tb-1 Kants Theorie der ErfahrungLogik der reinen Erkenntnis    
 
ERNST CASSIRER
Hermann Cohen
und die Erneuerung
der Kantischen Philosophie


"Es zeigt sich jetzt von neuem, daß überall dort, wo die populäre Ansicht es unmittelbar mit Dingen und ihren wirkenden Kräften zu tun zu haben glaubt, die philosophische Analysis vielmehr auf Erkenntnisbegriffe und Erkenntnismethoden geführt wird, die sie in ihrer spezifischen Geltung feststellt und voneinander unterscheidet. Indem aber auf diese Weise das Problem des  Seins  auf das Problem der  Wahrheit  zurückgelenkt wird, entsteht nunmehr eine neue und weitere Aufgabe. Es gilt, den Sinn des Wahrheitsbegriffs innerhalb eines umfassenden  Systems der Geltungswerte  festzustellen."

Mit der philosophischen Lebensarbeit HERMANN COHENs sind die drei Werke, die der Begründung der Sicherung der Kantischen Lehre gewidmet sind, unlöslich verknüpft. Denn wie sehr sich COHEN im Aufbau des eigenen Systems in einzelnen Punkten von den Ergebnissen KANTs entfernt hat, so ist doch das methodische Bewußtsein, von dem alles seine Einzelleistungen belebt sind, erst an der wissenschaftlichen Durchdringung der Kantischen Grundwerke zur Klarheit und Reife gelangt. Zwischen dem Historiker und dem Systematiker der Philosophie besteht daher hier keine Trennung und keine Scheidewand. Die Wirkung, die COHENs Kantbücher geübt haben, beruth vor allem auf diesem inneren Zusammenhang. Was die eigentliche Kraft und freilich zugleich die eigentümliche Schwierigkeit dieser Bücher ausmacht, ist eben dies, daß das Begreifen KANTs hier nicht als eine Sache abgelöster historischer Fachgelehrsamkeit gedacht wird, sondern durchweg eine eigene systematische Stellung zu den Grundproblemen voraussetzt. Der Denker stellt sich in den großen Zusammenhang der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte: denn dem "Philosophieren auf eigene Faust", bei dem jedes Individuum nur in einem persönlichen zufälligen Reflex die Antwort auf die Rätsel des Seins zu finden sucht, soll eine Ende gemacht werden. Aber damit eröffnet sich zugleich eine historische Perspektive, die von keiner pragmatischen Beschreibung einer bloßen Abfolge von "Systemen" erreicht wird. Jeder Gedanke, jedes echte Grundmotiv des Philosophierens steht mit der Gesamtheit der übrigen in einer ideellen Gemeinschaft: und diese Gemeinschaft der Ideen ist es, die auch der geschichtlichen Betrachtung erst Sinn und Leben verleiht. Mit dieser Auffassung der Aufgaben der Geschichte stellen sich COHENs Werke außerhalb des Interessenkreises jeder bloßen "Kant-Philologie". Die Kantische Lehre gilt hier nicht als ein totes und gleichgültiges Gedankenmaterial, das gleichsam in einem uninteressierten Begriffsspiel in seine einzelnen isolierten Elemente aufzulösen und aus diesen in scharfsinnigen und gelehrten Kombinationen wieder zusammenzufügen wäre. Vielmehr besteht hier von Anfang an ein höchster einheitlicher Gesichtspunkt, von dem aus die Einzelheiten des Systems übersehen und als wahrhaftes Ganzes begriffen werden sollen. Im System KANTs entscheidet sich für COHEN die eigentliche Schicksalsfrage der Philosophie überhaupt: die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft. Die Rekonstruktion dieses Systems aus seinen ursprünglichen Triebkräften führt uns daher mitten hinein in den weltgeschichtlichen Kampf um den Bestand der Philosophie selbst. Darin, daß dieser Kampf in KANT seinen schärfsten, prägnantesten Ausdrück erhält, liegt der Wert seiner Lehre: sie erscheint als die typische Ausprägung eines Gedankens, der seiner Grundbedeutung nach an keine einzelne Zeit und keine einzelne Schule gebunden ist.

Um das ganze Gewicht dieser Problemstellung zu empfinden, muß man sich in die Epoche zurückversetzen, in der COHENs Kantische Studien begannen. Die Grundfragen der Philosophie erschienen hier insofern gelöst, als sie an die Gesamtheit der naturwissenschaftlichen Disziplinen aufgeteilt und in ihnen aufgegangen waren. Jede selbständige methodische Besinnung auf die Grundvoraussetzungen der Erkenntnis wurde nunmehr wie ein Rückfall in die Dialektik angesehen, von deren Zwang sich die mündig gewordene Wissenschaft endgültig befreit glaubte. Nicht in den abstrakten Allgemeinheiten der spekulativen Betrachtung, sondern in den speziellen empirischen Methoden und den empirischen Ergebnissen der besonderen Wissenschaft sollte sich der Sinn und Inhalt der Erkenntnis bestimmen. Die Gesamtheit dessen, was Natur- und Geschichtsbetrachtung an positiven Daten liefern, tritt daher nach der Grundanschauung dieser Epoche an die Stelle jeglicher Systematik, die das Ganze der Wirklichkeit zu umspannen trachtet. COHENs Stellung zu dieser Grundanschauung ist von Anfang an sowohl in positiver wie in negativer Hinsicht charakteristisch. Er nimmt das Faktum der Wissenschaft ohne Einschränkung als Grundlage an; aber er verwandelt mit KANT dieses Faktum wiederum in ein Problem. Und nun zeigt es sich, daß mit dieser schlichten methodischen Wendung der Sinn des herrschenden Erkenntnisideals eine radikale Umbildung erfährt. Als  metaphysische  Ansicht war der "Naturalismus" auch in der Periode seiner allgemeinsten Verbreitung niemals zu uneingeschränkter Herrschaft gelangt. In den Kreisen der spekulativen Philosophie stand ihm SCHOPENHAUERs idealistische Lehre, in den Kreisen der Forschung standen ihm namentlich HELMHOLTZ' erkenntnistheoretische Versuche, die wiederum bewußt an KANT anknüpften, entgegen. Aber gerade an diesen Gegensätzen kann man sich die Macht veranschaulichen, die der Naturalismus in seiner Methodik auch dort ausübte, wo man ihn im eigentlichen Inhalt der Weltanschauung überwunden zu haben glaubte. SCHOPENHAUER blickt zwar von seiner metaphysischen Höhe vornehm herab auf die "Herren vom Tiegel und von der Retorte", aber er verwendet nichtsdestoweniger in seiner Erkenntnistheorie völlig naiv und ohne kritische Prüfung die  Sprache die die Naturwissenschaft und insbesondere die Physiologie geschaffen hatte. Und HELMHOLTZ gibt dieser Sprache zwar eine unvergleichlich größere Schärfe und Genauigkeit; aber auch er gebraucht sie weit über das Gebiet hinaus, für das sie im strengen Sinne gültig ist und innerhalb dessen sie allein eine eigentliche, mehr als bloß metaphorische Bedeutung besitzt. Die gesamte Aprioritätslehre erscheint nunmehr als eine bloße Erweiterung eines bestimmten naturwissenschaftlichen Einzelergebnisses: sie wird zur Fortsetzung und zum Korrelat von JOHANNES MÜLLERs Lehre von den spezifischen Sinnesenergien. Die Macht des allgemeinen naturalistischen Gedankenschemas beweist sich am schlagendsten darin, daß dieses Schema auch die Kantische Erkenntnislehre selbst, die dagegen aufgerufen wird, unmittelbar in seinen Bann zieht. Indem FRIEDRICH ALBERT LANGE die Dogmatik des Naturalismus zu überwinden sucht, bleibt ihm dennoch die "psychophysische Organisation" das letzte Wort, das das Rätsel der Erkenntnis freilich mehr bezeichnet als löst. Auch OTTO LIEBMANNs erste Schriften bewegen sich bei aller Freiheit des Gedankens dennoch durchaus in dieser Richtung. Seine Schrift "Über den objektiven Anblick" (1869) sucht SCHOPENHAUERs und HELMHOLTZs Anregungen weiter auszuführen und auch die Darstellung der "Analysis der Wirklichkeit" sieht in den modernen physiologischen Theorien und Ergebnissen die exakte Bestätigung der Kantischen Lehre von der Phänomenalität des Raums. So nehmen alle diese Versuche gleichsam die Farbe jenes Systems an, das sie bekämpfen. Man versucht indessen vergebens von einem Teil der Naturerkenntnis aus, den man als feststehend annimmt, das Ganze kritisch aus den Angeln zu heben. Die apriorischen Wahrheiten werden, als Ausdruck der "Gattungsorganisation" gefaßt, zu einer besonderen Klasse psychophysischer "Wirklichkeiten", damit aber sind sie unweigerlich den Bedingungen der Wirklichkeitserkenntnis ein- und untergeordnet, statt diese aus sich begründen und kritisieren zu können. Gleichviel, ob die phänomenale Wirklichkeit als "Gehirnprodukt" oder in scheinbar verfeinerter Wendung als "Vorstellungsprodukt" erklärt wird, so ist doch im bloßen Begriff des "Produkts" alles vorweggenommen, was vom Standpunkt der Erkenntniskritik die eigentliche Frage bildet.

