ra-3M. SchelerTh. NagelK. MannheimW. JerusalemW. Stark    
 
HANS-JOACHIM LIEBER
Wissen und Gesellschaft
[Die Probleme der Wissenssoziologie]
[3/3]

"Die im Zusammenhang kultursoziologischer Forschung entstehende Frage ist die eigentlich mehr methodische oder erkenntnistheoretische Frage, ob die Wissenssoziologie in der Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Sein eine kausalerklärende oder eine sinndeutende und damit hermeneutische, verstehende Disziplin ist."

"Schelers Wissenssoziologie zeigt die Eigentümlichkeit, daß aus den Konsequenzen ihrer eigenen methodischen Voraussetzungen heraus die Standortproblematik und das damit auf das Engste verbundene Problem der relativen Geltung des Wissens und Erkennens und seiner Resultate überhaupt nicht aufgeworfen zu werden braucht und von Scheler auch nicht aufgeworfen wird."


II. Kapitel
Die gemäßigte Wissenssoziologie (94)

MARX, der in seiner Geschichtsphilosophie als Erster bewußt dem Verhältnis von Denken und sozialem Sein seine Aufmerksamkeit zuwendet, bestimmt dieses Verhältnis nicht eindeutig. Einerseits gelten die Struktur des Denkens und die objektivierten Gebilde des Geistes als Niederschlag oder unmittelbare Spiegelung einer untergründigen und verursachenden Ordnung des gesellschaftlichen Lebens. Das einzelmenschliche Erkennen ist als solches konstitutionell "seinsverbunden" und "standortbedingt", und diese Gebundenheit ist prinzipiell nicht eliminierbar. Andererseits soll die Seinsverbundenheit des Denkens in einer verfälschenden und hemmenden Einwirkung psychologischer Motive auf das Erkenntnisresultat aufgehen. Einmal ist die Basis, auf der das Denken aufruht, eine psychologische, und nur insofern die verfälschenden Interessen durch bestimmte Gesellschaftslagen des Subjekts verursacht erscheinen, finden soziologische Gesichtspunkte eine mittelbare Anerkennung. Das andere Mal ist diese Basis eine soziologische und das Verhältnis von Sein und Denken ein "dynamisches" Seinsverhältnis im Sinne der historischen Theorie. Nur diese soziologische Deutung dieses Verhältnisses von Denken und Sein nannten wir Wissenssoziologie im eigentlichen Sinne, während wir die psychologische Theorie als Ideologienlehre bezeichneten. Wir glaubten uns dazu umso eher berechtigt, als für die Ideologienlehre ausschließlich das durch Interessen verfälschte Denken und Erkennen zum Gegenstand einer desillusionierenden Betrachtung erhoben und gerade für dieses "falsche Denken" der Begriff der "Ideologiehaftigkeit verwendet wird. Das Kriterium der Wahrheit und Falschheit des Denkens liegt dabei auch für das Weltanschauungswissen in einer Objektadäquatheit, im Zutreffen oder Verfehlen von objektiv gegebenen Gegenständen. Der Begriff der Ideologie ist also ein erkenntniskritischer Begriff.

In der Wissenssoziologie vom historischen Standpunkt aus wird dagegen das Problem des Verhältnisses der Erkenntnis zu ihrem Gegenstand anders gesehen; es wird - und das gilt insbesondere vom "Weltanschauungswissen" und seinem Gegenstand: der Welt - im Sinne des von KANT herkommenden Kritizismus gedeutet. Das heißt, um es noch einmal zu sagen: Die Gegenstände der Geisteswissenschaften - und um diese handelt es sich hier - stehen nicht als ansich seiende, fertige und objektiv gegebene Gegenstände vor dem Erkennen, ihre gegenständliche und d. h. ihre sinnhafte Ordnung besteht nicht unabhängig von der Erkenntnis, sondern ist erst im Prozeß des Verstehens zu erschaffen. Die Gegenstände der Geisteswissenschaften bilden nur in sinnhafter Ordnung eine "Welt", und diese sinnhafte Ordnung oder "Sinngebung der Geschichte" ist die persönliche Leistung des erkennenden Subjekts. Dieses Erkennen wiederum ist nichts vom Leben Abgelöstes, sondern es wächst aus em das Subjekt und das Objekt umgreifenden Lebensprozeß selbst heraus. Die Ordnung der Gegenstände und die Struktur des Lebensuntergrundes stehen also durch das Medium des "seins- und lebensverbundenen" Denkens und Erkennens zumindest in korrelativen Bezügen. Welcher Art diese Korrelation von Denken und Leben ist, das zu untersuchen, ist die Aufgabe der Wissenssoziologie. Bei ihrer Lösung wird "Leben" einseitig als "gesellschaftliches Leben" bestimmt.

Die in dieser Weise als Wissenssoziologie und Ideologienlehre gegenübergestellten Formen der Interpretation und Deutung des Verhältnisses von Denken und sozialem "Sein" sind aber nicht nur - historisch gesehen - Ursprungsmotive der wissenssoziologischen Problematik, die ausschließlich problemgeschichtliche Bedeutung hätten. Sie sind zugleich zwei Typen der Methoden, mit denen die wissenssoziologischen Probleme behandelt werden, gleichsam zwei Pole, zwischen denen sich das Feld wissenssoziologischer Untersuchungen bewegt (95).

Ein anderer typischer Gegensatz der Behandlung des Problems, das durch den Terminus "Seinsverbundenheit" des Denkens bezeichnet ist, durchzieht die eigentliche Wissenssoziologie selbst. Auch wo die wissenssoziologische Fragestellung nicht nur eine Destruktion der Ideologien, d. h. des durch Interessen verfälschten Denkens zum Ziel hat, sondern wo die gesamte Art des Denkens zur Struktur des gesellschaftlichen Seins grundsätzlich in einen - von uns noch näher zu bestimmenden - korrelativen Bezug gesetzt wird, sind zwei wesensverschiedene Formen der Deutung dieses Verhältnisses von sozialem Sein und Erkennen möglich.

Der die abendländische Philosophie zumindest seit PLATON - als Motiv - bewegende und bestimmende Dualismus von Geist und Leben, Idee und Wirklichkeit ist es zuletzt, der in der Wissenssoziologie in veränderter Form erneut zum Problem erhoben wird. PLATON unternahm in seiner Ideenlehre, indem er den Bereich des Geistes zu einer präexistenten, in sich ruhenden Seinssphäre sui generis [von eigenen Gnaden - wp] erhob und die Wirklichkeit an ihm abbildhaft partizipieren ließ, den ersten möglichen Deutungs- und Lösungsversuch dieses Dualismus. Eine prinzipiell andere Deutungsweise liegt überall dort vor, wo die statische Konzeption zweier ontischer Seinsbereich mit ersichtlicher Priorität des Geistes aufgegeben ist und Ideen zu Funktionen realer Organe in der Dynamik der Wirklichkeit werden. Diese Interpretation des Verhältnisses von Geist und Wirklichkeit läuft immer Gefahr, im Naturalismus zu enden. Dennoch sind - wie wir an MANNHEIM sehen werden - idealistische Deutungen, besonders im Sinne eines objektiven Idealismus, durchaus möglich, und zwar dann, wenn die in Frage stehende Wirklichkeit nicht als rein naturaler Unterbau interpretiert wird. Den Gegensatz einer statischen und einer dynamischen Deutung der Verhältnisse von Geist und Leben findet man auch in der Wissenssoziologie wieder. Beide Deutungsweisen haben dort ihre Hauptvertreter in MAX SCHELER und KARL MANNHEIM. SCHELER konzipiert seine Wissenssoziologie im Sinne der platonischen Präexistenzlehre, und sein Zentralproblem bleibt daher genau wie bei PLATON die Teilhabe des realen Seins an dem als autonom und präexistent gedeuteten Geist. MANNHEIM dagegen löst diese ontische Autonomie des Geistes grundsätzlich auf. Der Geist wird für ihn zur Funktion, zur abhängigen Variablen des untergründigen realen Lebensprozesses. Auch die Konzeption MANNHEIMs findet immer wieder in der Auseinandersetzung mit jeder Art von Platonismus ihr bewegendes Motiv, aber nicht mehr die Frage der Teilhabe, die nur für eine statische Deutung zum Problem werden kann, ist das Grundproblem, sondern die Frage, wie eine Ableitung des Idealen aus dem Realen, des Essentiellen aus dem Existentiellen gelingen kann, wenn sie nicht in Psychologismus, Naturalismus und Relativismus enden will, wenn die Wissenssoziologie nicht zu einer Abart des Naturalismus werden soll.

Das umfassende philosophische Gebiet, von dem die Wissenssoziologie nur einen relativ kleinen Fragenkomplex behandelt, ist für SCHELER die philosophische Anthropologie. Alle wissenssoziologischen Untersuchungen SCHELERs sind daher von den metaphysischen Voraussetzungen mitbestimmt, die diese philosophische Anthropologie tragen. Insbesondere ist es der strenge, nicht nur phänomenologisch, sondern ontologisch verstandene Dualismus von Geist und Natur - als zwei letzten seinshaften Gegebenheiten -, der die wissenssoziologischen Ausführungen SCHELERs bis ins Einzelne vorprägt.

Doch zunächst der Gedankengang im Einzelnen: SCHELER sieht das eigentlich wissenssoziologische Problem der Seinsverbundenheit oder Standortbedingtheit des Wissens sofort im größeren Zusammenhang einer Kultursoziologie. Vor aller Einzeluntersuchung wird erst der mögliche Zusammenhang oder die mögliche Bedingtheit der Kultur, im objektiven und subjektiven Sinn, durch die realen Ordnungen der menschlichen Gesellschaft überhaupt zum Problem erhoben. Seine Absicht ist es dabei, das Zusammenwirken von Geist und Leben im weitesten Sinne oder - in marxistischer Terminologie - von Überbau und Unterbau des Gesamtlebensinhaltes in seiner Gesetzlichkeit begrifflich zu bestimmen. Es gilt, ein "Gesetz der Ordnung der Wirksamkeit der Ideal- und Realfaktoren" zu finden, "aus dem sich zu jedem Zeitpunkt des historisch-zeitlich sukzessiven Ablaufs sozialmenschlicher Prozesse das ungeteilte Ganze des Lebensinhalts der Gruppen aufbaut." (96)

In SCHELERs Analyse der Ganzheit des menschlichen Lebensprozesses, die zur Entdeckung dieses "Gesetzes der Folgeordnung" führen soll, ist nun sofort der erwähnte strenge ontologische Dualismus von Geist und Natur, von Ideal- und Realfaktoren wirksam. Die Idealfaktoren bilden ein Reich ewiger Wahrheiten, Ideen und Wertwesenheiten in eigener, zeitlos gültiger Rangordnung. Ihnen steht eine davon wesensverschiedene, rein naturale Triebstruktur als sogenannter Unterbau oder Inbegriff der Realfaktoren gegenüber, den SCHELER als ebenso absolut und überzeitlich gültig, also als historisch invariant bezeichnet, da er für ihn mit dem Wesen des Menschen mitgesetzt ist. Die drei großen in ihrem Sosein oder ihrer Wesenheit historisch invarianten menschlichen Urteile (Selbsterhaltungs-, Nahrungs- und Fortpflanzungstriebe) bestimmen für SCHELER zuletzt alle sozialen, politischen, ökonomischen oder sonstigen Ordnungen des menschlichen Lebens in ihrer objektiven Gestalt. - Schon diese Charakterisierung zeigt, daß die Realfaktoren SCHELERs etwas völlig anderes sind als die ökonomischen Produktionsverhältnisse der MARXschen Lehre. Sie haben eigentlich nicht viel mehr als den Begriff "Unterbau" mit diesen gemeinsam. -

Beide Bereiche, Geist und Natur, sind für SCHELER in ihrem Wesen oder - in phänomenologischer Terminologie - in ihrem "Sosein" unabhängig voneinander. Jeder Versuch, diesen phänomenologischen Wesen-und ontologischen Seinsunterschied zu verwischen, wie es etwa ein einseitiger Materialismus versucht, wird daher von vornherein abgelehnt. Lediglich bei ihrem Realwerden ist eine Wechselwirkung von Geist und Natur aufeinander möglich. Mit anderen Worten: Erst im "Dasein", dort wo es sich einerseits um die Realisierung geistiger Gehalte, ihr In-das-Leben-Treten handelt und wo es andererseits um das konkrete, reale Werden des triebhaft-naturalen Unterbaus, der Realfaktoren, geht, entsteht gleichsam in einer Mittelstellung ein Bereich des historisch Wechselnden, der auf dem Zusammenwirken beider wesensverschiedenen Sphären beruth.

