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Übertragung der Verstandes- und Werturteile [ 2 / 2 ]
Zweiter Abschnitt Übertragung der Werturteile 1. Kapitel Charakter des Werturteils § 1. Die Verhaltensweise des Subjekts ist Prädikat im Werturteil Von den Urteilen, die wir bisher gehandelt haben, unterscheiden sich wesentlich diejenigen Urteile, in denen nicht ein gegebener Inhalt die Stelle des Prädikats einnimmt, sondern Verhaltensweisen des urteilenden Subjekts selbst. Wenn ich sage "die Rose ist rot", dann wird der Vorstellungskomplex "Rose" nicht die mindeste inhaltliche Erweiterung oder nähere Bestimmung. Die schöne Rose kann rot, gelb oder weiß sein, sie kann diese oder jene Gestalt haben, keine derartige Eigenschaft ist durch das Prädikat "schön" festgelegt. Das Prädikat "schöne" fordert weder eine bestimmte jener Eigenschaften, noch wird es durch das Vorhandensein einer derselben ausgeschlossen. Es enthält kein dem Gegenstand anhaftendes Merkmal, sondern sagt etwas aus über die Wirkung der Eigenschaften, bzw. des vorgestellten Objekts überhaupt. Ein Gefühl der Lust wird erlebt. Lust ist allemal ein Bewußtseinsreflex für die Tatsache, daß ein Inhalt in unserem gesamten seelischen Leben Entgegenkommen, Förderung findet oder sich unter günstigen Bedingungen vollzieht.
Eine an Erfahrungen reichere Persönlichkeit ist wertvoller als die an Erfahrungen ärmere, ebenso wie diejenige, welche in ihren Erfahrungen Ordnung und Gesetzmäßigkeit hat, wertvoller ist, als diejenige, bei welcher die Erfahrungen ein wirres Durcheinander bilden. Die urteilende Persönlichkeit wertet sich selbst, sie hat ein Selbstwertgefühl, das sich verbindet mit jeder positiven Betätigung, also auch, ja vorzugsweise mit der Wirksamkeit der eigenen Erfahrungen. Auch derjenige, welcher nur trübe Erfahrungen gemacht hat, wertet dieselben und möchte sie nicht missen. Natürlich ist es nichts Angenehmens, vom Freund getäuscht zu werden. Aber es ist wertvoll, nunmehr dessen wahre Gesinnung zu kennen. Gewiß ist der Verlust des ganzen Vermögens beim Börsencrash keine erfreuliche Tatsache, aber die Durchkostung der Vorstellungen und Gefühle, welche einen von einer sicheren und unabhängigen sozialen Position in das Gewühl des Kampfes um die elementarsten Lebensbedingungen Herabgestoßenen verfolgen, ist dieses Erlebnis nicht etwas Großes, etwas die Seele Bereicherndes? Man sprach seiner Zeit von einem Wolterschrei. Die berühmte Tragödin geriet einmal durch den Anblick einer Maus in einen heftigen Schreck und stieß unwillkürlich einen Schrei aus. An diesen Schrei erinnerte sie sich, wenn sie in einer Rolle ihr inneres Entsetzen laut werden lassen mußte, und sie machte die Gemüter erbeben. Ich will sagen: Jede Erfahrung als solche, als psychische Tatsache, gleichgültig, ob sie von einem Gefühl der Lust oder Unlust begleitet war und in der Erinnerung noch begleitet ist, stellt eine positive Bereicherung des seelischen Lebens dar und ist somit wertvoll. Leben heißt tätig sein. Tätigkeit finden wir in unserem Vorstellungsleben. Da ist ein stetes Kommen und Gehen. Wir hungern nach Vorstellungen. Wir werden nicht satt. Selbst das Angenehmste verliert durch öftere Wiederholung seinen Lustcharakter und wird überdrüssig. Das Gewaltigste, Erhabenste verliert durch Gewohnheit seine Eindrucksfähigkeit und geht im allgemeinen seelischen Leben unter. Aber das Neue, Unerwartete bringt im Fluß des Vorstellungslebens eine Stauung hervor, es wird zum Gegenstand der "Aufmerksamkeit", es gewinnt psychische Bedeutung, bloß weil es neu ist, so zwar, daß selbst das infolge der Gewohnheit Unbeachtete, wenn der physiologische Reiz ausbleibt, als nicht mehr vorhanden beurteilt wird. Ich erinnere an den Müller, welcher durch das Stillstehen des Mühlrades, dessen Geräusch er gar nicht mehr hört, bzw. in seinen gesamten seelischen Lebenszusammenhang aufgenommen hat, aufgeweckt wird. Und wenn etwa äußere Einflüße jede weitere Erfahrungsmöglichkeit abschneiden oder in einem hohen Grad beschränken, - denn eine gänzliche Erfahrungsmöglichkeit ist der Tod -, dann kehren die alten Erfahrungen mit größerer Stärke zurück, in Form von Erinnerungsbildern tritt längst Vergessenes wie neu auf und schafft Trost in der Einsamkeit und Einförmigkeit des Gefängnisses oder des Krankenlagers. Das Alte wird zum relativ Neuen. Im Reichtum der Erfahrungen liegt der absolute Wert des Lebens. (Womit noch nicht gesagt sein soll, daß das individuelle Leben das absolute Wertvolle ist.) Umso gelebter ist das Leben, je mehr es dem Anspruch der Psyche, wechselnde, vielgestaltige Inhalte aufzunehmen, zu "erleben" gerecht wird. Und doch, wendet man ein, beneidet das Alter die Jugend. Um was? Doch wohl um ihre Kraft, ihre Genußfähigkeit, nicht um ihre Einsicht, um ihre Erkenntnis der Wirklichkeit, um ihre Urteilsfähigkeit. Abstrahierende Apperzeption. Würde das seelische Leben lediglich in Vorstellungen verlaufen, dann könnte von Werturteilen in einem anderen als dem eben bestimmten, in jedem Urteil anzutreffenden Sinn, nicht geredet werden. Aber die seelischen Inhalte haben, wie ja jedes Kind weiß oder wenigstens fühlt, das eigentümliche an sich, bald in diesen, bald in jenen Erregungszustand zu versetzen. Die Seele ist kein Spiegel, in dem sich die Objekte eines wie das andere klar und glatt abspiegeln, sie ist das Wasser, das seine Kreise zieht, wenn ein Stein hineingeworfen wird, sie ist das Meer, das still und unbewegt und wieder tobend und sturmgepeitscht, das sich freundlich und heiter und wieder empört und verderbendrohend gebärdet. Das Kind lacht die leuchtende Sonne an, es streckt das Händchen aus nach der farbigen Blume; es verbirgt sich erschrocken vor dem schwarzen Mann und bricht in Tränen aus bei einem rauhen Wort. Hier liegt die Wurzel des Werturteils, des ästhetischen Urteils. Jedenfalls ist nicht einzusehen, welch anderer als lediglich gradueller Unterschied zwischen