An diesem Punkt setzt die originale Wendung von COHENs Kantauffassung und Kantkritik ein. Sie entsteht durch die schlichte Rückbesinnung auf denjenigen Gedanken, den KANT selbst beständig als den Mittelpunkt seiner Lehre hervorhebt. Die "Revolution der Denkart", die sich in der Vernunftkritik vollzieht, wurzelt in der transzendentalen Problemstellung; "transzendental" aber heißt nach KANT diejenige Betrachtungsweise, die nicht sowohl von den Gegenständen als von unserer  Erkenntnisart  von Gegenständen überhaupt ihren Ausgang nimmt. Im Licht dieser Begriffsbestimmung tritt das  proton pseudos  [der erste Irrtum - wp] der "naturalistischen" Ableitungen alsbald deutlich hervor. Denn es ist stets ein bestimmter Kreis von Objekten und eine bestimmte Form der Wechselwirkung zwischen ihnen, die hier zur Erklärung des Erkenntnisprozesses vorausgesetzt werden muß. Die Frage nach dem Sein des Objekts aber bleibt im transzendentalen Sinn solange unbestimmt und unlösbar, als nicht die Frage nach der Erkenntnisart beantwortet ist, in welcher sich das Wissen um das Objekt begründet. Den eigentlichen Gegenstand der  Philosophie  bildet demgemäß nicht die "Organisation" der Natur, noch die der "Psyche", sondern was sie zunächst allein zu bestimmen und aufzudecken hat, ist die "Organisation" der  Naturerkenntnis.  Die Richtung aller folgenden Untersuchungen ist mit diesem Anfang zwingend gegeben. Von jetzt an gibt es in der Tat keine unvermuteten oder paradoxen Wendungen mehr: der neue Ausgangspunkt bestimmt den Fortgang in eindeutiger und notwendiger Weise. Die "Fakta" der Naturwissenschaft gelten fortan nur insoweit, als sie sich in sicheren und exakten Urteilen beglaubigen lassen. Zu solcher Sicherheit aber ist lediglich dadurch zu gelangen, daß die besonderen Natururteile in den allgemeinen Grundurteilen der Mathematik gleichsam verankert werden. Die Ordnung der  Gewißheit  geht von der Mathematik zur Physik; nicht umgekehrt. Somit ist es die  mathematische Naturwissenschaft,  an die die transzendentale Frage in erster Linie zu richten ist. Zwar ist es keineswegs zutreffend, wenn behauptet wird, daß COHENs Erkenntniskritik sich in einseitiger Weise lediglich der mathematischen Naturtheorie zuwendet. Schon die Genesis des Grundgedankens verbietet eine derartige Auffassung; denn sie zeigt, daß es den allgemeinen Problembedingungen nach, die COHEN vorfand, nicht minder auf eine Kritik der  Physiologie,  als auf eine solche der  Physik  abgesehen sein mußte. Aber der Objektbegriff selbst, den auch die Physiologie voraussetzt, läßt sich seiner allgemeinsten Grundbedeutung nach nicht anders als in der Sprache der mathematischen Physik scharf und sicher fixieren. Der Begriff der Empfindung führt auf den des "Reizes", dieser aber auf den allgemeinen Begriff der Bewegung zurück. So muß die "Natur" für die Erkenntnis als ein System von Bewegungsvorgängen, die in einem gesetzlichen Zusammenhang miteinander stehen, begriffen sein, ehe wir mit ihr wie mit einem festen Datum innerhalb der Begründung rechnen können. Wenn der dogmatische Materialismus den Gedanken als einen Spezialfall der Mechanik abzuleiten sucht, so braucht diese Betrachtungsweise nur fortgesetzt und zu Ende gedacht zu werden, um alsbald eine eigentümliche Rückwendung zu erfahren. Denn die Mechanik selbst führt, wenn ihr Begriff nicht in der Unklarheit eines populären Schagwortes, sondern in der Schärfe seiner wissenschaftlichen Bedeutung gebraucht wird, auf mathematische, d. h. auf  ideelle  Grundfaktoren zurück. Was Bewegung "ist", läßt sich nicht anders als in Größenbegriffen aussagen: diese aber setzen zu ihrem Verständnis ein Grundsystem der reinen Größenlehre voraus. So werden die Prinzipien und Axiome der Mathematik zum eigentlichen Fundament, das als feststehend angenommen werden muß, um irgendeiner naturwissenschaftlichen Aussage über die Wirklichkeit Halt und Sinn zu verleihen.

Damit aber ist unmittelbar und in strenger Kontinuität des Gedankens ein zweites Moment gewonnen. Die Analyse der Erkenntnis bewegt sich nicht in einem Gebiet, in dem von irgendwelchen existierenden Wirklichkeiten und ihrer kausalen Wechselwirkung die Rede ist, sondern sie entwickelt, vor allen solchen Annahmen über die Wirklichkeit der Dinge einen allgemeinen idealen Zusammenhang von Wahrheiten und dem Verhältnis ihrer wechselseitigen Abhängigkeit. Die reine Bedeutung dieser Wahrheitsbezüge gilt es zu sichern, ehe von ihnen irgendeine Anwendung auf existierende Dinge zu machen ist. Damit erhält die Erkenntniskritik gerade in ihrer Idealität eine streng  objektive  Wendung: sie handelt nicht von Vorstellungen und Vorgängen im denkenden Individuum, sondern vom Geltungszusammenhang zwischen Prinzipien und "Sätzen", der als solcher unabhängig von jeglicher Betrachtung des subjektiv-psychologischen Denkgeschehens festgestellt werden muß. In der Entwicklung der Philosophie des 19. Jahrhunderts hat sich dieser Grundgedanke der "transzendentalen" Methodik als besonders wirksam und fruchtbar erwiesen. Die gesamte Logik der Gegenwart zeigt sich von ihm beherrscht und durchdrungen. Der Gedanke, der gegenüber dem herrschenden Naturalismus und Psychologismus der 70-er Jahre zunächst wie eine Paradoxie erscheinen mußte, beginnt mehr und mehr wissenschaftliches Gemeingut zu werden. Von den verschiedensten Ausgangspunkten her hat sich ihm die philosophische Entwicklung wieder genähert: die "reine Logik", deren Aufgabe HUSSERL im Anschluß an BOLZANO entwickelt hat, wie die neueren "gegenstandstheoretischen" Untersuchungen, die sich allmählich von der Psychologie abgelöst haben, liegen in der Richtung auf jenes Ideal, das die Kantwerke COHENs zuerst in voller Schärfe und Eindringlichkeit herausgearbeitet haben.

