ra-2E. BoutrouxE. FrankSimmelW. JamesE. AdickesJ. F. Fries    
 
RUDOLF OTTO
Naturalistische und religiöse Weltansicht
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"Und so erhebt sich eine Stufenleiter hindurch durch die Sphären der Natur bis zu den rätselvollen Richtungskräften im Kristall und den unableitbaren Bewegungserscheinungen der lebendigen Substanz und vielleicht bis zu den Leistungen der Willens kraft. Sie alle sind nur zu entdecken, nicht zu erfinden. Sie sind nur zu beschreiben, nicht einzusehen. Und wir wissen absolut nicht, warum gerade sie aus der Tiefe der Natur aufbrechen, was diese Tiefe überhaupt ist, und was alles noch in ihrem höchst geheimnisvollen Schoß beschlossen ist. Undurchdringlich ruht die Natur im Schweigen unter uns und um uns. Weder was sie von sich aus uns zukehrt, ist im eigentlichen Sinn begriffen, noch was sie uns verbirgt, und wir meinen ihre Geheimnisse verstanden zu haben, während wir uns nur an sie gewöhnt haben. Brechen wir einmal die Macht dieser Gewöhnung und setzen wir uns dem tatsächlichen Verhalten der Dinge aus, so geht uns auf, was wir im unmittelbaren Eindruck und Erleben immer schon besitzen: das Gefühl für das Geheimnisvolle und Rätselhafte, für das Abgrundtiefe und über allen Begriff Liegende sowohl unserer eigenen Existenz wie aller möglichen Existenz überhaupt. Die Welt ist in keinem Punkt das Selbstverständliche, sondern in jedem das ganz Erstaunliche. Und ihre Gesetze sind Rätsel, auf Formeln gebracht."

"Was wir messen, wiegen und zählen können, ist nicht die Wirklichkeit selber, sondern ihre unzulängliche Erscheinung für ein beschränktes Fassungsvermögen."


Grundsätzliches

Der Naturalismus bildet seine Grundüberzeugungen, die Richtlinien und bestimmenden Gesichtspunkte seiner Anschauungen zunächst in der Betrachtung desjenigen Gebietes der Wirklichkeit, das den Naturwissenschaften unterliegt, in der Betrachtung "der Natur". Und erst danach versucht er, mit ihnen auch einzudringen und voranzukommen auf dem Gebiet des Bewußten, des Geistes, auf dem Gebiet, das das den Geisteswissenschaften, der Geschichte, den ästhetischen, den ethischen, den politischen, den Religionswissenschaften unterliegt, um zu zeigen, daß auch hier eine Naturgesetzlichkeit und die gleichen Erklärungsprinzipien wie dort, daß auch hier wohl gar eine  materialistische Geschichtsauffassung  und keine Selbständigkeit des Geistes stattfindet. Alles Interesse der Frömmigkeit geht hier Hand in Hand mit dem der Geisteswissenschaft selber, sofern sie sich als eigene und eigentümliche behaupten wollen. Denn es hängt ganz und gar an der Wirklichkeit, dem Vorrang, einer Selbständigkeit des Geistigen gegenüber dem  Natürlichen.  Und bisweilen hat man gemeint, daß die Frage nach dem Verhältnis von Frömmigkeit und Naturalismus sich überhaupt ganz auf diesen Punkt zusammenzieht und hat die Sache der Natur als gleichgültig oder wohl als hoffnungslos dem Naturalismus überlassen wollen, das Feld allen Theorien bis einschließlich der materialistischen freigebend. Nur um die darwinische Entwicklungslehre und etwa um die mechanistische Lehre von der Entstehung und Eigenart des Lebens, besonders umd die ziemlich gleichgültige Frage der  Urzeugung  des Lebendigen pflegte sich dann doch das Interesse etwas lebhafter zu erregen. Aber letztere Einzellehren sind nur Teile des ganzen  Rückführungs-Unternehmens des Naturalismus und erst im Zusammenhang zu würdigen und aufzulösen. Wir wenden uns ihnen erst zu, nachdem wir über das Grundsätzliche nachgedacht haben. Und die Meinung, die Betrachtung der Natur überhaupt könne man von seiten der Frömmigkeit aus beliebig gehen lassen, wenn man nur in Bezug auf die Freiheit und Selbständigkeit des Geistes für sich in den Naturalismus ein Luftloch brechen könnte, ist verkehrt. Besteht die Frömmigkeit zurecht, so muß die Natur Gottes sein und sie muß Zeichen an sich haben, durch sie sich auch so deuten läßt. Nun hat sie solche. Was über sie zu sagen sein wird, das sei vorab in diese Sätze zusammengefaßt:
    1. Auch die unter Gesetze gebrachte Welt ist  Geheimnis nur formuliertes.

    2. Die unter Gesetze gebrachte Welt ist ebenso  abhängig, bedingt  und  zufällig  wie jede andere.

    3. Gesetzmäßigkeit der Natur wird nicht verhindert, sondern erfordert durch den Gottesglauben.

    4. Wahres Wesen und  Tiefe  der Dinge fassen wir nicht, und

    5. die Welt, die wir fassen, ist nicht das wahre Wesen, sondern seine unzulängliche Erscheinung für uns. In  Gefühl  und  Ahnung  weist die Erscheinung über sich auf das wahre Wesen hinaus.

    6. Ideen und Zwecke und damit eine Vorsehung und Leitung der Dinge kann eine Naturwissenschaft überhaupt weder feststellen noch bestreiten.

    7. Die ursächliche Erklärung, die die Naturwissenschaft fordert, fügt sich einer Erklärung nach Zwecken ein, und diese setzt jene voraus.
puntila

Die Frömmigkeit berührt sich mit dem Naturalismus und fordert einen Ausgleich mit ihm nicht bloß auf seiner Peripherie, sondern gerade - das ist kein Zweifel - in seinem Herzpunkt selber, in diesem eigentümlichen Ideal einer mathematisch-mechanischen Deutung und Aufklärung des Weltzusammenhangs. Am meisten oder ganz erreicht zu sein scheint dieses Ideal ja für die Welt und den Zusammenhang der ganz großen Massen, für das Universum der Astronomie mit den sicher berechenbaren und unverbrüchlichen, mit den gänzlich durchschaubaren, strenger Notwendigkeit gehorchenden Verhältnissen einer rein mechanischen Wechselbeziehung der himmlischen Körper. Und nun die gleiche Helle und Durchschaubarkeit, die gleiche Notwendigkeit und Berechenbarkeit hineinzutragen in alle Welt überhaupt und in das gesamte Gebiet der Natur bis zum geheimen Bildungsgesetz des zierlichsten Insektenflügels und zu den Erregungen der grauen Substanz in der Hirnrinde, die uns als Empfinden, Begehren, Denken vorkommen, das ist Wunsch und Ziel und stiller Glaube dieser Denkart. Damit aber geht sie aus auf einen Kosmos allen Seins und Geschehens, der rein aus sich erklärbar und ganz in sich verständlich ist, getragen von seiner eigenen lückenlosen und allgenugsamen Ursächlichkeit und Gesetzlichkeit, in sich ruhend, in sich geschlossen, in sich vollendet, ein sich an sich genügender und in sich selber ruhender Gott.

Man braucht nicht tief zu spüren, um zu finden, wie stark die Frömmigkeit einem solchen Streben entgegenstrebt, und findet bald, was sie an einer solchen Betrachtung stört und feindlich aufregt. Es ist dreierlei, drei eigentümliche Momente und Erfordernisse, eng miteinander verbunden, deutlich zu unterscheiden, nicht immer in ihrem richtigen Stufen- und Wertverhältnis vorgestellt. Ihr erstes Interesse scheint vor allem das der  Teleologie  zu sein, das Fragen nach leitenden Ideen und Zielen, nach einem Plan und einer höheren Leitung im ganzen Getriebe, das sich scharf der bloßen Betrachtung nach Ursachen entgegenstellt. Ihr ist wenig oder nichts damit gedient, zu wissen, wie alles kam und kommen mußte. Alles Interesse hängt ihr daran, daß alles auch kommen sollte, Absicht, Weisheit, Vorsehung und ewigen Sinn, der sich im Einzelnen und Ganzen vollzieht, offenbarend. Ganz mit Recht ist ein solches als Lebensinteresse aller frommen Weltansicht immer aufgestellt worden. Bisweilen wird nur übersehen, daß es keineswegs das einzige Interesse ist, das die Frömmigkeit an der Weltbetrachtung nimmt, und auch nicht das erste. Wir nennen es ihr höchstes und letztes, finden aber bei genauer Innenschau damit verbunden und ihm voraufgehend noch zwei andere. Denn vor allem Glauben an eine Vorsehung und den göttlichen Sinn in der Welt und vor allem Glauben überhaupt ist Frommsein ein Gefühl und zwar ein Gefühl und tiefstes demutsvolles Innesein einer vollendeten Abhängigkeit und Bedingtheit des eigenen Seins und allen Seins überhaupt. Und jener Glaube ist an diesem Gefühl erst die Form und für sich allein noch gar nicht recht fromm. Nicht erst die Frage: "Hat die Welt und das Dasein Sinn, und regieren Ideen und Ziele das Geschehen", sondern viel mehr schon und tiefer faßt sie die andere Frage: Ist Raum für dieses Inwendige allen Frommseins, sich selber und alle Welt zu befassen in die Demut vor dem, was gänzlich nicht Welt und über Welt und Sein ist. Und so wird sie schwer getroffen von jener Lehre, die den Kosmos zu finden sucht als den selbstherrlich in sich ruhenden, nichts bedürfenden und nichts über sich lassenden. Nicht erst der Darwinismus und die Abstammung vom Affen regt das fromme Gemüt auf. Sondern ganz besonders fühlbar wird ihr der fremde und entgegengesetzte Zug des Naturalismus gerade schon bei jenen erstaunlichen und erschreckenden mathematisch-mechanischen Systemen der großen himmlischen Massen, bei dieser Weltenuhr, die einem klaren unverbrüchlichen Gesetz folgend von Ewigkeit zu Ewigkeit ihr lautloses Spiel treibt, keines Gewichtes, keines Fußgestells bedürfend, ohne Lücke und ohne Raum für fremde Abhängigkeit, scheinbar so gänzlich gottlos, so ganz sich selber Grund und Gott genug. Und sie erschrickt bei dem Gedanken, die gleiche Unabhängigkeit und Selbstbedingtheit hineingetragen zu sehen von der ungeheuren Bühne in das Spiel des Lebens und Geschehens selber.