der Lust oder Unlust besteht, welche an die einfachsten Inhalt geknüpft ist, und der Lust, welche beim Betrachten der kompliziertesten Gebilde, eines plastischen Kunstwerks oder dem Anhören einer Symphonie erregt wird. Das wird ja auch von seiten solcher zugegeben, welche der Psychologie die Fähigkeit absprechen, von sich aus ein ethisches oder ästhetisches Gebiet nur abzugrenzen. "Da die Psychologie," sagt COHN (2) "Wertunterschiede so wenig kennt, wie die Körperwissenschaft, so hat sie ansich kein Interesse daran, das ästhetische Gebiet als ein besonderes abzugrenzen und etwa von dem des Angenehmen zu unterscheiden. Der Gefühlsverlauf ist in beiden Fällen ähnlich, die Verhältnisse der Assoziation, das Einwirken der Gewöhnung, die Bedeutung der Aufmersamkeit bieten vewandte Bilder". Die Erlebnisse beim ästhetischen Anschauen und Schaffen fielen zweifellos in ihr (der Psychologie) Gebiet. Aber das Prinzip, den wesentlichen Wert festzustellen, sei ihr eine Unmöglichkeit. Ebensowenig sei die Psychologie, die es na nur mit Tatsachen zu tun hat, imstande, eine Wertung zu begründen, die mit dem Anspruch einer mehr als individuellen Geltung auftrete, einer Wertung, die einen "Forderungscharakter" (3) in sich schließt. Die Psychologie könne es nur mit dem Angenehmen, aber nicht mit dem Schönen zu tun haben, könne immer nur die Tatsache nachweisen, daß dieser bestimmte Inhalt mit einem Gefühl der Lust verbunden sei, nicht aber, daß er für andere mit einem Gefühl der Lust verbunden sein soll. Hier liegt in der Tat das Problem. Und es ist auch für die Psychologie ein Problem, wie ich dazu komme, den Inhalt, den ich als "angenehm" erlebe, einen "schönen" zu nennen. Es liegt uns hier fern, die Berechtigung zu bestreiten, auf einem anderem, logischen erkenntnistheoretischen Weg an die Erklärung dieser Tatsachen heranzugehen. Aber ebenso entschieden muß auch die Psychologie die Befugnis in Anspruch nehmen, eine Erklärung dieser "psychischen Tatsachen" mit ihren Mitteln zu versuchen. Die Frucht kann in doppelter Hinsicht Gegenstand der Lust sein, als Objekt der Anschauung und als Nahrungsmittel. In der einen und der anderen Hinsicht ist sie Objekt der Wertschätzung. Im letzteren Fall aber knüpft sich an das vorgestellte Objekt die Vorstellung von angenehmen Folgen, nämlich der Annehmlichkeit des Genusses. Aber nicht an die bloße Vorstellung war ursprünglich das Lustgefühl geknüpft, sondern an die Empfindungsvorstellung und nicht an die isolierte Empfindungsvorstellung, sondern an die zu weiteren Empfindungen, hier Geschmacksempfindungen übergehende Empfindungsvorstellung. Es war mein psychischer Zustand ein derartiger, daß die Geschmacksempfindung der Frucht in diesen sich ohne Widerspruch, ohne als ein störendes Element empfunden zu werden, einfügte oder sich gar bei ihrem Eintritt als etwas diesen allgemeinen seelischen Zustand Förderndes erwies. Es könnte ja auch der psychische Zustand als ein solcher gedacht werden - tatsächlich kommt das ja auch vor - wo die Geschmacksempfindung nicht als ein förderndes Element erlebt wird und daher mit einem Gefühl der Unlust auftritt. Man sagt. Das hat in physiologischen Veränderungen seinen Grund. Zweifellos. Denn "es wird am Ende keine körperliche Stimmung oder Verstimmung geben, die ganz ohne Nachhall im allgemeinen Empfindungsleben bliebe." (4) Das ist aber für uns kein Hindernis, das Lust- oder Unlustgefühl selbst als etwas durchaus subjektives, zur Empfindung hinzutretendes aufzufassen, zumals dieselben Gefühle auch ohne Vorhandensein der betreffenden Empfindungen eintreten können, wenn eben das gesamte Vorstellungsleben auf einen derartigen Ausdruck abzielt. Nun ist es verständlich, wie die Frucht, die einmal Gegenstand meiner Lust war, Objekt meines Begehrens werden kann. Eine atomistische Psychologie steht schon vor der Tatsache des Begehrens hilflos da. Der einzelne Inhalt, auch wenn er noch so lustvoll war und als solcher reproduziert wird, ist deshalb noch nicht ein begehrter. Die erlebte Lust wird reproduziert. Aber das ist nicht die wirkliche Lust. Ich kann sogar erstaunt sein, daß dieser Inhalt früher für mich lusterregend war, jetzt ist er mir sogar widerwärtig. Also die Tatsache, daß ein Inhalt einmal für mich lusterregend war, sagt nicht, daß derselbe auch jetzt unter allen Umständen für mich lusterregend ist. Mit anderen Worten, die gewesene Annehmlichkeit verbürgt mir nicht die jetzige Annehmlichkeit desselben, oder ich habe nicht das Recht zu sagen, dieses Objekt ist angenehm für mich. Ich kann immer erst darüber etwas aussagen nach dem Erlebnis. Es bliebe dieser Psychologie nicht einmal die Möglichkeit, ein Gebiet des "Angenehmen" herauszuheben. Man würde ihr zuviel zutrauen, auch nur eine individuelle Wertung zu begründen, da ja dasselbe Objekt bald von diesem, bald von jenem Gefühl begleitet hinsichtlich seiner Gefühlswirkung auch für das Individuum nicht mit einen einheitlichen Prädikat bezeichnet werden könnte. Aber die Sache verhält sich anders. Wenn ich ein Objekt als angenehm beurteile vor dem Genuß, so sage ich zweifellos etwas aus, was über meinen gegenwärtigen Erfahrungsbestand hinausgeht. Ich sage: dieses Objekt ist Gegenstand der Lust gewesen. Sodann, wenn ich das als angenehm vorgestellte Objekt begehre, ist darin das Urteil enthalten, daß ich erwarte, das vorgestellte Objekt werde in der Empfindung für mich lustvoll sein. Wie komme ich dazu, so etwas zu erwarten? Weil mein gegenwärtiger psychischer Gesamtzustand derselbe ist, oder Ähnlichkeit hat mit dem früheren Gesamtzustand, der durch das vorgestellte lusterregende Objekt reproduziert wird. Denn auf das Objekt als lustbetontes achten, was heißt das anderes, als eben den Vorstellungskomplex in jenem Erfahrungszusammenhang erleben, in dem derselbe mit einem Gefühl der Lust auftrat? Sind nun die psychischen Gesamtzustände dieselben, oder in hohem Grade ähnlich, dann ist der Fortgang