p-4cr-2H. KleinpeterH. BergmannM. SchlickJ. SchultzW. Windelband    
 
WILHELM REIMER
Der phänomenologische Evidenzbegriff
[2/2]

"Das Grundmoment der Evidenz ist die Identität, ihre Grundfunktion die Identifizierung. Das besagt: Evidenz gründet in einer Relation, ist eine Relationserkenntnis."

"Sehr viele unter den Beweisen der elementaren Mathematik, z. B. der Arithmetik sind nichts anderes als primitive Verifikationen an definitorisch gewonnenen Annahmen."

"Absolute Evidenz ist wie absolute Wahrheit nur im Unendlichen vollziehbar. Es ist dies der wahre Kern des Gedankens im objektiven Idealismus, der den Begriff des Systems als des allein Geltung sichernden Kriteriums so gern betont, vor allem, daß auch der Gegenstand der Erkenntnis dem Denken nicht gegeben, sondern zu unendlicher Bestimmung aufgegeben ist - weil nämlich die Aufgabe der begrifflichen Form der Erkenntnis eine unendliche ist."


2. Formen der Identität
a. Die analytische Identität der Intentionen

Mit der Gegebenheitsform der Begriffe als strenger Meinungsidentitäten haben wir bereits das zweite materiale Moment der Evidenz berührt. Diese beruth hier in der vergleichenden Identifikation der Akte selber. Wir identifizieren in einem Begriffssatz die in der Regel gedachten Merkmale unter sich. In dem allgemeinen Urteil: "jedes gleichseitige Dreieck ist ein gleichwinkliges", setze ich im Beweis sukzessive sämtliche Merkmale der beiden Arten von Dreiecken gleich, in dem scheinbar problematischen: "ein Dreieck kann ein gleichwinkliges sein", die Merkmale des gleichseitigen partiell mit denen aller möglichen Dreiecke überhaupt. Will ich das Urteil 2 x 2 = 4 als evident erweisen, so befolge ich im Einzelnen die Gesetze der Bildung der Zahlen 2 und der aufgegebenen Operation des Addierens, das Gesetz der Bildung der Zahl 4 und identifiziere die Operation der linken Seite (1 + 1) + (1 + 1) mit der der rechten Seite der Gleichung 1 + 1 + 1 + 1 d. h. ich "verifiziere" das Urteil. Verifizierung ist in diesem Sinn nichts als die Herbeiführung einfachster Identifikation. Alle "analytischen" Beweisführungen - die primitiven Arten der "Mausefallenbeweise" beruhen auf dieser Evidenz der Verifikation. Ihr Kern, die Gegebenheitsweise des Erfüllungsmomentes ist überall lediglich in einem reflektierten Bewußtsein von der eindeutigen Bestimmtheit des identfizierenden Aktes selber: zwei identische Meinungssinne sind in Wahrheit nicht zwei Sinne, sondern ein, mit sich selbst identischer; der beide identifizierende fällt bereits mit ihm oder ihnen, mit sich selbst zusammen, es ist allemal ein und derselbe Sinn, der bewußt wird.


b. Die synthetische Identität zwischen
Gemeintem und Gegebenem.

Das Grundmoment der Evidenz ist die Identität, ihre Grundfunktion die Identifizierung. Das besagt: Evidenz gründet in einer Relation, ist eine Relationserkenntnis. In Begriffssätzen haben wir zunächst die analytische zwischen Meinungssinnen als solchen. In Realurteilen können Relationen zwischen den Gegebenheiten Gegenstand der Evidenz sein, aber in diesen Relationen beruth die Evidenz nicht. Wesentlich ist ihr die Relation der Identität zwischen dem Sachverhalt der Gegebenheit (des gebenden Aktes) und dem Korrelat der relativen meinenden Intention. Deutlich wird dies an einem Grenzfall der Realurteile. In einem Wahrnehmungsurteil, beim Bemerken eines sinnlichen Inhaltes fällt das Korrelat des Bewußtseinsaktes mit dem repräsentierenden, "gegebenen" Inhalt selber zusammen, ja der Akt selbst und die Gegebenheit sind hier nur durch eine begriffliche Abstraktion auseinander zu halten. "Das Merken", sagt CORNELIUS (25) noch weitergehend, ist nur ein anderer sprachlicher Ausdruck für die einfache Tatsache des realen Daseins eines Inhaltes als eines von anderen unterschiedenen." In Sachverhalten sodann, die Realitäten durch Begriffe ausdrücken, entsteht die Identität durch den ein für alle Mal identisch benennenden Hinweis auf das gegebene Sosein des Gegenstandes. So werden im Beispiel vom Gold bei LEIBNIZ etwa gegebene "Eigenschaften" mit "Merkmalen" identifiziert, wenn man den Begriff auf den Gegenstand "anwendet", diesen durch den Begriff "erkennt". In reinen Begriffssätzen wird dieser Typus nur dadurch kompliziert, daß wir es mit bereits vorhandenen Intentionen als Gegebenheiten, mit der Identität des Meinens selber zu tun haben, das sich sowohl im Subjekt wie im Prädikat ganz oder teilweise findet. Die in sich identischen Bestimmungen sind es unter sich. Es ist eine gegebene Intentionsidentität. Das Urteil selber jedoch geht auf den Identitätssachverhalt, als eine neue, eigene Meinung, welcher als solcher eine Identitätsgegebenheit entsprechen muß. In der Beziehung der den Sachverhalt treffenden Identitätsintention zu der fundierenden im Sachverhalt ausgedrückten Intentionsidentität (der Begriffe) besteht ihre Evidenz.


c. Charakteristik der
synthetischen Identifizierung

In der Identitätsrelation zwischen gemeintem und gegebenem Sachverhalt beruth der ideale Begriff der Wahrheit. Gegen die Kenntnis der Wahrheitsrelation pflegt der Skeptiker von altersher den Nachweis der Möglichkeit einer Vergleichung des Denkens mit seinem Gegenstand zu fordern. Wer unter dem Gegenstand jene vorfindliche Gegebenheit versteht, würde diese Vergleichung zunächst a priori für angängig erklären. Findet sie aber wirklich statt? Und welche Rolle kommt der Evidenz dabei zu? Man vindiziert dieser hier gewöhnlich die Bedeutung eines Kriteriums, nennt sie ein "empirisches Kennzeichen" der Wahrheit. Soll diese Rede einen greifbaren Sinn haben, so müßte etwa angenommen werden, daß ein besonderes Urteil über das Vorhandensein von Evidenz die Stelle einer Prämisse in einem Schluß auf den Wahrheitswert einer Entscheidung einnimmt. Allein davon wird hier aus dem einfachen Grund nicht die Rede sein können, weil die Evidenz bereits, wenn nicht durch das Erlebnis der Wahrheit selbst, so doch ihrer konstituierenden Merkmale definiert ist: wir nennen eben ein Urteil evident, wenn wir die Forderung, die im idealen Begriff der Wahrheit gestellt ist, in concreto erfüllt finden.
    "Indem wir", so können wir mit MARTY sagen, der sonst eine etwas andere Meinung vertritt, "und nur indem wir unser evidentes Urteil erfassen, geschieht es daß wir den ihm adäquaten Inhalt als adäquat miterfassen. Eine Erkenntnis erschließt uns beides. Das Erfassen des einen (realen) Fundamentes der Korrelation ist zugleich ein Miterfassen des anderen nicht-realen Fundamentes und des Verhältnisses beider, d. h. der Richtigkeit des Urteils einerseits und der Wahrheit des Geurteilten andererseits." (26)
Es ist also nicht wohl die Evidenz selber, die als Kriterium der Wahrheit im Sinne eines vermittelnden Zeichens angesehen werden kann.

