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Habe ich Anti-Theater gemacht?
EUGENE IONESCU
(Eine Antwort. Veröffentlicht im "Express" vom 1. Juni 1961)

Ich glaube, in der Geschichte der Kunst und des Denkens hat es immer, wenn die Kultur lebendig gewesen ist, einen "Willen zur Erneuerung" gegeben. Das trifft nicht nur auf das letzte Jahrzehnt zu. Die ganze Geschichte ist nichts als eine Folge von "Krisen", Brüchen, Verleugnungen und Gegenstellungen. Oder anders: sie ist eine Folge von Versuchen, verlassene Positionen wieder einzunehmen (wenn auch unter neuen Gesichtswinkeln, sonst wären diese Rückwendungen ja "reaktionär" oder "konservativ"). Ohne "Krise" gibt es nur Stillstand. Ohne "Krise" gibt es nur Versteinerung und Tod. Alles Denken und alle Kunst ist aggressiv.

Auch die Romantik ist ein aggressiver Erneuerungswille gewesen. Der einfache Wunsch, den Bürger zu verblüffen, der Streit um  Hernani,  die romantischen Manifeste über die Art, eine Wahrheit, die der allgemeinen Wahrheit der Klassik widerspricht, sich anzueignen und auszudrücken, und vor allem die Werke selber, in denen sich ein neues Ausdruckssystem bewährt hat (eine "neue Sprache"), wie man heute sagt), all dies bringt eindeutig nicht nur einen Willen zur Erneuerung, sondern auch eine sehr reale Erneuerung zum Ausdruck.

Kunstgeschichte
Jede Künstlergeneration bringt einen neuen Stil mit sich oder versucht es. Jede Bewegung stellt bewußt oder unbewußt fest, daß eine gewisse Art, die Dinge zu sagen, verbraucht ist. Sie stellt fest, daß eine neue Art, die Dinge zu sagen, gefunden werden muß. Die alte, verbrauchte Sprache, die alte Form, muß bersten, weil sie das Neue, das es zu sagen gilt, nicht mehr ausdrücken kann.

Zunächst läßt sich angesichts neuer Werke feststellen, daß sie sich deutlich von den vorhergehenden unterscheiden (selbstverständlich dann nur, wenn es sich von seiten des Autors um Entdeckung und nicht um Nachahmung und Stillstand gehandelt hat). Später verringern sich die Unterschiede dann. Dann treten vor allem die Ähnlichkeiten mit den alten Werken hervor. Eine gewisse, ja eine völlige Gleichheit wird feststellbar. Jeder erkennt sich in ihnen wieder. Alle Werke schließen sich zu einer Einheit zusammen. Zur Kunst- und Literaturgeschichte.

Ich weiß, man kann behaupten, es hat letzten Endes nicht Neues gegeben. Es hat in dem, was wir gemacht haben, keinen wirklich neuen Gedankengang gegeben. Ich glaube, es ist noch zu früh, um sich darüber klarwerden zu können, ob es etwas Neues gegeben hat oder nicht. Aber vielleicht nähern wir uns mit gewissen Seiten unserer Arbeiten den Existentialismen. Vielleicht führen wir, jeder auf seinem kleinen Gebiet, die große künstlerische, literarische und Gedanken-Revolution fort, die um 1915 oder 1920 begonnen und in den neuen wissenschaftlichen Entdeckungen, den Tiefenpsychologien, der abstrakten Kunst, dem Surrealismus usw. ihren Ausdruck gefunden hat. Sie ist noch nicht abgeschlossen. Man weiß es nicht, man kann es noch nicht wissen, ob wir an einer Verwandlung der Mentalität arbeiten oder nicht. Wir haben noch nicht genügend Abstand, um das beurteilen zu können.

Architekturen aus Klischees
Aber noch einmal. Das Neue enthält Altes. Ich glaube sogar, dieses Alte ist nicht weiter rückführbar. Vielleicht ist es dieses "Alte", das dauert. Vielleicht ist dieses "Alte" der dauernde Grund des menschlichen Geistes, der die Gewichte verteilt, die Werte setzt und die Garantie geben kann, daß wir nicht außerhalb von allem stehen. Daß wir innerhalb einer Grundrealität stehen, die sich zwar in ihren Zufälligkeiten ändert, aber weil sie menschlich ist, nicht in ihrem Wesen. Die romantischen Werke unterscheiden sich letzten Endes wenig von den klassischen. Das Menschliche liegt den verschiedenen Ausdruckssystemen zugrunde. Das Menschliche äußert sich durch die verschiedenen "Sprachen". Die Unterschiede von Jahrzehnt zu Jahrzehnt oder von Halbjahrhundert zu Halbjahrhundert sind nur geringfügig. Die geschichtliche Verwandlung geht langsam vor sich. Die sichtbaren Veränderungen brauchen andere Zeitmaße.

Wenn sich an dem, was wir zu machen versucht haben, trotz allem etwas ablesen läßt, so an bestimmten Werken die Entlarvung der Hohlheit, der Leere und der Irrealität von Ideologien. Vielleicht haben wir das Ende der Ideologien festgestellt. Der Ideologien von rechts, der Ideologien von links und der Ideologien der Mitte. Ich liebe die Bezeichnung Krise in Bezug auf die Sprache nicht. Ich mag die Kritik an der Sprache bzw. an der "bürgerlichen" Sprache nicht. Mit der Bezeichnung Sprachkrise oder mit der Kritik an der Sprache packt man die Dinge von der falschen Seite, gewissermaßen von außen an. Es handelt sich viel eher um eine Art Krise des Denkens, die sich selbstverständlich in einer Krise der Sprache manifestiert. Die Worte haben keine Bedeutung mehr. Die Denksysteme selber sind nur noch monolithische Dogmen: sie sind Architekturen aus Klischees, deren Elemente Wörter wie Nation, nationale Unabhängigkeit, Demokratie, Klassenkampf sind. Aber auch Gott, Sozialismus, Materie, Geist, Persönlichkeit, Leben, Tod usw.

Die Denksysteme, von welchen Seiten auch immer, lenken unsere Leidenschaften auf irrationale Weise. Sie sind nur Alibi. Sie sind nur noch das, was uns das Reale (noch ein Klischee-Wort) verbirgt. Unsere Figuren sind offensichtlich verrückt, unglücklich, verloren, stupide und konventionell. Das, was sie reden, ist offensichtlich absurd. Ihre Sprache ist wie ihr Denken zersetzt. Wie mir scheint, versuchen wir uns zur Zeit wiederum am Turmbau zu Babel.


LITERATUR, Eugéne Ionesco in Martin Esslin, Das Theater des Absurden, Frankfurt/Bonn 1964