Den Modus dieses möglichen Zusammenwirkens beider Sphären zu finden, war die Aufgabe des von SCHELER geforderten Gesetzes der "Folgeordnung der Wirksamkeit der Real- und Idealfaktoren". Schon die nur umrißhafte Kennzeichnung des phänomenologischen Ausgangspunktes der SCHELERschen Kultursoziologie: die Setzung des Wesens- und Seinsunterschiedes von Geist und Natur zeigt hier sofort bestimmte Grenzen, innerhalb deren allein eine wechselseitige Bezogenheit der beiden Sphären aufeinander als möglich erscheint. Das zu findende Gesetz kann und darf selbstverständlich die strenge Dualität zwischen "Sein" und "Sinn" - wie wir auch sagen können - nicht aufheben oder verwischen. Der Wesensunterschied zwischen einem präexistenten und ruhenden Bereich geistiger Gehalte, idealer Wertwesenheiten und einer Sphäre rein natural-triebhafter, "geistblinder" Faktoren des Lebensprozesses muß aufrechterhalten bleiben und bleibt aufrechterhalten. Ja, die phänomenologische Dualität von Geist und Natur ist durch die Frage nach ihrem möglichen Zusammenwirken für SCHELER eigentlich gar nicht berührt. Diese Fragestellung betrifft ja gerade nicht das überzeitliche Wesen der beiden Bereich selbst, sondern lediglich und ausschließlich ihr mögliches, gesetzliches Aufeinandereinwirken auf dem Gebiet der historisch konkreten Realisation.

Der Inhalt des von SCHELER nicht eindeutig formulierten Gesetzes der Wirksamkeit der Ideal- und Realfaktoren (97), seine "Überbau-Unterbau-Lehre", kann kurz in die These zusammengefaßt werden: Alles, was von den Essentiale, den idealen Wesenheiten jemals real wird, also zur historisch-konkreten Existenz gelangt, ist eindeutig und allein bestimmt durch die jeweilige Ordnung der Triebstruktur.

Diese Auffassung soll durch einige Formulierungen SCHELERs näher erläutert werden.
    "Der Geist ... bestimmt für Kulturinhalte, die da werden können, nur und ausschließlich ihre Soseinsbeschaffenheit. Der Geist als solcher hat jedoch ansich ursprünglich und von Haus aus keine Spur Kraft oder Wirksamkeit, diese seine Inhalte ins Leben zu setzen. Er ist wohl ein Determinationsfaktor, aber kein Realisationsfaktor möglichen Kulturwerdens." (98)
Insofern es sich also um das Realwerden des Geistes handelt, liegt alle Möglichkeit allein bei den realen Verhältnissen. Nur was an geistigen Gehalten sich mit ihren Tendenzen zu verbinden vermag, hat die Chance einer Realisierung.
    "Erst da, wo sich Ideen irgendwelcher Art mit Interessen, Trieben, Kollektivtrieben, oder, wie wir letztere nennen, Tendenzen, vereinen, gewinnen sie indirekt Macht und Wirksamkeitsmöglichkeit." (99)
Die Wirkng der triebhaft-naturalen Realfaktoren auf das Realwerden des Geistes ist nun nach SCHELER nur eine negativ. Die Realverhältnisse und ihre Strukturen grenzen aus der Fülle geistiger Sinngehalte nur ab, was wirklich werden kann. SCHELER nennt das eine reale Auslesefunktion der Triebfaktoren gegenüber dem Geist. Rückblickend auf geschichtliche Entwicklungen bedeutet das: Der Stand der Realverhältnisse erklärt
    "nur dasjenige, was aus dem Spielraum der inneren und sinngesetzlichen Soseinsdeterminationen von Religions-, Rechts-, Geistesgeschichte nicht geworden ist, obwohl es rein geistesgeschichtlich ebenso potentiell werdensmöglich war, wie das faktisch Geworden." (100)
"Positiver Realisationsfaktor eines rein kulturellen Sinngehaltes", d. h. Grund für die Tatsache, daß gerade dieser und nicht ein anderer Sinngehalt real geworden ist, "aber ist stets die freie Tat und der freie Wille der Führer, Vorbilder und Pioniere, die einen Ideengehalt ergreifen, vorleen und von einer Masse nachgeahmt werden." (101) Hierbei schränkt SCHELER den Begriff des freien Willens sofort wieder ein, denn er will nur das "Ob" oder "Ob-Nicht" des Tuns, nicht aber das "Was" damit kennzeichnen. (102) Im freien Willen der "Vorbilder und Pioniere" liegt nicht, was an geistigen Potenzen real wird, sondern nur ob es real wird oder nicht. Das "Was" ist durch die Realverhältnisse bestimmt. Ein anderes Verhältnis zwischen Real- und Idealfaktoren besteht im Hinblick auf die Frage nach dem zeitlichen Werden der Realverhältnisse selbst. Hier haben allein die Realfaktoren eine positive "Realitätsfunktion", sie allein bestimmen, völlig geistblind, was real wird. Der Geist hat nur negative Realisationsbedeutung, er kann in den Gang der Realverhältnisse nur hemmend oder enthemmend eingreifen. Er kann die sinnblinde Entwicklung der Realfaktoren begrenzen oder erweitern, aber nicht qualitativ abändern; denn er muß immer im Rahmen des Potentiellen verbleiben, der durch die Eigengesetzlichkeit der Realfaktoren vorgezeichnet ist.

Nach SCHELERs Lehre verhalten sich nun Geist und Natur, Ideal- und Realfaktoren auf folgende Weise zueinander: Der Geist determiniert alles mögliche "Kulturwerden" dadurch, daß er das Sosein alles Möglichen bestimmt. Der Teil des Möglichen, der verwirklicht wird, ist daher in seinem Sosein durch den Geist determiniert, der als solcher aber nicht die Macht hat, das Mögliche zu realisieren. Diese Macht hat die Natur, die sich im Triebleben des Menschen auswirkt und aus dem Möglichen auswählt, was jeweils die Triebe und die ihnen entsprechenden Bedürfnisse befriedigt. Was also eine Kultur an Geistigem enthält, wird stets begrenzt durch die seligierende [auswählende - wp] Funktion der Realfaktoren, während die Idealfaktoren das Sosein oder das Wesen des Realisierten bestimmen.

Es handelt sich hier um den schon von PLATON ausgedrückten Gedanken, daß nicht jeder Stoff und jede Physis jede beliebige oder alle Ideen in sich aufnehmen können, sondern "von Natur" daraf angelegt sein müssen, daß nur eine bestimmte Idee sich in ihnen ausprägen kann. Schon bei PLATON sind es also die "Realfaktoren", die unter den zu verwirklichenden Ideen die Auswahl treffen, und die zur Realisierung kommende Idee ist es dann, die als geprägte Form sich im realen Individuum entwickelt und sein Sosein bestimmt.

Die Art und Weise nun, wie die Realverhältnisse selbst werden und sich wandeln, kann für den Zusammenhang der vorligenden Arbeit außer Betracht bleiben, denn die SCHELERsche Konzeption der Kultursoziologie soll ja nur soweit berücksichtigt werden, wie sie für die - im Sinne der gegebenen Einführung - begrenzte Fragestellung der Wissenssoziologie nach der gesellschaftlichen Seinsverbundenheit des Wissens von Bedeutung ist. Aus dem gleichen Grund sind auch die weiteren Probleme, die SCHELER einer Wissenssoziologie als Forschungsaufgabe zuweist, nur genannt; denn auch sie stehen nur in einem sehr losen Zusammenhang mit ihrer eigentlichen Aufgabe. Ja, es erscheint sogar als fraglich, ob es fruchtbar ist, so divergente Problemgebiete unter einer Themastellung zusammenzufassen.

Solche weitergehenden Aufgaben der Kultursoziologie sind nach SCHELER:

In einer Wesenslehre vom menschlichen Geist sind alle faktischen Abhängigkeiten der objektivierten Kulturgehalte untereinander, die wir empirisch finden, in letzter Linie zu verankern (103). Eine Wesensanalyse würde allein eine Antwort auf die Frage ermöglichen: Gibt es eine strukturgesetzliche Ordnung, nach der sich die Sinngehalte der Kultur, die Bereiche des objektiven Geists nacheinander in der Zeit entfalten? Sie würde zugleich den Nachweis ermöglichen, daß eine gemeinsame Stilgesetzlichkeit alle lebendigen Kulturelemente einer Gruppe, eines "Kulturkonkretums" durchwaltet.

Eine andere Aufgabe betrifft die Feststellung des Gesetzes der "Phasenordnung", nach dem die Formen der geistigen Kooperation der Menschen, die jeweils ganz bestimmten Kulturgebieten entsprechen, innerhalb eines Kulturganzen einander ablösen. Solche Entsprechungen bestehen etwa zwischen der Religion und der Form priesterlich-mönchischer oder kirchlich-sektenhafter Kooperation oder zwischen den Formen der Zusammenarbeit dem gleichen Ziel zustrebender Forscher und der modernen Technik und positiven Wissenschaft.

Eine weitere Aufgabe kultursoziologischer Betrachtung ergäbe sich aus dem Problem, welchen Bewegungsformen und sogar -gesetzen die einzelnen Kulturgebiete und die einzelnen gruppenhaften Kulturträger folgen. Diese Aufgabe würde eine Beantwortung der Frage einschließen, welchen gesetzlichen Bewegungen des Wandelns, Aufblühens, Reifens, Vergehens die Kultur in ihren Gebieten und Trägern unterworfen ist. Kurz gesagt: es handelt sich hier darum, daß die Kultur die sie tragenden Individuen und Generationen überlebt. - Hierbei geht SCHELER auf die Arbeiten von HEGEL, TROELTSCH, ALFRED WEBER und MANNHEIM ein, die sich ja alle bemüht haben, die verschiedenen Entwicklungsformen der einzelnen Kulturgebiete begrifflich zu formulieren. Man denke etwa an ALFRED WEBERs Unterscheidung von Gesellschaftsprozeß, Zivilisationsprozeß und Kulturbewegung (104).