Anders steht es mit der Frage, ob für die Erfassung jener Relation zwischen Gegebenheit und Gemeintem vermittelnde Kategorien maßgebend sind. Hier bedarf es einer Überlegung, was in diesem Fall die Vermittlung der Erkenntnis bedeutet. Die Annahme von "Zeichen" setzt hier in der Tat eine Vergleichung, und zwar einen sukzessiven Vergleich voraus, bei dem beide Glieder auf eine seltsame Weise voneinander isoliert sein sollen. Solche sukzessiven Vergleiche isolierter Glieder sind jedoch schon rein psychologisch eine Unbegreiflichkeit. Nur indem uns beide Fundamente, wenn auch nicht immer in demselben Grad der Gegebenheit gegenwärtig sind, sind wir imstande ihre Beziehung zu erfassen. Jeder sukzessive Vergleich führt durch Vermittlung von primären oder sekundären Gedächtnisbildern, vielleicht aber auch nur von unanschaulichen Bewußtheiten schließlich zu einem Simultanvergleich und damit auf eine direkte Relationserfassung zurück. Mittelbarkeit, die ansich nicht zu leugnen ist, bedeutet nur den Weg, der zurückgelegt wird von der Sukzessiverfassung der Glieder zur ihrer Simultaneität, in der die Relation nunmehr unmittelbar bewußt wird. So ließen sich dann also alle Relationserfahrungen letztenendes auf den Typus der direkten Wahrnehmung von Anschauungen im Sinne von EBBINGHAUS reduzieren, wie sie uns am geläufigsten sind bei der Wahrnehmung der Ähnlichkeit, Gleichheit, Verschiedenheit, Anzahl usw. der Erscheinungen. Unter diese Klasse von Relationserlebnissen wird die Identitätserfassung im Falle der Evidenz zu rechnen sein. Bei Gegebenheiten erster Ordnung bietet diese Identifizierung keinerlei Schwierigkeiten. Im "Bemerken" des Daseins, Rotsein, Hellerseins, Größerseins sollte der repräsentierende Inhalt selber der "Sinn" sein. Akt und Gegebenheit bilden hier derart ein Ganzes, daß es zur Leugnung der Funktion verleiten konnte. Aber auch die Identität einer zweimaligen Meinung des mit sich identischen abstrakten Sinnes von "Begriffen", "Ganzes", "Stück", "Größer" und damit des Sachverhaltes des daraufgebauten Urteils wird uns schließlich so unmittelbar bewußt wie das Größersein von wahrnehmungsmäßig gegebenen Stücken und Ganzen (27). Zwar könnte man darauf verfallen, die Methode der begrifflichen Analyse, die zu den Urbestandteilen der Intention zurückführt, im Sinne einer Stufenfolge von Kriterien umzudeuten, allein dies würde uns nicht nur wieder zurück in die Sphäre der formalen Identität führen, sondern auch nur Etappen auf dem Weg zu einer letzten unmittelbaren Erfassung bezeichnen. Diese Unmittelbarkeit dürfte einer der Gründe sein, weshalb man die Evidenz so oft durch Intuition charakterisiert hat.


III. Die methodische Bedingung:
die Systematik

Evidenz ist nicht "Zeichen", sondern Erlebnis der Wahrheit selbst. Die Frage, ob Evidenz ein "Kriterium" der Wahrheit ist, bedeutet dann, ob sie in jedem Fall in sich bestimmt genug ist, genauer inwieweit Evidenz ein absoluter Richtungspunkt einer wissenschaftlichen Methode sein kann. Das tatsächliche Verhalten der Wissenschaft hat hier die Antwort vorweggenommen: in praxi ist alle unsere wissenschaftliche Methode eine Evidenzmethode. Zunächst beruth jeder Einzelschritt unseres Denkens auf der Evidenz des logischen Zusammenhangs zwischen den Prämissen unseres Denkens und seiner Folgen. Für die Wahrheit zumindest dieses Nexus [Verbindung - wp] ist die Evidenz unser eigentliches und einziges Organ sämtlicher "Schlüsse", apodiktischer [demonstrierbarer - wp] wie aposteriorischer [im Nachhinein - wp], Vernunft- und Tatsachenschlüsse. Worauf sollten wir uns wohl für die Richtigkeit des inneren Fortgangs unseres Denkens noch beziehen, wenn nicht auf Evidenz? Zeigt uns beispielsweise der Perspektivist der Wahrheit, an welcher Zweckmäßigkeit es wohl liegt, und zu erkennen ist, daß gerade dieses oder jenes aus einer vorgeschlagenen Thesis analytisch folgt! Zu diesem logischen Nexus gehörte nicht nur der innere Mechanismus der Schlüsse, sondern auch das Verhältnis etwa eines eintreffenden empirischen Tatbestandes zu einer vorweggenommenen Antwort auf eine wissenschaftliche Fragestellung, die Erfüllung einer Hypothese. Insbesondere gilt dies - seit den Tagen GALILEIs - für die experimentelle Methode, die recht eigentlich eine Methode der Verifikation ist und es als solche auf Evidenzierung, auf eine Herstellung einfachster assertorisch einzusehender Sachverhalte abgesehen hat. Ein Analogon zu dieser empirischen Verifikation ist die widerspruchslose Einordnung in ein bereits anerkanntes System von feststehenden Grundannahmenn. Sehr viele unter den "Beweisen" der elementaren Mathematik, z. B. der Arithmetik sind nichts anderes als primitive Verifikationen an definitorisch gewonnenen Annahmen. Evidenz ist in der Tat "Kriterium", nämlich insofern sie der Kern aller Verifikation ist. So könnte man dann mit HUSSERL sagen, daß im Grunde jede echte und speziell wissenschaftliche Erkenntnis auf Evidenz beruth und so weit die Evidenz reicht, auch der Begriff des Wissens reicht (28). Die Logik als Methodenlehre der Wissenschaft, wäre in diesem Sinn mit vollem Recht als eine "Theorie der Evidenz" zu bezeichnen (29).