auch im jetzigen Erleben ein ähnlicher, d. h. die Vorstellung des lusterregenden Objekts drängt sich mir auf, sie zeigt an, worauf gegenwärtig mein psychisches Leben gerichtet ist. Aber nicht auf Vorstellungen war dieser Gesamtzustand gerichtet, sondern auf Empfindungsvorstellungen. Das Dasein der Vorstellung befriedigt nicht. Die Vorstellung hat die Tendenz zur Empfindung zu werden, d. h. ich begehre das Objekt. Das Begehren ist die Grundlage des Werten (wir denken hier nicht an die ästhetischen Werturteile), aber es ist nicht das Werten selbst. Das Bewußtsein des Wertens kann bestehen neben und über dem Bewußtsein des Begehrens. Ich bin durstig. Ich begehre zu trinken. Aber ich bin erhitzt, und ich sage: das Trinken ist schädlich, und ich trinke nicht. Welche Tatsache kommt hier zum Ausdruck? Ich begehre zu trinken, weil ich eben durstig bin, weil mein Zustand es so fordert. Ich trinke nicht. Etwa, weil das Wasser schädlich ist? Sage ich etwa?: das Wasser ist wertlos. Keineswegs, ich kann sogar vom hohen Wert des Wassers überzeugt sein. Aber dieses Bewußtsein ist kein absolutes. Es stellt sich die Vorstellung meines gegenwärtigen Zustandes ein. Es werder die Vorstellungen der üblen Folgen reproduziert, welche sich an den Genuß des Wassers in einem solchen Zustand knüpfen. Diese Folgen muß ich auch jetzt erwarten. Ich muß. Es liegt nicht in meinem Belieben. Diese Vorstellungen der Folgen sind selbstverständlich, je nach ihrer Energie, mit der sie im seelischen Leben zur Geltung kommen, ebenfalls mit einem Gefühl des Strebens oder Widerstrebens verbunden, Streben, wenn auf Gesundheit geachtet wird, die geschädigt wird, Widerstreben, wenn geachtet wird auf die Folgen, welche die Schädigung herbeiführt. Ich habe ein Urteil: Genuß kalten Wassers in erhitztem Zustand ist schädlich. Mein Urteil enthält nicht mehr einen einzelnen Fall, es trifft zu auf alle Fälle, bei welchen die Bedingungen die gleichen sind. Ich kann gar nicht anders, als daß ich erwarte, daß, was unter gewissen Bedingungen geschieht, unter denselben Bedingungen jederzeit eintritt, das verlangt die Gesetzmäßigkeit des menschlichen Geistes, die eine psychologische Tatsache ist. Wir werden ihr unmittelbar inne. Nicht als einer einzelnen Tatsache, sondern wie richtiger gesagt werden kann, als einer Tatsächlichkeit. Wenn wir etwas erwarten, enttäuscht, überrascht werden und uns Rechenschaft über diese Vorgänge geben, dann stoßen wir auf die Tatsächlichkeit der Gesetzmäßigkeit des Geistes. Diese aufzuzeigen, gelingt der psychologischen Analyse. Es wurde behauptet, daß Erwarten, Enttäuschung, Überraschung, Befriedigung (erfüllte Erwartung) psychische Phänomene seien, in denen die Gesetzmäßigkeit des menschlichen Geistes als eine Tatsächlichkeit zur Geltung kommt, noch mehr, beobachtet wird. Ich sehe das Leuchten des Blitzes und erwarte den Donner. Das Erwartete tritt ein, ich bin befriedigt. Das Erwartete tritt nicht ein. Was beobachte ich nunmehr? Ein Gefühl der Enttäuschung. Der Fortgang von der Wahrnehmung des Blitzes erfordert die Wahrnehmung des Donners. Auf A folgt B. Bin ich berechtigt, für den konkreten Fall ein allgemeines Gesetz einzuschieben als eine beobachtete Tatsache oder Tatsächlichkeit? Ich glaube, ja. Denn so gut ich von den qualitativ verschiedensten Wahrnehmungsinhalten all die verschiedenen Bestimmungen zurücktreten lassen kann, bis auf das eine "Wahrnehmungsinhalt", Gegenstand einer Empfindng, ebenso wirkt die im konkreten Fall beobachtete Beziehung: "auf Gleiches folgt Gleiches" selbständig und läßt sich im Bewußtsein nachweisen. Es ist die Bedingung, die apriorische Voraussetzung, die vor aller Erfahrung liegt, aber deshalb doch nicht der erfahrenden Beobachtung entzogen zu sein braucht. Es stützt sich deshalb die Anwendung dieser Bestimmung nicht auf eine bloße "Behauptung" (5), von ihr Gebrauch zu machen ist auch keine "Inkonsequenz", sondern ihre Anwendung ist ebenso berechtigt wie etwa der Begriff "Assoziation", die kein Bewußtseinsinhalt ist, sondern nur die Weise, wie sich psychische Inhalte verknüpfen. Zwei Momente im Wertbegrif (soweit er das Außerästhetische in sich faßt) sind bisher auf allgemeinere psychologische Tatsachen zurückgeführt.
2. Im Werten steckt mehr als die Aussage über ein gegenwärtiges Erlebnis. Die Leichtigkeit, Klarheit und Sicherheit der Auffassung des Objekts sind zweifellos keine Merkmale des Objekts selbst, sondern Verhaltensweise, die das Subjekt beim ästhetischen Beschauen erlebt. Insofern das künstlerische Objekt betrachtet wird als das ästhetische Lustgefühl hervorrufende, wird es mit einem Wertbewußtsein vorgestellt. Ist so die Psychologie imstande, die Gebiete des Logischen, Ethischen und Ästhetischen abzugrenzen, dann bedarf sie auch nicht anderer Hilfsmittel als ihrer eigenen, um innerhalb dieser Gebiete Wertunterschied zu erkennen und zu bestimmen. Ich habe das Bewußtsein, ein Taler ist mehr wert als ein gewisses Buch. Und ich habe das Bewußtsein, ein gewisses Buch habe mehr Wert als ein Taler. Ich ziehe den Besitz eines Objekts dem eines andern vor. Ich kümmere micht um den Verlust eines Gegenstandes. Der Verlust eines anderen läßt mich gleichgültig. Ich zahle eine hohe Summe für ein Kunstwerk, das mich entzückt. Ich nehme Entbehrungen auf mich, um in den Besitz eines Vermögens zu gelangen. Das sind tatsächliche Wertunterschiede, die ich mache. Macht sie deswegen ein anderer auch? Vielleicht stimmt er in manchem mit mir überein, in vielem nicht. Kommt es darauf an? Nein. Sondern, daß ich richtig werte. Und wann werte ich richtig? Wenn ich jedem Ding den Wert beimesse, den es für mich hat. Wenn ich Nichtraucher bin, ist der Besitz einer Kiste Zigarren für mich wertlos als Mittel, den Genuß des Rauchens zu verschaffen, in anderer Hinsicht kann es einen Wert haben. Ich kann anderen eine Freude machen. Das ist für mich wertvoll. Das ist eine eigene Freude, die ich erlebe. So