Aus dieser Notwendigkeit, die "objektive" Bedeutung des Kantischen Idealismus zu wahren, erklärt sich die Energie, mit der hier immer wieder auf die Wissenschaft als das eigentliche und unentbehrliche Korrelat der transzendentalen Methodik verwiesen wird. Wo diese Korrelation gelockert wird, da fehlt dem theoretischen Idealismus die sichere Richtschnur. Er gerät alsdann, trotz aller Bemühungen um einen überpersönlichen Gehalt, immer von neuem in die gefährliche Nähe des psychologischen Vorstellungsidealismus. Für COHEN dagegen bildet die "Einheit des Bewußtseins" nur einen anderen Ausdruck für die Einheit der synthetischen Grundsätze, auf deren Gültigkeit die Möglichkeit der Erfahrung und damit die Möglichkeit der Gegenständlich überhaupt beruth. Die Organisation des "Geistes", die der Idealismus sucht, kann nirgends anders als im Strukturzusammenhang der Naturwissenschaft, wie der Ethik und Ästhetik abgelesen werden.
    "Kritik bedeutet also zunächst die Warnung: nicht Philosophie mit Mathematik oder Naturwissenschaft gleich oder auch nur auf gleichen Fuß zu setzen. Die Philosophie hat nicht Dinge zu erzeugen, oder wie der verführerische und berüchtigte, der Mathematik geraubte Ausdruck lautet, zu  konstruieren,  sondern zunächst lediglich zu verstehen und nachzuprüfen, wie die Objekte und Gesetze der mathematischen Erfahrung konstruiert werden. Aber mit dieser Warnung bringt die Kritik zugleich die Einsicht und den Trost: daß die mathematische Naturwissenschaft nicht lediglich auf Mathematik und Erfahrung beruth, sondern selber philosophischen Anteils sei. Die Kritik lehrt diesen Anteil erkennen und so fühlt der nachprüfende Philosoph am Objekt seiner Kritik Geist von seinem Geiste." (Kants Theorie der Erfahrung, Seite 578).
Wir können freilich nach dem Kantischen Wort nichts von den Dingen a priori erkennen, als was "wir selbst" in sie legen: aber das Selbst, von dem hier die Rede ist, wird nicht in einem spekulativen Grübeln abseits der Wissenschaft, sondern lediglich in der Kontinuität und Gesetzlichkeit ihrer Arbeit erfaßt. Diese Gesetzlichkeit bildet die erste Hypothese der transzendentalen Forschung, die aber in dem Maße, als sie selbst fortschreitet, sich mehr und mehr in assertorische Gewißheit wandelt. Und das gleiche Verhältnis wiederholt sich auf den übrigen Gebieten der Philosophie. Auch der Ethiker vermag den Inhalt des Sittengesetzes nicht zu erzeugen, sondern lediglich die "Formel" dieses Inhalts aufzustellen.
    "Und auch dem letzten Glied des Systems, der Ästhetik gegenüber sagt Kritik positiv wie negativ: was dem Philosophen bei der Entdeckung des ästhetischen Gesetzes zustehe. Er hat nicht, als wäre er das Genie, Regel und Gesetz zu geben, sondern von den Werken der Kunst und von der Beziehung des sonderbaren ästhetischen Interesses auf die Einfalt der Natur zu lernen, worauf diese Hingabe an die holden Reize der  Zweckmäßigkeit ohne Zweck  beruhe und wie wir sie allgemein zu fassen und begrifflich zu fixieren vermögen. Nicht das Gesetz des Schönen ist philosophisch zu erfinden, sondern, worin ein solches bestehen dürfe und bestehe, ist auszumachen." (Kants Theorie der Erfahrung, Seite 578)
So erkennt auch diese Lehre durchaus ein "Gegebenes" an, an dem die philosophische Betrachtung sich zu orientieren hat; aber es ist gleichsam ein Gegebenes höherer Stufe, das nicht in der materiellen Bestimmtheit von Dingen, sondern in der logischen Struktur von Prinzipien und Ideen besteht.

Diese Umformung bedingt zugleich eine völlig veränderte Fassung der Gegensätze, von denen aus bisher das Problem der Erkenntnis betrachtet und beschrieben wurde. Vor allem ist es der Gegensatz des "Subjektiven" und "Objektiven" selbst, der nunmehr zurücktreten muß, da er in keiner Weise mehr als ein eindeutiger Ausdruck des Verhältnisses gelten kann, das die "transzendentale" Betrachtungsweise zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit herstellt. Daß dieser Gegensatz die  Sprache  KANTs noch völlig beherrscht, ist freilich unleugbar; aber der kritische Grund gedanke  ist über ihn prinzipiell hinausgewachsen. Denn das Transzendental-"Subjektive" ist dasjenige, was als notwendiger und allgemeingültiger Faktor in jeglicher Erkenntnis nachgewiesen ist; eben dies aber ist es, was die höchst erreichbare "objektive" Einsicht für uns ausmacht. Es gilt demnach vor jedem weiteren Schritt einzusehen, daß "subjektiv" und "objektiv",  nachdem  einmal die "Kopernikanische Drehung des Problems" vollzogen ist, nicht mehr als Glieder einer korrekten Disjunktion anzusehen sind. Wie die transzendentale Erkenntnis niemals vom Gegenstand als solchem, sondern von der Erkenntnisart von Gegenständen überhaupt, sofern diese a priori möglich sein soll, beginnt: so kann auch der Wertausdruck des a priori niemals direkt irgendeiner Klasse von Gegenständen als Prädikat zukommen, sondern immer nur als Charakteristik einer bestimmten Erkenntnisart gemeint sein. "Diese komplementäre Zusammengehörigkeit beider Begriffe hebt das a priori aus dem Bereich der Gegensätze: wirklich - möglich; Gegenstand - Begriff; Sache - Idee; objektiv - subjektiv." (Kants Theorie der Erfahrung, Seite 135). Die Idee begründet die "Sachheit", aber freilich nur als Sachlichkeit und Notwendigkeit des Urteils; der Begriff wird zum "Grund" des "Gegenstandes", wobei aber die Gegenständlichkeit als nichts anderes, denn als Ausdruck eines gedanklich notwendigen Verhältnisses der Zusammengehörigkeit zu verstehen ist. Der Oberbegriff, der all jene verschiedenen Gesichtspunkte umfaßt und ihnen ihre Einheit und ihre relative Bedeutung gibt, ist die "Möglichkeit der Erfahrung". "Dinge" sind uns nicht anders denn als Inhalte möglicher Erfahrung gegeben; diese letztere selbst aber erschöpft sich niemals in der Materie der besonderen Wahrnehmungen, sondern schließt die Beziehung auf bestimmte formale Grundsätze der Verknüpfung notwendig ein. Auch der Gegensatz des "Empirismus" und "Rationalismus" ist kraft dieser Einsicht aufgehoben; denn die "Vernunft", von welcher der theoretische Idealismus spricht, muß im  System der Erfahrung selbst  aufgewiesen werden. So wird in der Erfahrung, sofern sie als Einheit gedacht werden muß, das Moment des Logischen, in den logischen Funktionen dagegen die notwendige Beziehung auf die Aufgabe der Gestaltung des Emprischen hervorgehoben und hierdurch eine unlösbare Beziehung zwischen beiden Elementen geschaffen. Ohne die Erkenntnis dieser Korrelation bleibt die Erfahrung selbst nur ein unklares Schlagwort; und der Mangel des historischen "Empirismus" besteht eben darin, daß er dieses "unklarste unbestimmteste Wort, bei dem sich alles Rechte, wie das Verkehrteste denken läßt, als letzten Aufschluß aller Fragen nach dem Grund, wie nicht minder nach dem Wert der Erkenntnis betrachtet und ausgegeben hat."