Mit der Einschränkung "soweit die Evidenz reicht", ist nun zugleich die Grenze des Kriterienwertes der Evidenz bezeichnet. Die Evidenz hat ihren Grund in einer rein formallogischen Voraussetzung, die es ausschließt, daß diese Evidenz in jedem besonderen Fall hinreichende bestimmt ist. Es ist dies die Forderung der strengen Eindeutigkeit. Diese gilt für ein beliebiges Urteil immer nur bei der Annahme seiner sämtlichen Voraussetzungen, nur im Zusammenhang einer ganzen Sachverhaltsregion. Die darauf gegründete Evidenz ist nur eine relative, formale, hypothetische Evidenz, aber keine absolute und objektive. Absolute Eindeutigkeit, absolute Deutlichkeit beruth auf der restlosen Durchführung der begrifflichen Form, mit anderen Worten, auf der Einordnung der begrifflichen Intention in ein "System". Systematik bedeutet die synthetische Herstellung einer stufenweisen Erfüllung des Sinnes, das System ist die methodische Einheit der in der Analyse bis zu letzten, ursprünglichen Eindeutigkeiten, zu letzten Erfüllungen, zu "Grundbegriffen", "Grundsätzen", Postulaten und Aufgaben zurückverfolgten Intentionen. Das System ist also die Bedingung, unter der die Evidenz zu einer absoluten und objektiven, zu einem Wahrheitserlebnis ohne Vorbehalt wird. Es ist der vollendete Ausdruck des Ideals der Einsichtigkeit. Auch in diesem Sinn gilt ein Wort LIEBERTs: "Das System ist, seiner logischen Geltungssphäre nach, der logische Gesichtspunkt, unter dem sich der Prozeß der Erkenntnis, eben als Erkenntnis vollzieht" (30): in einem "strengen" System ist zugleich jeder Satz absolut gewiß, da er sich durch ein rekurrierendes Verfahren jederzeit durch Identifikation in einem strengen Sinn "verifizieren" läßt.

Dies ist der Gedanke, der dem Adäquationsbegriff von LEIBNIZ zugrunde liegt. Auch LEIBNIZ fordert ja von der adäquaten notio, daß ihre Analyse zuende geführt, d. h. systematisch begründet ist. Das aber schließt dann die Behauptung in sich, daß jede adäquate Erkenntnis eigentlich eine analytische ist: ein System ist jeder Begriff a priori eindeutig bestimmt, wird die Erkenntnis selber apriorisiert: das System wird zu einer begründeten "Theorie", deren Sätze "demonstrieren".

Bei LEIBNIZ selbst begründet sich dieses Ideal zugleich durch eine rein logische Konzeption, durch die Lehre vom inesse [Nichtsein - wp] des Prädikates im Subjekt (31). Nach diesem Immanenzprinzip ist das logisch Bestimmende nicht der Prädikatsbegriff, sondern der des Subjekts. Auch in einem nicht identischen Satz, in dem das Prädikat nicht ausdrücklich aus dem Subjekt gezogen ist, ist, nach LEIBNIZ, das Prädikat doch virtuell darin enthalten, "so daß derjenige, der vollkommene Einsicht in den Begriff des Subjekts besäße, sogleich das Urteil fällen müßte, daß das betreffende Prädikat ihm zugehört." Jedes Urteil ist hier analytisch. Gott z. B., der den individuellen Begriff oder die haecceitas [Diesheit - wp] ALEXANDERs sieht, sehe darin zugleich alle Prädikate d. h. alle seine Schicksale, und wisse z. B. a priori, ob er eines natürlichen Todes gestorben ist oder durch Gift, "worüber uns nur die Geschichte Auskunft geben kann."

LEIBNIZ bezeichnet hier selbst die Schranke, die der Analytisierung der Erkenntnis gesetzt ist. Es sind dies die Urteile empirischer Herkunft, die Urteile a posteriori: das Dasein bietet keine a priori eindeutige Bestimmung (32). Die Erfahrungsbezogenheit empirischer Urteile sichert nicht die Konstanz der Gegenstände des Denkens, empirische Urteile sind stets nur relativ eindeutig bestimmt, daher nur relativ, a posteriori evident. Der empirische Anteil macht das "Universalsystem", diesen gigantischsten Gedanken von LEIBNIZ zu einer nicht nur praktischen, sondern prinzipiellen Unmöglichkeit. So gewiß die größten Triumphe der Wissenschaft in dieser Apriorisierung von eigentlichen Gegebenheitserkenntnissen bestanden haben, so gewiß etwa die mathematischen Disziplinen der Physik, aber auch die Umwandlung der Geometrie in reine Analysis Muster weitgehendsten Erfolges dieses Bestrebens sind, so gewiß muß der Versuch, alle Sätze in "rein theoretische" zu verwandeln, notwendig scheitern. Insofern uns also dieses System, mit KANT zu reden, niemals gegeben, sondern stets nur "aufgegeben" sein kann, erhellt sich daraus die Wahrheit des Gedankens von SCHMIDKUNZ, daß absolute Evidenz ebenso wie absolute Wahrheit "nur im Unendlichen vollziehbar" (33) ist. Es ist dies der wahre Kern des Gedankens bei dem den Begriff des Systems als des allein Geltung sichernden Kriteriums so gern betonenden Kritizismus, vor allem dem Kritizismus in der Form des objektiven Idealismus, daß auch der "Gegenstand" der Erkenntnis dem Denken nicht gegeben, sondern zu unendlicher Bestimmung aufgegeben ist - weil nämlich die Aufgabe der begrifflichen Form der Erkenntnis eine unendliche ist. Ohne System keine objektive, absolute Evidenz: dies wiederum ist das berechtigte Moment am ein Einspruch gegen die Anmaßungen des Intuitionismus. Der philosophische Intuitionist etwa der Art BERGSONs oder SCHOPENHAUERs, der sich eines direkten, vom "Satz vom Grunde" unabhängigen Einblicks in das innerste Wesen der Welt rühmt, entzieht sich der Forderung der systematischen Begrifflichkeit, indem er isolierte Evidenz für seine Erkenntnis in Anspruch nimmt (34).


IV. Die transzendentale Bedingung:
das Erlebnis.

Die Frage nach dem Kriterienwert der Evidenz kann sodann in dem besonderen Sinn verstanden werden, von welcher erkenntnistheoretischen Bedeutung die Kenntnis vom Vorhandensein der "Evidenz" für ihren Charakter als Erlebnis der "Wahrheit" ist. "Daß ich tatsächlich Evidenz habe beim Fällen eines Urteils, ist ein Urteil über einen empirischen Sachverhalt." (35)