So interessante und bedeutsame Gedanken SCHELER im Zusammenhang mit diesen Ausführungen auch vorträgt, und so fruchtbar er auch manche schon vorliegenden Arbeiten zu diesen Fragen kritisiert und erweitert, so spürt er doch selbst, daß er damit die Kultursoziologie und ihre Grenzen überschreitet. Fragen und Probleme, wie die angedeuteten, "betreffen nur gesetzmäßige Werdensbedingungen, die zwischen den Produkten des Geistes selbst obwalten." (105) Sie gründen ausschließlich auf dem Gebiet des Geistigen und Kulturellen und seiner Organisationsformen selbst. Diese Ausführungen SCHELERs wären daher wohl besser als eine Phänomenologie der Kultur, ihrer Bereiche, ihrer Bewegungs- und Organisationsformen, denn als eine Kultursoziologie im eigentlichen Sinne zu bezeichnen. In einer Kultursoziologie - das besagt der Terminus Soziologie - wird gerade das Verhältnis von Kultur und Gesellschaftsstruktur zum Problem erhoben. Ihre Aufgabe ist es, die mögliche Bedingtheit der Kultur durch Realfaktoren zu untersuchen. Sie ist nicht nur eine "kulturimmanente" Phänomenologie oder Wesenswissenschaft. SCHELER greift daher immer wieder das zentrale Problem des Verhältnisses zwischen Ideal- und Realfaktoren des menschlichen Lebensprozesses auf und bezeichnet es auch als das tiefste und fruchtbarste der Kultursoziologie.

Bei dem Versuch, dieses Verhältnis eindeutig terminologisch zu bestimmen, ist es für SCHELER bezeichnend - und hierauf kann nicht nachdrücklich genug hingewiesen werden -, daß Geist und Leben oder Trieb als die zwei letzten ontischen Gegebenheiten gelten, zwischen denen es prinzipiell keine die Wesensverschiedenheit aufhebende Beeinflussung geben kann. Weder darf der Geist als "Ausdruck" oder gar "Produkt" des Seins, noch umgekehrt dieses als "Emanation" des Geistes bezeichnet werden. Eine ontologische Vorordnung einer Sphäre vor die andere in dem Sinne, sie sei realer, ist von vornherein abzulehnen. Die ganze Erforschung des Verhältnisses zwischen Triebstruktur und Geisteswelt und der möglichen gesetzmäßigen Abhängigkeit zwischen ihnen betrifft für SCHELER ausschließlich jenen Punkt, wo der Geist aus seinem wesenhaften Sosein ins reale Dasein tritt, oder aber wo es sich um den tatsächlichen Ablauf des Realprozesses handelt. Dabei ist SCHELERs grundlegende These, wie schon erwähnt, folgende: Wenn die Frage nach der möglichen gegenseitigen Beeinflussung beider Sphären zu entscheiden ist, so betrifft sie stets nur die Frage ihres Realwerdens. Den Realfaktoren ist daher die Funktion der "Schleusenöffnung" und "Schleusenschließung" für das Wirklichwerden des Geistes, dem Geist dagegen nur die Funktion der Leitung und Lenkung des ansich wertblinden Realprozesses zuzuerkennen (106).

Mit dieser These lehnt SCHELER jede einseitige materialistische, wie auch jede einseitige idealistische Philosophie ab. Er will vielmehr jeden der beiden großen philosophischen Deutungsversuche, als deren Repräsentanten er im Hinblick auf Geschichtsphilosophie und Kultursoziologie HEGEL und MARX ansieht, zu seinem relativen Recht gelangen lassen. Ebenso hofft er, damit einen Ausgleich zwischen Ideologien der herrschenden und der beherrschten, aber zur Herrschaft drängenden Gesellschaftsklasse angebahnt oder doch ermöglicht zu haben, den er für dringend notwendig erachtet (107).

Für die Fragestellung der Kultursoziologie bedeutet diese These SCHELERs, die ja als Gesetz gewertet werden will, daß für den konkreten Fall niemals antizipierend, sondern immer nur post festum [im Nachhinein - wp] der Zusammenhang zwischen Geist- und Triebfaktoren des Gesamtprozesses aufgewiesen werden kann. Das "Gesetz der Folgerung" hat für SCHELER nur eine post festum erklärende Funktion, eine Bedeutung für eine konkrete Voraussage kulturgeschichtlichen und kultursoziologischen Geschehens kommt ihm nicht zu.

Die Realfaktoren erklären lediglich, wieso aus der Fülle des geistig Möglichen nur ein bestimmter Ausschnitt real geworden ist. Sie erklären die seltsame Differenz zwischen potentiell möglichem und real gewordenem Geist.
    "Es ist immer nur die Differenz des nach Sinngesetzen potentiell möglichen und des wirklichen Werkes, was die Geschichte der realen Zustände und Begebenheiten am Fortgang der Geistesgeschichte zu erklären vermag. Die fatalité modifiable [Verhinderung eines Verhängnissses - wp] der Realgeschichte bestimmt also keineswegs den positiven Sinngehalt der Werke des Geistes, wohl aber hindert sie, enthemmt sie, verzögert oder beschleunigt sie das Werk oder Wirklichwerden dieses Sinngehaltes. Um ein Bild zu gebrauchen: Sie öffnet und schließt in bestimmter Art und Ordnung die Schleusen des geistigen Stromes." (108).
Bei der bloßen Feststellung dieser gesetzlichen Ordnung zwischen Geist- und Triebfaktoren bleibt aber SCHELER nicht stehen, sondern erweitert seine Frage zugleich noch dahingehend:
    "Gibt es in der Geschichtsdauer der Menschengeschichte eine konstante oder eine mit der Phasenordnung der Abläufe relativ geschlossener Kulturträger gesetzlich wechselnde Ordnung, nach der die Realfaktoren jenes Schleusenöffnen und Schleusenschließen vollziehen, das wir als die Grundart ihres möglichen Einflusses auf die Geistesgeschichte erkannten?" (109)
Die Beantwortung dieser Frage ist wichtig; denn dabei ergibt sich für SCHELER die Möglichkeit, die drei großen Hauptrichtungen kultursoziologischen und geschichtsphilosophischen Denkens in ihrem nur relativen Recht zu erkennen und in ihre Schranken zurückzuweisen. Diese drei Hauptrichtungen nennt er: "Rassennativismus, Politismus und Ökonomismus". In jeder von ihnen wird einer der drei menschlichen Urtriebe oder Vitalfaktoren, nämlich Blut, Macht oder Nahrung, zum allein bestimmenden und bewegenden Motiv des realen geschichtlichen Geschehens erhoben und aus ihm auch die Entwicklung der menschlichen Kultur abgeleitet. Nun hat zwar SCHELER durch seinen phänomenologischen Ausgangspunkt jeden dieser drei kultursoziologischen Erklärungsversuche dahingehend eingeschränkt, daß stets nur die Auswahl eines ansich seinsunabhängigen Sinngehaltes und seine konkrete Realisierung hic et nunc [hier und jetzt - wp] durch sinnblinde Seinsfaktoren bestimmt wird. Er hat damit die genannten drei Erklärungsversuche in ihrem Totalitätsanspruch als naturalistisch aufgedeckt. Dennoch ist damit die Frage noch unentschieden, nach welcher Ordnung in der zeitlichen Abfolge der geschichtlichen Entwicklung jeder der drei Realfaktoren die für das Realwerden der Kultur entscheidende Sinnauswahl vollzieht. Es bleibt offen, welchem der drei Realfaktoren die primäre, sekundäre oder tertiäre Realisationsfunktion zuzuerkennen ist.

Hier behauptet SCHELER: Die drei Realfaktoren wirken nach einem "Gesetz der Phasenabfolge", das in einer Wechselbeziehung zur menschlichen Trieblehre und zum Gesetz des vitalpsychischen Alterns steht ((110). Innerhalb ganz bestimmter Altersphasen des Menschen ist ein Vorherrschen je eines der menschlichen Urtriebe festzustellen. Im Ablauf vitalpsychischen Alterns unterliegt dieses Vorherrschen einer ganz bestimmten Regelhaftigkeit: vom blutmäßigen über machtmäßiges zum quasi-ökonomischen Bestimmtsein des menschlichen Lebens. In einem entsprechenden Sinn will SCHELER auch die Entwicklung von Kulturen nach dem Schema von drei Phasen begreifen, in denen je einer der drei umfassenden Realfaktoren das "Wirkprimat" der Schleusenöffnung und -schließung hat. Wirkprimat soll hier im Sinne der "Spielraumsetzung" für ein mögliches Realwerden des Geistes verstanden werden (111). Jede kulturgeschichtliche Entwicklung ist in ihrer zeitliche Abfolge für den eine kultursoziologische Forschung Betreibenden zunächst als blutmäßig, dann als politisch und zuletzt erst als wirtschaftlich bedingt anzusehen.

Zum Beweis seiner Theorie beruft sich SCHELER auf Erkenntnisse der Ethnologen, die die Tatsache vorstaatlicher und vorpolitischer Kooperation in den blutsmäßig ge- und verbundenen Geschlechterveränden eindeutig bewiesen hätten. Auch das vom Historiker noch heute feststellbare Vorwiegen des Politischen in der vorkapitalistischen Zeit sei ein maßgeblicher Beweis. -

SCHELER ist also bemüht, den Streit zwischen den drei naturalistischen Geschichtsauffassungen (112) oder geschichtsphilosophischen Betrachtungsweisen und woran ihm besonders liegt, die Gedanken der Marxisten und den von ihnen erhobenen Anspruch auf alleinige Gültigkeit ihrer Theorie zur Erklärung der Universalgeschichte selbst historisch zu relativieren. Überhaupt wird der in den genannten geschichtsphilosophischen und kultursoziologischen Lehren vorliegende Versuch, ein für die Universalgeschichte gültiges Gesetz der Ordnung im Wirkprimat der Realfaktoren festzulegen, von SCHELER abgelehnt. Das "Gesetz der Folgeordnung" ist nicht als Gesetz der Folge in der Zeit in Analogie zum Dreistadien-Gesetz COMTEs zu verstehen. Die Universalgeschichte zeigt für SCHELER nicht ohne weiteres eine kontinuierliche Entwicklung vielmehr erscheint sie ihm - und hier ist das Vorherrschen eines geschichtsphilosophischen Denkens in Kulturzyklen unverkennbar - als die zeitliche Abfolge relativ selbständiger, in sich zentrierter und jeweils durch dieselben Gesetze bestimmter Kulturganzheiten oder Kulturkörper. Entsprechend ist auch das oben näher gekennzeichnete Gesetz vom Wirkprimat der Realfaktoren zu verstehen. Es gilt "nur relativ" für die jeweils kleinere Gruppeneinheit, nicht für die jeweils größere Gruppeneinheit unter den Gruppen, die durch ein gleiches Schicksal zu einer Einheit zusammengeschlossen sind (113). Das heißt: es gilt für Nationen innerhalb größerer Kulturepochen und Kulturkreise und für diese wiederum innerhalb der umfassenden universalgeschichtlichen Entwicklung. Wenn innerhalb der relativ kleineren Gruppeneinheit schon der Wirkprimat des Ökonomischen vorherrschend ist, kann das Geschehen innerhalb der größeren Gruppeneinheit, etwa des Verhältnis der Nationen zueinander, noch vom Wirkprimat des Politischen bestimmt sein (114). Durch das hier vorliegende Denken nach dem Modell von Kulturkreisen findet bei SCHELER die für das kultursoziologische Problem besonders wichtige und fruchtbare soziale Schichtung innerhalb engerer Gruppeneinheiten, etwa die Standes- und Klassenschichtung, nur selten die ansich geforderte Beachtung.