Am klarsten tritt der wechselseitige Zusammenhang des logischen und des empirischen Moments der Erkenntnis in der Fortbildung hervor, die COHEN KANTs Grundsatz von den "Antizipationen der Wahrnehmung" gegeben hat. Hier liegt der Weg, der in seiner Weiterführung zu seiner eigenen systematischen Gestaltung der "Logik der reinen Erkenntnis" hingeleitet hat. Die Gedankenreihe, die hier anknüpft, bildet den letzten und konsequenten Abschluß der Gesamttendenz, von der COHENs Erneuerung der Kantischen Lehre geleitet war. Die naturwissenschaftlichen "Realitäten" sollten nicht länger als der selbstverständliche und fraglose  Anfang  der Erkenntniskritik gelten. Sie selbst enthüllen sich vor der fortschreitenden Analyse als  ideale  Gebilde: als Inhalte, deren Bestimmtheit auf dem logischen Gehalt beruth, den sie in sich bergen. Materie und Bewegung, Kraft und Masse werden in dieser Weise als Instrumente der Erkenntnis begriffen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung aber wird erst dann erreicht, wenn wir auf das mathematische Grundmotiv zurückgehen, das allen besonderen naturwissenschaftlichen Begriffsbildungen vorausliegt. Dieses Motiv liegt in der gedanklichen Methodik des "Infinitesimalen" vor uns. Ohne sie wäre es nicht möglich, den Begriff der Bewegung, wie die mathematische Naturwissenschaft ihn voraussetzt, auch nur streng zu bezeichnen, geschweige die Gesetzlichkeit der Bewegungen begrifflich zu beherrschen. So schließt sich hier der Kreis der kritischen Untersuchungen. Denn es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Begriff des Unendlich-Kleinen kein sinnlich faßbares "Dasein", sondern eine eigentümliche Art und Grundrichtung des Denkens bezeichnet: in dieser Grundrichtung aber ist nunmehr die notwendige Voraussetzung für das naturwissenschaftliche Objekt selbst erwiesen.

Gegenüber dieser engen Anlehnung der Logik an die Grundgestaltungen der mathematischen Naturwissenschaft kann sich freilich ein Einwand erheben. Die Philosophie scheint hierdurch ihrer Selbständigkeit beraubt und mit den zufälligen Besonderheiten der jeweiligen Wissenschaft unlösbar verknüpft zu werden. Wird sie damit nicht auch in das Schicksal dieser Wissenschaft, in ihr zeitliches Entstehen und Vergehen verstrickt? Wenn es wahr ist, daß, wie COHEN es ausdrücklich formuliert, "nur ein Newtonianer als KANT aufstehen konnte", so bedroht jede Umbildung von NEWTONs Mechanik das System der "synthetischen Grundsätze" in seinem eigentlichen Kern. Indessen hat COHENs eigene Entwicklung diese Auffassung seiner Lehre widerlegt. Er ist bei aller Energie, mit der er die NEWTONsche Systematik in den Mittelpunk der Betrachtung rückt, doch gerade den Umformungen, die diese Systematik in der Physik des 19. Jahrhunderts erfahren hat, mit entschiedenstem Interesse und mit unbefangener Würdigung gefolgt. Wie er einer der ersten war, der auf die  philosophische  Bedeutung FARADAYs hingewiesen hat, so ist er auch den Prinzipien von HEINRICH HERTZ' Mechanik nachgegangen, um sie in ihrem erkenntniskritischen Gehalt zu verstehen und zu begründen. Die Orientierung an der Wissenschaft bedeutet ihm demnach keine Bindung an ihre zeitlich zufällige Form. Die "Gegebenheit", die der Philosoph in der mathematischen Naturwissenschaft anerkennt, bedeutet eben zuletzt lediglich die Gegebenheit des  Problems.  In ihrer tatsächlichen Form such und erkennt er eine ideale Firnm die er heraushebt, um sie wiederum den wechselnden historischen Gestaltungen als Maßstab gegenüber zu stellen. Wenn hierin ein scheinbarer Zirkel liegt, so ist es doch ein Zirkel, der unvermeidlich ist, weil er auf jener Wechselbewegung von Idee zu Erfahrung beruth, durch die - nach dem GOETHEschen Wort - die sittliche und wissenschaftliche Welt regiert wird.

Auf der anderen Seite ist ein Fortschritt über die Problemgrenzen der mathematischen Naturwissenschaft durch COHENs eigene Systematik nicht nur zugelassen, sondern unmittelbar gefordert. Das Problem des Organismus, das Problem des Lebens geht niemals in den Bewegungsformen der reinen Mechanik auf. Indem die Idealität dieser Bewegungsformen erkannt ist, ist damit zugleich eingesehen, daß die wirklichen  Lebensformen,  die Individuen der Biologie, ihnen zwar ohne Einschränkung unterstehen, aber zugleich durch sie niemals in ihrem vollen Gehalt erschöpft werden können. Die Massenpunkte, die die reine Mechanik ihren Bewegungen als Subjekte unterlegt, bilden nur den ersten abstrakten  Ansatz  des Problems. Schon die Besonderung der chemischen Stoffe stellt die Wissenschaft vor eine neue Aufgabe, die sich immer weiter und unermeßlicher vor uns ausdehnt, je mehr wir den Inbegriff der  Naturgeschichte  in unsere Betrachtung aufnehmen. Neben den synthetischen Einheiten der mathematisch-dynamischen Grundsätze kann die Aufstellung von "systematischen Einheiten", wie sie jede beschreibende Naturwissenschaft voraussetzt, nicht überflüssig sein:
    "Denn das System der Natur wie der Erfahrung muß auch diejenige Naturwissenschaft einschließen, welche nicht mathematisch zu verfahren, sei es gezwungen, sei es gewillt ist."

