern vernichtet sie, indem sie ihre eigentümliche Bedeutung und Richtung verkennt. Das erfahrungsmäßig in der Menschengeschichte "Wirkliche" darf nicht zum Maßstab des sittlich "Möglichen" gemacht werden, da umgekehrt alle Produktivität des ethischen Denkes eben darin besteht, ein "Mögliches" zu ersinnen und aufzustellen, das aus sich heraus eine neue "Wirklichkeit", über alles bisher Gegebene hinaus, fordert. Der anthropologischen "Regel" wohnt niemals eine derartige revolutionäre Bedeutung gegenüber dem Tatsächlichen inne, da sie sich bescheiden muß, dieses Tatsächliche selbst in seinem allgemeinen historischen Typus zu beschreiben. Alle Verhüllung in tiefsinnige metaphysische Formeln, die das "Wesen" des Sittlichen darzustellen und zu ergründen beanspruchen, kann an diesem Verhältnis nichts ändern.
Dieser Zusammenhang von Ethik und Erfahrungslehre läßt die Grundzüge der allgemeinen Methodik von neuem hell hervortreten. Der übergreifende Ausdruck des "Gesetzes" tritt nunmehr in den Mittelpunkt des Systems: so sehr, daß in "Kants Begründung der Ethik" die Formulierung gewagt werden kann, das Gesetz selbst sei das "Ding ansich" (Seite 36). Die Erscheinungen müssen, um den Wert objektiver Realität, objektiver Geltung zu erlangen, unter Gesetzen stehen, als einzelne Fälle Gesetze ausdrücken. Sie stellen die inhaltliche Erfüllung der synthetischen Grundsätze dar und haben in dem Maße als sie das tun, Anteil am "Sein". Fragt man aber weiter nach dem "Sein" dieser Grundsätze selbst, so gilt es vor allem, die Verwechslung dieses Seins mit jeder handgreiflich gegebenen, "palpablen" [fühlbaren - wp] Wirklichkeit fernzuhalten. Sobald sie begangen wird, ist freilich damit jeder Zugang zu der bloßen Frage der Ethik verschlossen; aber im Grunde ist damit auch die Logik um ihren Sinn gebracht.
Ihre nähere Bestimmung erhält COHENs ethische Grundansicht in seiner Auffassung des Freiheitsbegriffs und in seiner Darstellung der Kantischen Freiheitslehre. Hier steht seine Methodik vor einer schwierigen Aufgabe: denn dieser Teil des Kantischen Systems ist es, der am engsten mit metaphysischen Motiven verflochten ist. Im "intelligiblen Charakter" enthüllt sich die Persönlichkeit als der selbständige Kern und das eigentliche "Ansich" der Wirklichkeit. In der Tat wird jede rein historische Reproduktion des Kantischen Systems anzuerkennen haben, daß an diesem Problem bei KANT selbst eine scharfe und strenge Scheidung der rein methodischen und der ontologischen Fragestellung noch nicht erreicht ist. Insbesondere zeigt die Behandlung des Freiheitsbegriffs in der "Kritik der reinen Vernunft" beide Interessen noch fast ungesondert nebeneinander und erst die neue inhaltliche Erfüllung die dieser Begriff in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" und in der "Kritik der praktischen Vernunft" erhält, grenzt auch seine originale kritische Bedeutung genau ab. COHENs Darlegungen bedeuten daher hier nicht sowohl eine einfache Wiedergabe, als vielmehr eine bewußte Verschärfung und Weiterführung der Kantischen Grundgedanken.
|