Als Zusammenfassung der referierten Grundgedanken der Kultursoziologie SCHELERs mag eine seiner eigenen Formulierungen dienen:
    "Es gibt keine Konstanz im Wirkprimat der Realfaktoren, gerade hierin besteht georndete Variabilität. Wohl aber besteht ein Grundverhältnis der Idealfaktoren zu den Realfaktoren überhaupt ..., das strenge Konstanz in aller Geschichte des Menschen besitzt." (115)
Dieses Grundverhältnis ist terminologisch bestimmt in der näher ausgeführten Lehre von der Realisationsfunktion des triebhaften Unterbaus im Hinblick auf geistig-kulturelles Werden und von der Hemmungs- und Enthemmungsfunktion des Geistes im Hinblick auf das Werden des Realprozesses.

Diese theoretischen Ausführungen SCHELERs zur Festlegung des Aufgabenbereichs kultur- und wissenssoziologischer Forschung und insbesondere seine Lehre vom gesetzlichen Verhältnis, das zwischen Ideal- und Realfaktorien des gesamten Lebensablaufes besteht, seien abschließend durch ein Beispiel, das SCHELER selbst gibt, näher erläutert. SCHELER sagt: es ist
    "stets ein grundirriges Unterfangen, den positiven Sinngehalt und Wertgehalt einer bestehenden Religion, einer Kunst, einer Philosophie und Wissenschaft, einer Rechtsbildung aus den realen Lebensverhältnissen, seien es blutsmäßige, ökonomische, machtpolitische oder geopolitische eindeutig ableiten zu wollen. Nur dasjenige, was aus dem Spielraum der inneren und sinngesetzlichen Soseinsdetermination von Religions-, Rechts-, Geistesgeschichte nicht geworden ist, "erklärt" der Stand der Realverhältnisse, die jeweilige Konstellation der Realfaktoren. Raffael brauchte einen Pinsel; seine Ideen und künstlerischen Visionen schaffen ihn nicht. Er braucht politisch und sozial mächtige Auftraggeber, die ihre Ideale zu verherrlichen ihm auftragen; sonst vermag er sein Genie nicht auszuwirken. Luther brauchte die Interessen der Fürsten, Städte, der partikulär gerichteten Territorialherren, brauchte das aufstrebende Bürgertum; ohne diese Faktoren wäre es nichts geworden mit der Verbreitung der Lehre vom bibellesenden spiritus sanctus internus und der sola-fides-Lehre [allein aus dem Glauben - wp]. Wie wir also einerseits alle naturalistischen, soziologischen Auffassungen für das Werden des Sinngehaltes der Geisteskultur a limine [schon an der Schwelle - wp] zurückweisen, so müssen wir andererseits auf dem Boden der reinen Kultursoziologie jede Lehre abweisen (wie sie etwa Hegel entspräche), daß der kulturhistorische Ablauf ein rein geistiger und sinnlogisch bestimmter Prozeß ist. Ohne die negativ seligierende Kraft der Realverhältnisse und ohne die freie Willenskausalität der führenden Personen - freilich ist diese Freiheit nur auf das Ob und Ob nicht des Tuns beziehbar, nie auf die sinnlogische Frage Was - folgt aus den rein geistigen Determinationsfaktoren auch auf dem Boden reiner und reinster Geisteskultur gar nichts." (116)
Die somit zumindest kurz gekennzeichnete kultursoziologische Position SCHELERs gestattet schon grundsätzliche kritische Bemerkungen, bevor seine eigentlichen und im engeren Sinne wissenssoziologischen Ausführungen dargestellt werden. Es ist SCHELER wiederholt und von verschiedenen Seiten (117) vorgeworfen worden, was er darbiete, sei keine Kultursoziologie, da die eigentliche soziologische Fragestellung nur recht wenig und beiläufig an die Kultur herangetragen wird. Ob es vollauf berechtigt ist, SCHELERs Fragestellung etwa eine rein geistesgeschichtliche zu nennen oder seinen Ausführungen die spezifisch kultursoziologische Bezugnahme auf die soziologischen Strukturbedingungen geistigen Seins und Werdens abzusprechen, erscheint jedoch mehr als fraglich. Freilich folgen alle soziologischen Betrachtungen innerhalb der Ausführungen SCHELERs zur Grundlegung einer Kultursoziologie nicht dem engen Interesse des Soziologen, für den es sich dann nur darum handeln könnte, den Nachweis einer kausalen Abhängigkeit des Geistes und seiner Gestaltungen von den Gesellschaftsstrukturen zu führen. Die Vertreter des Marxismus geben hierfür ein nachdrückliches, wenn auch etwas einseitiges Beispiel. Ein solches Bemühen steht immer in der Gefahr einer materialistischen und naturalistischen Verflachung und Verengung der eigentlichen kultursoziologischen Problematik. SCHELERs Kultursoziologie gliedert sich demgegenüber in den viel umfassenderen Rahmen einer philosophischen Anthropologie ein, die eine Wesensbestimmung des Menschen und die Fixierung seiner "Stellung im Kosmos" zum Ziel hat. Die Aufgabe der Kultursoziologie ist daher für SCHELER auch immer eine umfassende Phänomenologie der Kultur, ihrer Gebiete und Gebilde und deren realen Verflochtenheiten und Bezogenheiten.

Dennoch kann den erwähnten Einwänden und Vorwürfen gegen SCHELER eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden. Wenn man sich die strenge Scheidung zwischen Trieb- und Geistesstrukturen und ihre begründende Stellung innerhalb der Kultursoziologie SCHELERs noch einmal vergegenwärtigt, wenn man bedenkt, daß gerade die Bestimmung und terminologische Fassung des Verhältnisses von Trieb- und Geistfaktoren als die eigentliche und zentrale Aufgabe einer Kultursoziologie bezeichnet wurde, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß im engeren Sinne biologisch-naturale Strukturen die Bezugsbasis, den Unterbau für die kultursoziologische Betrachtung abgeben. Es herrscht in SCHELERs Ausführungen ohne Zweifel die Tendenz vor, völlig geistlose Faktoren und Kräfte schon als soziologische zu deuten. Was die grundlegenden Ausführungen Schelers auf den ersten Seiten seines kultursoziologischen Hauptwerkes anbelangt, so kann man eine weitgehende Identifizierung von biologisch-naturalen Triebkräften mit gesellschaftlichen Gestaltungsfaktoren der Kultur nicht ohne weiteres übersehen.

Diese Tatsache aber ist für die Bewertung der Kultursoziologie SCHELERs nicht nur von sekundärer Bedeutung, sondern erlaubt eine prinzipielle Kritik. Ist nicht, so sei es einmal als Frage formuliert, die ganze Forschungsmaxime der Kultur- und Wissenssoziologie, die ihren Ausdruck in der Behauptung von der sozialen Standortgebundenheit des Geistes findet, gerade in ihrer Fruchtbarkeit und eminenten Bedeutung für das Verständnis geistigen Lebens schon grundsätzlich geeinigt, wenn Geist und völlig sinnblindes naturales SEin in der bei SCHELER vorliegenden Art als Überbau und Unterbau der Kultur gegenübergestellt werden? - Darf denn der in einer kultursoziologischen Forschung allein aufzusuchende Unterbau in der Art SCHELERs ohne eine vorgreifende und verengende Festlegung des ganzen Problems mit den rein naturalen, biologisch-vitalen Triebstrukturen und -kräften des menschlichen Lebensprozesses identifiziert werden? (118) -

Es ist nicht zu leugnen und in der referierenden Darstellung auch wiederholt betont worden, daß SCHELER in seiner kultursoziologischen Trennung von Überbau und Unterbau diesen als die Gesamtheit der biologisch-naturalen Triebstrukturen auffaßt. Dabei wird die Gesamtheit dieser Triebfaktoren als eine historisch invariante und ewig identische Eigenschaft des Menschen angesehen, deren Äußerungen den Charakter einer Strukturgesetzlichkeit haben. Wo SCHELER bemüht ist, die typische Art oder Form des Wechselverhältnisses von Geist und Leben terminologisch zu bestimmen, da ist dieses Bemühen für ihn stets identisch mit der Frage nach der möglichen Einwirkung der naturalen Triebschicht des menschlichen Lebens auf das Realwerden des Geistes und seiner essentiellen Ordnungen. So verhält es sich zumindest mit allen prinzipiellen Erörterungen zur Grundlegung der Wissenssoziologie. Diese Identifizierung jedoch von Lebensuntergrund und Triebstruktur muß als eine Vereinseitigung der eigentlichen Frage nach der Seinsverbundenheit des Geistes und seiner Gestaltungen erscheinen. Sie wird nur dadurch verständlich, daß SCHELER den nicht aufhebbaren phänomenologischen Unterschied zwischen Geist und Leben als einen ontologischen Unterschied anerkennt und sinnbildende Triebfaktoren und sinnhaften Geist als zwei letzte, wesenhaft verschiedene Seinsbereiche einander gegenüberstellt. Im Hinblick auf das Werden der Kultur, und das heißt für SCHELER auf das Realwerden des Geistes, stehen sie dann wie Unterbau und Überbau übereinander.

Ohne die eminente Bedeutung der urtümlichen Triebschichten für die Gestaltung des menschlichen Lebens abschwächen oder gar bestreiten zu wollen, ist doch wohl aber nachdrücklich zu betonen, daß ein rein naturaler Unterbau innerhalb des Kultur- und Geschichtsprozesses, und das heißt: innerhalb sinnhaften Geschehens, nie vorkommt (119). Ordnungen und Verhältnisse des Realgeschehens, die durch eine kultursoziologische Forschung als Unterbau, als Bezugsbasis für die Deutung und das Verständnis geistigen Lebens allein aufgefunden werden können, sind nie rein naturale Triebkräfte. Bestimmte Ordnungen der Wirtschaft etwa, ebenso eigentümliche Gestaltungen des politischen Lebens, staatliche Ordnungen, Klassenschichtungen, nicht zuletzt bestimmte Gliederungen von Bluts- und Geschlechterverbänden, deren Gesamtheit in einem kultursoziologischen Begriff des Unterbaus zusammengefaßt ist, dürfen niemals als bloß quantitativ-gesteigerte Ausgestaltungen der urtümlichen Triebkräfte Nahrung, Selbsterhaltung und Fortpflanzung verstanden und gedeutet werden. Diese Absicht herrscht gerade auf den ersten Seiten von SCHELERs kultursoziologischem Hauptwerk besonders stark vor. Vielmehr sind jene Realverhältnisse, ist jener Unterbau, wie MANNHEIM sagt, allein als das Ganze von jeweils-historisch-sinnbestimmten, qualitativen Formen und Formungen jener urtümlichen und naturalen Triebstrukturen zu bezeichnen, deren Gestaltwandel durch ihr Hineingestelltsein und Aufgenommensein in eine bestimmte geistige und seelische Gesamtkonstellation des menschlichen Geschichtsprozesses sich vollzieht (120).