Was soll hier der Vorwurf des "Empirischen"? Das Empirische steht im Gegensatz zum Analytischen und besagt, daß es nur als Dasein gegeben ist. Aber wäre das nicht etwa gar ein Vorzug? Würde es nicht in sich schließen, daß ein Urteil über Evidenz ebenfalls evident, assertorisch evident ist? Hier berühren wir die eigentliche Meinung des Einwandes: es liegt darin der Hinweis, daß zwar niemand, der ein evidentes Urteil fällt, dies für blind ansehen wird, daß es aber doch denkbar ist, daß jemand ein blindes Urteil für evident hält. Es ist die Möglichkeit einer vermeintlichen Evidenz, an der man Anstoß nimmt. In der Tat, hier ist kein Ausweg, wenn man sich nicht frei macht von der landläufigen Auffassung der Evidenz als Kriterium. Diese ruht auf der - bereits abgewiesenen - Annahme, als wäre die Evidenz in jedem Fall in sich hinreichend bestimmt, während sie dies in Wahrheit nur im Zusammenhang des Systems ist; in diesem aber ist die Evidenz a priori Voraussetzung. Von einer "empirischen" Feststellung der Evidenz kann nur gesprochen werden, wo es sich um das Dasein isolierter Evidenzen handelt, und da sieht man dann wirklich nicht, wie a priori der Irrtum ausgeschlossen sein sollte. Die Erfüllung einer nicht auf ihren Ursprung zurückgeführten Intention bleibt immer problematisch. Aber auch über die Gegebenheit ansich kann gelegentlich Zweifel sein, das sehen wir selbst bei den Gegebenheiten der inneren Wahrnehmung. Hier wird uns der geheime Grund des Vorwurfs des Empirischen erst wirklich greifbar. Empirische Urteile gründen in der Erfahrung eines Daseins. Als Dasein steht die Evidenz unter den Gesetzen des Daseins, unter Naturgesetzen also, näher: unter psychologischen Gesetzen, unter Gesetzen des Erlebens. Es ist der Charakter der Evidenz als Erlebnis, der sie unfähig machen soll, Allgemeingültigkeit, Wahrheit einzuschließen. Kann "Wahrheit" erlebt werden?


1. Die Stellung der Evidenz zu den Gesetzen des Erlebens.
Die Evidenz als Eigenschaft der Sachverhalte.

Die Evidenz ist ein psychologisches Faktum im Zusammenhang eines psychologischen Verbandes von Erlebnissen und steht daher unter besonderen psychologischen Gesetzen und Bedingungen, unter zeitlichen Naturgesetzen, sie ist für uns ein Naturereignis, bei dem wir nicht a priori wissen, ob psychologische Ursache und logischer Grund zusammenfallen.

Offenbar hat diese Einwendung nur dann Bedeutung, wenn unter Evidenz wirklich stets ein realpsychologisches Erlebnis verstanden werden muß. Ohne weiteres wird zugegeben, daß für mein faktisches Einsehen auch Kausalgesetze des Denkens maßgebend sind. Da sind alle die Kausalgesetze, die die Urteilsgrundlagen überhaupt, sodann die darauf bezüglichen Apperzeptionsvorgänge realisieren. Aber auch der Eintritt des Einsehens ist von der Realisierung aufgrund von Naturgesetzen nicht allein abhängig. In den Naturgesetzen ist das innere Sosein des Sachverhaltes "daß 2 x 2 = 4 ist" und damit die Evidenz dieser Meinung nicht begründet. Die Evidenz muß also noch unter anderen als nur unter den Naturgesetzen stehen, die es als "Erlebnis" verursachen. Gelingt es, die Evidenz in irgendeinem Sinn von der Beziehung zur psychologischen Realisierung zu lösen, so bliebe auch ihre Beziehung zur absoluten Wahrheit unangetastet. Diese Lösung geschieht wiederum durch die Vermittlung des Systemgedankens. Das System war der eigentliche Grund absoluter Evidenz. Evidenz ist überall da vorhanden, wo strenge Eindeutigkeit, eindeutige Bestimmtheit gegeben ist. Die im System geordneten eindeutigen Bestimmtheiten aber sind in ihrer Gesamtheit offenbar nicht dauernd in psychologischen Wesenheiten realisiert, das System bedeutet nicht selber einen Komplex von Erlebnissen und Erlebtheiten. Es ist vielmehr nichts als der Ausdruck für die logischen Beziehungen und Bedingungen der Regeln der Erlebnisse, ist der Inbegriff des ganzen strukturgesetzlichen Zusammenhangs der Gegenstände der Erkenntnis. In diesem Zusammenhang sind bereits alle in den Begriffen ausgesprochenen Sachverhalte im erläuterten Sinn "erfüllt" d. h. begründet, einsichtig; die Wirklichkeit realen Einsehens durch psychische Individuen hat für sie nur eine nebensächliche Bedeutung. Im Streit, ob die Evidenz nur dem Akt oder auch dem Inhalt zukommt, nehmen wir an dieser Stelle Partei für die letztere Auffassung. Es muß dem Einsehen ein, sagen wir, inhaltliches Äquivalenz gegenüberstehen. Die Mehrzahl der Forscher zwar, die sich hierüber geäußert haben, erkennt sie dem Akt zu (36). So meint MARTY in seinem nachgelassenen Werk über Raum und Zeit (37), wir hätten es
    "wie bei der assertorischen, so auch bei der apriorisch-apodiktischen Evidenz mit einem Zug am Urteil zu tun, der an und für sich nicht seine objektive oder Inhaltsseite, sondern seine subjektive Natur angeht."
Es scheint diese Auffassung eben ihren Grund darin zu haben, daß man sich bei der Evidenz lediglich am gegenwärtigen realen Einsehen orientierte. Dies änderte in der Tat nichts am Bedeutungsinhalt des Urteils, der ansich schon hinreichend bestimmt ist. MARTY hat daher nicht Unrecht, sie mit der "Modalität" KANTs auf eine Stufe zu stellen, die ja auch nichts "zum Inhalt beiträgt". Allein, verlegt man die Evidenz ausschließlich in das Faktum des Einsehens, in das bloß "urteilende Verhalten", so ist tatsächlich nicht ersichtlich, wie dieses jemals die Übereinstimmung mit dem, worauf es geht, einschließen könnte. Eine Theorie, die die Evidenz durch eine bloße Funktion des "Erfassens" eines ansich indifferenten (gleichgültig ob rationalen oder empirischen) Materials erklären will, erscheint vielmehr als das definitorische Dogma, bei dem uneingeschränkt alle Paradoxien NELSONs in Geltung stehen. Es ist auch unklar, wie man (wie MARTY), wenn Evidenz kein Merkmal am Inhalt ist, sondern nur eine subjektive Seite am Urteil, sie gleichwohl ein Kriterium, ein "Mittel der Kritik", den "Lichtfunkten, der Helligkeit verbreiten soll im Reich des Nichtevidenten" nennen dürfte. Ein solches Mittel der Kritik kann nur aus dem Inhalt dessen, das der Kritik unterliegt, zu entnehmen sein. Ein derartiges ist dann auch die Einsichtigkeit. Wir möchten sagen, sie ist keine formallogische, aber transzendental-logische Eigenschaft des Inhaltes, d. h. bezogen auf ein Erkenntnisvermögen. Allein sie bleibt deshalb eine Eigenschaft der Inhalte. Auch dem phänomenologischen Evidenzbegriff entsprach es freilich, auf den Anteil der Funktion zu verweisen, jedoch insofern der Sachverhalt bereits als Korrelat eines meinenden Aktes anzusehen ist und logisch erst durch ihn bestimmt ist. Auch der Sachverhalt aber muß, indem er erfüllt ist oder nicht, an sich selbst evident oder nicht evident sein. Das ist am Klarsten bei den apodiktischen Urteilen, die aus dem Sosein des Gegenstandes fließen. Ein Beispiel GALLINGERs modifizierend können wir als Beispiel herbeiziehen: wenn jemand eine Glasscheibe als durchsichtig bezeichnet, so will er damit nicht sagen, daß die Tatsache auf der Fähigkeit eines Subjekts hindurchzuschauen beruth, sondern daß dies eine Eigenschaft der Glasscheibe selber ist. Es kann also etwas einsichtig sein, was niemand eingesehen hat, und etwa aus psychologischen Realgründen niemand einsehen kann. Evidenz ist nicht notwendig "reale" Existenz. In diesem Sinn sagt HUSSERL (38) durchaus unanfechtbar:
    "Die Auflösung des verallgemeinerten Problems der drei Körper, sagen wir der n-Körper, mag jede menschliche Erkenntnisfähigkeit überschreiten. Aber das Problem hat eine Auflösung und so ist eine darauf bezügliche Evidenz möglich. Es gibt dekadische Zahlen von Trillionen Stellen und es gibt auf sie bezügliche Wahrheiten. Niemand kann solche Zahlen wirklich vorstellen und die auf sie bezüglichen Additionen, Multiplikationen usw. wirklich ausführen. Die Evidenz ist hier psychologisch unmöglich, und doch ist sie, ideal zu sprechen, ganz gewiß ein mögliches psychologisches Erlebnis."
Diese Möglichkeit hat, da sie ex hypthesi nicht durch Naturgesetze realisiert wird, ihren Grund in nichts anderem als den Eigentümlichkeiten des "Inhalts"; daß nämlich diese Aufgaben ihre Lösung haben, liegt in ihrer Beziehung zum System: weil das Rechnen mit trillionenstelligen Zahlen sich auf dieselben Gesetze des dekadischen Systems gründe wie das Rechnen mit 1, 2, 3 stelligen Zahlen. In dieser Stellung der ideal-möglichen Urteile beruth objektiv ihre Einsichtigkeit. Einsichtigkeit ist eine auf der Strukturgesetzlichkeit des ganzen Gebietes beruhenden Eigenschaft gewisser Sachverhalte.