gehen wir im Werten zurück auf unsere eigenen Erfahrungen, wir prüfen die Objekte auf ihre Fähigkeit, uns das erleben zu lassen, um dessen willen die Objekte wertvoll sind. Wir betrachten sie unter dem Gesichtspunkt, in welchem Grad, in welchem Umfang und in welcher Dauer sie Bedingungen unserer Lust oder Unlust sein können. Gibt es nun in der Lust oder Unlust Unterschiede der Stärke, des Umfangs, der Dauer, und ist der Unterschied zwischen Lust und Unlust selbst eine psychologische Tatsache, dann ist die Psychologie eo ipso befähigt, Wertunterschiede zu begründen. Ja, sie allein. Es war eben schon die Rede vom "Forderungscharakter", um den COHN'schen Ausdruck zu gebrauchen, welchen die Werturteile, die ästhetischen wie die ethischen, besitzen. Es liegt in dieser Bezeichnung indessen eine Zweideutigkeit. Das Urteil hat "Forderungscharakter", kann den Sinn haben: es erhebt den Anspruch, vom Urteilenden selbst anerkannt zu werden. Ersteres wird gemeint, wenn man sagt: Der Hummer mag mir angenehm schmecken; ich denke aber nicht daran, das Urteil: "der Hummer schmeckt angenehm," für einen anderen als gültig zu betrachten. Wohl aber tue ich dies, wenn ich das Urteil fälle: "Die Rose ist schön". "Die Handlung ist edel". Es ist nun gewiß richtig, daß wir uns sehr häufig bei unseren Urteilen bewußt sein, daß wir kein Recht haben, die Geltung derselben bei anderen vorauszusetzen. Warum aber ist das der Fall? Weil ich weiß, daß die subjektiven Bedingungen, welche bei mir vorhanden sind, beim anderen nicht vorliegen oder wenigstens nicht ohne weiteres anzunehmen sind. Von einem Gourmet aber werde ich gerade erwarten, daß er mein Geschmacksurteil teilt und so seine Kennerschaft beweist. Doch wir gebrauchen Prädikate wie "angenehm", "erfreuliche", "lustvoll", ja auch in Fällen, wo wir keineswegs an unsere subjektiv besonders geartete Disposition denken. "Die Temperatur ist angenehm." Gewiß will ich damit nicht sagen, daß lediglich ich diese Erfahrung mache. "Das Wesen eines Menschen ist unangenehm." Sicherlich nicht nur für den Sprechenden. Andererseits gebe ich das Prädikat "schön", Erlebnissen, welche bloß von mir erlebt wurden, und deren Möglichkeit, von anderen in gleicher Weise beurteilt zu werden, weil sie nie wiederkehren, völlig ausgeschlossen ist. Verbindungen, wie "ein schöner Abend", "ein schöner Sonnenaufgang", werden in der bewußten Absicht gebraucht, dem Hörenden ein individuelles Erlebnis des Redenden mitzuteilen. Auch fällt es uns nicht ein, die Annahme von Werturteilen, deren "Forderungscharakter" doch unbestritten ist, von solchen zu erwarten, von denen wir wissen, daß ihnen das Verständnis, das absolute oder momentane, für den behaupteten Wert abgeht. Von einem Kranken erwarten wir nicht, daß unser Urteil: "die Speise ist gut" als gültig angesehen wird, da wir ja nicht einmal dieselbe Geschmacksempfindung, die wir haben, in ihm voraussetzen dürfen. "Forderungscharakter" im Sinne des Anspruchs einer Anerkennung von anderen ist so wenig ein besonderes Merkmal der ästhetischen und ethischen Urteile, daß derselbe vielmehr jedem Urteil ansich zukommt und nur durch die Wirksamkeit bestimmter Faktoren außer Kraft gesetzt wird. Der "Forderungscharakter" ist vielmehr ein immanenter (8). Das Urteil tritt auf mit dem Anspruch, sich zu behaupten, sich Geltung zu verschaffen, zu bestehen neben den anderen Werturteilen, die ich vollziehe. Warum? Weil ich es erfahren habe. Der Wert ist geknüpft an das Objekt. das Objekti ist das "schöne" oder das "gute". Was mich jetzt persönlich betrifft, ist in einem späteren Zeitpunkt von meinen gegenwärtigen Inhalten losgelöst, mir fremd geworden, objektiviert. Ist damit nun gesagt, daß ich es immer für "schön" oder "gut" erlebe? Tatsächlich ist dies nicht der Fall. Oder richtiger: Mein gegenwärtiges Werthalten ist an andere Objekte geknüpft. Dem Vermögen, durch Objekte lust- oder unlustvoll angeregt zu werden, ist ja keine Schranke gezogen. Die Masse der "schönen" und "guten" Objekte, wie der "häßlichen" und "schlechten" ist deswegen eine stetig zunehmende. Das Material zu neuen Urteilen drängt unaufhaltsam nach. Die Gegenwart hat nicht weniger ihre Rechte wie die Vergangenheit. Der Augenblick bietet oft Wertvolleres als ein langer Tag. Gleichwohl, wie immer neue Erfahrungen die Bedeutung der Objekte für mich in ein neues Licht setzen mögen, frühere Erfahrungen können die späteren nicht ungeschehen machen. Dagegen freilich, daß ich jetzt, unter diesen subjektiven Bedingungen, an diesem Gegenstand Gefallen finde, oder diesen Gegenstand erstrebe, diesen Erfolg zu erreichen suche, läßt sich absolut nichts einwenden. Wer sollte es tun? Das empirische Augenblicks-Ich von gestern, vor einem Jahr war ein anders bedingtes, es mußte sich anders verhalten. Aber wenn ich nun den Versuch mache, meine gegenwärtig erlebte Lust oder Unlust an das Objekt zu heften und dieses von meinem Ich abstrahierend, aufgrund dieses gegenwärtigen Verhaltens zu bewerten, dann machen sich die früheren Erfahrungen geltend, in dem mir zu Bewußtsein kommt, für welche gleichartigen oder entgegengesetzten Erlebnisse in einem Objekt die objektiven Bedingungen gegeben waren. Ich erlebe ein Gefühl der Zustimmung, der Billigung oder des Widerspruchs, der Mißbilligung. Das ästhetische oder ethische Gewissen wird wach. Nicht als ob dieses darin bestände, daß es die Unterdrückung des gegenwärtigen Werturteils durch die früheren forderte; was es verlangt, ist, daß das gegenwärtige Urteil sich einfügt in den Zusammenhang der bestehenden Urteile, daß, wenn es seine Umwandlung vollziehen soll zu einem über den Wert der Objekte etwas aussagenden Urteil, auch die sämtlichen in diesem Objekt gegebenen Bedingungen mitreden läßt; es verlangt Einstimmigkeit, Widerspruchslosigkeit im Werten, wie das logische Gewissen Einstimmigkeit, Widerspruchslosigkeit im Denken fordert. Ein so zustande gekommenes Urteil ist