    "Angenommen, das Ideal der mathematischen Naturwissenschaft sei gänzlich verwirklicht und wir vermöchten alle Naturformen in statischen Bewegungsgleichungen auszudrücken, so hätte die Mechanik darum doch nicht das Interesse der Naturbeschreibung absorbiert. Denn die Naturformen wollen nicht nur als Gleichgewichtsverhältnisse unter den Bewegungsvorgängen, sie wollen vielmehr in der Qualität ihrer Struktur bestimmt sein. Es genügt nicht, die Sonne als Gravitationszentrum zu fixieren, sie soll auch nach der Art der Stoffe beschrieben werden, die in ihr verbrennen. Und wenn nun gar die pflanzlichen und tierischen Körper, die von ihr gespeist werden, in Frage kommen, so wird es augenscheinlich, daß dabei Gestaltungen und Objektivierungen Probleme werden, welche zwar auf die mechanischen Abstraktionen der Bewegungspunkte zurückgehen, aber in denselben keineswegs ohne Rest aufgehen. Bei den chemischen Reaktionen könnte sich allenfalls noch die Meinung zu behaupten scheinen, als ob sich wenigstens dem Ideal der Forschung gemäß alle Naur im System der Bewegungspunkt erfülle. Aber wenn schon in der Chemie selbst die Anordnung und Unterscheidung der Elemente als solcher ein anderes Prinzip neben dem des materiellen Punktes notwendig macht, so wird die Dringlichkeit eines solchen unverkennbar bei den Organismen, die immerhin zwar als mechanisch-chemische Aggregate erforscht werden mögen, dennoch aber Einheiten bilden, die sich von jenen Punkteinheiten der Mechanik der Aufgabe und dem Interesse der Forschung nach unterscheiden" (Kants Theorie der Erfahrung, Seite 508f).
Dennoch wird durch diese Erweiterung des  Umfangs  der  Inhalt  des Naturbegriffs, wie er bisher festgestellt wurde, nicht hinfällig. Denn der Gedanke des  Zwecks der jetzt als Grundprinzip für das Eigentümliche der Lebenserscheinungen eintritt, bedeutet keinen Gegensatz zur kausalen Erklärung, sondern will vielmehr der durchgehenden Anwendung dieser Erklärungsweise selbst den Weg weisen. Der Zweckbegriff zielt als "Idee" auf die systematische Vollendung der kausalen Betrachtungsweise und ihre unbeschränkte Durchführung hin. In diesem Punkt schließt sich COHEN streng der Auffassung an, die die "Kritik der Urteilskraft" durchgeführt hat. Die Zweckmäßigkeit der Organismen stellt eine "Grenze", nicht aber eine "Schranke" der mechanischen Kausalität dar: denn sie stellt eine Aufgabe auf, die als solche zwar an und für sich unvollendbar ist, deren Vollendung aber mit den Mitteln der kausalen Erklärung selbst fortschreitend  gesucht  werden muß. Sie bezeichnet somit eine neue und eigentümliche Richtung der Forschung; ein Regulativ der  Erkenntnis,  nicht aber eine dingliche absolute Macht, die hinter der phänomenalen Ursächlichkeit steht. Damit ist die "Umwendung", auf die COHENs gesamte kritische Arbeit hinzielt, um einen Schritt weiter und mitten in das Zentrum der naturwissenschaftlichen Arbeit der Zeit hineingeführt. Es zeigt sich jetzt von neuem, daß überall dort, wo die populäre Ansicht es unmittelbar mit Dingen und ihren wirkenden Kräften zu tun zu haben glaubt, die philosophische Analysis vielmehr auf Erkenntnisbegriffe und Erkenntnismethoden geführt wird, die sie in ihrer spezifischen Geltung feststellt und voneinander unterscheidet. Indem aber auf diese Weise das Problem des  Seins  auf das Problem der  Wahrheit  zurückgelenkt wird, entsteht nunmehr eine neue und weitere Aufgabe. Es gilt, den Sinn des Wahrheitsbegriffs innerhalb eines umfassenden  Systems der Geltungswerte  festzustellen und, wie vorher die einzelnen Richtungen des theoretischen Bewußtseins gegeneinander abgesondert wurden, so auch das Ganze, die Grundrichtung der theoretischen Vernunft überhaupt, zu bestimmen, indem wir sie der Geltungsart des ethischen, wie des ästhetischen Bewußtseins gegenüberstellen.


II.

Die Grundlegung der theoretischen Philosophie, die sich in der transzendentalen Fragestellung vollzieht, hat für die Begründung der Ethik eine völlig neue Dispositioni geschaffen. Jede Weltansicht, die von den "Dingen" und ihrer realen Wechselwirkung ausgeht und mit ihnen wie mit feststehenden absoluten Daten rechnet, sieht sich dem Problem der Ethik gegenüber in eine eigentümliche Schwierigkeit versetzt. Denn wie immer man diese Dingwelt auch bezeichnen und zergliedern mag: das Phänomen des "Sollens" hat in ihr keine Stätte und läßt sich aus ihr durch keine noch so scharfsinnige Analyse hervorlocken. Dieses Phänomen bleibt daher, von diesem Standpunkt aus gesehen, ein Fremdling in der Philosophie. Die Skepsis, ob es sich in der ethischen Problemstellung überhaupt um eine sinnvolle, sachlich notwendige Frage oder vielmehr um eine eigentümliche Vorstellungsillusion handelt, muß sich daher immer von neuem wiederholen. Im günstigsten Fall erscheint das Ethische als eine eigentümliche und paradoxe Nebenerscheinung in der Welt des Existierenden und Wirklichen: als ein Epiphänomen, das sich auf einer bestimmten einzelnen Stufe des "Seins" einstellt, mit der Konstitution des Seins überhaupt aber in keiner inneren und notwendigen Beziehung steht.