Zusatz: Im Zusammenhang mit dem System war von der Evidenz unter dem Wort "Einsichtigkeit" die Rede. Hierunter war in erster Linie der Evidenz des Allgemeinen, Gesetzlichen ein Gegensatz zu der des Individuellen, Faktischen verstanden. Die Evidenz des Wesensmäßigen ist es, die diejenigen im Auge haben, die von einem "Verstehen" sprechen. Das Faktische können wir nur hinnehmen. Gleichwohl ist auch seine Bejahung motiviert, d. h. evident. Man kann daher mit Meinong von einer Evidenz mit und ohne Verstehen reden, von einer Evidenz des bloßen Was und Warum. HUSSERL (39) möchte beide derart terminologisch voneinander trennen, daß er für das beiden Gemeinsame den Namen "Evidenz" beibehält, während er für das Apodiktische das deutsche Wort "Einsicht" vorbehält. Dem entspricht der obige Gebraucht der Bezeichnung Einsichtigkeit. Es gilt nun die Vorstellung abzuwehren, als ob das Ergebnis - Einsichtigkeit als Moment des Sachverhalts - etwa nur für das Apriorische zuträfe. MARTY betont (40), es hieße den Begriff der Evidenz zerstören, wenn man annimmt, es könne Entgegengesetztes evident sein. Dieser Satz aber ist ohne Einschränkung anzuerkennen, er hat allgemeinen Sinn. Auch die Urteile über reine Fakta sind "sachlich begründet und müssen ansich, ihrem Inhalt nach in concreto so beschaffen sein, daß daraus die Unmöglichkeit folgt, im bestimmten Fall ihr Gegenteil einzusehen. Das sachliche Motiv ist hier die Gegebenheitsweise, die in den Komplex der Meinung durchaus mithineingehört. Das, was mir und jetzt und so gegeben ist, ist rot, Gold etc. Das Dasein, Sein ist in diesem Zusammenhang sehr wohl ein Prädikat und gehört zur erfüllenden Materie. Der Unterschied zwischen apriorischer und aposteriorischer Evidenz ist ein auf realen Gründen, nämlich der Tatsache beruhender, daß der Hinweis auf die unmittelbare Gegebenheitsweise eines empirisch-evidenten Sachverhaltes an ein individueulles Subjekt gebunden ist. In dieser Verschiedenheit der Evidenz dürfte überhaupt der Ursprung unserer erkenntnistheoretischen Scheidung er vérités de fait [Glaubenswahrheiten - wp] und eternelles [ewige - wp] zu erblicken sein, die ja ebenfalls keine formallogische, aber doch inhaltlich begründete ist. KYNAST macht hinsichtlich der sogenannten "logischen Evidenz" die Bemerkung, sie bezeichne "etwas am Logischen, was durch eine andere Begriffsbestimmung viel eindeutiger charakterisiert wird (41). Er hat dabei die logische Modalität im Sinn, die auf der Inhaltsseite die Evidenz zu ersetzen pflegt. Mir scheint daher, daß diese eher durch die Art ihrer Einsichtigkeit beschrieben zu werden einlädt als umgekehrt. Woraus es sich dann erklären würde, daß die Modalität selber keine formallogische, sondern transzendentallogisch, und in diesem Sinn als eine solche der Inhalte zu gelten hat. Denn eben in der Art der Gegebenheitsweise der Inhalte ist der Unterschied der Wahrheiten über Notwendiges, Wirkliches, Mögliches begründet. Einen Versuch, die Modalität durch den verschiedenen Charakter der Evidenz zu beschreiben, hat in seiner letzten Zeit MARTY (42) gemacht. Er erweitert hier den Begriff des Notwendigen dergestalt, daß alles wahrhaft Evidente darunter fallen müßte. Nur ist das alles nicht allgemein notwendig. Es gibt auch apodiktisch zu bejahendes, das nicht allgemein, sondern individuell ist.
    "Notwendig ist, was an und für sich von einem entsprechend disponierten Verstand begriffen werden kann; an und für sich ist also alles apodiktisch erkennbar".
In dieser Betonung des "an und für sich" scheint mir ein unbewußtes Zugeständnis zu liegen an die Ansicht, daß Einsichtigkeit als ein Äquivalent möglichen Einsehens bereits dem Inhalt zugesprochen werden muß. Mit diesem Vorbehalt würde ich der Auffassung MARTYs beipflichten können.