Wir müssen aber noch tiefer dringen. Denn SCHLEIERMACHER hat uns wohl neu achten gelehrt darauf, daß das Inwendige der Frömmigkeit eben dieses tiefste Bewußtsein aller Kreatur ist: "Ich der ich Staub und Asche bin", das demutvolle unmittelbare Gefühl der Abhängigkeit schlechthin allen Weltwesens von dem über aller Welt. Aber auch damit hat sich die Frömmigkeit noch nicht völlig ausgesprochen, und es gibt in ihr einen Ton, der noch tiefer klingt und der erst die Tonika ihres Dreiklangs abgibt. Man prüfe selber. Ist es nicht so, daß wir zwar, sofern wir selber gefaßt sind von der Wonne des Erkennens und dem Eifer des Rätsellösens, zujubeln einer jeden Vereinfachung, Deutung, Lösung, die dem wissenschaftlichen Forschen neu gelungen ist, daß wir in vollster Übereinstimmung sind mit jenem Drängen danach alles zu verstehen, alles rational und klar zu machen, alles unter Begriff und Rechnung bringen, und selber herzlichst gläubig sind an den Leitgedanken aller naturwissenschaftlichen Forschung, und daß wir andererseits doch ganz ebensosehr, sofern wir fromm sind, plötzlich eine innere Abneigung spüren gegen diese nun fast profane Zudringlichkeit gegen das Geheimnis der Dinge, gegen diese Lust nach dem Allzuverständlichen, Wasserhellen, Rationalen und gar zu Durchsichtigen? Hier regt sich, was sich in allem frommen Wesen immer geregt hat und was erst mit ihm selber sterben kann. Und wir dürfen und nicht scheuen, es ruhig auszusprechen. Denn das eben ist das echteste in ihr: Frömmigkeit sucht die Tiefe in den dingen, sie streckt sich nach einem im letzten Grund Verborgenen und Unverstandenen und Geheimnisvollen. Sie ist auch noch mehr als Demut. Sie ist Andacht. Und Andacht ist das Erleben des Mysteriums. Und hier gerade stößt die Frömmigkeit wohl am heftigsten gegen den Sinn und die Stimmung des Naturalismus. Hier erst begegnen sie sich innerlichst. Und hier scheinen ihr Freiheit und Recht und Luft und Licht durch die naturwissenschaftliche Forschung und ihre materialistische Ergänzung am meisten genommen. Denn gerade das will diese ja finden: Eine Durchdringung und Aufhellung der ganzen Welt. Sie dringt mit Mikroskop und Makroskop in ihre entlegendsten Gebiete und verstecktesten Winkel, in ihre Abgründe und Hintergründe. Sie verflüchtigt die alte Meinung von den zwei Welten, einer diesseitigen und einer jenseitigen, und verhängt den  Platzmangel  über die himmlischen Dinge, von dem FRIEDRICH DAVID STRAUSS spricht. Sie ist im Begriff, die mathematischen Weltformel zu finden, die alle Vorgänge von und in Ewigkeit und von den Bewegungen des Sirius bis zu denen des Scheinfüßchens eines Infusoriums im Wassertroffen befaßt, eindeutig bestimmt und rationalisiert, und verdrängt nicht nur allen "Himmel" aus der Welt, sondern streift den Dingen auch den Rand des Rätsels und des Unmeßbaren ab, der ihnen etwa anzuhängen scheinen könnte. -

Das ist das dreifache Interesse und sind die dreifachen Momente, in denen sich die fromme und die naturalistische Weltbetrachtung berühren und wie es scheint notwendig verletzen. Ordnen wir sie in richtiger Reihenfolge, so ist es zuerst das unaufgebliche Interesse, Welt und Dasein zu erfahren und zu behaupten als das Geheimnis schlechthin und alles Erkannte und Aufgewiesene an den Dingen nur als die dünne Schale, die uns vom ewig Unerfaßten und Unaussprechlichen trennt. Und dann ist es das Verlangen der Frömmigkeit, uns und alle Kreatur einzubeziehen in das "Gefühl der Abhängigkeit schlechthin", und, wie es der Schöpfungsglaube tut, sie zu unterwerfen der ewigen Macht, die nicht von dieser Welt und die über aller Welt ist. Endlich ist es das Interesse an einer teleologischen Erklärung der Welt gegenüber der rein kausalen der Naturwissenschaft, das heißt, an einer Erklärung der Welt nach ewigen gottgewollten Zwecken, nach waltenden Ideen, nach Plan und Ziel. In allen drei Hinsichten liegt der frommen Weltansich daran, daß sie dem Naturalismus gegenüber Recht und Freiheit behält.

Indem sie aber die Wirklichkeit der Dinge prüft auf das hin, was ihr nötig ist, könnte ihr zweierlei begegnen und gleich sehr den Frieden mit der Naturerkenntnis geben. Es könnte nämlich möglich sein, daß die mathematisch-mechanische Betrachtung und Deutung der Dinge, selbst wenn sie in ihrem Bereich gelänge, der Natur doch nicht den Charakter nimmt, den die Frömmigkeit an der Natur sucht und braucht (nämlich Teleologie, Abhängigkeit und Geheimnis). Oder aber, daß die Natur selber jenem Ideal mathematischer Aufklärbarkeit gar nicht entspricht, daß dieses wohl gut ist als eine Art Leitfaden beim Vorgehen aber nicht als eine Grundeinsicht, die von der Natur im Ganzen und ihrem Wesen nach wirklich gilt, daß vielmehr Natur als Ganzes nur durch eine Vergewaltigung dieser Regel zu unterwerfen ist. Und dieses letztere läßt wieder die Unterfälle zu, nämlich daß etwa jene Betrachtung nicht vollenden wäre bis zu den Grenzen der Natur hin, oder daß sie zwar gewisse Seiten der Natur umfaßt, andere aber wieder nicht, und schließlich, daß sie an bestimmten Punkten der Natur deutlich unterbrochen und aufgehalten wird vom Inkommensurablen, das unvermittelt aus der Tiefe der Erscheinungen heraufbricht, sie offenbart, und sich nicht wegbringen läßt. Alle diese Fälle finden statt. Und ohne daß sie uns im Folgenden notwendig als Leitfaden der Anordnung dienen, werden sie uns doch einzeln oder verbunden immer begegnen.

puntila

1. Mit der Frage nach dem Geheimnis allens Daseins, ob es bestehen bleibt oder sich auflöst in einer naturalistischen, Gesetz und Regel, Maß und Zahl findenden und vorschreibenden Betrachtung, mußte begonnen werden. Denn bevor das Frommsein noch Glaube ist und ein herzliches Trauen in ewige Weisheit und zwecksetzende Vorsehung, ist es schon jenes andächtige Ergriffensein vom Wunderbaren und höchst Geheimnisvollen, von der Tiefe und verborgenen Art aller Dinge und allen Seins überhaupt, von unaussprechlichen Geheimnissen, über denen wir schweben, und von abgründigen Tiefen, von denen wir getragen werden. Und in einer Welt, die nicht so wäre und nicht so empfunden werden kann, könnte die Frömmigkeit nicht leben. In ihren zu flachen Gewässern könnte sie nicht fahren und in ihrer zu dünnen Luft nicht atmen. Zwar ist das richtig: was wir erst recht eigentlich so nennen und lieben, nämlich Geheimnis und leises Erschauern der Andacht vor der Tiefe der Erscheinung und ihren ewigen göttlichen Abgründen, das hat erst seine eigentliche Stätte und Bereich in der Welt des Gemütes und der Geschichte und in deren Erlebnissen, Rätseln und Tiefen. Aber auch die Natur hat es und ein natürliches Dasein. Und nur einer oberflächlichen Betrachtung kann es aussehen, als ob sie plan und plausibel wäre und je werden könnte und als ob jemals der Isis-Schleier fallen könnte, der ihre Tiefen allem Forschen verhüllt. Und hieran ändert es nichts, wenn es gleich gelänge, den ganzen Bereich der Natur einzuspannen unter die Regeln unverbrüchlicher Gesetze. Das besagt der erste der oben vorangestellten Leitsätze.

Um das einzusehen, ist nötig, nachzudenken über das Verhältnis von "Erklären und Beschreiben" zueinander und "Gesetze aufstellen" und "Erkennen" überhaupt. - Zweck aller Forschung ist, die Welt zu erkennen. Erkennen nun ist offenbar mehr als bloßes Kennen. Uns genügt nicht, die Dinge zu kennen, das heißt, zu wissen, welche, wieviele und welcherlei Arten es etwa gibt, sondern wir wollen sie einsehen, wollen wissen, wie sie zustande kamen, warum sie sind, warum gerade sie sind, und warum sie so sind wie sie sind. Hierzu ist der erste Schritt zunächst das Kennen, nämlich daß wir Dinge und Vorgänge der Welt richtig auffassen und übersichtlich machen, sie gruppieren, sie erschöpfend und zutreffend  beschreiben. - Indessen auch das, was ich beschrieben habe, habe ich noch nicht verstanden, sondern will ich verstehen. Es steht nun gerade erst mit all seinem Geheimnis vor mir, und dieses aufzulösen muß ich nun erst anfangen, denn Beschreiben ist nicht Erklären, sondern ist eine Herausforderung der Erklärung. Hierzu der nächste Schritt ist das Entdecken und Aufstellen der Gesetze. Denn indem der Mensch die Dinge und Vorgänge sondert und in ihren Abänderungen und Abläufen verfolgt, findet er die eherne Regelmäßigkeit des Geschehens, die festgezogenen Linien und Bahnen, die unverbrüchliche Ordnung der Zusammenhänge in den Dingen und Ereignissen, und faßt sie unter Formeln zu Gesetzen, mit der Idee der Notwendigkeit sie ausstattend, die er in sich findet. Hierdurch kommt er wesentlich voran, denn nun kann er über das bloß Gegebene hinaus, kann sicher schließen auf seine Wirkungen und aufsteigen zu seinen Ursachen. Und so erst kommt Ordnung, Übersicht und Stetigkeit in sein Kennen, und es fängt an Wissen zu werden. Denn Wissen nennen wir nicht ein bloßes Kennen des Geschehens in seiner zufälligen und vereinzelten Mannigfaltigkeit und Buntscheckigkeit, sondern erst dieses Entdecken und Aufstellen der Gesetze und allgemeinen Formen des Geschehens. Ohne sie würden wir Kuriositäten sammeln, aber nichts wissen. Und dieses Netz einer sicheren Gesetzmäßigkeit zu entdecken in allem Geschehen, in den Bewegungen der Himmelskörper wie in den Bewegungen der Substanz der lebenden Zelle, ist zunächst das Ziel der Forschung. Wir sind noch weit davon entfernt, und ob wir es je erreichen, ist mehr als fraglich. Aber wenn es nun je erreicht würde, und wenn wir wirklich nach ihrer Anleitung fortan immer genau sagen könnten, was sich als Fall  c  ereignen wird, wenn Fall  a  und Fall  b  gegeben sind, oder was als Fall  a  und  b  vorausgegangen sein muß, wenn Fall  c  vorkommt, wäre dann wirklich schon ein Erklären an die Stelle von Beschreiben getreten? Verstehen an die Stelle von Geheimnis? Offenbar noch überhaupt nicht. Zwar wird oft so gemeint, d. h. man mein verstanden zu haben, wo man eingesehen hat: "das ist immer so, und das geht immer so zu". Aber diese Meinung ist sehr naiv. Vielmehr wäre zunächst das Gebiet des bloß Beschriebenen nur größer und das Rätsel nur härter geworden. Denn jetzt stehen vor uns die Dinge selber  und  die noch viel erstaunlicheren Gesetze. Gesetze sind ja keine Kräfte und treibenden Gründe. Sie machen kein Geschehen und klären keins auf. Und wie vorher von den Dingen so jetzt von den Gesetzen wollen wir wissen, wieso sie gelten, und woher, und warum gerade sie und nicht ganz andere. Und das Beschriebenhaben reizt nur noch mehr das Verlangen nach einem Erklären. Erklären will wissen, warum.