Das im "Unterbau" aufzufindende "Sein" ist niemals ein sinnfremdes, rein naturales Geschehen, sondern stets schon ein geistgeformtes, sinnhaftes "Sein", und es wird in der kultursoziologischen Forschung, in der Frage nach den Beziehungen zwischen sozialem Sein und Geist eigentlich stets Sinnhaftes auf Sinnhaftes oder, kurz gesagt: Geist auf Geist bezogen. Wenn SCHELER diesem Verhältnis von Überbau und Unterbau innerhalb seiner prinzipiellen Erörterungen zur Kultursoziologie nicht Rechnung trägt, so liegt das wohl nicht zuletzt am Begriff der "Mächtigkeit", den er hier verwendet. Der Geist hat für SCHELER keinerlei Macht, keinerlei Wirkungsmöglichkeit im Hinblick auf die Gestaltung des Realprozesses. SCHELERs gelegentlicher Versuch, die "Hemmungs-" und "Enthemmungsfunktion" des Geistes als eine solche der Leitung und Lenkung des Realprozesses zu deuten, muß daher aus den Voraussetzungen seiner eigenen Lehre abgelehnt werden. Leitung und Lenkung heißt immer qualitative Gestaltung des Realprozesses, und eine solche gestattet die vorliegenden "Ohnmachterklärung" des Geistes nicht. Der Gedanken einer Ohnmacht des Geistes ist sinnvoll nur zu vertreten, wenn ein vorwiegend naturalistisch und vitalistisch gedeuteter Begriff der "Macht" oder "Mächtigkeit" in inadäquater Weise als Maßstab an die Leistung des Geistes herangetragen wird. Es ist nur eine selbstverständliche Konsequenz dieser inadäquaten Übertragung, wenn die de facto stattfindende qualitativ-triebgestaltende, -wandelnde und -formende Funktion des Geistes von einem solchen Begriff der Mächtigkeit nicht mit erfaßt werden kann.

In der von SCHELER vertretenen Phänomenologie, nach der sich Sein und Geist als zwei letzte ontische Seinsbereiche gegenüberstehen und in ihrem wesenhaften Sein nicht miteinander in Beziehung stehen, haben alle bisher erwähnten Eigentümlichkeiten der SCHELERschen Kultursoziologie und auch seine Lehre von der realen Ohnmacht des Geistes ihren Ursprung. Wenn nämlich zwischen Geist und triebhaftem Sein ein ontischer Dualismus in so strenger Form eingeführt wird, daß ein qualitativ bedeutsames In-Beziehung-Treten beider Seinsbereich von vornherein ausgeschlossen wird, dann ist es nur eine logisch notwendige Folge, daß das eigentliche kultursoziologische Problem in eine ganz andere Sicht rückt, als sie durch den Terminus "Seinsverbundenheit" oder "Standortbedingtheit" des Denkens ursprünglich angedeutet ist. Wer den Geist und seine Gehalte als historisch-invariantes, ruhendes und fertiges, gleichsam präexistentes Reich ontischer Wesenheiten in eigener, zeitlos gültiger Ordnung annimmt, dem muß sich die Aufgabe wissenssoziologischer Forschung dahin einengen, festzustellen, welche Bedeutung Strukturverhältisse des realen Lebens- und Geschichtsprozesses auf die Realisierung dieses präexistenten Sinnreiches in der Geschichte ausüben. Andererseits ist es ebenso selbstverständlich, daß diese Bedeutung nur eine selektive sein kann, wenn die zu beachtenden Strukturverhältnisse des Realprozesses, wie bei SCHELER, als rein naturaler Unterbau gedeutet werden. Die Möglichkeit der Anerkennung eines qualitativen, Gehalt und Gestalt mitbestimmenden Aufeinanderbezogenseins von Geist und Trieb ist durch die von SCHELER stets besonders nachdrücklich betonte, nicht nur phänomenologische, sondern auch ontologische Dualität zwischen ihnen von vornherein ausgeschlossen. Es kann daher MANNHEIM nur zugestimmt werden, wenn er in Bezug auf SCHELER ausführt:
    "Es ist selbstverständlich, daß einem naturalen Unterbau nur eine seligierende [auswählende - wp] Bedeutung zugeschrieben werden kann, und es hält bei SCHELER diese Konzeption des Unterbaus einer Präexistenzkonzeption (im Sinne einer sinnlogischen Immananz) des Überbaus nur die Waage." (121)
Für die Grundlegung einer Kultur- und Wissenssoziologie bedingen diese zwei Gedanen von der Präexistenz des Geistes und seiner wesensmäßigen Ordnung und von der seligierenden Funktion des naturalen Unterbaus eine methodische Position, die vielleicht am zutreffendsten als "gemäßigte" Kultursoziologie zu bezeichnen wäre (122). Gemäßig ist sie insofern, als nach ihr nur das Faktum eines Kulturgehaltes oder Geistesgebildes, seine Realisierung hier und jetzt, nie aber seine qualitative Gestalt, sein Sinngehalt und Geltungsbereich soziologisch untersucht werden können und untersucht werden. Nach dem gewöhnlich verwendeten terminus technicus handelt es sich hier um eine Form der soziologischen Interpretation geistiger Gebilde, die den gesellschaftlichen Verhältnissen nur eine "Faktizitätsrelevanz" für das geistige Sein zuerkennt. (123) Formulierungen wie:
    "... unsere Methode, die nie den Sinngehalt der geistigen Kultur und seine Wertgeltung, sondern nur die Auswahl dieses oder jenes Sinngehaltes aus geistig gleich möglichen Sinngehalten realsoziologisch erklärt" (124) oder: Soziologie der Weltanschauungen - eine Disziplin, die "nie und nimmer den Sinngehalt einer Weltanschauung erklären kann, wohl aber noch erklären kann, warum Weltanschauungen ... keine Realisierung bzw. keine Verbreitung gefunden haben ... andere wohl" (125) -
finden sich in ähnlich lautender Weise beinahe in allen einschlägigen Arbeiten SCHELERs. Sie können als ein Beweis dafür angesehen werden, daß SCHELER nur eine Faktizitätsrelevanz des Unterbaus anerkennt und dabei in seiner Unterscheidung zwischen Wesensstrukturen und ihren Realisierungen eigentlich nur in einer neuen Form die alte Lehre vom Gegensatz der Tatsachen und der ewigen Wahrheiten wieder aufleben läßt. Auch das ist wohl als eine notwendige Konsequenz seiner Phänomenologie zu begreifen, für die eben Wesensgesetze des Logos nicht historisch variabel sein können.

Als Gegensatz zu dieser Form einer kultursoziologischen Fragestellung und damit zugleich als eine "radikale" Kultursoziologie (126) wäre dann eine Form der soziologischen Interpretation geistiger Gebilde zu bezeichnen, nach der bestimmte Strukturverhältnisse im Unterbau auch auf den Sinngehalt seine qualitativ-gestalthaft Gliederung und den Bereich seiner Wertgeltung bestimmend einwirken.

KARL MANNHEIM, der wohl als der wichtigste Vertreter der radikalen Richtung innerhalb der Wissens- und Kultursoziologie genannt werden darf, hat diese seine Position eine "dynamische" genannt und sie in kritischer Absicht den Ausführungen SCHELERs gegenübergestellt, die er als einer "statischen" Konzeption entstammend bezeichnet (127). Diese Gegenüberstellung verband sich bei ihm mit dem Bewußtsein einer totalen Differenz, eines Unterschiedes in den Voraussetzungen und Methoden zwischen SCHELER und der eigenen Position. Soviel nun auf den ersten Blick für diese Argumentation gegen SCHELER sprechen mag, so sei doch hier einwendend die Frage gestellt, ob nicht in SCHELERs Philosophie zumindest Ansätze zu einer dynamischen Deutung des Verhältnisses von Geist und Leben vorliegen, die es rechtfertigen, MANNHEIM eher als einen Fortbildner denn als eine Überwinder SCHELERs zu begreifen. -

Eine zureichende Beantwortung dieser Frage wäre nur möglich, wenn man in der gebührenden Ausführlichkeit eingehen würde, eine Aufgabe, die den Rahmen der vorliegenden Arbeit selbstverständlich überschreitet. Doch seien einige Andeutungen in dieser Richtung erlaubt, um das Bild der Gedanken SCHELERs zu dem hier behandelten Problemgebiet zumindest nicht allzu einseitig zu skizzieren.

Es ist selbstverständlich, daß das Vorherrschen einer als "statisch" zu bezeichnenden Deutungsweise des Verhältnisses Geist-Leben in allen theoretischen Arbeiten zum Problem der Kultursoziologie nicht geleugnet werden kann. Es wird daher auch schwer sein, die Einwände MANNHEIMs gegen SCHELER voll zu entkräften, wenn man SCHELERs Ansichten lediglich den Formulierungen seiner eigentlich wissenssoziologischen Schriften entnimmt. - Andererseits kann nicht nachdrücklich genug betont werden, daß jede "Wissenssoziologie von einem dynamischen Standort" aus die Überwindung eines ontischen Dualismus zwischen Geist und Sein zur unerläßlichen Voraussetzung hat. Die aus den Traditionen einer statischen und vorkritischen Metaphysik heraus konzipierte Phänomenologie (128), die in der Regel einen phänomenologischen Unterschied zwischen Geist und Sein zu einem ontologische erhebt, muß schon im Ansatz der Fragestellung durchbrochen werden, damit eine dynamische Konzeption des Verhältnisses Geist-Leben überhaupt möglich wird. Erst dann kann sich das wissenschaftliche Denken auf jenen Punkt richten, wo eine inhaltliche, mitgestaltende Einwirkung beider Bereiche aufeinander unverkennbar ist. Erst dann wird sichtbar, daß eine Korrelation zwischen Geiststrukturen und Seinsstrukturen gerade auch im Hinblick auf den qualitativen Gehalt und die inhaltliche Gestalt beider Bereiche besteht, daß eine wechselseitige Beziehung zwischen Veränderungen in der "Sinn- und Seinsstruktur geschichtlicher Zusammenhänge unverkennbar ist und daß hierin das eigentliche Problem aller Kultursoziologie liegt (129).

Gerade die letzten Veröffentlichungen SCHELERs zeigen nun eine so deutliche Abkehr vom ursprünglichen ontischen Dualismus, der in seinen früheren Arbeiten und insbesondere in seiner Lehre von einem ewig gültigen Reich der Wertwesenheiten und ihrer Eigengesetzlichkeit vorherrschte, daß es zumindest als berechtigte Frage erscheint, ob SCHELER nicht dadurch auch eine andere Stellung zum Problem der Kultursoziologie eingenommen hätte (130).