2. Der Gegenstand des Erlebnisses
als Nichtpsychisches.

Evidenz ist eine Eigenschaft der Sachverhalte; aber, könnte der Gegner einwenden, auch als solche ist sie doch immer durch die Möglichkeit des Einsehens charakterisiert. Zwar soll diese keine reale, sondern "ideale" sein, aber gleichviel, ihre Beziehung zum Einsehen, zum Erlebnis behält sie in jedem Fall. So tadelt es auch MARTY (43) als einen durchaus verkehrten Apsychologismus, wenn jemand leugnet, daß das Prädikat der Evidenz, vom Urteilsinhalt gebraucht, stets zu einem Urteilenden relativ ist und daher die letztere Vorstellung einschließt.

Diese Argumentation scheint noch unanfechtbarer als die erste. In der Tat muß das alles eingeräumt werden. Einsichtigkeit ist eine Inhaltseigenschaft nur in Bezug auf das Erkennen. Allein, soll nach Widerlegung der Ansicht, als sei die Einsichtigkeit von Gesetzen "des Erlebens" abhängig, der Hinweis auf die Erlebnisgegebenheit der Evidenz noch den Wert eines Einwandes haben, so müßte zugleich bewiesen werden, daß allgemein der Gegenstand eines Erlebnisses selber ein "Erlebnis" ist, daß der Inhalt eines psychologischen Ereignisses dadurch seinerseits zu einem psychologischen wird, etwas Psychisches ist: die These des Konszentalismus, der Immanenz - ansich schon eine widerleglich - würde zu einer radikalen panpsychischten, psychomonistischen. Wir gehen auf diese immerhin mögliche Deutung noch ein.

Gesetzt, es sollte Ernst gemacht werden mit jener These, so müßte sich zeigen lassen, daß der Gegenstand der psychischen Funktion als etwas Psychisches gemeint ist. Ist das der Fall? Meinen wir mit der Zahl 2 etwas Psychisches? Wir meinen, denke ich, Zweiheit. Im Begriff der Zwei, überhaupt in einem beliebigen Korrelat einer Intention findet sich ansich kein Merkmal des Psychischen, keine analytische Beziehung verknüpft beide Begriffe. Auch ein Sachverhalt, in seinem logischen Wesen erst durch psychische Akte bestimmt, "ist" in diesem Sinne nichts Psychisches. Wenn wir den Satz: "daß der Baum blüht, daß jedes Ganze größer ist als sein Teil" aussprechen, so meinen wir damit nicht seine Beziehung zu unserem psychischen Leben, dem der Akt angehört, zum "Erkennen", sondern sein von diesem unabhängiges, "objektives" Grünsein, Größersein usw. Das Sein alles irgendwie Gegenständlichen kann nicht als ein "psychisches" bezeichnet werden. Damit wäre die Angelegenheiten eigentlich bereits erledigt. Von einem Psychomonismus, der z. B. alle Naturobjekte in den Bereich der psychischen Tatsachen aufnehmen wollte, sagt KÜLPE (44) mit Recht, er sei "eine durch nichte gerechtfertigte Umdeutung der naturwissenschaftlichen Begriffe".
    "Er zwingt zu sinnlosen Aussagen; die von den Empfindungen prädizieren, was nur den Naturobjekten zugesprochen werden kann, wie Assimilation und Wachstum, Kristallform und Zellteilung, Lichtgeschwindigkeit und Kometenbahnen und dgl."
Aber da erhalten wir eine neue Auskunft. Diese Gegenstände sollen durch Gegenständen des Denkens, gedachte Gegenstände sein. Eben nicht insofern sie Gegenstände als solche sind, sondern insofern sie mittels Phänomenen gedacht werden, die wir in einem üblichen Sinn als psychische bezeichnen, also etwa Empfindungs- und Vorstellungsinhalte, Begriffe usw. werden sie selbst zu psychischen. Allein auch für diese gilt es, und für sie zumal auf eine paradox scheinende Art, daß wir sie nicht notwendig als psychische denken müssen. Was ist denn diese vielberufene Denknotwendigkeit? Das Denknotwendige charakterisiert sich dadurch, daß sein kontradiktorisches Gegenteil unmöglich ist, einen Widerspruch in sich schließt (45). Schließt nun der Begriff eines nicht-psychischen Bewußtseinsinhaltes einen Widerspruch ein? Nur wenn in ihm das Merkmal des Psychischen bereits läge. Ein "begriffliches Band" muß beide Begriffe vereinigen. Wir vermögen ein solches nicht zu finden. In diesem Sinne hat STUMPF die Unabhängigkeit der "psychischen Erscheinungen" von den "psychischen Funktionen" auf das Schlagendste nachgewiesen.
    "Erscheinungen ohne darauf bezügliche Funktionen, Funktionen ohne Erscheinungen sind widerspruchslos denkbar (wenn auch nicht Funktionen ohne einen Inhalt überhaupt). Zu einem Ton gehören mit begrifflicher Notwendigkeit nur die Merkmale der Höhe, Stärke und dgl., die zur vollständigen Beschreibung der Erscheinung erforderlich sind. Das Merkmal des Wahrgenommenwerdens gehört nicht dazu. Es unterscheidet nicht einen Ton vom andern. Es greift über die Erscheinung hinaus in eine total andere Sphäre." (46)
STUMPF erinnert an ein ähnliches bekanntes Vorurteil, die angebliche notwendige Verknüpfung der Ausdehnung mit der Farbe. Die Tatsache des Tastraumes zeigt hier die Irrtümlichkeit des Schlusses, daß Ausdehnung nicht ohne optische Qualitäten vorkommen kann. Die allgemeine Tatsache, daß wir Erscheinungen nur als Empfindungs- und Vorstellungsinhalte kennen, liefert noch keinen zwingenden Beweis dafür, daß Erscheinungen notwendig nur in Beziehungen zu solchen "psychischen" Funktionen vorkommen müßten (47). Die angerufene Denknotwendigkeit ist also keine rechte, ehrliche Denknotwendigkeit, sondern jene untergeschobene, unechte psychologische Assoziationsnotwendigkeit, die von dem beschränkten Grundsatz ausgeht: was wir nie gesehen haben, ist unmöglich.


3. Die Notwendigkeit des Erlebnischarakters der Evidenz.
Die Identität des Bewußtseins.

Solange der Gegenstand der psychischen Funktion nicht selber zu etwas "Psychischem" wird und auf diese Weise unter die Gesetze des Erlebens gerät, ergibt sich auch nichts gegen die Objektivität der Evidenz. Gewiß "erleben" wir diese, indem die Identitätsbeziehung, die Wahrheit ausmacht, für uns, die wir psychologische Wesenheiten sind, psychologisch realisiert wird, da die Glieder dieser Beziehung psychologisch realisiert werden. Aber wir meinen mit der Identität nichts Psychisches, wir meinen weder vorgestellte Identität, noch eine Vorstellung von Identität, sondern eben Identität selber. Hat es also Sinn, diese Identitätsrelation wie überhaupt eine Relation ansich als etwas Psychisches zu bezeichnen, weil die Wahrnehmung, die sie erfaßt, eine Funktion ist, die zur Psyche gehört? So wäre dann auch die Wahrheit, selbst wenn ihr aktmäßiges Korrelat, die Evidenz, durch ein Erlebnis bezeichnet wird, sowenig etwas Psychisches, "Subjektives", wie jede andere Relation in der Welt, wenn sie bewußt wird. Auf die pyrrhoneische Frage: "Kann Wahrheit erlebt werden?", lautet die Antwort: "sie wird in demselben Sinn erlebt, wie jeder sonstige Inhalt des Bewußtseins auch, der dadurch auch nicht zu etwas Psychischem, "bloß subjektiven" wird. Das ist eben die Eigenart des Bewußtseins, Beziehung auf etwas zu sein, das nicht wieder dieselben Merkmale trägt, wie das Bewußtsein selber.