Desssen ist sich die Naturwissenschaft wohl bewußt. Sie nennt das Bisherige  nur historisch  und will anstelle des nur historischen die Aetiologie, die Kausalerklärung, ein gründlicheres Erklären, das auch die Gesetze eigentlich wieder überflüssig macht, weil es so tief in die Natur der Dinge dringt, daß es aus ihr einsieht, warum sie gerade diese und keine andere Regel der Veränderung, der Entwicklung, des Geschehens befolgen. Das ist ja gerade der Sinn jener  Rückführungen,  von denen wir oben gesprochen haben. Zum Beispiel, bei der Kristallbildung würde sie wirklich erst  erklärt  statt nur beschrieben haben, wenn sie nicht dabei stehen bleibt, die Formen und Gesetze aufzustellen, nach denen notwendig und immer aus einer solchen Mutterlauge ein so geformtes Kristall ersteht, sondern wenn sie aus der Mischung der Lauge, aus den mitwirkenden Molekularkräften, aus anderen einfacheren und früher gegebenen auch durchsichtigeren Umständen einsehen machte, warum und warum immer und warum innerlich notwendig diese Formen und Bildungsvorgänge stattfinden. Damit wäre auch das  Gesetz  erklärt und somit eigentlich wieder überflüssig gemacht. Man kann aus diesem und ähnlichen Beispielen leicht ablesen, wann und wo wirklich erst  Erklären  an die Stelle von  Beschreiben  tritt: dann nämlich, wenn sich Vorgänge auflösen lassen in einfachere, aus deren Zusammentreten sie bestehen. Und eben das versucht eine Naturwissenschaft zu leisten und der Naturalismus hofft, daß dies endlich und gründlich zu leisten sein wird, und meint damit das Geheimnis des Daseins auflösen zu können.

Aber ein solches Rückführen auf Einfacheres ist doch erst dann wirklich ein "Erklären", wenn alles Einfachere selbst auch  klar  ist und nicht bloß einfach, das heißt, wenn ich einsehen kann, warum und wodurch das Einfachere zugeht und geschieht, wenn hier dier Frage nach dem Warum aufhört, weil ich mit dem Wahrnehmen des Vorgangs zugleich und unmittelbar auch einsehen würde, daß er selbstverständlich, fraglos und keiner Begründung bedürftig ist. Ist das nicht der Fall, so hat mich die Rückführung ja getäuscht. Ich habe an die Stelle des Unklaren Unklares, an die Stelle von Beschreiben doch wieder nur ein Beschreiben gestellt und die ganze Aufgabe nur vertagt. Der Naturalismus meint nun, daß diese Aufgabe durch ein stufenweises Vertagen wenigstens immer einfach wird und schließlich einmal an einen Punkt kommt, wo sie ganz einfach geworden sich doch von selber löse, indem hier beschreiben und einsehen zusammenfallen. Dieser letzte Punkt wären die Kräfte der Anziehung und Abstoßung, mit denen die kleinsten unter sich gleichen Teile des Stoffes ausgestattet sind, und aus deren unendlich mannigfachem Wechselspiel alle höhere Form von Kraftwirkung, alle Zusammensetzung zu einer höheren Erscheinung hervorgehen. Dies ist nun eigentlich nutzlos, denn nun fragt sich ja erst recht und wird ganz unbeantwortbar, woher denn bei einer allgemeinen Gleichheit und Einheit der letzten Teile und Kräfte die Prinzipien der Mannigfaltigkeit kommen für diese unsere aus lauter Mannigfaltigkeit bestehende Welt, und die Gründe der Zusammensetzung zu den höheren Einheiten, und die Gründe der Kombination zu höheren Kräfteresultanten. Aber abgesehen davon, so ist doch klar, daß wir hier wieder nicht bei einem letzten Punkt sind. Denn ist denn  Anziehung  Wirkung in die Ferne  vis a fronte [Kraft von vorne - wp] eine Sache, die durch sich selber klar wäre und nicht vielmehr das ärgerlichste Grundrätsel selber, das dem Erklären vorkommen kann? Sicherlich. Und darum versucht man, zum allerletzten Punkt zu dringen, und die allerletzte  Rückführung  zu versuchen, die Beseitigung aller eigentlichen  Kräfte  die Rückführung aller Bewegung und damit aller  Wirkung  auf Druck und Stoß, die nun endlich allen Rätselhaften entledigt ist und deren Wirkungsweise z. B. durch das Gesetz vom Parallelogramm der Kräfte so eindeutig und unverbrüchlich dargestellt wird. - Gesetz? Dargestellt? Also doch wieder nur beschrieben? Allerdings nur beschrieben und nicht im geringsten erklärt. Angenommen, daß wirklich wahr wäre, was eine reine Utopie ist, daß alle Geheimnisse und Rätsel der Natur zurückgehen auf den Druck und Stoß bewegter Materie und ihre einfachsten Gesetze, so würden sie eben alle aufgesaugt von einem Generalrätsel, das im Grunde aller Dinge ruht, und dadurch nur umso kolossaler ist, als es alle anderen in sich befassen könnte. Denn die Wirkung eines Stoßes und die Übertragung von Bewegung und Kombination von Bewegung nach dem Gesetz des Parallelogramms der Kräfte, das alles ist eine reine  Beschreibung  von Vorgängen, deren inneren Grund wir nicht einsehen, die uns wohl  einfach  vorkommen, es auch sind, aber durchaus nicht  klar,  nicht selbstverständlich, nicht durch sich einsichtig, sondern ein  Welträtsel  schlechthin. Aus dem Grund der Dinge blickt und dieselbe Sphinx an, die aus den Vordergründen scheinbar vertrieben wurde.

Nun ist aber außerdem jene ganze  Rückführung  ein unmögliches und nie zu Ende kommendes Unterfangen. Von Stufe zu Stufe verfängt sie sich immer aufs Neue. Bei der Auflösung ins einfachere wird entweder übersehen, daß das Prinzip der Zusammensetzung nicht mit im Einfacheren lag und nicht  aufzulösen  ist, oder daß man nicht von der Resultante zu Komponenten, sondern unbesehens in eine ganz andere Spezies von Erscheinungen übergleitet. So zahllos möglich Rückführungen auf ein Einfacheres sind und so verkehrt ein vorschnelles Stehenbleiben beim Beschreiben, so gewiß sind doch die Grundfakta der Welt eben reine Fakta, Tatsächlichkeiten, die einfach hingenommen werden müssen, wo sie unweigerlich auftreten, unauflöslich, undurchdringlich, nicht einzusehen nach ihrem Zustandekommen, Woher oder Wie. Und dahin gehören besonders jede neuen und eigentümlichen Äußerungen und Stufen dessen, was wir Kraft und Kräfte nennen. Anziehung geht nicht zurück auf Druck und Stoß, Fernkraft nicht auf Nahkraft - es ließe sich zeigen, daß gerade der Stoß wieder die Anziehung schon voraussetzt, um nur als Stoß möglich zu werden - die  Kräfte  der wägbaren Materie nicht auf die des  Äthers  und seiner Bewegungsvorgänge, und das verwickelte Spiel der chemischen Affinitäten nicht auf Massenanziehung überhaupt und auf Schwerkraft. Und so erhebt sich eine Stufenleiter hindurch durch die Sphären der Natur bis zu den rätselvollen Richtungskräften im Kristall und den unableitbaren Bewegungserscheinungen der lebendigen Substanz und vielleicht bis zu den Leistungen der Willens kraft.  Sie alles sind nur zu entdecken, nicht zu erfinden. Sie sind nur zu beschreiben, nicht einzusehen. Und wir wissen absolut nicht, warum gerade sie aus der Tiefe der Natur aufbrechen, was diese Tiefe überhaupt ist, und was alles noch in ihrem höchst geheimnisvollen Schoß beschlossen ist. Undurchdringlich ruht die Natur im Schweigen unter uns und um uns. Weder was sie von sich aus uns zukehrt, ist im eigentlichen Sinn  begriffen,  noch was sie uns verbirgt, und wir meinen ihre Geheimnisse verstanden zu haben, während wir uns nur an sie gewöhnt haben. Brechen wir einmal die Macht dieser Gewöhnung und setzen wir uns dem tatsächlichen Verhalten der Dinge aus, so geht uns auf, was wir im unmittelbaren Eindruck und Erleben immer schon besitzen: das Gefühl für das Geheimnisvolle und Rätselhafte, für das Abgrundtiefe und über allen Begriff Liegende sowohl unserer eigenen Existenz wie aller möglichen Existenz überhaupt. Die Welt ist in keinem Punkt das Selbstverständliche, sondern in jedem das ganz Erstaunliche. Und ihre Gesetze sind Rätsel, auf Formeln gebracht.

Von hier aus fällt schon ein bedeutendes Licht auf zwei Dinge, die hierher gehören, aber in diesem Zusammenhang nicht zu erschöpfen sind, auf Entwicklung und neue Anfänge. Betrachten wir z. B. das erstaunliche Spiel und den Reichtum der eigentümlichen chemischen Eigenschaften und Wechselbeziehungen der Substanzen untereinander. Jede einzelne von ihnen ist gegenüber den vorhergehenden niederen Formen und Stufen der  Kraft,  gegenüber der bloßen Anziehung, Abstoßung, Gravitation, ein schlechthin Neues, ein Neueinsetzen (natürlich nicht der Zeit, sondern der Stufe nach) einer Erscheinung, die sich eben aus Vorhergehendem nicht  erklärt.  Sie tritt einfach auf und ist an ihrem Platz und zu ihrer Zeit einfach da. Wir können dieses Neuauftreten  Entwicklung  nennen, und so auch das Auftreten einer jeden neuen höheren Stufe gegenüber ihren Vorgängern. Nur keine Entwicklung in einem rohen und rein quantitativen Sinn, wonach das  Entwickeltere  überhaupt nichts anderes sein soll, als eine Addition und Kombination des schon Dagewesenen, sondern in dem echten alten Sinn des Wortes, wonach das Entwickelte ein höheres Analogon des Unentwickelteren ist, aber in keiner Weise eben doch durchaus ein so Selbständiges, selber Anfangendes, wie das auf jener niederen Stufe auch, und deshalb in einem strengen Sinn unableitbar und in Niederes unauflöslich. Man muß darauf achten, daß Entwicklung und Neuanfänge in diesem Sinne tief unten in der Natur bereits vorhanden sind und zu ihrem Wesen gehören. Das schafft erst das richtige Präjudiz [Vorentscheidung - wp], wenn man dann weiter hinaufsteigend etwa zu höheren Naturvorgängen kommt. Es täuscht, zu meinen, daß etwa  Ableitung  des Lebendigen aus niederen Naturvorgängen die  natürlichere  Annahme ist. Schon das Unlebendige und Unorganische hat die Unableitbarkeit seiner einzelnen Stufen als Moment in sich. Und der Sprung vom Unorganischen zum Organischen ist doch noch weiter als der von Anziehung überhaupt zu einer chemischen Wahlverwandtschaft. Dabei ist das - sicherlich notwendige, durch eine innere Notwendigkeit geforderte und geregelte - Auftreten etwa der Kristallisation oder des Lebens oder der ersten Empfindung grundsätzlich von gar keiner anderen, sondern von derselben Wunderbarkeit wie jedes Eigene und jedes Neue einer höheren Stufe der Natur, wie jeder eigentümliche Anfang überhaupt. - Vielleicht greift der hier behandelte Umstand noch weiter und wirft schon ein Licht und gibt das richtigere Präjudiz auch für das Gebiet des Geistigen und der Geschichte. Daß hier erst recht eigentlich das Feld der unableitbaren und in Früheres und Niedrigeres nicht auflöslichen Erscheinungen ist, ist ohne weiteres klar. Eine Hauptaufgabe des Naturalismus muß sein, diese Tatsachen wegzubringen und auch hier eine  Entwicklung  nicht in unserem, sondern in seinem Sinn, nämlich mit einer angeblichen "Erklärung" des jedesmal Neuen und Eigenen aus dem Vorhergehenden zu behaupten. Aber eine solche Behauptung ist hier doppelt falsch. Denn erstens ist nicht zu erweisen, daß Methoden der Betrachtung die für Gegenstände der Natur ein verhältnismäßiges Recht hätten auch für Geistiges zutreffen. Und zweitens ist eben in der Natur selber die Unableitbarkeit und der Neuanfang ein Moment.