Wenn SCHELER etwa sagt:
    "Geist und Drang, jene beiden Attribute des Seins, sie sind, abgesehen von ihrer erst werdenden gegenseitigen Durchdringung - als Ziel - auch in sich nicht fertig: sie wachsen an sich selbst eben in diesen ihren Manifestationen in der Geschichte des menschlichen Geistes und in der Evolution des Lebens der Welt" (131),
so zeigt sich hier zumindest andeutungshaft eine Fassung des problematischen Verhältnisses von Geist und Trieb, die soeben als das Kennzeichen einer Kultursoziologie vom "dynamischen Standort" aus bezeichnet wurde. Diese und ähnliche Formulierungen, die eine deutliche Wandlung der Ansichten SCHELERs zeigen, können daher vielleicht als Beweis dafür gelten, daß auch seine kultur- und wissenssoziologischen Arbeiten in ihren Ergebnissen nicht als etwas Endgültiges gewertet werden dürfen, sondern daß ihre eigentliche und positive Bedeutung eher in dem anregenden Hinweis auf fruchtbare und akute Probleme der Geisteswissenschaften und der Kulturphilosophie, als in deren Inangriffnahme und den definitiven Lösungsversuchen zu finden ist. Dennoch hebt diese Vermutung natürlich nicht die Notwendigkeit auf, über alle referierende Darstellung, über alles innerhalb seiner Gedanken bleibende Verständnis der Eigenarten von SCHELERs Kultursoziologie und auch über ihre typologische Abgrenzung gegen andere Formen wissenssoziologischer Forschung (132) hinweg ihre Thesen einer kritischen Bearbeitung zu unterziehen. Nur durch eine solche Kritik können zugleich all jene Stellen aufgezeigt werden, wo das wissenssoziologische Problem der Seinsverbundenheit geistiger Gehalte von selbst zu einer umfassenderen Fragestellung hindrängt, als sie bei SCHELER vorliegt.

Wenden wir uns daher noch einmal jenem ontischen Dualismus zwischen Geist und Leben zu, der den eigentlichen Kern der theoretischen Ausführungen SCHELERs zur Grundlegung der Wissenssoziologie bildet. Wie die Behauptung einer bloßen "Faktizitätsrelevanz" des Seins für den Geist und seiner seligierenden Funktion als logische Konsequenz dieses Dualismus anzusehen war, so ist durch ihn auch die Eigenart der Behandlung geprägt, die zwei weitere wichtige, im Zusammenhang kultursoziologischer Forschung entstehende Fragen bei SCHELER finden:
    1. die Frage nach der Relativität geistiger Werte, Haltungen und Zusammenhänge, und

    2. die eigentlich mehr methodische oder erkenntnistheoretische Frage, ob die Wissenssoziologie in der Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Sein eine kausalerklärende oder eine sinndeutende und damit hermeneutische, verstehende Disziplin ist.
Den Gegensatz, den die zweite Frage betrifft, terminologisch kurz zu fassen, ist relativ schwer; er wird daher erst in der ausführlichen Behandlung im Folgenden voll verständlich werden können (133).

Jeder Wissenssoziologie betreibende Forscher müßte eigentlich mit einer inneren Konsequenz auch zum Problem der Relativität geistiger Gehalte und Ordnungen hingeführt werden, denn in der Feststellung der gesellschaftlichen Bedingtheit geistigen Lebens gipfeln doch gerade die Forschungsresultate der Wissenssoziologie, und der historische Wandel dieses gesellschaftlichen Lebens wird von ihren Vertretern nachdrücklich betont. Von dieser engen Verflochtenheit der Wissenssoziologie mit der Relativitätsproblematik wäre dann freilich eine andere Frage streng zu unterscheiden: ob mit den methodischen Mitteln der Wissenssoziologie diese Relativitätsproblematik selbst noch aufgegriffen und bewältigt werden kann oder ob dazu nicht philosophische Entscheidungen im engeren Sinne notwendig sind, die in ihrem engen methodischen Aufgabenbereich eigentlich keinen Platz mehr finden. (134)

SCHELERs Wissenssoziologie zeigt nun die Eigentümlichkeit, daß aus den Konsequenzen ihrer eigenen methodischen Voraussetzungen heraus die Standortproblematik und das damit auf das Engste verbundene Problem der relativen Geltung des Wissens und Erkennens und seiner Resultate überhaupt nicht aufgeworfen zu werden braucht und von SCHELER auch nicht aufgeworfen wird. SCHELER hebt diesen Tatbestand durch die Formulierung hervor:
    "Einem philosophischen Relativismus ... entgehen wir ... dadurch, daß wir ... das der Wesensidee des Menschen entsprechende absolute Ideen- und Wertreich ganz gewaltig viel höher über alle faktischen bisherigen Wertsysteme der Geschichte gleichsam aufhängen ..." (135)
Mit anderen Worten: Der qualitative Gehalt oder Inhalt geistigen Seins wird von der wissenssoziologischen Fragestellung für SCHELER gar nicht berührt. Stets handelt es sich nur darum, und hierauf ist weiter oben nachdrücklich hingewiesen worden, die Realisierung des Geistes in Raum und Zeit aus der besonderen Art und Struktur der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erklären. Standortbedingt ist für SCHELER stets nur das Realwerden des Geistes, seine "Durchsetzungschance", nie aber sein Sinngehalt selbst. Die absolute Wahrheit und damit auch ihr Kriterium ist dadurch jeder Relativierung gesichert, daß sie in ein historisch invariantes, ewig gültiges Wertreich verlegt wird. Die Behandlung der Relativitätsproblematik liegt daher, so scheint es zunächst, außerhalb von SCHELERs Aufgabenkreis. Der eigentlichen Gefahr jeder soziologischen Betrachtung geistiger Gebilde wäre SCHELER damit entgangen.

Wenn er dennoch der Beschäftigung mit dem Relativismus in seinem kultursoziologischen Hauptwerk einen weiten Raum einräumt, so folgt er hier de facto nicht der Konsequenz der Sache. Vielmehr greift er erneut seine schon in der Ethik nachdrücklich vertretene Kritik an KANTs Formalismus auf und benutzt sie als Argumentationsbasis. Die transzendentale Apperzeption als die Einheit aller apriorischen Denk- und Anschauungsfunktionen war für KANT zeitlos und allgemeingültig. Hiergegen erhebt SCHELER schon in der Ethik [formalethik] und verstärkt in der Kultursoziologie den Einwand, daß eine "allen Menschen von Anfang an mitgegebene eingeborene Funktionsapparatur der Vernunft - dieses Idol der Aufklärungszeit und auch noch KANTs -" (136) nicht nachzuweisen ist. Vielmehr hat jeder Soziologe von dem gerade auch bis in die Struktur des Denkens hineinragenden Pluralismus der historischen Gruppen und Kulturformen auszugehen. (137) SCHELER behauptet also eine historisch begründete Mannigfaltigkeit der Denkapparaturen und insofern er dem Bewußtsein die gleiche "weltbauende" Funktion zuerkennt wie KANT, würde hierdurch gleichsam von einem anderen und verhältnismäßig abseitigen Ausgangspunkt aus das Problem einer Relativität der Weltbilder entstehen.

Abgesehen nun von der Frage, inwieweit und in welcher Weise SCHELER im Rahmen seiner weiter oben erwähnten Lehre von einer konstanten Wesensgesetzlichkeit des Geistes überhaupt sinnvoll und ohne innere Widersprüche von einem Pluralismus der Strukturen des Geistes sprechen kann, so zeigt schon ein kurzer Blick auf das, was mit der historisch sich wandelnden "Funktionsapparatur der Vernunft" gemeint ist, daß sie in einem von KANT deutlich unterschiedenen Sinn verstanden wird und daß die soeben erhobene Behauptung, die Relativitätsproblematik und ihre Behandlung liegt außerhalb der Aufgaben der Kultursoziologie SCHELERs ihre volle Gültigkeit besitzt. Historisch variable Strukturen des Geistes - SCHELER spricht hier von Kategorialstrukturen des Bewußtseins - sind Ergebnisse eines "funktionalisierten Wesenswissens", und hierin zeigt sich die ganze Tragweite des oben zitierten Satzes (138). "Sie entspringen ... alle aus der Erfassung des einen ontischen Ideen- und Wertrangordnungsreiches, das diese zufällige Wirklichkeit durchflicht" (139). Die Bedeutung der Phänomenologie für SCHELERs Arbeiten wird gerade hier sichtbar, denn das, was SCHELER als historisch-variable Struktur des Bewußtseins bezeichnet, ist nur der zu einer gleichsam festen Form des Denkens ausgebildete Ausschnitt aus einem absoluten Ideen- und Wertreich, der in einer Gruppe oder in einem Kulturkreis Geltung erlangt und sich real durchgesetzt hat. Die Durchsetzungschance aber ist durch die realen Verhältnisse der Gesellschaft bedingt.

An dieser ganzen Gedankenführung zeigt sich somit, daß auch die zunächst recht abseits liegende Relativitätsproblematik, wenn sie einmal aufgegriffen wird, sich für SCHELER durchaus in den Rahmen einpaßt, der durch die methodisch-systematischen Voraussetzungen der Phänomenologie vorgezeichnet ist. Die zentrale Stellung der Lehre vom ewig-gültigen Reich der Ideen und Wertwesenheiten in eigener unwandelbarer Gesetzlichkeit beeinflußt auch hier eindeutig die Entscheidung in der Frage der Relativität oder Nicht-Relativität der standortbedingten Weltbilder und -aspekte. An dieser Lehre findet die ganze Argumentation SCHELERs zur Relativitätsproblematik und insbesondere seine Behauptung, Denkstrukturen seien zu einer festen Form des Geistes umgebildete Ausschnitte aus einem ansich bestehenden Wertreich, ihren festen Halt. Es wäre daher vielleicht sachlich zu rechtfertigen, wenn man behauptet, die ganze Relativitätsproblematik biete sich SCHELER von vornherein schon als eine bloße Perspektivitätsproblematik dar. Fehlt der archimedische Punkt jenseits des historisch Wandelbaren, so gerät notwendigerweise auch die ganze Argumentationsweise SCHELERs ins Wanken. (140)

Die gleiche zentrale Bedeutung gewinnt die Phänomenologie auch für die oben erwähnte Frage nach der eigentlichen Erkenntnismethode der Wissenssoziologie, d. h. für die Frage, ob sie durch ihre Methode eine Kausalzusammenhänge erklärende oder eine Sinn- und Strukturzusammenhänge verstehende Wissenschaft ist. Es ist ohne weiteres evident, daß in einer Philosophie, die den Gehalt des Geistes und seine Ordnungen in ein an PLATON gemahnendes, allem historischen Wandel gegenüber transzendent bleibendes Reich ontischer Wesenheiten verlegt, die wissenssoziologische Fragestellung nur die Bedingungen des Realwerdens jener Wesenheiten betreffen kann. Es ist weiter evident, daß bei dem Aufweis dieser Bedingungen des Realwerdens stets nur von einer kausalen Verursachung gesprochen werden kann und vielleicht sogar gesprochen werden muß. Unzählige Formulierungen in den verschiedensten Arbeiten von SCHELER sind ein Beweis dafür, daß er infolge seines Problemansatzes tatsächlich eine solche kausalerklärende Absicht in seiner Wissenssoziologie verfolgt. Stets wird von ihm nachdrücklich betont, daß er eine realsoziologische, kausalerklärende Untersuchung über das Verhältnis von Geist und Leben beabsichtigt und daß die von ihm vertretene Soziologie der Weltanschauungen und des Wissens eine "real-kausal-erklärende" Disziplin ist (141).