Die kritische Reduktion des Seins auf die Geltung oberster Grundsätze gibt dagegen auch der Bestimmung der Sittlichkeit von Anfang an eine veränderte Richtung. Die "Maximen" und "Regeln" bilden nun kein schlechthin Neues mehr, für das erst eine logische Stelle ausfindig zu machen wäre: sondern sie sind das eigentliche Material jeglicher philosophischen Betrachtung überhaupt, das schon von der Grundlegung der theoretischen Wissenschaften her feststeht. Der Frage nach der Gesetzlichkeit der Erkenntnis tritt die Frage nach der Gesetzlichkeit des Willens unmittelbar zur Seite. In beiden Fällen aber wird das Gesetz nicht wie ein eigenes naturwirkliches Agens gedacht, das irgendwie in der Organisation der Einzelindividuen aufzuweisen wäre. Die ethische Norm kann nicht als eine Art naturwissenschaftlichen  Durchschnitts  dargestellt werden, der aus der Betrachtung der tatsächlichen menschlichen Handlungen zu abstrahieren wäre. Schärfer noch als auf dem Gebiet der reinen Erkenntnis, wird daher an dieser Stelle im vollen Einklang mit KANT, jede  anthropologische  Wendung abgewehrt. Eine derartige Wendung löst die Frage nicht, sondern vernichtet sie, indem sie ihre eigentümliche Bedeutung und Richtung verkennt. Das erfahrungsmäßig in der Menschengeschichte "Wirkliche" darf nicht zum Maßstab des sittlich "Möglichen" gemacht werden, da umgekehrt alle Produktivität des ethischen Denkes eben darin besteht, ein "Mögliches" zu ersinnen und aufzustellen, das aus sich heraus eine neue "Wirklichkeit", über alles bisher Gegebene hinaus, fordert. Der anthropologischen "Regel" wohnt niemals eine derartige revolutionäre Bedeutung gegenüber dem Tatsächlichen inne, da sie sich bescheiden muß, dieses Tatsächliche selbst in seinem allgemeinen historischen Typus zu beschreiben. Alle Verhüllung in tiefsinnige metaphysische Formeln, die das "Wesen" des Sittlichen darzustellen und zu ergründen beanspruchen, kann an diesem Verhältnis nichts ändern.
    "Eine metaphysische Weisheit, welche den psychologischen Kunstgriff zu verraten vermag, dessen sich das  Ansich  der Welt im sogenannten sittlichen Trieb bediene, vermag nicht jenen Enthüllungen den Wert der Ethik, als einer gesonderten philosophischen Disziplin zuzuerteilen." (1)
An diesem Punkt greift eine Unterscheidung ein, die COHEN bereits innerhalb der theoretischen Sphäre ausgeführt hatte, die aber jetzt zu verschärfter Bedeutung gelangt. Die Fragen nach der gesetzlichen Struktur des theoretischen und ethischen "Bewußtseins" dürfen nicht mit der Frage nach dem Warum, nach dem metaphysischen Ursprung der "Bewußtheit" verwechselt werden. Eine Frage nach der "Bewußtheit" ist es, wenn man zu wissen verlangt, wie es zugeht, daß die Vorstellungen sich uns in räumliche und zeitliche Ordnungen fügen, daß das Denken sich in den bestimmten Formen der Substantialität, der Kausalität usw. bewegt; - statt sich damit zu begnügen, was jede dieser Formen an ihrem Teil für das logische Ganze der Erkenntnis  bedeutet  und welcher ideale Wert ihr somit zuzusprechen ist. Nur das letztere Problem aber läßt eine eigentliche und präzise Antwort zu, während uns das erste aus der Sprache der Wissenschaft wieder in die des Mythos zurückzuführen droht.
    "Die Frage nach der Bewußtheit ist die Frage nach der alten, nicht erkenntniskritischen Metaphysik. Sie geht auf die Möglichkeit der qualitativen Bestimmtheiten des Bewußtseins: wie es komme, daß wir Empfindungen, daß wir Vorstellungen, daß wir Gefühle und Begehrungen haben: wie es komme, daß wir blau empfinden, daß wir Kausalität denken, daß wir uns in Lust und Unlust regen. Darauf geben die alten metaphysischen Schulen ihre Antworten als Spiritualismus oder als Materialismus mit ihren Nuancen. Erkenntniskritisch werden diese Fragen als solche nach der Bewußtheit antiquiert". (Kants Theorie der Erfahrung, Seite 207f)
Auf die Ethik angewandt bedeutet diese Einsicht, daß wir das "Gesetz" des Willens in ihr nicht in dem Sinne zu suchen haben, daß wir fragen, aus welchem dunklen Urgrund der Weltverfassung die Tatsache des sittlichen Wollens selbst quillt. Denn wie immer die Entscheidung hierüber ausfallen mag, so berührt sie doch nicht den Sinn der ethischen Norm selbst und vermag ihr an Gültigkeit weder etwas hinzuzufügen, noch etwas abzudingen.
    "Mögen immerhin die Menschen der Erfahrung einander lieben, weil es ihnen ein Schöpfer in die Seele geblasen oder weil sie einander zwar hassen, sich selbst aber ein jeder im Grund seines Wesens liebt, und daher sogar im Spiegelbild desselben ... Wir mögen den Tiefsinn solcher Entzifferungen der Zeichensprache des Gemüts bewundern, oder dieselben als wohlfeile Halbwahrheiten einseitiger Menschenkunde taxieren; mag selbst anerkannt werden, daß solche Zergliederungen unserer sittlichen Vorstellungen und Geschehnisse ihren Nutzen haben für die Aufklärung der moralischen Urteile, ja sogar in eingeschränkter Weise für die Auffassung der politischen Geschichte. Nennen wir indessen solche Betrachtungen und Untersuchungen  Psychologie  oder  Anthropologie,  nur nicht - Ethik". (2)
Denn die Ethik sucht nicht die kausale Einheit des letzten  Grundes  der Willensbestimmungen, sondern die teleologische Einsicht im Inhalt dieser Bestimmungen selbst. Nicht woher sie stammen, sucht sie zu ermitteln, sondern welche Form und Beschaffenheit sie haben müssen, sofern sie sich zu seiner wahrhaften Einheit, zu einem  System  von Zweckbestimmungen zusammenschließen wollen. Die Frage ist somit derjenigen der reinen Erkenntniskritik genau analog: wie dort abgesehen von allen Annahmen über den Ursprung der Vorstellungen die Möglichkeit ihrer logischen Form und die Bedingungen dieser Möglichkeit in Frage standen, so gilt es jetzt jene Bedingungen festzustellen, denen die Maxime des einzelnen Willensaktes gemäß sein muß, wofern sie über die zufällige Besonderheit des jeweilig Gewollten hinaus allgemeine Geltung beansprucht.

Dieser Zusammenhang von Ethik und Erfahrungslehre läßt die Grundzüge der allgemeinen Methodik von neuem hell hervortreten. Der übergreifende Ausdruck des "Gesetzes" tritt nunmehr in den Mittelpunkt des Systems: so sehr, daß in "Kants Begründung der Ethik" die Formulierung gewagt werden kann, das Gesetz selbst sei das "Ding ansich" (Seite 36). Die Erscheinungen müssen, um den Wert objektiver Realität, objektiver Geltung zu erlangen, unter Gesetzen stehen, als einzelne Fälle Gesetze ausdrücken. Sie stellen die inhaltliche Erfüllung der synthetischen Grundsätze dar und haben in dem Maße als sie das tun, Anteil am "Sein". Fragt man aber weiter nach dem "Sein" dieser Grundsätze selbst, so gilt es vor allem, die Verwechslung dieses Seins mit jeder handgreiflich gegebenen, "palpablen" [fühlbaren - wp] Wirklichkeit fernzuhalten. Sobald sie begangen wird, ist freilich damit jeder Zugang zu der bloßen Frage der  Ethik  verschlossen; aber im Grunde ist damit auch die  Logik  um ihren Sinn gebracht.
    "Es ist immer der alte Stein des Anstoßes. Wie die Ideen in einem intelligiblen Ort eine Art von Dasein fristen sollten, um ein eigenes wahrhaftes Sein bedeuten zu können, so auch sollen die Gesetzrealitäten auch noch ein eigenes Dasein haben, um den Erscheinungen ihr Dasein verbürgen zu können. Dasein heißt aber: nicht nur in Form unserer räumlichen Anschauung sein, sondern auch durch die  Empfindung  anzeigbar werden. Die Gesetze der Erscheinungen fordern und besagen ferner eine Vereinigung jener unserer Anschauungsformen mit noch anderen Eigentümlichkeiten und Bedingungen unseres Erkennens. Diese Vereinigung wiederum sich in Form der räumlichen Anschauung hausend und vollends auch durch die Empfindung anzeigbar vorzustellen, das ist, was die Alten den  tritos anthropos  [Idee der Idee - wp] nannten. Es ist nichts, als die schier unverwüstliche Verwechslung von  anschaulichem  Vorstellen und  begrifflichem  Denken, welche auch hier das Wort führt. Das Gesetz ist die Realität - das will sagen: die Realität ist als  begrifflicher  Gedanke zu denken, nicht als anschauliche, anschaubare Vorstellung;  als Wertzeichen einer Erkenntnisgeltung  und als nichts anderes. Die Erscheinung aber ist jenes halbreife Objekt, das wir uns nach Art der Anschauung gegenüberstellen." (3)
Diese Zurückführung des Seins auf ein "Wertzeichen" verschafft auch dem "Sollen" erst einen festen und unangreifbaren Bestand im Gesamtsystem: jenen höchsten Bestand, dessen nur die "Idee" fähig ist. Ist einmal der materialistische Erbfehler überwunden, "sich alles Objektive materiell zu denken, in den unaufgeklärten Formen von Raum und Zeit"; ist eingesehen, daß das, was wahr, was real, was gültig ist, nicht als solches in sinnlicher Materialität zu erscheinen braucht: so steht der Anerkennung des spezifisch ethischen "a priori" prinzipiell nichts mehr im Weg. COHEN hat nirgends den Versuch unternommen, das "Sein" auf das "Sollen" zurückzuführen; vielmehr hält er beide Momente in ihrer spezifischen Eigentümlichkeit streng getrennt, während sie allerdings unter dem allgemeinen Oberbegriff des "Geltungswerts" wiederum miteinander in Beziehung gesetzt und verbunden sind. Auch an diesem Punkt haben COHENs Kant-Bücher die Richtung der modernen Untersuchungen entscheidend bestimmt. Die Kategorie des "Geltungswertes" die bei LOTZE im Zusammenhang mit einer speziellen Metaphysik steht, erhält hier zuerst ihre volle methodische Reinheit und Selbständigkeit, während zugleich die einzelnen, aufeinander nicht reduzierbaren Arten der Geltung in ihrer vollen Eigenart erhalten und anerkannt bleiben. -