dann nicht mehr das Urteil des gegenwärtigen empirischen Ichs, sondern der ganzen Persönlichkeit, die wertet aufgrund ihrer gesamten Erlebnisse, soweit dieselben mehr oder weniger psychisch wirksam sind. Es leuchtet ein, daß diese Urteile, soweit sie einen bestimmten Inhalt haben, stets nur relative Bedeutung haben können und daß der "Forderungscharakter" des Urteils aufhört, sobald eben im Bestand der objektiven Bedingungen eine Verminderung vor sich gegangen ist. Niemand stellt auch in der Tat an Urteile, die sich auf Erfahrungen gründen, das Ansinnen, der ferneren Beeinflussung durch weitere Erfahrungen entzogen zu sein. Daß wir tatsächlich in logischen, ethischen und ästhetischen Urteilen eine gewisse Konstanz erfahren, beweist nur, daß einerseits die subjektiven Bedingungen, unter denen wir urteilen, sich wiederholen, bzw. eine gewisse Konstanz bewahren, andererseits das Erfahrungsmaterial in gleicher Beschaffenheit uns zuströt, beweist jedoch nicht, daß diese Urteile nunmehr die "Normen" seien, an denen wir die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der anderen Urteile zu prüfen hätten. "Was die Norm in allen Fällen zur Norm macht," sagt WINDELBAND (9), "ist die Beziehung auf den Zweck der Allgemeinheit." "Die Luft ist notwendig zum Leben." Dies ist ein Urteil, dessen Wahrheit ich unter den verschiedensten Bedingungen erfahren habe, an dem zu rütteln mir nicht einfällt. Es dient mir zur Beurteilung anderer Urteile, die mir etwa mitgeteilt werden. Und doch habe ich in die Allgemeingültigkeit dieses Urteils schon eine Bresche geschlagen, wenn mir die Erfahrung bewiesen hat, daß ich kurze Zeit ohne Lufteinnahme bestehen kann. Und wenn ich nun etwa in vollständig glaubwürdiger Weise darüber belehrt werden, daß sich ein Fakir in einen schlafähnlichen Zustand versetzte, wo das Atemholen vollständig ausgesetzt wurde, werde ich dann jenes Urteil in seiner unbedingten Allgemeinheit bestehen lassen? Auf Erfahrungen begründete Urteile können durch Erfahrung modifiziert werden. Es gibt keine Normen, die nicht durch die Erfahrung ihrer bindenden Kraft verloren gehen könnten, es sei denn die Norm, welche besagt: Folge in deinem Urteil deinen Erfahrungen und der Gesetzmäßigkeit des Geistes. Andere Normen sind überflüssig für die psychologische Betrachtungsweise. Dasselbe gilt auch von den ästhetischen und ethischen Normen. Habe ich bei der ästhetischen Betrachtung eines Objekts, die besteht nach LIPPS (10): "in einem vollkommenen Sichhineinversenken in das Objekt, in alles, was das Objekt uns unmittelbar sagt, in einem Absehen vom Wirklichkeitszusammenhang, in einem Nicht-Fragen, ob objektive Realität vorhanden ist oder nicht, in einem Beiseitelassen aller Nützlichkeitsinteressen" ein Gefühl des Wohlgefallens erlebt, des vollkommensten, durch keinen Mißton gestörten Wohlgefallens, dann bin ich wohl geneigt, diesem Objekt nicht nur das Prädikat "schön" beizulegen, sondern auch bei anderen Urteilen mich auf dasselbe zu beziehen, jenes gleichsam als Maßstab zu benutzen, nach welchem ich die Fähigkeit anderer Objekte, einen ähnlichen Eindruck zu erzielen, bemesse. Wird diese Tatsache für mich ein Hindernis sein, bei der erneuten Betrachtung des Kunstwerkes vielleicht auf dieses oder jenes Detail aufmerksam zu werden, das in jener Harmonie wie ein störendes Element wirkt und das nicht mehr gestattet, in diesem Objekt ein vollkommenes Kunstwerk zu sehen? Es gibt keine ästhetische Norm als die auf das eigene Erleben begründete. Diese Norm heißt: du sollst dem Objekt die Möglichkeit geben, zu dir zu reden. Du sollst nichts anderes von ihm verlangen, als was es bieten will, durch die Anschauung zu gefallen. Und wenn gegen diese Norm gesündigt wird etwa durch einen Mißbrauch der Kunst zu Zwecken des Sinnesreizes, dann erhebt das ästhetische Gewissen Einspruch: "Du gibt etwas für schön aus, was schamlos ist." Insofern sich Einspruch dagegen erhebt, daß etwas für schön ausgegeben wird, ist dies doch Sache des ästhetischen Gewissens; daß dann das angeblich Schöne auch in anderer Hinsicht positiv gewertet wird, rührt von der Tätigkeit des ethischen Gewissens her. Oder: "Weil du dieses Gemälde bloß mit den Augen des Naturforschers betrachtest und auf seine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit prüfest, bleibt die die innere Schönheit desselben verborgen." Hier haben wir zunächst das Urteil des logischen Gewissens. Es ist aber zugleich darin implizit die ästhetische Forderung enthalten: "Du sollst beim Betrachten eines Kunstgegenstandes vom Wirklichkeitszusammenhang dem Nützlichkeitsstandpunkt usw. absehen," oder "wenn man die Schönheit eines Kunstwerks auf sich einwirken lassen will, muß man von allen außerkünstlerischen Momenten absehen." In dieser oder ähnlicher Form spricht sich die ästhetische Norm aus, die zurückgeführt werden kann auf die Tatsache: ein rein ästhetisches Wohlgefallen oder Mißfallen stellt sich ein beim interesselosen Betrachten eines Gegenstandes, beim Vorhandensein der Bedingungen, welche weiter oben als zum ästhetischen Genuß für unerläßlich bezeichnet werden, und die - da ja nicht eine besondere ästhetische Theorie aufgestellt werden soll - als den psychologischen Tatbestand erschöpfend angenommen wurden. (Es kommt ja für unsere Frage nicht auf die Einzelheiten an.) Wäre dieses ästhetische Gewissen faktisch nicht in Tätigkeit getreten, dann wäre gar nicht einzusehen, wie das Nichtvorhandensein jener Bedingungen, für den rein ästhetischen Genuß überhaupt nur bemerkt werden könnte. Der Banause, bei welchem das ästhetische Gewissen die feine Durchbildung noch nicht erfahren hat, wird einen solchen Vorwurf, wie er sich in unserer Annahme und weiter oben äußert, nicht erleben. In ihm war eben die künstlerische Genußfähigkeit noch nicht zu der Differenzierung fortgeschritten, die ihn beim Betrachten des Kunstwertes die Rücksicht auf den Dekalog oder die Beachtung des