Ganz anders stellt sich das Problem dem dar, der jenen bei SCHELER vorhandenen festen Bezugspunkt außerhalb des historisch Wechselnden nicht anerkennt und gerade auch den Gehalt des geistigen Lebens als in den Prozeß des geschichtlichen Werdens und Vergehens selbst mit einbezogen ansieht. Geist und Leben stehen sich dann als die zwei nur noch phänomenologisch unterscheidbaren Pole eines einheitlichen dynamischen Ganzen gegenüber. Auch dann noch ein kausal-erklärendes Verfahren zur Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Leben anwenden zu wollen, würde einen Rückfall in das Dilemma des alten psychophysischen Parallelismus in einer anderen Form bedeuten. Dem ist wohl nur zu entgehen, wenn sich auch hier in einer gleichsam kritischen Wendung des philosophischen Bewußtseins Geist und Leben nicht mehr als zwei ontische Seinsbereiche gegenüberstehen und ihr gegenseitiges Bestimmungsverhältnis nicht mehr als ein fertig gegebenes angesehen wird, das in der wissenssoziologischen Forschung nur abzubilden ist. Vielmehr ist zu betonen: Das Verhältnis von Geist und Leben ist gerade nicht fertig gegeben, sondern mittels auch des wissenssoziologischen Begriffs der "Seinsverbundenheit des Wissens" werden in der Zuwendung zum geschichtlichen Geschehen im Verstehen sinnhafte Korrelationen und Zusammenhänge allererst gestiftet, baut sich eine nach der lediglich phänomenologischen Unterscheidung in Geist und Leben aufgegliederte, dennoch aber in sich einheitliche und in ihren Zusammenhängen und deren Ordnungen erkennbare geistige und geschichtliche Welt auf. (142)

Auch an dieser Frage zeigt sich, wie stark SCHELER durch die Phänomenologie, von der er in allen seinen Arbeiten ausgeht, in der Behandlung eines rein methodischen Problems der Wissens- und Kultursoziologie von vorherein festgelegt ist.

Die bisherigen Ausführungen behandelten die Gedanken SCHELERs zur Grundlegung der Kultursoziologie, in deren Rahmen er auch die Wissenssoziologie eingliedert. Die kritischen Randbemerkungen - denn als etas anderes können und sollen die Ausführungen des vorangehenden Abschnitts nicht gelten - betrafen dabei freilich nur das Grundlegende und Wichtige. Die Fülle der fruchtbaren Anregungen und Aspekte, die SCHELER oft wie nebenbei und ohne notwendigen inneren Zusammenhang mit der Sache selbst gibt und eröffnet, konnte nicht einmal erwähnt, geschweige denn dargestellt und gewürdigt werden, wenn der vorliegende Gedankengang eine gewisse Abgeschlossenheit behalten sollte. Dasselbe gilt für die im eigentlichen Sinne wissenssoziologischen Ausführungen, die in SCHELERs Arbeiten einen bei weitem breiteren Raum einnehmen als das bisher Erwähnte.

Die Notwendigkeit der auswählenden Beschränkung ergibt sich für eine kritische Darstellung schon bei den ersten prinzipiellen Ausführungen zur Wissenssoziologie. Dreifacher Art nämlich ist nach SCHELER die mögliche Grundbeziehung des Wissens zur Gesellschaft:
    1. Jede Gruppe wird erst zu einer solchen durch das Wissen ihrer Glieder voneinander.

    2. Alles Wissen ist für das Sosein der Gesellschaft bestimmend.

    3. Alles Wissen ist nicht in seinem Sosein, wohl aber seinem Umfang nach und in Bezug auf die Zeit und den Ort, an dem es auftritt, durch die Gesellschaft und ihre Struktur determiniert.
In der ihm eigenen, jeden systematischen Gedankengang nur allzu leicht sprengenden Art faßt hier SCHELER im Aufgabengebiet der Wissenssoziologie alles zusammen, was nur irgendwie noch unter das durch die Begriffe Wissen und Gesellschaft bezeichnete Verhältnis fallen kann. Wenn aber die Wissenssoziologie als Lehre von der Verbundenheit des Wissens und Denkens mit dem sozialen Sein definiert ist, so geht hieraus hervor, daß de facto nur die dritte von SCHELER genannte Grundbeziehung des Wissens zur Gesellschaft ihr eigentliches Problem- und Aufgabengebiet ist. Soll diese relativ begrenzte Frage der eigentlichen Wissenssoziologie in SCHELERs Darstellung streng verfolgt werden, so müssen alle seine Ausführungen zu den ersten beiden Grundbeziehungen hier außer Betracht bleiben. Das bedeutet, daß etwa seine im Einzelnen so überaus fruchtbaren, freilich oft in das erkenntnistheoretische Gebiet hineinragenden Ausführungen zum Problem der "ursprünglichen Vorgegebenheit" des Sozialen vor allen anderen Bereichen des Erlebens, weiter seine bedeutsame Unterscheidung von "Gruppenseele" und "Gruppengeist" und die damit verbundene Unterscheidung von natürlicher, relativ-natürlicher und relativ-künstlicher Weltanschauung und vieles andere nur erwähnt, aber nicht behandelt werden können. Wichtig für den ganzen Zusammenhang und für die dritte, die Wissenssoziologie im eigentlichen Sinne allein angehende Art der Grundbeziehung von Wissen und Gesellschaft sind die Folgerungen, die SCHELER aus seinen obersten "Axiomen" zieht: Erstens folgt, daß der soziologische Charakter allen Wissens, aller Denk-, Anschauungs- und Erkenntnisformen unbezweifelbar ist; daß zwar nicht der Inhalt allen Wissen und noch weniger seine Sachgültigkeit, wohl aber die Auswahl der Gegenstände des Wissens nach der herrschenden sozialen Interessenperspektive, daß ferner die Formen der geistigen Akte, in denen Wissen gewonnen wird, stets und notwendig soziologisch, d. h. durch die Struktur der Gesellschaft mitbedingt ist (143).

Vor allem die zweite Folgerung zeigt deutlich den Zusammenhang der Wissenssoziologie mit den behandelten Gedanken zur Kultursoziologie. Der dort hervorgehobene "gemäßigte" Standpunkt, für den die Bedeutung des sozioalen Seins in einer Selektionsfunktion aufgeht, wird auch hier voll und ganz aufrechterhalten. Nie kann nach SCHELER das Wissen selbst aus der Struktur der Gesellschaft abgeleitet werden, vielmehr sind sein Inhalt und seine Form als Niederschlag von Wesenserfahrungen an den Dingen zu verstehen, und nur die spezifische Auswahl aus der Sphäre der Wesenheiten erscheint als durch die Gesellschaftsordnung mitbedingt. Gemeinsam mit der dritten Folgerung, die die Strukturidentitäten und Analogien zwischen den Formen der Akte, in denen Wissen erworben wird, und dem Aufbau und der Organisation der Gesellschaft betrifft (144), kann sie darüber hinaus aber auch als ein Beweis dafür angesehen werden, wie sehr SCHELER über manche anfängliche Abschweifung hinweg tatsächlich und vordringlich jenem durch den Terminus Seinsverbundenheit gemeinten Sachverhalt seine Aufmerksamkeit widmet. Er stellt de facto die dritte von ihm genannte mögliche Grundbeziehung von Wissen und Gesellschaft in den Vordergrund der Untersuchung.

Bis hierher gliedern sich die speziell wissenssoziologischen Ausführungen SCHELERs ohne weiteres in den umfassenden Rahmen seiner Kultursoziologie ein. Ja, sie können vielleicht sogar als Bewährung der kultursoziologischen Thesen an einem einzelnen Problemgebiet, nämlich dem des Wissens, verstanden werden. Eine gewisse inhaltliche Differenzierung erfährt jedoch diese Behandlung der wissenssoziologischen Problematik dadurch, daß SCHELER in sie eine Phänomenologie der verschiedenen Wesensformen des Wissens einarbeitet. Dieses Bemühen SCHELERs findet seinen letzten Erklärungsgrund in dem historischen Ansatz, von dem aus er zu einer Bearbeitung des wissenssoziologischen Problemgebietes überhaupt gelangte. Gerade die ersten Arbeiten SCHELERs zur Wissenssoziologie zeigen diesen historischen Ansatz deutlich in einer Gegnerschaft zur positivistischen Geschichtsphilosophie. (145)

Wenn auch SCHELERs philosophische Anschauungen in weitem Maße jene Voraussetzungen enthalten mögen, die eine prinzipielle Bearbeitung wissenssoziologischer Probleme und insbesondere eine Abwehr des Relativismus gestatten, so bieten doch jene ersten Arbeiten einen sichtbaren Hinweis darauf, daß die tatsächliche Inangriffnahme dieser Probleme erst durch eine Auseinandersetzung mit dem Dreistadiengesetz von COMTE erfolgt ist. COMTE behauptete ja, daß im geschichtlichen Prozeß der geistigen Entwicklung der Menschheit ein deutlicher und gradliniger Fortschritt von einer ursprünglich religiösen über eine metaphysisch-spekulative zu einer positiv-technischen Denk- und Erkenntnisform festzustellen ist. Demgegenüber betont SCHELER nachdrücklich, daß wir es hier keineswegs mit Stadien eines historischen Entwicklungsprozesses zu tun haben, sondern daß die von COMTE angeführten Typen des Wissens überhaupt verstanden werden müssen. Sie sind "essentielle, dauernde, mit dem Wesen des menschlichen Geistes selbst gegebene Geisteshaltungen und Erkenntnissformen", die in jedem historischen Zeitpunkt nebeneinander bestehen und wirksam sind und von denen "keine die andere ersetzen oder vertreten" kann (146). Allerhöchstens kann nach SCHELER von einer historisch wechselnden Prioritätsordnung der drei Wissensarten untereinander im Ablauf der Geistesgeschichte gesprochen werden. Trotz der prinzipiellen Auseinandersetzung mit COMTE übernimmt also SCHELER die von diesem unterschiedenen Formen des Wissens ohne weiteres, interpretiert sie als Wesensformen des Wissens und wagt sogar den Versuch, ihre hintergründigen und zuletzt triebhaften Ursprungsmotive aufzusuchen, gemäß der Behauptung, daß alles Wissen seiner Form nach aus urtümlichen Trieben hervorgeht. So beruth für SCHELER alle Religion auf dem Bestreben, das Heil der Person zu retten oder zu bergen. Alle Metaphysik basiert auf dem emotionalen Gefühl der Verwunderung, und alle positive Wissenschaft hat zu ihrer Grundlage die Gruppe der Macht und Herrschaftstriebe. Ob diese begründende Rückbeziehung tatsächlich als eine Begründung der Wissensformen in einer Trieblehre angesehen werden kann, erscheint jedoch als recht fraglich, denn nur die positive Wissenschaft wird ja einer Gruppe der urtümlichen biologischen Triebe zugeordnet, während die von SCHELER genannten Ursprungsmotive dre anderen Wissensformen wohl eine von allem Biologischen qualitativ verschiedene Sphäre des Emotionalen ausmachen.
    "Es sind drei völlig verschiedene Motive, drei völlig verschiedene Gruppen von Akten des erkennenden Geistes, drei verschiedene Ziele, drei verschiedene Persönlichkeitstypen und drei verschiedene soziale Gruppen, auf denen Religion, Metaphysik und positive Wissenschaft beruhen."
und es sind auch die Entwicklungs- und Bildungsgesetze der drei Gebiete des Geistes in der Geschichte verschieden. Mit diesen Sätzen hat SCHELER über die terminologische Formulierung des Ergebnisses der Auseinandersetzung mit COMTE hinaus auch zugleich thesenartig eine Eingrenzung vollzogen, innerhalb deren sich nun seine Untersuchungen zur materialen Problematik der Wissenssoziologie bewegen werden. Er hält fest an der Unterscheidung der drei Wesensformen des Wissens, wie es in Religion, Metaphysik und positiver Wissenschaft gewonnen wird. An diese drei Typen des Wissens wird jetzt die soziologische Frage nach folgenden Gesichtspunkten herangetragen: Untersuchung
    1. der verschiedenen idealtypischen Führerschichten auf den drei Wissensgebieten;