Geheimnis und Unauflöslichkeit ist alles Sein im Ganzen und auf seinem Grund sowohl wie auf jeder höheren Stufe seiner Entfaltung noch einmal wieder, und in immer steigendem Maß, bis es in den Unauflöslichkeiten der Individualität seinen Höhepunkt erreicht, ein Geheimnis, das nicht als Übernatur und Wunder in die Natur hineinfährt (1), sondern von Grund auf ihr eingestiftet ist, ein Geheimnis, das in seiner Entfaltung sicherlich dem strengsten Gesetz und einer unverbrüchlichen Regel folgt, ob es nun in einer chemischen Wahlverwandtschaft über der niedrigen Stufe der Kräfte eine neue offenbart, oder ob es - fraglos nach ebenso fester Bindung durch ewige Regeln - da, wo die chemischen und physikalischen Vorbedingungen stattfinden, Leben eintreten läßt, oder ob zu seiner Zeit und an seinem Ort der Genius erwacht.

2. und 3.  Abhängigkeit  allen Seins war das zweite, worauf die Frömmigkeit geht und ohne die sie gar nicht gedacht werden kann. - Wir vermeiden das Wort "Schöpfung", "Geschaffensein", weil es belastet ist mit so vielen vermenschlichenden und allzu unzulänglichen Vorstellungen. Aber wir haben mit dem Ausspruch SCHLEIERMACHERs durchaus das im Auge, was alle Frömmigkeit meint, wenn sie Natur und Welt zur  Kreatur  erklärt. Der unaufgebliche Gehalt davon ist das tiefe, seiner selbst ganz sichere Empfinden, daß wir selber und mit uns alles Sein nicht in eigener Kraft und Selbstgenügsamkeit ruht, daß es sicherer Gründe bedarf um zu sein, die schlechterdings außerhalb von ihm selbst liegen, daß es abhängig und bedingt ist durch und durch von einem Unbedingten über ihm. "Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat, samt allen Kreaturen".

Dieser Glaube schien leichter in früheren Zeiten, wo das Auge noch verschlossen war für die durchgreifenden Zusammenhänge allen Geschehens, für die Allverbindlichkeit des Ursachenzusammenhangs, wo man in seinem scheinbar häufigen Abreißen fast unmittelbar die Hinfälligkeit und Unselbständigkeit dieser Welt und ihre Angewiesenheit auf eine himmlische ergänzende Hilfe glaubte bemerken zu können und wo man es deshalb nicht schwer hatte zu glauben, sie sei für sich selber nichts und nichtig, aus dem Nichtigen gerufen und immerfort die Zeichen dieses Ursprungs in ihrem vergänglichen Wesen an sich tragend. Heute aber scheint es aus zu sein mit ihrer Abhängigkeit, denn in ihren unverbrüchlichen Gesetzen und lückenlosen Zusammenhängen scheint sie sich als die ganz in sich selber ruhende zu erweisen, so daß für alles Geschehen in ihr selber der zureichende Grund zu finden ist, nämlich in der Summe der jedesmal vorhergehenden Zustände und Bedingungen, die nach einer festen, unverbrüchlichen Regel der Bewirkung alles jedesmal Folgende hervorbringen und ergeben. Wir sahen schon oben, daß dieses bei weitem am klarsten einleuchtet in der Welt der großen Massen, nämlich der himmlischen Körper, die von Ewigkeit zu Ewigkeit ihre Kreise ziehen, nur immer sich selber gegenseitig bedingend keiner Bedingung außer sich bedürfend und keine Abhängigkeit als von sich wechselseitig verratend. Alles, auch die geringste Bewegung, ist hier streng beschlossen durch die Abhängigkeit alles Einzelnen von allem anderen und umgekehrt. Keine Veränderung, kein Stellenwechsel, für den nicht der völlig zureichende Grund im Gesamtsystem der großen Maschine aufzuweisen wäre. Nichts was auf eine Abhängigkeit von außen deuten würde. Und wie heute, so sicher auch gestern oder vor Millionen von Jahren. Es scheint reine Willkür, zu meinen, daß früher einmal nötig gewesen wäre, was heute nicht stattfindet und daß nicht alles von Ewigkeit an so bestanden hat, wie es heute besteht. - Wir sahen, wie der Naturalismus bemüht ist, diesen Charakter der Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit der astronomischen Welt auszudehnen über alle Welt überhaupt. Wollen wir lieber versuchen, ihm hierin zu widerstehen, jene aber als doch hoffnungslos ihm zu überlassen? Durchaus nicht. Denn Frömmigkeit kann nicht die Sternenwelt aus der Abhängigkeit allens Seins von Gott entlassen. Und gerade dieses Beispiel ist das am deutlichsten ausgezeichnete, an dem sich die ganze Frage auch am deutlichsten gestaltet.

Astronomie lehrt uns eine durchgehende wundervolle Gesetzlichkeit aller Vorgänge im Weltall, die in strengster Harmonie Fernstes und Nächstes verbindet. Kann nun dieser Umstand irgendetwas bedeuten für die Frage nach einer Abhängigkeit und Bedingtheit der Welt? Nein. Es scheint nur so, als ob man etwa eine Regellosigkeit bequemer der frommen Betrachtung unterwerfen könnte als eine feste Regelmäßigkeit. Aber man nehme an, uns sei eine Welt gegeben ganz ohne allen strengen Nexus und ohne feste Regel des Geschehens, ungesetzmäßig und ungeordnet, voller willkürlicher Erscheinungen, regelloser Verknüpfungen, ungefestigten Spiels der Ursachen. Eine solche Welt wäre uns unverständlich, befremdlich und absurd. Aber sie würde doch in nichts notwendig  abhängiger  sein oder  bedingter  als irgendeine andere. Hätte ich nicht andere Gründe über die Welt hinauszugehen und sie abhängig zu setzen von etwas außerhalb von ihr, so wäre die Gesetz- und Regellosigkeit nicht im Geringsten ein Grund dafür. Denn angenommen, Welt und weltliches Dasein könnte überhaupt als Selbständiges und in sich selber seinen zureichenden Grund Habendes gedacht werden, so könnte es ganz ebensogut als wirres regelloses Zufallsspiel gedacht werden wie als wohlgeordneter Kosmos. Vielmehr noch eher: denn es versteht sich doch von selber, daß ein solcher Haufen wirren Zufalls gerade überhaupt nicht gedacht werden könnte als eine Welt Gottes. Ordnung und strenge Gesetzmäßigkeit wird ja nicht ausgeschlossen, sondern erfordert durch den Gottesglauben, ist direkt und unumgänglich eine Vorbedingung dafür, sie von Gott abhängig zu denken, so daß man das Paradoxon aufstellen kann, daß nur ein Kosmos, der in strenger Gesetzmäßigkeit den Eindruck des Selbstgenügsamen und für sich selber Zulänglichen macht, als in wirklicher Abhängigkeit von Gott, als seine Kreatur gedacht werden kann. Einen Menschen, der bei der Betrachtung dieser scheinbaren Selbstgenügsamkeit des Kosmos und seiner Gesetzlichkeit stehen bleiben wollte und sich weigern würde, einen außerweltlichen Grund dafür anzuerkennen, würden wir nach unserem eigenen Kanon kaum nötigen können, weiterzugehen. Denn uns stand fest, daß Gott nicht aus der Natur abgelesen, der Gottesgedanke nicht erstmalig aus Natur- und Weltbetrachtung gewonnen werden darf. Sondern unsere Frage ist immer die, ob wir, wenn wir aus anderen Quellen ihn schon haben, dann diese Welt unter ihn befassen können, hier also, ob sie, so wie sie ist und gerade deshalb weil sie so ist wie sie ist, von ihm abhängig gedacht werden kann. Und diese Frage kann nur bejaht werden, und zwar im Sinne der oft zitierten Verse SCHILLERs:
    "Den Künstler wird man nicht gewahr, bescheiden
    Verhüllt er sich in ewige Gesetze;
    Die sieht der Freigeist, doch nicht Ihn. Wozu
    Ein Gott? sagt er: die Welt ist sich genug.
    Und keines Christen Andacht hat ihn mehr
    Als dieses Freigeists Lästerung gepriesen."
Eine Welt Gottes kann nicht ein Haufen aus Willkür, sondern muß Ordnung sein, darin beweist sie gerade ihre Abhängigkeit.