LINNÉ'schen Systems ausscheiden hieß. Es wird in § 6 das Bewußtsein des "Sollens" näher analysiert. Dort wird nachgewiesen, daß dasselbe jeweils auf tatsächliche Erlebnisse zurückgeführt werden kann. Die tatsächlichen Erlebnisse, auf welche in unseren Beispielen zurückgegangen werden kann, sind Vorkommnisse, in denen sich beim Betrachten von Objekten ein ästhetisches Wohlgefallen eintrat und damit assoziativ das Wort "schön" verband. Dieses Erlebnis wirkt fort und nimmt nach Umständen die Form des Gewissens, einer Norm, einer Forderung an, wenn nämlich eine der Bedingungen nicht erfüllt ist und gleichwohl der Anspruch erhoben wird, den gegenwärtigen Zustand mit dem früheren Zustand durch ein und dieselbe Benennung identisch zu setzen. Wir erfahren nun die Wirksamkeit des früheren Erlebnisses. Das war ästhetischer Natur. Das erhebt Einspruch gegen die Einreihung des jetzt Beobachteten in die mit "schön" zu benennenden Objekte. Es ist jedoch nicht notwendig, daß dies ausdrücklich geschieht, wenn auch jedesmal beim Verweilen, bei näherer Analyse, dasselbe herausgehoben werden kann und, wie gesagt, auch in unseren Fällen implizit enthalten ist. Die Normen, nach welchen wir die einzelnen Handlungen einer Beurteilung unterziehen, sind uns entweer von anderen überliefert, oder sie sind unser eigenes Werk, in uns entstanden. Die Frage, ob eine Norm überhaupt durch Überlieferung in uns entstehen kann, wird weiter unten eingehender zu untersuchen sein. Hier obliegt uns zunächst die Aufgabe, nachzuweisen, daß dasjenige Erlebnis, welches den wesentlichen Charakter der Norm ausmacht, welches das "Tatsächliche" vom "Aufgegebenen" unterscheidet, das Sollen, einer psychologischen Erklärung sehr wohl zugänglich ist. Zunächst kann ja nicht bestritten werden, daß das Sollen eine Tatsache des Bewußtseins ist. Wer ein Sollen noch nicht erlebt hat, dem würde man es unmöglich begreiflich machen können. In der Körperwelt gibt es kein Sollen. Da kann man nur von einem Geschehen reden. Auch die psychischen Vorgänge sind ein Geschehen, das gesetzmäßig verläuft. Würden wir uns lediglich betrachtend verhalten, ohne in den Inhalten des Bewußtseins eine Scheidung vorzunehmen, dann würden wir kein Sollen erfahren. Wir erleben dasselbe ja auch nicht, wenn wir die Dinge lediglich betrachten. Wir erleben es, wenn wir die Dinge werten, in jenem allgemeinsten Sinne, über den wir uns in § 1 dieses Abschnittes verbreiteten, daß wir uns nämlich den Inhalten gegenüber in verschiedener Weise verhalten, wenn wir also "Werten" fassen im Sinne einer Aussage über die Bedeutung des Inhaltes für mich gefaßt im weitesten Sinne, im Bewußtsein der Zugehörigkeit des Gefühls zum Vorstellungsinhalt, welches Bewußtsein durch Worte fixiert werden kann. Daß etwas Objekt ist, selbständig mir gegenübertritt, ist auch schon ein Wert, der Wert des Objektseins, der Wert der Fähigkeit, mich in einer bestimmten Weise zu affizieren. Die Inhalte, die ich als objektive bewerte, haben gleichsam etwas mehr, es kommt noch etwas hinzu, was den subjektiven Gebilden fehlt, eben das Charakteristikum, das die Empfindungsvorstellung vor der Phantasievorstellung auszeichnet. In Urteilen, wie: "es ist nicht Wirklichkeit", "es ist nur Einbildung", "es ist ein leeres Phantasiegebilde", ein "Hirngespinst" treten diese fundamentalsten Wertunterschiede zutage. Ein "Wahn", das ist etwas Verächtliches im Gegensatz zur Wirklichkeit. "Träumer", "Phantast", sind Benennungen mit einer geringschätzigen Note. Selbst das Wort "Dichter" entbehrt nicht immer eines solchen Beigeschmacks. Man denke an das Gefühl, das der "Poet" in SCHILLERs "Die Teilung der Erde" wenigstens anfänglich erweckt. Das "Sollen" ist also ein Bewußtseinserlebnis, genauer ein Gefühl. Eine inhaltliche Modifikation erfolgt durch dasselbe nicht. Das "Sollen" haftet nicht an einem bestimmten Inhalt. Wenigstens an keinem gegenwärtigen. Es zielt auf einen Inhalt ab. Aber wenn er da ist, wird er nicht mehr gesollt. Dann ist das Sollen befriedigt. Die Forderung ist erfüllt. Das Sollen ist Ausdruck einer Forderung. "Aber mit Forderungen kann es die Psychologie nicht zu tun haben, nur mit Tatsachen." "Auch Bedürfnisse sind Tatsachen," sagt dagegen LIPPS (11). Eine Forderung würde nicht erhoben werden, wenn alles "in Ordnung" wäre. Es fehlt etwa, es liegt ein Bedürfnis vor. Allerdings ein Bedürfnis anderer Art, als wenn ich Hunger habe, aber immerhin ein Bedürfnis. Ein befriedigtes Bedürfnis in einem gewöhnlichen Sinn ist von einem Gefühl der Lust begleitet. Sonst wäre es ja nicht "befriedigt". Ein befriedigtes Sollen kann von der heftigsten Unlust begleitet sein. Daß das Sollen befriedigt ist, ist freilich auch eine Lust, aber eine Lust eigener Art. Diese Lust hat es "Befreiendes". Es ist, als ob das Ich nun ganz sich selbst, seinem "besseren Selbst" gehört und keinen fremden Herr neben sich duldet. Zweifellos enthält das Sollen eine "Aufgabe". Aber diese Aufgabe ist erfüllt, wenn das Sollen befriedigt ist. Die Aufgabe ist somit keine unerfüllbare. Und die Lösung der Aufgabe liegt im Bereich des individuellen Ich. Das Sollen weist nicht hinaus über das Ich, sondern weist in diesem "zurecht", was als eine Störung, eine Ungehörigkeit empfunden wird. Daß sich diese Aufgabe stets von Neuem wieder aufdrängt, ist kein Beweis dafür, daß die frühere Aufgabe nicht gelöst wurde, sondern nur, daß angesichts des neuen Erfahrungsmaterials dasselbe zu tun ist, wie mit dem bereits "geordneten". Würden wir uns die Erfahrungen als abgeschlossen denken, dann könnten wir ebenso die Aufgabe als eine definitiv gelöste betrachten, wenn in diesem Stadium des Erfahrungsabschlusses das Sollen befriedigt wäre. Aber die Erfahrungen sind freilich nie abgeschlossen, und das Sollen heftet sich stets an dieselben. Aber dann ist es nicht das Sollen, das hinausweist, über das Ich, sondern die Tatsache, daß das Ich stets erfahrungsbedürftig ist. Aber diese