Diese Eigenschaft des Bewußtseins klärt den Charakter der Evidenz als Erlebnis schließlich auf eine neue und tiefere Art. In der Evidenz werden wir der Übereinstimmung zwischen Meinung und Gegebenheit unmittelbar inne. Dieses Innewerden, das Erlebnis des Gewahrwerdens hat eine total andere erkenntnistheoretische Stellung als das Erlebnis, gegen welches der Logizist zu eifern pflegt. Es gehört nicht zu demselben Genus wie jener rein kontingente [möglich, aber nicht notwendig - wp], etwa als "Gefühl" zu bezeichnende Bewußtseinszustand, der sich zwar naturgesetzlich im Anschluß an erfassende Akte einzustellen pflegt, aber dessen Verbindung mit dem Begriff der Erkenntnis doch rein äußerlich ist. Diese Klasse von Erlebnissen hat jedoch der Kritizist im Sinn, wo er fälschlich von Evidenz zu reden meint, und da hat er freilich Recht, wenn er behauptet, es bedeutet eine Konzession an den Psychologismus, die logische Geltungssphäre, "an ihrem tiefsten Punkt, nämlich bei der Begründung ihrer Geltung, auf ein Moment psychologischer Natur stützen zu wollen". (LIEBERT) Diesem psychologischen Inhalt, der sich als Gefühl an das Rationale heftet, kann man wohl vorwerfen, daß er stets nur ein zufälliges hic et nunc [hier und jetzt - wp] im Bewußtseinsstrom und weder in diesem noch in seiner Beziehung zur Wahrheit notwendig sei. Von ihm ist das Evidenzerlebnis durch einen wahren Abgrund geschieden. Es ist einerseits analytisch mit dem Begriff der Wahrheit verbunden, andererseits im Grunde nichts anderes als die bewußte Ausübung der allgemeinen Identitätsfunktion, die überhaupt Urteile zustande bringt und ohne deren psychologische Realisierung alle und jede "Erkenntnis" unmöglich ist. Nur daß sie hier auf einer höheren Stufe die Geltung nicht durch inhaltliche Identifikation für bestimmte individuelle Identitätsbeziehungen besonderer Urteile, sondern die in allen gültigen Urteilen gleichermaßen stattfindende Identität der Gegebenheit und Meinung zum Bewußtsein bringt. Nehmen wir an, daß wir von Wahrheit und Evidenz nur wissen können, sofern wir die geforderte Übereinstimmung psychisch erfahren, so müssen wir doch zugleich bedenken, in welchen Gründen dieses "Erlebnis" der Übereinstimmung verankert ist: es ist das grundlegende und letzte Faktum der Erkenntnis, daß wir in diesem Fall der transzendentale Grund der Übereinstimmung selber sind. (48) Das Bewußtsein gründet Identität zwischen Gegebenheit und Intentionssein, insofern beide Bewußtseinsstücke sind, und begründet sie nur, insofern es selbst Identität ist. Die letzte und fundamentalste Bedingung der Evidenz ist also die aller Erkenntnis, sie ist, wie bei KANT, die Identität des Bewußtseins, die Urkategorie aller Erkenntnis konstitutiv die Identität, reflexiv die der Gleichheit. Das Erlebnis dieser Identität und reflexiv zugehörigen Gleichheit kann nimmermehr mit jener inhaltlich zufälligen Gegebenheit des Gefühls auf eine Stufe gestellt werden. Es ist ein Ausfluß jenes ebenfalls von allem Gegebenem unabhängigen Erlebnis des "ich denke", das nach KANT alle Vorstellungen "muß begleiten können" und das in gleicher Weise in der Identität der reinen Apperzeption, der "transzendentalen Einheit des "Selbstbewußtseins" seinen Ursprung hat. Es ist ein allen evidenten Erscheinungen gleichmäßig zukommendes, in allen identisches Merkmal, das aus der Natur des Bewußtseins, als der Urquelle aller Identität, mit Notwendigkeit sich ergibt. Denn dies ist eben die letzte Natur des Bewußtseins, nicht nur Bewußtsein von etwas zu sein, sondern zugleich in Beziehung zu einem Ich zu stehen, Selbstbewußtsein mit anderen Worten: "Erlebnis" zu sein.