Halten wir aber so an unserem Kanon fest, so läßt sich allerdings nachträglich die Behauptung der Abhängigkeit auch der astronomischen Welt noch stützen aus Zeichen, die sie an sich trägt, und durch einige sich von selbst ergebende Erwägungen. - Nicht ganz zu übersehen sind zwei Umstände, die in die Selbstgenügsamkeit und Unbedingtheit der Welt mindestens nicht ohne weiteres hineinpassen: nämlich einerseits die Schwierigkeiten, die im Begriff einer unendlichen Maschine liegen und andererseits die gefährliche Tatsache der  Entropie.  Auch wir haben oben die Welt der Sterne mit einer ungeheuren Uhr oder Maschine verglichen, die als Ganzes darstellt, was es an oder auf einem ihrer Teile niemals geben kann, ein  Perpetuum mobile.  Stoßen wir uns hier nicht an diesem Perpetuum mobile, sondern bleiben wir nur bei dem Vergleich mit einer Maschine, so scheint doch klar, daß um Maschine sein zu können, notwendig die Geschlossenheit des Systems erforderlich ist. Wie könnte denn eine Maschine zustande und zur Leistung kommen, die durch Räder getrieben wird, die durch Räder getrieben werden, die durch Räder getrieben werden ... und so fort ohne Unterlaß? Sie wäre gar keine Maschine. Der Begriff zerrinnt uns unter den Händen. Nun soll ja aber gerade unsere Welt ein solches ohne Ende fortgehendes  System  sein. Wie fängt sie es dann an, in sich selber zu ruhen und allgenugsam zu sein? Weiter aber. Sie soll eine Uhr sein, die sich immer neu selber aufzieht, die ohne Ermüdung und in rastloser Wiederkehr aller Dinge Kreise des Werdens und Vergehens aneinander fügt. Die alte heraklitische und stoische Auffassung scheint bestätigt zu werden, daß immerfort das ewige Urfeuer alle Dinge aus sich erzeugt, um sie dann wieder in sich zurückzunehmen, sie wieder zu erzeugen usw. Auch heute stellt man es sich allgemein wohl so vor, daß aus den Anfangszuständen der Weltmaterie die feurigen kreisenden Massen sich gestalten, die ihre Ringe von sich schleudern, durch ein Zerreißen der Ringe Planeten sich Planeten ballen lassen um durch viele Aeonen als Sonnensysteme den Raum zu durcheilen, bis die Planeten, durch die Reibung am Äther, in ihrer Kraft erlahmend wieder in ihre Sonne stürzen und durch die vermehrte Glut alles zu den Anfängen zurückkehrt, um dann das große Spiel von vorn zu beginnen. Das alles nun ging ganz gut nach früheren naiv-vitalistischen Ansichten von der Welt und ihrem Leben und ihrer Seele. Aber nicht mehr in unserer Zeit der Mechanik und der strengen Rechnung des Energieverbrauches und der mechanischen Wärmelehre. Auch die Weltenuhr kann sich nicht neu aufziehen. Auch sie bezahlt ihr Getriebe mit einer Umsetzung von potentieller Energie in aktuelle. Und daß Bewegung und Arbeitsleistung in ihr stattfinden, ist in ihr genauso wie in jedem ihrer Teile eigentlich ein riesiger Entspannungsprozeß einer ursprünglich gespannten Feder, ist eine Auslösung und Umsetzung ursprünglich gespeicherter potentieller Energie in Arbeitsleistung und letztlich eine Überführung in Wärme. Und mit jedem Erd- und Mondumschwung eilt die Welt langsam aber unfehlbar einem Endstadium völliger Entspannung ihrer Spannkräfte zu, einem Zustand in dem alle Energie in Wärme übergeführt sein wird, in dem es keinen Unterschied der Zustände, sondern nur gleichmäßigste Verteilung geben wird, in dem aber auch unfehlbar alles Leben und alle Bewegung ruhen und die Weltuhr stillstehen wird. Wie paßt das zur Allgenugsamkeit und Unbedingtheit? Wie konnte sie sich je zu jenem Zustand ursprünglicher Spannung aufziehen, der wie aus der Pistole geschossen  am Anfang  einfach da war? Wo bleibt die ewige imponierende Gleichheit und Stetigkeit der Welt? Wie geht es zu, daß nicht längst die Weltenuhr still steht? Denn wenn auch jene ursprüngliche Summe von potentieller Energie gleich unendlich gesetzt wird, so ist ja auch die Ewigkeit, die hinter uns liegt unendlich. Und so geht eins im andern auf. Und derlei Fragen mehr ins Zahllose.

Doch halten wir uns nicht auf bei diesen und manchen anderen Schwierigkeiten und Unauflöslichkeiten unserer kosmologischen Hypothesen. Eine Betrachtung ganz im allgemeinen würde immer, wie jene auch ausfallen möchten, überbleiben. Nämlich, ob nun gesetzmäßig oder nicht, ob in sich zureichend oder nicht, so  ist  doch eben eine Welt voll des mannigfachsten Geschehens und  sind  doch Gesetze. Woher den aber beides? Ist es selbstverständlich, ist es plausibel, daß sie überhaupt sind und dann daß sie so sind, wie sie sind? Wir berufen uns hier nicht ohne weiteres auf den Satz: "Jedes Ding muß doch eine Ursache haben, also auch die Welt." Er ist nicht ohne weiteres richtig. Wäre die Welt zum Beispiel so beschaffen, daß sie überhaupt gar nicht nichtsein könnte, daß uns die Notwendigkeit ihres Seins und die Undenkbarkeit ihres Nichtseins auch zugleich mitgegeben wäre und einleuchten würde, so hätte es keinen Sinn, nach einer Ursache zu fragen. Bei einem  notwendigen  Ding, wenn es eines geben könnte, kann man nicht fragen: "Warum, durch welchen Grund bist du?" Es wäre eben notwendig, das heißt so, daß es nicht zu denken lächerlich und logisch oder metaphysisch unmöglich wäre. Leider gibt es keine  notwendigen  Dinge, so daß man den Fall durch Beispiele von ihnen erläutern könnte. Aber es gibt wenigstens notwendige Wahrheiten im Unterschied von zufälligen. Und so kann man für den Ungeübten doch etwas Licht in die Sache bringen. Eine notwendige Wahrheit ist zum Beispiel der Satz: "Jedes Ding ist mit sich selber gleich", oder: "Zwischen zwei Punkten ist die gerade Linie die kürzeste". Von jenem können wir das Gegenteil nicht einmal denken, von diesem es schlechterdings nicht vorstellen. Darum haben diese Sätze auch keine Gründe und können weder abgeleitet noch bewiesen werden. Ja, jedes Fragen nach Gründen ist hier ganz sinnlos. Eine  zufällige  Wahrheit ist hingegen etwa die: "Heute regnet es", oder : "Die Erde dreht sich um die Sonne". Denn weder das eine nochdas andere ist ja notwendig. Es ist nur tatsächlich so,  könnte  aber natürlich unter Umständen auch anders gewesen sein. Ihr Gegenteil ist sowohl denkbar wie vorstellbar und hat ansich ganz den gleichen Grad von Möglichkeit. Darum bedarf eine solche Tatsache der Begründung und ist ihrer fähig. Ich kann und muß fragen: "Wie kommt es, daß es heute regnet. Welches sind die Gründe dafür?" Wie aber für zufällige Wahrheit, das heißt solche, deren Gegenteil ansich ebenso möglich wäre, zureichende Gründe zu suchen sind, so nun allerdings auch für alle  zufälligen  Dinge und Ereignisse, das heißt für solche, deren Sein oder Sosein auch  nicht  gedacht oder  anders  gedacht werden könnte. Für sie bedarf es der Ursache, der Realbegründung. Sonst hängen sie eben in der Luft. Ihre  Zufälligkeit  muß weggeschafft, sie müssen aus hinreichenden Ursachen eingesehen werden. Das heißt gar nichts anderes als, sie müssen auf ein Notwendiges zurückgeführt werden. Denn das ist eine sonderbare Grundüberzeugung unserer Vernunft, in welcher auch letztlich alle wissenschaftliche Untersuchung und Arbeit wurzelt, daß das  Zufällige  überhaupt nur Schein ist und irgendwie in einer Notwendigkeit ruht. Darum sucht sie durchaus zu allem die Ursachen. Ursachen suchen, das heißt, zeigen, warum eine Sache doch notwendig war. Das aber nun gilt von der Welt gleichermaßen. Wäre einzusehen, daß Welt und Dasein und Sosein, daß diese Welt und diese Gesetze  notwendig  sind, also so, daß es schon widersinnig wäre, sie und die Art ihres Geschehens und ihrer Gesetzlichkeit überhaupt nicht oder anders zu denken, so stünde alles Fragen still. So wäre sie  die  Notwendigkeit, in der alle scheinbare Zufälligkeit des einzelnen Geschehens und Daseins ihre festen Halt fände. Nun ist sie das gar nicht! Schon daß überhaupt etwas ist und Welt ist, ist für uns das ungeheuer  Zufällige  schlechthin, bei dem wir sofort fragen können und müssen: "Warum ist denn überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?" Ja, alles Fragen nach zureichenden Gründen, das wir sonst treiben, bäumt sich hier am meisten in die Höhe. Und sogleich weiter im einzelnen: daß diese Himmelswelten sind und Masse und Äther und Anziehung und Gravitation, und alles just nach diesen Gesetzen, das ist wirklich "wie aus der Pistole geschossen" und muß durchaus seinen zureichenden Grund haben, so gewiß wir ihn niemals aufdecken werden. Es ist wahr, was jener sagte, daß wir nicht nur in einer höchst zufälligen, sondern sogar in einer unglaublich unwahrscheinlichen Welt leben. Und hieran würde die vollendetste Gesetzlichkeit der Welt nichts ändern. Sie würde es nur bestätigen. Und die klarste mathematische Berechenbarkeit alles Einzelnen würde diese Grundzufälligkeit nicht aufheben. Denn sie ist nur möglich aufgrund der erstgegebenen Grundeigentümlichkeiten der Welt. Und das ist ja gerade die Frage: "Warum sind diese und nicht ganz andere, und warum sind überhaupt welche?"

Wollte jemand nun sagen: "Nun wohl, so müssen wir uns bei dieser Urzufälligkeit allen Seins beruhigen. Denn darüber hinauszukommen ist ja nicht" - ? Er hätte recht mit dem zweiten. Darüber hinauszukommen und nun etwa einzusehen, was als das ewig und durch sich Notwendige der zufälligen Welt zugrunde liegt, das ist allerdings unmöglich. Aber Unrecht hätte er mit dem ersten.  Beruhigen  würde sich niemand. Denn daß alle Zufälligkeit nur Schein ist und letztlich in Notwendigkeit gründet, ist eine unaufgebbare Grundüberzeugung unserer Vernunft, die sie bei allen ihren Unternehmungen lenkt, und die nicht am Ende plötzlich zum Halten zu bringen ist. Sie fordert unaufhaltsam ein höchstes Notwendiges als bleibenden Grund des zufälligen Seins. Und diese Tatsache ist und bleibt die Wahrheit am ehemaligen  kosmologischen Gottesbeweis.  Er irrte allerdings, wenn er meinte,  Gott  beweisen zu können. Denn von jenem  Notwendigkeitsbegriff  zu dem, was frommes Erleben an Gott hat, ist noch ein weiter Weg. Und er irrte, wenn er meinte, eigentlich  "beweisen"  zu können. Das Notwendige wird nicht eigentlich aus dem Zufälligen bewiesen. Die Einsicht in die Zufälligkeit der Welt ist vielmehr eine Veranlassung, daß die Idee des Notwendigen in uns aufleuchtet, und kein  Beweis.  Aber war ist, daß die Vernunft erst in dieser Idee zur Ruhe kommt, so gewiß´sie auch niemals imstande ist, dieselbe mit einem Vorstellungsgehalt zu füllen.