Erfahrungsbedürftigkeit würde nicht über das Ich hinausweisen, wenn nicht in und mit dem Erfahren selbst dieses über das Ich hinausweisende Element gesetzt wäre. Doch diese Frage berührt uns hier nicht. Wie zum Wollen das Bewußtsein der Ausführbarkeit des Gewollten gehört, so auch zum Sollen das Bewußtsein der Möglichkeit des Gesollten. "Du kannst, denn du sollst." Ist die Erkenntnis der Unerfüllbarkeit vorhanen, dann hört auch das Bewußtsein des Sollens auf. Selbst wenn man die Möglichkeit in eine über das individuelle Ich hinausgehende Welt verlegt, was tut man dann anderes, als daß man die Erfüllbarkeit an Bedingungen knüpft, die jetzt noch nicht gegeben sind, das Sollen also für die jetzigen Verhältnisse suspendiert? Ich habe durchaus nicht das Bewußtsein, daß ich jetzt vollkommen sein soll, sondern nur daß ich den Pflichten, welche die gegenwärtige Lage mir auferlegt, nach Maßgabe meiner Kräfte gerecht werden soll. Dabei weiß ich freilich, daß die Zukunft mir weitere sittliche Aufgaben stellen wird, daß ich einem sittlichen Ziel zustrebe. Aber dieses verstandesmäßige Sollen ist ein anderes, als das gefühlsmäßige Sollen. Jenes läßt mich sozusagen kalt, bei diesem fühle ich mich hingetrieben etwas zu tun, oder zu unterlassen. In der Nichtbeachtung dieses Unterschieds im Sollen liegt die Queller vieler Mißverständnisse. - Ich weiß, daß mir immer Aufgaben gestellt sein werden. Woher weiß ich das? Weil so oft auch ein Sollen sich befriedigte, sich ein neues Sollen einstellt. Die Reproduktion meiner Persönlichkeit und Verlegung derselben in die Zukunft schließt auch das Element des Sollens in sich. Da dieses reproduzierte Sollen aber losgelöst ist von jedem empirischen Inhalt, entbehrt es auch der Fähigkeit, die Persönlichkeit in einer bestimmten Richtung zu erregen und zu lenken. Daher die Unfruchtbarkeit der intellektualistischen Ethik. Nachdem die psychologische Beobachtung das Wesen des Sollens, die Wirkungen desselben im Bewußtseinsleben ermittelt hat, bleibt noch die Bedingungen zu untersuchen, unter welchen dasselbe auftritt. Diese Bedingungen sind nicht gegeben in dem Umstand, daß ein Inhalt erstrebt oder verabscheut wird. Erstreben und Sollen und Verabscheuen und Nicht-Sollen decken sich nicht. Ich sehe einen Menschen, der sich in epileptischen Zuckungen auf dem Boden windet. Der Anblick ist mir widerwärtig. Und doch vernehme ich die Stimme: Du sollst dem armen Menschen deinen Beistand leihen. Nimmt diese Forderung auf meine individuelle (Beschaffenheit) Verfassung, Rücksicht? Keineswegs. Von dieser wird sogar abgesehen. Wie dies möglich ist, ist § 2 dieses Abschnitts gezeigt worden. Also der Zustand des Kranken wird beurteilt. Der arme Mensch ist hilfsbedürftig. Hilfsbedürftigkeit ist ein Motiv, Hilfe zu bringen. Die Hilfsbedürftigkeit hört auf oder nimmt ab, wenn Hilfe gebracht wird. Das habe ich erkannt. Das sagt mir meine Erfahrung. Wenn diese es freilich noch nicht sagt, d. h. wenn meine Erfahrung noch nicht so weit gediehen ist, oder infolge meiner momentanen Beschaffenheit unwirksam ist, dann kann der Anblick des elenden Menschen auch kein Motiv sein, ihm beizustehen. Es kann auch keine Forderung, kein Sollen an mich herantreten, dies zu tun. Diese Erwägung allein schon sollte davon abhalten, die Bedingung des Sollens irgendwo anders zu suchen, als im individuellen Ich. Eine Handlung schwebt als Ziel vor, weil ich weiß, daß mit dem Eintritt dieser Handlung ein gegenwärtig unangenehm empfundenes Stück der objektiven Wirklichkeit verschwindet, weil ich den kausalen Zusammenhang, der zwischen den Glieern: Hilfsbedürftigkeit - Hilfeleistung - Erleichterung besteht erkenne. Diese Erkenntnis ist eine tatsächliche. Mein Wollen, meine Hilfeleistung ist also begründet auf erkannte Tatsachen. Es ist ein objektiv bedingtes Wollen, das von meiner gegenwärtigen Verfassung unabhängig ist (12). Wir können in den Gang der Tatsachen eingreifen, indem wir demm erkannten Zusammenhang der Tatsachen folgen. Im letzteren Fall sagen wir, daß wir dieses oder jenes wollen aus diesem oder jenem Grund. Wir können die Tatsachen nicht ändern, also können wir auch das Wollen nicht ändern. Wir wollen, nicht weil es uns so paßt, sondern weil es die Tatsachen so von uns verlangen. Bestreiten, daß Tatsachen etwas verlangen, heißt die Wirkung der Assoziation leugnen, heißt die psychischen Vorgänge in eine rudis indigestaque moles [eine rohe ungeordnete Masse - wp] verwandeln, von denen keines das andere etwas angeht. Als ob nicht schon das Herausheben einer einzelnen Bewußtseinstatsache ein Akt der Abstraktion wäre, welche jene künstlich vom seelischen Gesamterleben isoliert. Stehen so die Inhalte in den mannigfaltigsten Beziehungen unter sich und zum gesamten seelischen Leben, uns zwar so, daß der eine die Bedingung für das Auftreten eines anderen ist, so läßt sich, falls dieser, aus irgendeinem Grund ausbleibt, sagen, jener Inhalt oder jener psychische Vorgang verlangt einen anderen. Es fällt mir der Name einer Person nicht ein. Ich besinne mich, d. h. die Vorstellung des Namens der Person ist mit einem Gefühl des Strebens verbunden. Dieser und jener Name kommt mir auf die Zunge oder wird mir genannt. Er ist nicht der richtige. Er wird abgelehnt vom Vorstellungskomplex der Person. Er verträgt sich nicht mit dieser. Die Unverträglichkeit von Vorstellungsinhalten wäre also das Gegenteil von "verlangen". Der richtige Name wird genannt. Das Gefühl des Strebens ist befriedigt. Eine Tatsache verlangt etwas, heißt demnach: Ein psychischer Vorgang ist die Bedingung für das Eintreten eines anderen psychischen Vorgangs. Die Norm, die dabei vorausgesetzt ist, ist die Gesetzmäßigkeit des psychischen Lebens. Ist das Begehren infolge der subjektiven Bedingungen auch auf ein anderes Ziel gerichtet, die erkannte Tatsache bleibt doch bestehen, und das Wollen ebenfalls. Und dieses Wollen macht sich geltend. Eben dann, wenn mein