Blicken wir auf diese Gründung der Evidenztheorie auf der Ureigenschaft des Bewußtseins zurück, so können wir allerdings mit MEINONG von einem "Wunder" sprechen. Es ist wunderbar und aus keinerlei noch tieferen Gründen zu begreifen, daß Gegenstände als Inhalte des Bewußtseins möglich sind, daß uns Sachverhalte, die wir meinen, Intentionen und ihre "Sinne" in einem Selbstbewußtsein gegeben sein können; das Wunder ist die ideal-reale Doppelnatur des Bewußtseins, ist die Tatsache des "Bewußtseins" selber.
LITERATUR Wilhelm Reimer, Der phänomenologische Evidenzbegriff, Kantstudien, Bd. 23, Berlin 1919
    Anmerkungen
    25) HANS CORNELIUS, Psychologische Prinzipienfragen II, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 43, Seite 35
    26) ANTON MARTY, Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik, 1908, Seite 399.
    27) Daß sich psychologisch allerlei Erinnerungvorgänge an frühere Bedeutungen einschieben (vgl. CORNELIUS, Transzendentale Systematik, 1916, Seite 78f) bedeutet wiederum nur die Ermöglichung einer Simultanvergleichung.
    28) HUSSERL, Logische Untersuchungen I, Seite 14. Außer dem strengen "Wissen" von adäquater Evidenz gehört hierher auch die ganze Problematik der Evidenzstufen, die sich aus Stufen der Erfüllung, etwa nur partieller Identität ergeben, die Mannigfaltigkeit der Möglichkeits- und Wahrscheinlichkeitsurteile, die der wissenschaftlichen Induktion zugrunde liegen. Auch in ihnen spiegeln sich Evidenzfragen, die nur durch die methodischen Anweisungen der Wissenschaft, neue Gegebenheiten zur Erfüllung herbeizuführen oder Korrekturen an der Intention vorzunehmen ihre Antwort finden. Aus der Rolle, die dem Problematischen zukommt, erhellt sich hier auch die Stellung der Evidenz zur Gewißheit. Assertorische und apodiktische Evidenz haben es gemeinsam, daß wir in ihnen wirkliche Setzungen vollziehen, denen bei Gewißheit Evidenz zukommt. Dieser Setzungscharakter ist bei bloßen Vermutungen ein anderer. Indem aber deren Sinn, die Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit usw. sachliche Rechtsgründe in Gegebenheiten haben können, sind auch diese Art Satzungen sachlich motiviert, als vernunftgemäß charakterisiert und es ist keineswegs widersinnig, von evidenten Vermutungen zu reden, die MEINONG so sehr verübelt wurden. Wir haben keinen Grund mit KASTIL (Fries' Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis, 1912) die problematischen Urteile unter die blinden zu subsumieren. In Möglichkeitsurteilen, die ansich auch assertorisch [behauptend - wp] und sogar apodiktisch sein können, ist die Identität des Gemeinten und Gegebenen nur eine partielle, sind nur Einsichtigkeitstendenzen vorhanden (vgl. GALLINGER, das Problem der objektiven Möglichkeit, 1913), der Abschätzung auf ihre Beweiskraft eben zu Wahrscheinlichkeitsurteilen führt. Es hat in diesem Sinn volle Berechtigung von Gewißheits- und Wahrscheinlichkeitsevidenz und von Graden der Evidenz zu reden. Die Irrtumsmöglichkeit, die den problematischen Urteilen ex definitione abgeht, ist nur eine Eigenschaft der Gewißheitsevidenz. Adäquate Evidenz allerdings kann nie trügen, wenngleich über die Frage, ob eine solche vorliegt oder nur Einsichtstendenzen, sehr wohl gestritten werden kann, da dieser Sachverhalt ein "empirischer" ist. Vgl. die etwas andere, aber vielfach berechtigte Auffassung der Vermutungsevidenz bei SCHMIED-KOVARZIK, Seite 298.
    29) MILL, Theory, philosophy of evidence, MEINONG-HÖFLER in ihrer Logik u. a. Vgl. HUSSERL, LU I, Seite 180f.
    30) ARTHUR LIEBERT, Das Problem der Geltung, 1914, Seite 124f. Dort heißt es auch: "Die Idee des Systems ist die reinste Form und Gestalt des Geltungsbegriffs". Ist dies richtig, so müssen Geltung und Evidenz in einem besonderen Verhältnis stehen. In der Tat erweist sich der Begriff der Einsichtigkeit als der eigentliche "Ursprung" des Begriffs der Geltung; denn dieser ist im Grunde kein anderer als der des Sach"verhalts". Der Sachverhalt wird erlebt in der Identifizierung der erfüllenden Gegebenheit mit dem Sinnkorrelat der meinenden Intention, der Grund der Identifizierung ist die wirkliche Identität, ist die Tatsache des Erfülltseins. Indem wir von einem Gedanken seine "Gültigkeit" aussagen, meinen wir nichts anderes, als daß seine Intention erfüllt ist, der Gegenstand desselben "gegeben" ist.
    31) Discours de metaph. (deutsch von BUCHENAU) II, 143; Brief an ARNAULD 200 und 210, an BERNOULLI 501. Der Immanenzgedanke ist in diesem Sinne die Grundlage der Auffassung des logischen Urteils bei ERDMANN (Logik I, 1907).
    32) vgl. PICHLER, Möglichkeit und Widerspruchslosigkeit, 1912, Seite 68.
    33) HANS SCHMIDKUNZ, Grundzüge einer Lehre von der logischen Evidenz, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 146, Seite 36
    34) Ich rede hier nur vom alogischen, sozusagen wilden Intuitionismus. Denn im Grunde stellt jede Art von Wissenschaft, sofern sie nach dem System als dem Ideal der Einsichtigkeit strebt und so zuletzt auf gebende Akte verweist, einen "methodischen Intuitionismus" dar.
    35) KYNAST, Das Problem der Phänomenologie, 1917, Seite 59
    36) KONSTANTIN T. ÖSTERREICH, Phänomenologie des Ich; KYNAST, a. a. O., Seite 78, aber MEINONG, Über Annahmen, Seite 173; vgl. HÖFLER, Göttingische Gelehrte Anzeigen, 1906, Seite 217f.
    37) MARTY, a. a. O., Seite 140.
    38) HUSSERL, LU I, 185
    39) HUSSERL, Ideen etc. 285
    40) MARTY, Untersuchungen zur allgemeinen Grammatik, a. a. O., Seite 9
    41) KYNAST, a. a. O., Seite 78
    42) MARTY, Raum und Zeit, vgl. OSKAR KRAUS, Anton Marty, Seite 53.
    43) MARTY, Untersuchungen zur allgemeinen Grammatik, a. a. O., Seite 306
    44) KÜLPE, Realisierung, 1912, Seite 108.
    45) Die These vom Widerspruch im Gedanken eines ungedachten Dings widerlegt - mit anderen Gründen - einleuchtend KÜLPE, a. a. O., Seite 82f.
    46) CARL STUMPF, Erscheinungen und psychische Funktionen, Seite 12f
    47) Neben dem theoretischen wäre ein faktisches Argument die Annahme eines in welchem Sinne auch immer Unbewußten. - Ursprünglich dachte man übrigens überhaupt beim Begriff "Erscheinung" keineswegs an etwas Psychisches. Bei LEIBNIZ liegt im Begriff der répresentation z. B. zunächst ganz und gar nich der der perception, sondern nur der eines rapport reglé (des monades), durch den jede Veränderung der einen sich in einer der anderen spiegelt. Erst durch Mittelglieder wird die Perzeption ihrerseits zu einer Repräsentation oder "Darstellung des Zusammengesetzten oder des Außerbefindlichen". Vgl. KÖHLER, Der Begriff der Repräsentation bei Leibniz, 1913 und meine Besprechung in der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie", Bd. 37, Seite 544f.
    48) Zu unterscheiden davon ist der Beweis, den man für die Lehre von der Evidenz der inneren Wahrnehmung ("ich erkenne die Wirklichkeit, wie sie ansich ist, insoweit ich sie selber bin") anzugeben pflegt; Sein und Erkanntwerden, Erscheinung und Sein fällt hier zusammen wegen der realen Einheit - wenn nicht Identität - zwischen cogitatum und cogitans. Schon DESCARTES erklärte, daß beide ne sont en effet qu'une autre chose [in der Tat verschiedene Sachen sind - wp]. Dasselbe lesen wir bei BENEKE, VOLKMANN, PAULSEN, UPHUES, SCHWARZ, JULIUS BERGMANN, BRENTANO und vielen anderen. Am nächsten kommt dem im Text vertretenen Gedanken HUGO BERGMANNs "Untersuchung zum Problem der Evidenz der inneren Wahrnehmung", 19o8, Seite 12, insofern er von der inneren Wahrnehmung sagt, in ihr seien "innerer Akt und sein Objekt eins und nur begrifflich unterschieden". Auch CORNELIUS steht dieser Auffassung nicht fern. Die Einheit des persönlichen Bewußtseins als letzter grundlegender Tatsache der Erkenntnis betont neuerdings CORNELIUS in der transzendentalen Systematik.