4. Was in Satz  1  und  2  getrennt angegeben wurde und bisher ausgeführt ist, verbindet sich nun und gipfelt im vierten. Denn wenn wir auf die Lebensäußerungen von Religion selber achten, wo immer sie auftritt, so finden wir als ihr merkbarstes Zeichen ja eigentlich als ihr Wesen selber allerorten und allerzeiten - oft leise als Wunsch und Stimmung, oft ungestüm und mit Macht hervorbrechend - vor allem eins. Das ist das Drängen und Verlaungen aus Raum und Zeit und aus der drückenden Enge und Zugeknöpftheit der uns umgebenden Welt hinaus, das Verlangen nach Tiefe und Jenseitigkeit der Dinge und der Existenz. Darin besteht geradezu das Frommsein: zu unterscheiden und diese Welt als das Unzulängliche der wahren Welt entgegenzusetzen, was genügt, um der geglaubten wahren Welt des wahren Seins gegenüber diese Welt unseres Erkennens und Wissens und Besitzes zu empfinden und als nur abbildlich und nur vorläufig wirkliche zu beurteilen. In hundert Mythologien und Eschatologien hat die Frömmigkeit sich dabei verkleidet, und die einen sind den anderen gewichen, die  sublimierteren  den robusteren. Aber der Grundzug selber kann nicht aus ihr weichen. In Apologetiken und Dogmatiken zieht sich das Interesse an dieser Sache oft und meist ausschließlich um die Frage nach der  Unsterblichkeit  zusammen. Mit Unrecht. Denn diese Sache ist kein Schlußkapitel in der Frömmigkeit, sondern sie selber. Und die Frage nach der Unsterblichkeit hat in einem frommen Sinn überhaupt nur Recht und Bedeutung, wenn sie ein Teil der frommen Gesamtüberzeugung ist, daß diese Welt nicht die wahrhaft wesentliche ist und daß das wahre Wesen der Dinge, und so auch unser eigenes Wesen, tiefer ist als wir es fassen können und über einer Diesseitigkeit und Raum und Zeit hinausliegt. Dem frommen Gemüt kann nicht daran gelegen sein, überhaupt nur jedenfalls eine Weile länger über dieses Leben hinaus das Dasein fortzusetzen. Was wäre in einem solchen Wunsch denn überhaupt fromm! Sondern das innige Wissen darum, wie alles Vergängliche nur ein Gleichnis und alles diesseitige nur ein Schleier und Vorhang ist, und das Verlangen überhaupt, aus dem Schein in die Wahrheit und aus dem Unzulänglichen ins Zulängliche zu kommen, faßt sich an dieser Stelle besonders zusammen zu den Aussagen über die Ewigkeit unseres wahren Wesens. - Diesem Zug der Frömmigkeit ist Geist und Methode des Naturalismus wohl am meisten entgegengesetzt. Er weist mit besonderem Vergnügen darauf hin, daß sich nirgends diese Tiefe der Dinge und diese Heimat der Seele entdecken läßt. Die großen Entdeckungen von KOPERNIKUS und KEPLER und NEWTON haben damit aufgeräumt. Und kein Empyreum [siebter Himmel - wp] und kein Weltwinkel bleiben übrig. Auch die verfluchte Flucht auf die Sonne, Mond und Sterne hilft nichts. Zwar ist die neuentdeckte Welt ohne Ende, aber es ist kein Zweifel: auch in ihren äußersten oder innersten Tiefen ist sie eine Welt des Raumes und der Zeit. Und auch im Sternbild des Fuhrmanns ist "alles wie bei uns". - Das alles ist nun sicher richtig, aber für die Frömmigkeit gerade heilsam. Denn es weist sie darauf hin, ihre Güter und das wahre Wesen der Dinge und die ewige Heimat nicht noch einmal wieder in Raum und Zeit zu suchen, wie sie es in ihren Mythologien und Eschatologien immer aufs Neue versucht hat, sondern sich auf jene Grundeinsichten und Überzeugungen zu besinnen, die ihr längst gekommen waren, ehe noch eine Philosophie und Kritik der Erkenntnis zu ihren ähnlichen Einsichten kamen: nämlich daß Raum und Zeit und diese zeitlich-räumliche Welt nicht das ganze Sein und nicht das Sein, so wie es ist, befassen, sondern nur seine Erscheinung für eine endliche und beschränkte Erkenntnis. Ohne und vor aller modernen Astronomie wußte die Frömmigkeit, daß Gott nicht im  Himmel  oder  irgendwo  oder vom Raum überhaupt befaßt ist, und daß Zeit, wie sie für uns ist, so für ihn nicht ist. Und in ihren Namen  Unendlichkeit  und  Ewigkeit  nahm sie, ahnend, vorweg eine Weise des Seins und der Wirklichkeit, die über Raum und Zeit ist. Sie gewann auch diese ihre Begriffe nicht aus einer Betrachtung der Natur, sondern vorweg und aus eigenen Quellen. Und wieder ist es gar nicht die Aufgabe der Apologetik, sie erstmalig aus einer Betrachtung der Dinge zu gewinnen. Aber allerdings liegt nicht wenig daran, zu prüfen, ob die Frömmigkeit in diesen ihren Überzeugungen nur Postulate des Glaubens besitzt, für die sie sich erst mühsam und mit Gewalt gegenüber dem Erkennen einen Platz reißen kann, oder ob ein gründliches und sich selber prüfendes Erkennen ihr nicht vielmehr entgegenkommt und uns in und an der Welt der Erkenntnis selber gute Zeichen weist dafür, daß dieselbe nicht selber die wahre volle Wirklichkeit sein kann, sondern über sich hinausweist. - Dieser Frage gründlich nachdenken, hieße, eine eigene Erkenntins- und Seinslehre aufstellen. Das kann hier nicht die Aufgabe sein. Aber den Durchbruch durch die Enge der naturalistischen Betrachtung hat uns für immer die große Lehre KANTs gegeben von der "Antinomie der Vernunft". Wohl ein jeder, der gelitten hat an der Enge, in die die Wirklichkeit gespannt wurde durch die rein diesseitige Betrachtung, hat, wenn er der kantischen Antinomie nachgedacht hat, ihre befreiende Wirkung erfahren. Der dichte Vorhang, der das Sein von der Erscheinung trennt, scheint zu reißen, oder zumindest als Vorhang offenbar zu werden. KANT zeigt nämlich, daß, wenn wir diese Welt, so wie wir sie als unsere erkannte vor uns hinstellen, selber für die wahre Wirklichkeit nehmen wollten, wir damit in unauflösliche Widersprüche geraten. Diese Widersprüche zeigen uns, daß die wahre Welt selber nicht aufgeht in unserem Denken und Erfassen, denn im Sein selber kann es ja keine Widersprüche geben. Es wäre sonst gar nicht. Uralte Fragen der Philosophie von der Zeit der Eleaten her kommen hier zu ihrer endgültigen Formulierung. KANTs Schüler, FRIES, hat sie fortgebildet und hat, was bei KANT noch eine Verlegenheit der Vernunft bliebt, zu genaueren Aussagen über das Verhältnis des wahren Wesens zu seiner Erscheinung auszugestalten versucht. - An einigen Beispielen mag klar werden, um was es sich handelt. Gleich die erste der Antinomien ist die eindringlichste. Sie stellt uns die Unzulänglichkeit unserer Zeitvorstellung vor Augen und die Unmöglichkeit, das, was wir als Anschauungsform der Zeit besitzen, aus der uns erscheinenden Welt auf das wirklich Seiende zu übertragen. Es handelt sich um die Frage, wie man unsere Welt zu denken hat, ob einmal anfangend oder anfangslos. Die naive Betrachtung wird zunächst immer ohne weiteres von einem Anfang aller Dinge reden. Es muß doch einmal alles angefangen haben, wenns auch schon recht lang her sein mag. Bei einem gründlicheren Nachdenken aber befindet man das unmöglich vorzustellen und wendet sich unbesehens dazu, die Anfangslosigkeit aller Dinge anzunehmen. Denn angenommen, wir setzen den Anfang auf vor sechstausend oder, was ganz ebensowenig kostet, auf vor sechstausend Billionen Jahren. So werden wir doch sogleich fragen können, was war ein oder viele Jahre vorher, und was vor diesen, und so fort ins völlig Endl- und Anfangslose. So zeigt sich, daß wir gar keinen wirklichen Anfang gedacht hatten, auch gar nicht denken können, sondern vom Denken immer ins Endlose gerissen werden. Zumindest die Zeit hatten wir endlos gedacht. Wir können uns dann das Vergnügen machen, endlose Zeiten als leere zu denken, würden aber wohl kaum einen Grund finden können, wie wir dazu kommen sollten. Geht die Zeit ins Endlose zurück, so ist nicht einzusehen, warum sie nicht immer, sondern nur von einem willkürlichen Punkt an erfüllt gewesen sein sollte. Und jedenfalls ist das Problem des Anfangens oder Nichtanfangens ja eben mit dem Dasein der Zeit selber schon aufgegeben. Aus solchen Gründen wird von ARISTOTELES an die Anfangslosigkeit der Welt behauptet und die Gegenmeinung als eine kindliche verworfen. - Aber kindlich, oder vielmehr unmöglich ist sie selber auch wieder und in Wirklichkeit dem Denken gar nicht annehmbar. Denn angenommen die Zeit und Welt haben niemals angefangen, so dehnt sich also von dem Zeitpunkt, in dem ich mich jetzt befindet, eine vergangene Unendlichkeit aus. Sie muß abgeflossen sein, völlig, als Ganzes, denn sonst hätte es ja gar nicht zu diesem Zeitpunkt kommen können. Ich muß also ein zu Ende gekommenes Unendliches Denken. Das kann ich nicht. Das ist ein hölzernes Eisen. - Die Sache klingt einfach und doch so folgenschwer. Sie stellt uns mit einem Mal vor die Tatsache, die die Erkenntnislehre auch weiter bestätigt, daß Zeit, so wie wir sie kennen, zwar eine notwendige, unaufhebbare Grundform unseres Vorstellens und Erkennens ist, aber zugleich auch der Schleier über dem Verborgenen und nicht als Zeit übertragen werden kann in das wahre Wesen der Dinge. Und durch die uns offenbar werdenden Schranken und Widersprüche, die in der zeitlichen Anschauungsform liegen, wird in uns die Idee dessen wach, was wir als Analogon der Zeit im wahren Wesen selber annehmen: ein Sein unter der Form der  Ewigkeit,  die natürlich eben weil wir ganz in die zeitliche Vorstellung gebunden sind, nicht vorgestellt oder irgendwie inhaltlich von uns gedacht werden kann. (2)