    2. der verschiedenen Ursprünge ihres Wissenserwerbes;

    3. der sozialen Grundformen, in denen sich Wissenserwerb und -bewahrung darstellen;

    4. ihrer verschiedenen Funktionen in der Gesellschaft und

    5. ihres verschiedenen soziologischen Ursprungs.
Nach dem Schema dieser genau präzisierten Fragen sind die Untersuchungen SCHELERs zur materialen Problematik der Wissenssoziologie gegliedert. Aus sie näher einzugehen aber würde die begrenzte Aufgabe der vorliegenden Arbeit überschreiten. Dennoch kann und darf nicht unerwähnt bleiben, daß gerade in diesen Untersuchungen die ganze und eigentliche Fruchtbarkeit des Beitrags SCHELERs zur Wissenssoziologie zu finden ist, selbst wenn auch hier oft eine im eigentlichen Sinne soziologische Fragestellung verlassen wird und die in sich ruhenden Strukturen des Geistes im Vordergrund der Analyse stehen. Solche Bedeutung hat etwa seine Lehre von den drei Führertypen: Heiliger, Weiser, Forscher und den ihnen korrespondierenden sozialen Grundformen der Wissenübermittlung in Sekten, Schulen im antiken Sinne und Fachschulen; des weiteren seine Ausführung zur eigentümlichen Zwischenstellung der Technik zwischen positiver Wissenschaft und rein praktischer Arbeitstechnik und dgl. mehr. Nicht zuletzt liegt auch darin eine weitreichende Bedeutung dieser Untersuchungen, daß SCHELER erst von der phänomenologischen Unterscheidung der drei Wissensarten aus einen möglichen Ansatz zur Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus findet (147), daß er zum anderen erst von hier aus zu jenem oft ausgesprochenen Gedanken gelangt, der vorwiegend auf Naturbeherrschung eingestellte Geist des Abendlandes habe mit der auf die Bildung der Person hinzielenden, im metaphysischen und religiösen Wissen gründenden Seelentechnik Asiens zu einem inneren Ausgleich zu kommen (148). Schließlich gelangt er von hier aus auch zu seinen pädagogisch-philosophischen Vorschlägen für eine Neuordnung des Bildungswesens (149).

Eine abschließende und abrundende Zusammenfassung der Gedanken Schelers zur Wissenssoziologie ist nicht leicht. Soviel aber ist gewiß, daß über alle Fruchtbarkeit der Ansätze und Fragestellungen im Einzelnen hinweg SCHELERs Thesen zur Begründung einer Kultur und Wissenssoziologie eine kritische Auseinandersetzung geradezu verlangen. Eine solche Auseinandersetzung weist sowohl von der Sache her als auch in Verfolgung einiger Arbeiten des späten SCHELER in eine Richtung, sehr nachdrücklich zu einer Überwindung des "statischen" Dualismus von Geist und Leben hindrängt. Abgesehen von der Frage aber, ob SCHELER selbst einen solchen Weg innerhalb seiner Wissenssoziologie gegangen wäre, haben die referierten Thesen auch ihren Wert in sich. SCHELER hat in seiner Lehre von der bloßen Realisations- und Selektionsfunktion des gesellschaftlichen für das geistige Sein eine mögliche Form der Lösung wissenssoziologischer Probleme realisiert; eine Form, die andere Deutungsversuche neben sich nicht nur zuläßt, sondern als Ergänzung geradezu fordert.
LITERATUR: Hans-Joachim Lieber, Wissen und Gesellschaft, Tübingen 1952
    Anmerkungen
    94) Dieses Kapitel ist in weniger ausführlicher Form in den "Philosophischen Studien", Bd. 1, Heft 1, Berlin 1949 unter dem Titel: Zur Problematik der Wissenssoziologie bei Max Scheler" abgedruckt worden.
    95) Vgl. hierzu GRÜNWALD, a. a. O., Seite 49/50 und als inhaltliche Verifizierung die referierende Darstellung in Kapitel IV seiner Arbeit.
    96) MAX SCHELER, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926, im Folgenden kurz zitiert als "Wissensformen", Seite 6.
    97) SCHELER formuliert in "Wissensformen", Seite 6f, stets nur einige, wie er selbst meint, sporadisch aufgegriffene Punkte, die ein solches Gesetz enthalten müßte.
    98) Wissensformen, Seite 6
    99) Wissensformen, Seite 7
    100) Wissensformen, Seite 8
    101) Wissensformen, Seite 7
    102) Wissensformen, Seite 9
    103) Wissensformen, Seite 12
    104) vgl. ALFRED WEBER, Kultursoziologie in "Handwörterbuch der Soziologie", hg. von ALFRED VIERKANDT, Seite 284f.
    105) Wissensformen, Seite 30
    106) Wissensformen, Seite 32
    107) vgl. Mensch und Geschichte im Weltalter des Ausgleichs in "Philosophische Weltanschauung", Bonn o. J. Seite 79.
    108) Wissensformen, Seite 32
    109) Wissensformen, Seite 34
    110) Wissensformen, Seite 43
    111) vgl. Wissensformen, Seite 38. Die hier immer erwähnte allgemeinmenschliche Trieblehre hat SCHELER in extenso [ausführlich - wp] nie ausgeführt. Er verweist immer auf seine "Philosophische Anthropologie", die aber nicht mehr erschienen ist.
    112) Als naturalistisch wird jede Ableitung des geistigen Gehaltes vom Unterbau angesehen.
    113) Wissensformen, Seite 41
    114) vgl. zum Ganzen "Wissensformen", Seite 34-45.
    115) Wissensformen, Seite 45
    116) Als Ergänzung zu diesem Beispiel wäre neben den in dem Sammelband "Versuche zu einer Soziologie des Wissens", München und Leipzig 1924, abgedruckten Arbeiten von HONIGSHEIM zur Soziologie der Scholastik, des Nominalismus und des Realismus insbesondere der Aufsatz von ALFRED von MARTIN: "Kultursoziologie des Mittelalters" heranzuziehen, der im Handwörterbuch der Soziologie, Seite 370f, veröffentlicht worden ist. von MARTIN bekennt sich dort ausdrücklich zu der Behauptung SCHELERs, daß den Ideen und Idealen Triebe als bewegende Kräfte zugrunde liegen, welche sie erst in Realität umsetzen. Ohne solche triebhaften Kräfte wäre der Geist machtlos. Im Sinne dieser Behauptung führt er dann auch seine soziologische Analyse der Kultur des Mittelalters und der Geistesart des mittelalterlichen Menschen durch.
    117) vgl. insbesondere die Diskussion zu dem Vortrag: Wissenschaft und soziale Struktur, den SCHELER auf dem vierten deutschen Soziologentag 1924 in Heidelberg gehalten hat. Das Protokoll ist 1925 in Tübingen erschienen.
    118) Ich verweise zur Formulierung dieser Frage und zu den folgenden kritischen Bemerkungen auf die Auseinandersetzung MANNHEIMs mit SCHELER. Vgl. "Wissenssoziologie" in "Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 53, Seite 630f. Vgl. auch das Kapitel III dieser Arbeit.
    119) Ich kann der Kritik MANNHEIMs an SCHELER gerade an diesem Punkt nur zustimmen; vgl. a. a. O., Seite 632
    120) vgl. a. a. O. Seite 632
    121) vgl. a. a. O. Seite 632
    122) Ich übernehme diesen terminus technicus von EDUARD SPRANGER.
    123) vgl. GRÜNWALD, Probleme der Wissenssoziologie a. a. O., insbesondere Kapitel II und III, sowie Kapitel III dieser Arbeit.
    124) Wissensformen, Seite 127.
    125) Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, Jahrgang 2, Heft 1.
    126) Auch diesen Begriff übernehme ich von EDUARD SPRANGER.
    127) vgl. Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 53, Seite 630f und Kapitel III dieser Arbeit.
    128) Auf die fruchtbaren Seiten der Phänomenologie, insbesondere auf die durch die Beschreibung bedingte Zuwendung zum Konkreten, kann hier nicht eingegangen werden.
    129) vgl. Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 53, Seite 633.
    130) Insbesondere: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928 und "Philosophische Weltanschauung".
    131) Die Stellung des Menschen im Kosmos, Seite 111
    132) Eine solche Abgrenzung hat etwa MANNHEIM, a. a. O., Seite 630 vorgenommen.
    133) vgl. Kapitel III und IV dieser Arbeit.
    134) vgl. Kapitel III und IV dieser Arbeit.
    135) Wissensformen, Seite 13/14.
    136) Wissensformen, Seite 12
    137) Wissensformen, Seite 13
    138) Wissensformen, Seite 27 und 13
    139) Wissensformen, Seite 13
    140) vgl. zum Gesagten insbesondere auch den Abschnitt über "historische Relativität der Werte und ihre Dimensionen in: Der Formalismus in der Ethik, Halle/Saale 1927, Seite 306-329
    141) Kölner Viertelsjahreshefte für Soziologie, Jahrgang II, Heft 1, Seite 30.
    142) vgl. zum Ganzen auch Kapitel III und IV dieser Arbeit.
    143) Wissensformen, Seite 55
    144) Als Beispiel seien die auch von SCHELER betonten Strukturanalogien zwischen philosophischem Wissenserwerb und platonischer Akademie und zwischen religiösem Wissenserwerb und Sekten und dgl. angeführt.
    145) Vgl. insbesondere die Arbeiten in den Kölner Vierteljahresheften für Soziologie.
    146) Kölner Vierteljahreshefte, Jhg. I, Heft 1, Seite 25.
    147) vgl. "Erkenntnis und Arbeit" in: Die Wissensformen etc.
    148) vgl. Verhandlungen des IV. Deutschen Soziologentages, "Formen des Wissens und die Bildung", "Mensch und Geschichte im Weltalter des Ausgleichs in: Philosophische Weltanschauung u. a.
    149) Formen des Wissens etc., Universität und Volkshochschule.