Ihre nähere Bestimmung erhält COHENs ethische Grundansicht in seiner Auffassung des  Freiheitsbegriffs  und in seiner Darstellung der Kantischen Freiheitslehre. Hier steht seine Methodik vor einer schwierigen Aufgabe: denn dieser Teil des Kantischen Systems ist es, der am engsten mit metaphysischen Motiven verflochten ist. Im "intelligiblen Charakter" enthüllt sich die Persönlichkeit als der selbständige Kern und das eigentliche "Ansich" der Wirklichkeit. In der Tat wird jede rein historische Reproduktion des Kantischen Systems anzuerkennen haben, daß an diesem Problem bei KANT selbst eine scharfe und strenge Scheidung der rein  methodischen  und der  ontologischen  Fragestellung noch nicht erreicht ist. Insbesondere zeigt die Behandlung des Freiheitsbegriffs in der "Kritik der reinen Vernunft" beide Interessen noch fast ungesondert nebeneinander und erst die neue inhaltliche Erfüllung die dieser Begriff in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" und in der "Kritik der praktischen Vernunft" erhält, grenzt auch seine originale  kritische  Bedeutung genau ab. COHENs Darlegungen bedeuten daher hier nicht sowohl eine einfache Wiedergabe, als vielmehr eine bewußte Verschärfung und Weiterführung der Kantischen Grundgedanken.
    "Hier" - so betont COHEN selbst - "ist einer der hervorragendsten Punkte, an welchem man sich die Methode zugänglich machen kann, welche in diesen der Rekonstruktion des Kantischen Systems gewidmeten Büchern als die ebenso historisch wie systematisch fruchtbare Methode durchgeführt wird: nicht aufgrund der Wahrnehmung von selbst herbeigeführten Verbesserungen, geschweige wohlfeil geschraubter Opposition den eigenen Weg anzubahnen und anzukündigen; sondern sowohl das wiederentdeckte und von neuem gelegte Fundament im Geist des Urhebers der transzendentalen Methode selbstständig auszubauen, als nicht minder den Aufbau nach dem Grundriß des Systems durchzuführen, unter freier Sichtung jedes einzelnen Bausteins; bei unbeschränkter Prüfung der Zulänglichkeit eines jeden derselben; mit dem unstreitigen Recht etwa fehlende Begriffe einzufügen, wie falsche zu entfernen". (4)
Unter dieser Voraussetzung aber läßt sich der Kantischen Freiheitslehre in der Tat ein klarer und scharfer Sinn abgewinnen, wenn man daran festhält, daß die Freiheit in der neuen Bedeutung, die sie bei KANT gewinnt, kein Ursachenbegriff, sondern rein und ausschließlich ein  Zweckbegriff  ist. Sie will, in diesem Sinne verstanden, nicht den geheimnisvollen Grund bezeichnen, von dem unser sittliches Handeln anfängt, sondern den Inhalt der Zielbestimmung, dem es sich nähert. Wir handeln - so ließe sich dieses Verhältnis etwa ausdrücken - als ethische Subjekte nicht von der Freiheit aus, sondern auf die Freiheit hin. Der Gedanke der "Autonomie" wird daher für COHEN zum Gedanken der "Autotelie": ethisch selbständig und wertvoll ist nur dasjenige Handeln, das auf die Realisierung einer Gemeinschaft gerichtet ist, in welcher das einzelne Individuum, das ihr angehört, "jederzeit zugleich auch Zweck, niemals bloßes Mittel" ist. Die Idee einer derartigen Gemeinschaft ist ein unentbehrliches und unverbrüchliches  Regulativ  unseres Tuns: aber wir dürfen sie nicht zu einem  corpus mysticum  existierenden "intelligibler Wesenheiten" versinnlichen. Hier setzt daher COHENs Kampf gegen jene Auffassung der Kantischen Freiheitslehre ein, die insbesondere durch SCHOPENHAUER populär geworden ist. Verstehen wir die Freiheit so, daß sie dem empirischen Ich genommen und auf ein intelligibles Ich übertragen wird, das sich in einem selbständigen, jenseits aller Zeitlichkeit gelegenen Akt eine bestimmte Form des Willens gegeben habe - so wird durch diese mystische Erklärung, gleichviel wie man über ihr theoretisches Recht oder Unrecht denken mag, die Aufgabe und die Tendenz der Ethik in jedem Fall vereitelt. Denn diese "Freiheit", die in der bloßen Indifferenz einer ursprünglichen zeitlosen Wahlbestimmung hängen bleibt, hat selbst noch gar keinen  positiven  Sinn und Gehalt. Vom Standpunkt des empirischen Individuums ist es gleichgültig, ob es den Naturbedingungen oder einer unbekannten mythischen Macht, die ihm selbst fremd gegenübersteht, überantwortet wird: seine "Persönlichkeit" im ethischen Sinne ist in dem einen wie im andern Fall aufgehoben. Es hilft daher nichts, die Verantwortung dem phänomenalen Subjekt zu nehmen und sie einem "Adam aus transzendentaler Rippe" aufbürden zu wollen; das Problem wird damit nur in ein undurchdringliches Dunkel zurückgeschoben, aber in keiner Weise gelöst, ja nicht einmal  formuliert.  Ein echter "intelligibler" Begriff ist die "Freiheit" nur, sofern sie sich nicht in irgendeine Gegebenheit auflöst, sondern streng den Charakter der  Aufgabe  bewahrt. Indem der Gedanke der idealen "Gemeinschaft der Zwecke" dem Individuum die Richtschnur gibt, wird in diesem Gedanken das Individuum "frei", sofern es sich von den zufälligen empirischen Bindungen loslöst. Somit wird nicht für ein irgendwie in tatsächlicher Existenz bereits vorhandenes "Noumenon" die Freiheit angenommen, sondern sie selbst bildet, als Korrelatbegriff zum ethischen Gesetz, den  Inhalt  des Noumenon, da sie eine Forderung aufstellt, die über alle bedingten empirischen Sonderzwecke hinausgeht. Die Idee bewahrt ihre reine Geltung und Bedeutung nur dort, wo man darauf verzichten gelernt hat, sie durch irgendein behauptetes Dasein zu stützen und in ihm begründen zu wollen. Daß aber damit ihre  Anwendung  auf die empirische Wirklichkeit der Menschengeschichte nicht verkümmert wird, ist aus der gesamten Grundrichtung der Betrachtung klar; denn wie das theoretische a priori die stete Rückbeziehung auf die "Erfahrung" und ihre Möglichkeit fordert, so ist der Gedanke vom "Reich der Zwecke" die Maxime, nach der die phänomenale Ordnung der Natur sich richten - nach der sie vielmehr von den handelnden Subjekten innerhalb der Zeitlichkeit selbst eingerichtet werden soll. Der Spiritualismus dagegen lenkt bei aller scheinbaren Höhe der Betrachtung eben von diesem echten "praktischen" Ziel ab.