Ebenso führt uns die Antinomie des Bedingten und Unbedingten. Jedes einzelne endliche Ding oder Ereignis ist abhängig von seinen Ursachen und Bedingungen, die ihm vorhergehen oder es in Wechselwirkungen umgeben. Es ist bedingt und nur durch seine Bedingungen möglich. Das heißt aber, es kann überhaupt nur vorkommen und gegeben sein, wenn alle seine Bedingungen gegeben waren in vollendeter Synthesis. Fehlt eine einzige, so kommt es nicht zustande. Nun ist aber jeder seiner bedingenden Umstände wieder bedingt durch unzählige andere, und von diesen wieder jeder durch andere, und so fort ins Endlose nach rückwärts und nach allen Seiten, sodaß auch hier wieder ein endloses und unvollendbares hätte vollendet sein müssen, und vollendet gedacht werden müßte, um auch nur ein einziges Ereignis wirklich zustande zu bringen. Das aber ist für unser Vorstellen wieder ein reines Unding: Vollendetes brauchen wir und müssen wir fordern, weil ja doch wirklich jetzt jetzt ist und jetzt etwas geschieht, und in der uns erscheinenden Welt werden wir doch immer ins Unvollendbare hingerissen. - Und, um damit unsere Beispiele abzuschließen, ganz gleichlaufend steht es mit dem Raum und der in ihm räumlich ausgebreiteten Welt. Auch hier offenbart sich, daß der Raum, so wie wir ihn vorstellen und als Anschauungsform zur Ordnung unserer sinnlichen Eindrücke in uns tragen, keiner wahren Wirklichkeit entsprechen kann. So wie dort nämlich bei der Zeit, so können wir hier beim Raum niemals bei irgendeinem noch so ungeheueren Abstand von uns halt machen und meinen, hier sei nun der Raum zu Ende. Ob wir mit Erdbahndurchmessern oder Sirius-Abständen messen und sie vermillionenfachen, immer fragen wir weiter: "Was liegt dahinter?" und dehnen also den Raum aus ohne Ende. Und natürlich bevölkern wir ihn auch ohne Ende mit Himmelswelten, Sternen, Sternennebeln, Milchstraßen und so fort. Denn auch hier hätte es ja keinen Sinn und gar keinen einsichtigen Grund, zwar den Raum in unserer Nähe angefüllt, den aber, der weiter weg ist, leer zu denken. So denken wir auch wirklich Stern an Stern sich ausdehnend, und, soweit wir zählen mögen, immer noch einen dazu, ohne Ende. Der Raum ist nicht so und so weit, sondern immer noch etwas weiter. Und die Zahl der Sterne ist nicht so und so viel, sondern immer noch eins mehr. Das klingt ganz plausibel, hat aber genau die gleiche Unmöglichkeit in sich, wie die unserer "Unendlichkeit nach rückwärts". Denn wenn wir auch für unser Vorstellen fortgerissen werden ins Endlose und gar nicht zu Vollendende, so ist es doch unmöglich, das Gleiche von der Wirklichkeit anzunehmen. - Es ist sonderbar und ganz bezeichnend, daß uns die ganze Schwierigkeit und ihre eigentümliche Art viel schneller durch die uns vertrauten Bilder und Ausdrücke der Frömmigkeit verständlich wird. Da sagen wir und geben leicht zu, daß wir zwar niemals die Heere der Sterne und Räume umfassen können, eben weil sie für uns unvollendbar und immer noch eins mehr sind, daß aber natürlich vor Gottes Auge alles in seiner Allheit, als  vollendete Synthesis  umspannt ist, mit eins erfaßt, und daß ihm das Sein durchaus nicht und an keinem Punkt immer noch eins mehr ist, sodaß auch er ihm zählend nachlaufen müßte und es ihm immer doch wieder entwischt.  Gott zählt nicht. - Ohne die Hilfe des frommen Ausdrucks sagen wir: das Seiende selber ist doch eben es selber und nicht auch noch immer eins dazu. Denn ein solches  wäre  ja wirklich nie. Es kann nur  sein  "in vollendeter Synthesis", das heißt nicht, als eine unendliche Anzahl, die nun doch eben irgendwie mal aufhört - wiederum ein hölzernes Eisen - sondern über der Zahl und dem Zählen, so wie sie über Raum und Zeit ist. Und das was wir messen, wiegen und zählen können, ist darum nicht die Wirklichkeit selber, sondern ihre unzulängliche Erscheinung für ein beschränktes Fassungsvermögen. - Doch genug hiervon. Die Unlöslichkeiten der Lehren vom Einfachen und Zusammengesetzten, vom Ursachlosen und Verursachten, in die uns diese unsere Welt hineintreibt, könnten uns weiter lehren, sie für das zu erkennen was sie ist, für das Unzulängliche und über sich hinaus und in ihre transzendente Tiefe weisende. Und Probleme wie der Fortschritt ins immer Kleinere und die Undeutlichkeit unserer Denkhorizonte im allgemeinen würden noch nachhelfen.

5. Von einer solchen Tiefe der Dinge und ihrem verborgenen Wesen, auf das eine Prüfung unseres Erkennens uns hinweist, gibt es noch andere Zeugnisse. Denn "in Gefühl und Ahnung weist die Erscheinung über sich auf das wahre Wesen hinaus". So lautet unser fünfter Satz. Dieser Gegenstand ist zwar zart und setzt willige Ohren voraus, aber auf solche rechnet alle Apologetik: sie ist keine Bezwingung der Zweifler, sondern eine Selbstvergewisserung der Frömmigkeit. - Unser Satz redet nicht von Träumen, sondern von Tatsachen, die deswegen noch nicht weniger tatsächlich sind als andere, weil sie zarter sind. Was hier in Frage steht, das sind die tiefen, gar nicht recht kommensurabel zu machenden Eindrücke, die unmittelbar aus einem inneren Erleben, einem Auffassen von Natur und Welt und Geschehen mit der Tiefe des Gemüts aufbrechen können. Sie schaffen in uns eine  Anamnesis,  ein  Wiedererinnern  in PLATOs Sinne, indem sie das Gemüt mit Stimmungen und Ahnungen erfüllen, in denen vom Wesen und Sinn des Seins unvermittelt etwas erlebt und empfunden wird, ohne sich doch anders als in Gefühlserregungen, gar nicht oder kaum ansatzweise in auszusprechenden Begriffen und klaren Angaben Ausdruck und Namen verschaffen zu können. FRIES hat in seinem leider so vergessenen Buch "Wissen, Glaube und Ahnung" dieser Tatsache Rechnung getragen, indem er dieses Gebiet unserer Gemütserlebnisse neben die Gewißheiten des Glaubens und Wissens stellt, und jene durch sie  belebt  werden läßt. Er hat aber im Auge speziell die Eindrücke des Schönen und Erhabenen, die als ein breiter Rand über das Erkennen der Natur hinausschießen und denen das Erkennen und seine Begriffe gar nicht gerecht werden kann, sosehr sie doch Tatsachen sind. In ihnen erleben wir unmittelbar, in einem ahnenden Gefühl, daß die Wirklichkeit größer ist als unser Begreifen und spüren etwas von ihrem eigentlichen Sinn und Wesen. Und ganz in gleicher Linie gehen schon SCHLEIERMACHERs Reden über die Religion. Gerade dies meint SCHLEIERMACHER, wenn er verlangt, daß neben Wissen und Handeln das Universum erlebt werden soll in "Anschauung und Gefühl". Weniger scharf in seinen Ausdrücken ist er doch reicher als FRIES in seiner Meinung, da er nicht nur die ästhetischen Erlebnisse des Schönen und Erhabenen mit einbezieht in das Gebiet einer solchen  Ahnung,  sondern es viel allgemeiner und umfassender versteht, daß das aufgeschlossene Gemüt am Endlichen die Eindrücke des Unendlichen und durch das Zeitliche hindurch das Ewige wittern und erleben kann. Und mit Recht betont er, daß ein solches Ahnen vielmehr als im Vorhof der Natur hernach in der Sphäre des Geistes und gegenüber den Tatsachen der Geschichte seine Stätte findet. Daß man aus einem so zarten Stoff nicht robuste Lehrsätze und Begriffe formen kann, betont auch er. In den Eindrücken des Großen, Gewaltigen, Erhabenen in der Natur ist das, wovon wir reden, sicher am eindringlichsten und unmittelbarsten gegeben. In den Schönheiten und Harmonien der Natur, aber auch in der flutenden Fülle und im Dämonisch-Rätselhaften, im Sinnvoll-Begreiflichen wie in einem mit Schrecken und Staunen erfüllenden Verwirrend-Dunklen des Schaffens der Natur, in all den mannigfaltigen Ergriffenheiten und Erschütterungen des Gemütes, in all den ahnungsvollen und doch nicht zu deutenden Empfindungen, die ein lauteres Naturerleben in uns auslösen kann bis hinauf in einer langen Skala zur trunkenen Selbstvergessenheit und einem wortlosen verstummenden Entzücken vor ihrer Pracht und ihrem sich andeutenden und doch zugleich sich verhüllenden Geheimnis. Regt sich einiges oder alles von diesem in einem übrigens gottlosen oder gottarmen Gemüt, so bleibt es ein lose flatterndes Gefühl, das nicht weiß, wo es mit sich hin soll. In einem frommen aber gliedert es sich ohne weiteres dem ein, womit es verwandt oder wesensgleich ist und wird zur Anbetung. Dogmatik oder Argumente für ein streitendes Räsonnement sind gar nicht daraus zu ziehen. Kaum daß es - es sei denn in der Musik - sich aussprechen läßt. Wird es doch ausgesprochen, so wird es nur zu leicht zur Phantasterei oder zur romantischen Schwülstigkeit, wie die Reden desselben SCHLEIERMACHER an einigen Stellen wohl auch beweisen.

6. Erst jetzt gehen wir über zu der Frage nach der  Teleologie,  nicht weil sie eine Nebensache, sondern Hauptsache, weil sie Endpunkt aber nicht Ausgangspunkt in unserer Angelegenheit ist. Ist die Welt von Gott und Gottes, so ist sie selber und das was in ihr ist um irgendwelcher Zwecke wegen da und auf Ziele hin angelegt. So ist sie durchwaltet von ewigen Ideen und untersteht einer göttlichen Providenz [Vorsehung - wp] und Leitung. Der Naturalismus und wie es scheint schon die Naturwissenschaft selber aber erklären: Weder Zwecke noch Ideen sind mit Notwendigkeit in der Natur anzunehmen. Sie kommen nicht vor, weder im Einzelnen noch im Ganzen. Das Ganze ist ein fest geschlossener Zusammenhang nach Ursachen, ein großes kausales und blindes Getriebe, bei dem es keinen Sinn hat zu fragen, was dabei herauskommen  soll,  sondern nur, aus welchen Ursachen sich das ergeben hat, was da ist. Dieser Gegensatz ist tiefgreifend und schwer. Und bei allen Angriffen oder Verteidigungen der Frömmigkeit wird er mit Recht ins Auge gefaßt, wenn auch mit Unrecht die bisher genannten Punkte bisweilen allzusehr übersehen werden. Er zieht sich heute fast ganz um zwei Lehren des Naturalismus zusammen, die zwar eigentlich nicht den ganzen Fall ausmachen, aber allerdings die Musterbeispiele sind, so daß, wenn man sich mit ihnen auseinandersetzt, man auch das Grundsätzliche des Falls mit erörtert. Die beiden Lehren sind die des Darwinismus und der mechanistischen Lebenslehre. Auf sie muß sich unser Augenmerk jetzt richten. Und da die beste Erläuterung und Kritik beider Lehren in ihrer eigenen Geschichte und in ihrem heutigen Zustand innerhalb der Schule selber besteht, so werden wir das Grundsätzliche und das Geschichtliche der Sache zu verbinden haben. - Nur der oberste Gesichtspunkt und dasjenige Moment an der Sache, das immer gilt und bestehen bleibt, wie auch die Einzelauseinandersetzung ausfallen mag, das auch den eigentlichen Kern der Frage unabhängig macht und von vornherein hinweghebt über allzuviel Interesse an Zoologie und Biologie, mag hier vorangesetzt sein. Im einzelnen und genaueren wird es uns immer wieder begegnen.