gegenwärtiges Begehren im Gegensatz steht zum erkannten objektiven Wert einer Handlung. Dem armen Menschen zu helfen ist etwas wertvolles. Oder ich will diese Handlung. Nun steht dem mein Widerwille entgegen. Und jetzt sage ich: Ich soll Hilfe leisten. Ich habe meinen Widerwillen überwunden. Dann hört das Gefühl des Sollens auf. Ein Gefühl der Befriedigung stellt sich ein. War aber mein Widerwille stärker und ging ich kalt vorbei, dann wird dieses Verhalten mißbilligt. Ich sage: ich hätte dem Menschen helfen sollen. Das Sollen ist objektiv begründetes Wollen. Subjektiv ist das Wollen, wenn es bedingt ist von meinem gegenwärtigen Zustand. Ich trinke, weil ich durstig bin. Objektiv ist das Wollen, wenn es begründet ist durch den erkannten Zusammenhang der gewerteten Objekte. Ich trinke, weil ich weiß, daß das Trinken den Durst löscht und ohne Nachteil geschehen kann. Ich kann hier nur auf LIPPS' "Ethische Grundfragen" verweisen, dessen Darlegungen hier akzeptiert sind. Voraussetzung für das objektiv begründete Wollen ist die Tatsache der abstrahierenden Apperzeption. Bewußtseinserlebnisse können hinsichtlich des Erstrebtwerdens, also hinsichtlich der Bedeutung, welche sie für das Subjekt haben, in einen Zusammenhang treten und sich herausheben, ohne Rücksicht auf den gegenwärtigen Zustand des Subjekts. Ich begehre das Gold, das Gold wird begehrt. Das Gold ist ein wertvoller Gegenstand. Das Werten ist an das Objekt geknüpft, ist objektiviert. Was der Erkenntnistheoretiker Norm nennt, erklärte der Psychologe für eine Tatsache, die einer weiteren Zurückführung nicht mehr fähig ist (vgl. § 7). Zu diesem Ergebnis führt auch eine andere Erwägung. Ich kann das Sollen modifizieren, kann es zum Aufhören bringen, kann es auch wachrufen, je nachdem in der Erkenntnis des objektiven Zusammenhangs der Tatsachen Verschiebungen stattfinden. Vielleicht sage ich mir beim Anblick des Unglücklichen: Diesem Menschen ist nicht zu helfen, oder: Bei solchen Anfällen ist ein besonderes Eingreifen nutzlos. Dann kann auch keine Forderung mehr sich geltend machen, Hilfe zu leisten, ich fühle keinen Vorwurf, wenn ich mich entferne. Letzterer, ein Gefühl der Mißbilligung, könnte eintreten, wenn sich wieder andere Erwägungen einstellen: wenn ich den armen Menschen allein lasse, kann ihm sonst etwas zustoßen. Dieses letztere Sollen aber wird in seiner Stärke und Aufdringlichkeit dem Grad der Wahrscheinlichkeit entsprechen, mit welcher solche Zufälligkeiten zu erwarten sind. ![]()
1) THEODOR LIPPS, Grundtatsachen des Seelenlebens, Seite 59 - 63 und 195f, sowie "Allgemeine Ästhetik" - Vorlesungen, München 1896 2) JONAS COHN, Allgemeine Ästhetik, Leipzig 1901, Seite 3 3) COHN, Ästhetik, Seite 37 4) LIPPS, Grundtatsachen, Seite 203 5) Vgl. COHN, Allgemeine Ästhetik, Seite 10 und 17 6) Vgl. LIPPS, "Die ethischen Grundfragen", Hamburg 1899, Seite 126. - "Suggestion und Hypnose", Seite 455, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 22, Seite 383f. "Zu den Gestaltqualitäten", wo LIPPS gegen CORNELIUS, der die Abstraktion auf Ähnlichkeit zurückführt, nachweist, daß jede Ähnlichkeitserkenntnis die Abstraktion, die abstrahierende Apperzeption zur Voraussetzung hat (ebd. Bd. 28, Seite 166 (gegen EBBINGHAUS) "Einige psychologische Streitpunkte". - - - Diese Tatsache schwebt KANT vor, wenn er in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", Seite 84 (bei KIRCHMANN) schreibt. "Es ist niemand, selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu gebrauchen gewohnt ist, der nicht, wenn man ihm Beispiele der Redlichkeit in Absichten, der Standhaftigkeit in der Befolgung guter Maximen, der Teilnahme und des allgemeinen Wohlwollens (und noch dazu mit großen Aufopferungen von Vorteilen und Gemächlichkeit verbunden) vorlegt, nicht wünsche, daß er auch so gesinnt sein möchte. Er kann es aber nur wegen seiner Neigungen und Antriebe nicht wohl in sich zustande bringen; wobei er aber dennoch zugleich wünscht, von solchen ihm selbst lästigen Neigungen frei zu sein. Er beweist hierdurch also, daß er mit einem Willen, der von Antrieben der Sinnlichkeit frei ist, sich in Gedanken in eine ganz andere Ordnung der Dinge versetzt, als die seiner Begierden im Feld der Sinnlichkeit." 7) LIPPS, III. Ästhetischer Literaturbericht, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge, Bd. 5, Seite 112. 8) HERMANN SCHWARZ, Das sittliche Leben - eine Ethik auf psychologischer Grundlage, Berlin 1901, kommt zu einem "immanenten Gesetz des synthetischen Vorziehens". 9) WINDELBAND, "Normen und Naturgesetze", Präludien, Freiburg 1884 10) LIPPS, Vorlesungen über Ästhetik, München 1896 11) LIPPS, Grundtatsachen des Seelenlebens, Seite 2. Anm. Der Unterschied zwischen Bedürfnis und Forderung ist, psychologisch, wohl mehr ein solcher des Sprachgebrauchs als ein rein sachlicher. Mit "Ich habe ein Bedürfnis, zu essen, zu schlafen" bezeichne ich einen Zustand, der auf die sofortige Befriedigung eines Begehrens abzielt. Andereseits sage ich z. B. "die Natur fordert ihre Rechte," wenn ich ausdrücken will, daß die Befriedigung einem umfangreicheren, mehr die ganze Persönlichkeit ergreifenden, konstanteren Unbehagen abhilft - dem entspricht es auch, wenn das Wort "fordern" gebraucht wird bei Zuständlichkeiten, die zwar auf eine sofortige Änderung hindrängen, aber wo dies mit besonderer Energie, welche die ganze Persönlichkeit ergreift, geschieht. "Der Kranke fordert zu trinken", "der Zustand des Kranken fordert (neben bedarf der) Schonung." Während Bedürfnisse dem Begehren entsprechen, sind Forderungen Ausdruck des Wollens und Wertens. Da jedoch das Wollen und Werten auf das Begehren zurückgeht, so zieht die Anerkennung des Tatsachen-Charakters der Bedürfnisse auch die Anerkennung des Tatsachencharakters der Forderungen nach sich, allerdings in einem anderen Zusammenhang. 12) Ich verweise auf LIPPS, Die ethischen Grundfragen, Hamburg 1899 (5. Vortrag) |