    "Und so fehlt es denn wahrlich zu allen Zeiten nicht an Beispielen dafür, daß der schwärmerische Idealismus zum gemeinen, zum verächtlichen Realismus verknöchert, der seine Vernunftgeburten zwar mit erhabenen Attributen ausstattet, die Menschen aber gehen läßt, wie es Gott gefällt; wie es ihm behagt, daß es Gott gefalle. Die Leiter, auf der der Sinnenmensch zu jener Stufe emporsteigt, die der Spiritualismus, der sich den Namen Idealismus anmaßt, in geheimer Bereitschaft hält, diese Leiter liegt jenseits aller Erfahrung, im Wunderbaren. Und so fehlt mit der Gelegenheit herabzusteigen auch die Möglichkeit emporzusteigen. Die Idee, welche den Rang eines sinnenartigen Daseins erwirbt, geht des Erkenntniswertes verlustig, der in der Maxime geborgen ist". (5)
Auf die Einzelheiten von COHENs Auffassung der Kantischen Ethik kann hier sowenig, wie auf die der Erfahrungslehre eingegangen werden: nur auf die durchgehende Gemeinschaft der  prinzipiellen  Struktur der beiden Gebiete mußte verwiesen werden, da sich hierin beide wechselseitig erhellen. Und diese Analogie des Grundmotivs weist zugleich bereits auf jene neue Verknüpfung voraus, die beide Problemgruppen innerhalb der  Ästhetik  eingehen. Auch die Begründung der Ästhetik ist, wie diejenige der Ethik, systematisch mit dem Problem der "Wirklichkeit" verflochten. Solange dieses Problem im theoretischen Sinne nicht geklärt ist, solange läßt sich auch jenes eigentümliche "Sein", das im Kunstwerk lebendig ist, nicht nach seiner begriffliche Stellung bestimmen. Immer von neuem entsteht die Frage, ob die Welt der ästhetischen Phantasie eine bloße "Nachahmung" der Natur ist oder aus einem eigentümlichen Prinzip des Aufbaus stammt, das selbständig eine neue gegenständliche Welt aus sich hervorgehen läßt. In dieser Fassung der Frage tritt das Seinsproblem aus jener abstrakten Isolierung heraus, in der es innerhalb der rein erkenntnistheoretischen Erwägungen zu verbleiben scheint. Denn es ist die ästhetische Kultur selbst, die rein aus ihrer eigenen Notwendigkeit heraus im 18. Jahrhundert wieder vor diese Grundfrage hingeführt wird. Hier schließt sich daher der Kreis der Kulturinteressen: die Kunst wird zur  Gestaltung  jenes Verhältnisses von "Idee" und "Wirklichkeit", das die theoretische Kritik allgemein formuliert und begründet. COHENs Darstellung der Kantischen Ästhetik ist diesem Zusammenhang in seinen mannigfachen Verzweigungen bis ins Einzelne nachgegangen und hat dadurch gleichsam das geistige Prinzip, aus dem heraus sich ihre geschichtliche Wirksamkeit entfaltet, wiederum ergriffen. Gerade an diesem Punkt bewährt sich der allgemeine Gesichtspunkt der Rekonstruktion, den COHEN an die Spitze gestellt hatte.
    "Das geschichtliche Dasein einer Person fällt keineswegs zusammen mit ihrem persönlichen Tun und Wollen. Das geschichtliche Begreifen erschleicht sich daher das Prinzip: daß jegliches Individuum in einem gewaltigeren Sinn einer geschichtlichen Ordnung angehört, als den es selbst einzusehen vermag. Nur dann verstehen wir geschichtlich eine Erscheinung, wenn wir sie in demjenigen Zusammenhang begreifen, welcher ihr selbst verborgen bleiben muß".
Selbst wenn man von SCHILLERs Verhältnis zu KANT absieht, so bestehen in der Tat von KANT zu WINCKELMANN oder von KANT zu GOETHE und BEETHOVEN hin derartige "geheimnisvoll-offenbare" Beziehungen: und auch das  theoretische  Bild der Kantischen Ästhetik wird erst dann vollkommen, wenn man es dieser wenngleich nur "intelligiblen" Gesamtordnung einfügt. Zugleich tritt in diesem Abschluß des Systems der transzendentale Grundgedanke der Methode noch einmal in voller Schärfe hervor. Zwischen den drei Grundrichtungen des Bewußtseins besteht nunmehr volle "Homogeneität": die Welt des empirischen, räumlich-zeitlichen Daseins, wie die Welt der sittlichen Werte wird gleich der der Kunst nicht unmittelbar "vorgefunden", sondern beruth auf Prinzipien der Gestaltung, die die kritische Besinnung entdeckt und in ihrer Gültigkeit erweist. Die Kunst steht demnach nicht mehr isoliert unter den Arten des Bewußtseins, sondern sie ist es, die das "Prinzip" dieser Arten und ihren Zusammenhang in einem neuen Sinn darstellt. Das transzendentale System stellt in seiner Allgemeinheit nicht sowohl einen geschlossenen Zusammenhang von Erkenntnissen, als vielmehr einen Zusammenhang von Erzeugungsweisen des Bewußtseins dar, deren jede für sich einen eigentümlichen Inhalt hervorbringt. "Diese Inhalte müssen einander verwandt sein, weil die Erzeugungsweisen aller Inhalte, als Erzeugungsweisen des Bewußtseins verwandt sind, weil sie somit eine systematische Einheit bilden". Die übergreifende Idee der  Geltung  spezifiziert sich innerhalb dieser Einheit in ihre verschiedenen Unterarten. Diese Doppelwendung war es, die der vorkritische Idealismus nicht erreichte; denn für ihn verschmolz die Welt in eine unterschiedslose Geltungseinheit.
    "Er wollte alle Arten der Realität vom Bewußtsein ableiten; aber er nahm sich nicht das Recht, einen Unterschied unter den Erkenntniswerten zu bestimmen. Nicht nur der Unterschied zwischen Natur und Sittlichkeit wurde, auch im Inhalt der Kulturgebiete, nicht deutlich bestimmt, sondern auch ein so wichtiges, so eingreifendes, so breites und universelles Kulturgebiet, wie die Kunst ein solches darstellt, empfing keinen Ort im System der Philosophie, blieb ohne systematische Beglaubigung, ohne den Nachweis, daß das Bewußtsein als Prinzip aller Kulturgebiete, auch für dieses Quell und Bedingung ihres Wertes und Zweckes, wie Grund ihrer Erzeugungsweise sei. Das Prinzip des Bewußtseins war somit mangelhaft bestimmt, solange es nicht die Kunst zu erklären vermochte." (6)
In diesen Sätzen hebt sich zugleich in voller Bestimmtheit das allgemeine Ideal heraus, auf das die  systematischen  Hauptwerke COHENs durchgehend gerichtet sind. Zwischen diesen Werken und den Schriften, die der Interpretation der Kantischen Lehre gewidmet sind, besteht in der Tat die engste Wechselbeziehung. Nur aus der Schärfe der eigenen systematischen Forderung begreift sich die straffe Bezüglichkeit zwischen allen Teilen von COHENs historischer Arbeit und nur in der vollen sachlichen Hingabe an das Werk KANTs konnte sein System sich selber seine ideale, universalgeschichtliche Stelle bestimmen.
LITERATUR - Ernst Cassirer, Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie, Kant-Studien, Bd. 17, Berlin 1912
    Anmerkungen
    1) HERMANN COHEN, Kants Begründung der Ethik, 2. Auflage, Seite 7
    2) a. a. O. Seite 144f
    3) a. a. O. Seite 28f
    4) a. a. O., Seite 245f
    5) a. a. O., Seite 301
    6) HERMANN COHEN, Kants Begründung der Ästhetik, Seite 96