Der Kampf und die Abneigung der Naturerklärer gegen Ideen und Zwecke ist von Haus aus und zunächst gar nicht religiös gemeint, ist kein Widerstreit der Naturwissenschaft gegen eine fromme Weltansicht, sondern zunächst ganz lediglich ein Widerstreit einer Naturwissenschaft gegen eine andere, nämlich der modernen gegen die mittelalterlich-aristotelische. Auch diese war an und für sich durchaus nicht selber schon eine fromme Weltansicht, sondern zunächst einfach eine Naturansicht und der Versuch einer Deutung der Natur- und besonders der Entwicklungsvorgänge, die sich ebenso auch neutral gegen die Frömmigkeit verhalten hatte oder gar ganz rein naturalistisch sein konnte. Es war die Lehre von den Entelechien und den  formae substantiales.  Um das Zustandekommen eines Dings zu erklären, lehrte man, daß seinem Ausgangszustand die Idee des fertigen Dings die "Form" gleichsam innewohnt und nun bei der Entwicklung dirigierend das Werden bestimmt. Diese "Form", der angestrebte Zweck des Werdens lag  potentiell  oder  ideell  oder  virtuell  von Anfang in dem Ding darin, griff als  "causa finalis",  als Endursache, ein und bestimmte das Werden. An dieser Lehre tadelt nun die heutige Naturwissenschaft, daß sie keine Erklärung, sondern ein bloßer Name ist für den Prozeß, der gerade erklärt werden soll. Zweck der Wissenschaft ist, das Spiel von Ursachen herauszubringen, das gerade diesen Erfolg zuwege brachte. Die angebliche ideelle  causa finalis  sei nur ein  asylum ignorantiae  [Zufluchtsort der Ignoranten - wp] und das Problem selber, aber nicht seine Lösung. Zum Beispiel wenn man nach der jetzigen Gestalt und dem Ansehen der Erde frägt, so ist nichts getan, sich darauf zu berufen, daß der sich entwickelnden Erde eben von Anfang an ihre "Form", ihr Urbild eingewohnt hat, das nun allmählich die Phasen und Übergänge ihres Werdens bestimmt hat, bis der Endzustand, das Ziel, erreicht worden ist. Sondern in der Erdgeschichte, Geologie, Geognosie, Mineralogie, Geodäsie, physikalischer Geographie, Meteorologie und anderen Wissenschaften sind die physikalischen, chemischen, mechanischen Ursachen dafür und ihre Gesetze aufzusuchen und aus ihrem Zusammenwirken alles Einzelne und Ganze zu erklären.

Ob die heutige Naturwissenschaft damit nun Recht hat oder nicht, ob sie in der alten Entelechieenlehre nicht einen berechtigten Punkt vernachlässigt und besonders bei der Lehre vom Lebendigen ohne sie doch nicht auskam, oder nicht, so ist doch jedenfalls sicher, daß von allgemeinsten Gesichtspunkten und besonders von der Frage nach der "Teleologie" aus eine Frömmigkeit sich für diesen Widerstreit nicht sehr zu interessieren braucht. Die fromme Rede von waltenden "Zwecken", "Ideen", "Leitung" ist zunächst gegen die Weise der Verwirklichung eines Endergebnisses gleichgültig: sie geht ganz auf einen besondern und eigentümlichen  Wert  des Erreichten und Verwirklichten. Führen Ereignisse, Verkettungen, Entwicklungen zu Ergebnissen, an denen uns plötzlich ein besonderer eigentümlicher Wert deutlich wird, erst dann haben wir einen Grund und einen Maßstab anzunehmen, daß es sich nicht bloß um ein Ergebnis und Zufallsbeispiel, sondern um ein Beabsichtigtes, nach Zweckgedanken und durch eine höhere Einrichtung und Lenkung der Dinge zustande Gekommenes handelt. Vorher gar nicht. Und so können wir überhaupt nur von Zielen, Zwecken, Leitung und Geschehen reden, sofern wir ein Vermögen in uns haben, Werte, Sinn und Bedeutung der Dinge zu empfinden und anzuerkennen. Hierzu aber ist Naturwissenschaft selber ganz außerstande. Sie kann oder will nur prüfen, wie wohl alles wurde, aber ob etwa dieses Ergebnis einen höheren Wert hat als ein anderes oder einen geringeren oder gar keinen, das kann sie aus sich weder finden noch leugnen. Es liegt gar nicht in ihrem Gebiet. - Um es gleich am höchsten Beispiel klarzumachen, das es für uns Menschen geben kann, am Menschen und seiner Entstehung selber, so ist einmal angenommen, die Naturwissenschaft könnte alle Ursachen und Mittel ausfindig machen, wodurch in viel tausendjährigen Epochen Mensch und menschliches Dasein zustandekam. Wären diese Ursachen und Mittel nun etwa auch wirklich lauter  Ideen "formae substantiales" und ähnliches gewesen, so wäre damit noch gar nichts ausgesagt, ob nun der ganze Prozeß wirklich einem göttlichen Zweckgedanken unterlegen gewesen wäre. Wenn nicht von ganz anderer Seite her der alles überragende unvergleichliche  Wert  menschlichen Daseins, geistiger, gemütvoller, freier, zu Moral, Frömmigkeit, Kunst, Wissenschaft fähiger Existenz zugleich eingesehen wäre, so würde man auch den Menschen für ein gleichgültiges Produkt eines blinden Naturspiels halten müssen und können, wie jedes andere Naturprodukt auch. Andererseits aber: ist wirklich dieser Wert menschlichen Daseins, diese höchste Würde eingesehen, empfunden und zugegeben, dann hindert die Erkenntnis, daß die Hervorbringung des Menschen durch ein Spiel höchst verwickelter, nach einer strengen Gesetzlichkeit sich vollziehender Naturvorgänge geschah, gar nichts daran, ihn aufzufassen und zu erkennen als "Zweck", als Verwirklichung eines ewigen göttlichen Zweckgedankens, auf den die Natur in ihrer Gesetzmäßigkeit angelegt war, und somit einen ewigen Plan und eine göttliche Leitung in Natur und Welt zu finden und zu bewundern. So hängt es gar nicht an der Naturwissenschaft,  Zwecke  in einem frommen Sinn in der Welt zu entdecken oder zu leugnen, sondern an einer ganz anderen Art von Erfahrung, an einer durchaus innerlichen. In dem Maße, als ich, rein in der Sphäre des innerlichen Erlebens und Wertens inne werde des Wertes geistig-sittlichen Daseins und ihn anerkenne, in dem Maße werde ich mit der Gewißheit einer ganz eigentümlichen Überzeugungsweise die Dinge und Ursachen-Verkettungen, an denen eine Möglichkeit und ein Hervortreten von geistig-sittlichem Dasein hänt, einer ewigen Teleologie unterwerfen und in dem Teil der Welt, das darauf geht, den ewigen Sinn und die Providenz aufleuchten sehen.

7. So tritt der Frömmigkeit, mit Gewißheit, die Welt unter eine teleologische Betrachtung. Und einer solchen und in diesem Sinne ist ihr die streng kausale Betrachtungsweise der Naturwissenschaften nicht feindlich, sondern sogar nötig. Denn wie liegen doch die Dinge? Die Naturwissenschaft versucht in zäher Arbeit die uns gegebenen und vorkommenden Tatsächlichkeiten unserer Welt bis zum Dasein des Menschen einschließlich aufzufassen als Endzustände und Ergebnisse eines enormen Entwicklungsprozesses, versucht auch, sie immer höher hinauf zu verfolgen am Leitfaden einer streng ursächlichen und streng gesetzmäßigen Verknüpfung, um sie schließlich anzuknüpfen an erste einfachste Grundgegebenheiten des Weltseins überhaupt, über die sie nicht mehr hinaus kann und die sie als  Gegeben  einfach hinnehmen muß. Offenbaren sich nun unserer inneren wertenden Einsicht jene Ergebnisse dieser streng ursächlich erklärten Entwicklung als sinn- und wertvolle, ja als unvergleichliche und tiefste Werte, so wird damit an der nach Ursachen erklärenden Betrachtung nichts geändert, aber ihre Ergebnisse rücken mit einem Schlag in ein ganz neues Licht und offenbaren eine Eigentümlichkeit, die vorher gar nicht aufzufinden war und doch deren bestes Wesen ausmachte. Sie werden zum streng verbundenen System der  Mittel Und die Zweckmäßigkeit wird als Potenz tief hineingetragen in den Grund und  Anfang,  in die Grundbedingungen und Urfaktoren der Welt selber. Der strenge Zusammenhang der Bedingungen und Ursachen ist dann gar nichts anderes als die "End- und Zielstrebigkeit" selber, die Durchsetzung und Aktualisierung der ewigen Zwecke, die der Potenz nach tief im Grundwesen der Welt verschlossen waren. Und die strenge Gesetzlichkeit und Unverbrüchlichkeit des Zusammenhangs ist hier gerade nicht fatal, sondern unentbehrlich. Nur wenn, wo es auf Zwecke abgesehen ist, das System der Mittel vollständig, lückenlos und streng geschlossen ist, kann ein Zweck wirklich erreicht, kann also auf eine Absicht geschlossen werden. In der unauflöslichen Gegebenheit der Grundfaktoren des Weltseins, im strengen Zusammenhang der Ursachen, im unfehlbaren Eintreten des durch beide vorbestimmten Resultates, das uns als Wert und Zweck offenbar wird, sind Teleologie und Providenz unmittelbar schon wirklich. Voraussetzung ist nur, daß die Beurteilung des Ergebnisses nach Werten und höchsten Werten möglich, und daß sowohl das ursprüngliche Wesen der Welt als das System seiner ursächlichen Zusammenhänge, d. h. diese unsere Welt selber, nach den Ideen von Abhängigkeit und Bedingtheit zu denken möglich ist. Beides aber ist nicht nur möglich, sondern nötig.

LITERATUR Rudolf Otto, Naturalistische und religiöse Weltansicht, Tübingen 1904 [Dissertation]
    Anmerkungen
    1) Oft genug sind von Naturerkennenden selber diese Erkenntnisse geltend gemacht worden. Man hat ihnen dann nicht selten vorgeworfen, es heiße, das Wunder in die Natur einreißen lassen, wenn man halt machen will vor dem  Unableitbarem  und dem  Geheimnis.  Das ist ein völliges Mißverständnis. Mit Wunder und Supranaturalismus im geschichtlichen Sinn des Wortes hat diese Naturbetrachtung nichts zu tun. Man kann umgekehrt viel eher behaupten, daß zwischen supranaturalistischen Meinungen und dem Glauben an die völlige Erklärbarkeit und Rationalisierung der Natur ein eigentümliches Wechsel- und Anziehungsverhältnis besteht. Denn man mache sich das Verhältnis nur klar, so wird man leicht einsehen, daß aller eigentliche und konsequente Wunderglaube eine möglichst rationale und ausgeklärte Naturbetrachtung als bestpassenden Hintergrund braucht. Er denkt sich ja gleichsam zwei Naturen, Natur und Übernatur, von denen sich die erste in die zweite mit Stößen und gelegentlichen Unterbrechungen des nur Natürlichen einschiebt, nämlich durch die Wunder. Zweck der Wunder ist nun doch, als solche, als schlechthin vom gewöhnlichen Geschehen verschiedene Ereignisse bemerkt zu werden. Das aber können sie gerade dann am besten, wenn die Natur selber möglichst plan und mathematisch zugeht. Und so finden wir es auch, daß sich der Supranaturalismus eine rationalistische Naturbetrachtung ganz willig gefallen läßt, ja sogar darauf aus ist. Aber sie ist falsch, so hüben wie drüben. Natur ist nicht das ausrationalisierte und durchgerechnete Wesen, wozu man sie machen möchte. - Das wirklich Fromme im Wunderglauben ist, daß auch er in seiner Weise nach einem Geheimnis, einer Abhängigkeit, einer Vorsehung sucht. Er fehlt, indem er sie naiverweise in einzelnen Ausnahmeakten sucht, die zu allem anderen Geschehen außerhalb einer Analogie sind, indem er sie zu Willkürakten macht und in dem er übersieht oder unterschätzt, daß sie in aller Natur ein Moment sind, es der frommen Weltansicht zumindest sein müssen.
    2) Auch nicht in der Weise der Scholastiker, die die Ewigkeit ein  nunc stans,  ein stehendes Jetzt, eine immer währende Gegenwart nannten. Gegenwart ist ja auch ein Moment  unserer  Zeit. Und währende Gegenwart ist ein Unding.