tb-1G. StörringL. SsalagoffF. MünchH. Rickert    
 
ARTHUR LIEBERT
Das Problem der Geltung
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"Nicht die Sterne am Himmel sind die Objekte, die jene Methode betrachten lehrt, um sie zur Erkenntnis zu bringen; sondern die astronomischen Rechnungen, jene Fakten wissenschaftlicher Realität sind gleichsam das Wirkliche, das zu erklären steht, auf welches daher der transzendentale Blick eingestellt wird."

D a s   S y s t e m

5. Die methodische Geltung der Systemidee.

a) Allgemeines.
Ebenso wie die strenge Berücksichtigung derjenigen Beziehung, die die Idee des Systems zu den positiven Wissenschaften besitzt, sowohl vor der substantialistischen als auch vor der psychologistischen Auffassung jener Idee schützt, ebenso wird durch jene Berücksichtigung noch die Möglichkeit einer dritten unzutreffenden Interpretation abgewehrt. Das wäre die formal-logizistische Auffassung der Idee des Systems.

Was zur Abweisung dieser Deutung veranlaßt, das ist die der formalen Logik eigentümliche Absperrung und Abtrennung der logischen Bedingungen von den konkreten Wissenschaften, eine Abtrennung, die nicht nur den Charakter des Künstlichen, sondern, was wesentlicher ist, des logisch Posterioren trägt. Die formale Logikist stets in Gefahr, bloße Grammatik, bloße Syntax der Erkenntnis, statt logische Theorie der Erkenntnis zu sein, wenn die Beziehung auf die Erkenntnis streng gewahrt bleibt. (1) Die reine Formalität sichert bestimmten Formen der Erkenntnis noch nicht die Geltung von Bedingungen der Erkenntnis. Es muß vielmehr der erkenntnistheoretische Gesichtspunkt, es muß der Gedanke der Bezogenheit dieser Formen auf die Erkenntnis beherrschend hervortreten und genau berücksichtigt werden. Es ist unabweisbar, die logischen Formen zunächst stets als Bedingungen der Erkenntnis zu denken, als die "Möglichkeiten" derselben. Nur auf Grund dieser logisch-objektivistischen Überlegung werden die Formen der Erkenntnis auf den Gegenstand bezogen, erst durch diesen Gesichtspunkt wird es verständlich, wie jene Formen den "Gegenstand" zu konstituieren vermögen. Indem die Kritik der Erkenntnis von dem Begriff der Wissenschaft als ihrer Grundlage ausgeht und an diesem Begriff orientiert ist, besteht  das erste und grundlegende Kapitel jeglicher Wissenschaftslehre,  die doch den Begriff der Erkenntnis zu entwickeln hat,  nicht sowohl in der Entwickelung der formalen als in der der transzendentalen oder erkenntnistheoretischen Logik.  Denn deren Aufgabe ist es, die gegenständlichen, besser: die gegenstandskonstituierenden Bedingungen der Erkenntnis gerade in ihrer objektiven Geltung ans Licht zu stellen.

Und demgemäß handelt es sich auch in unserem Falle darum, die  erkenntnistheoretische  Geltung der Idee des Systems aufzudecken und festzuhalten, d. h. die Bedeutung, welche die Idee des Systems für den Erkenntnisbegriff und für die Konstituierung des Erkenntniszusammenhanges besitzt. Daß sie eine  solche  Bedeutung hat, ist nicht zweifelhaft, sobald man ihre grundlegende, theoretische Funktion in bezug auf die Erkenntnis erkannt hat, sobald es klar geworden ist, daß diese Idee nicht in einem starren, abstrakten Sein besteht, sondern in der lebendigen Funktion, die sie für die Erkenntnis entwickelt.

Diese Aufdeckung der funktionalen Geltung der Systemidee in bezug auf die Erkenntnis und die positive Forschung besagt im Grunde nichts Anderes, als daß  diese Idee unter den methodischen Gesichtspunkt gerückt  als daß sie in  methodischer Geltungshinsicht aufgefaßt wird.  Denn jeder Schritt in der Untersuchung unseres Problems zeigt fortschreitend die Bedeutung auf, die diese Idee für die Herstellung der Erkenntnisreihe, für die Erzeugung des Verknüpfungszusammenhanges der Erkenntnis besitzt. Auf sie stützt sich jedes besondere wissenschaftliche Verfahren, das sich ihrer für jeden immanenten gedanklichen Fortschritt bedient. Jede einzelne Methode strebt zur Verifikation des Systems, sie führt in ihrem Fortschreiten zur Verwirklichung jener Idee, die das prinzipielle logische Rückgrat der einzelnen Methoden bildet.

Natürlich sind die Ausdrücke: "bedienen", "verifizieren"  durchaus nur in theoretischer Bedeutung  und in keinerlei praktischer Absicht, die sich auf den Nutzen der Wissenschaft bei der Beherrschung der Natur richten würde, genommen. In einem solchen praktischen, utilitaristischen Sinne nimmt, wie wir sahen, VAIHINGER jene Ausdrücke: er läßt die "Richtigkeit", die "Wahrheit" aller theoretischen Arbeit in ihrer "praktischen Fruchtbarkeit", in ihrer "Ermöglichung der Berechnung des Geschehens und des Einwirkens auf das letztere" verbürgt sein. (2)

Von dieser utilitaristischen und pragmatischen Ausdeutung der Erkenntnis ist die hier vertretene Auffassung in jeder Beziehung unterschieden. Denn schon die  theoretische  Möglichkeit jener utilitaristischen Ausdeutung in unabhängig von der Frage nach dem Nutzen, den eine Erkenntnis für die Zwecke des Lebens hat. Logisch gesehen ist es die apriorische Sicherheit und Autonomie der Theorie, die von sich aus die wissenschaftliche Entscheidung über den praktischen Erfolg einer Erkenntnis zuläßt, und die sie logisch gewährleistet. (siehe oben). Der Nutzen ist überhaupt kein Wissenschaftskriterium, kein Wissenschaftsprinzip. (3) Da in der Welt jede Erkenntnis eine nie zu endgültigem Abschluß zu bringende Utililtät hat, das sie in praktischer Hinsicht immer und immer neue und andere Kreise zieht, da jede Zeit, jede Generation anders über den Nutzen einer Erkenntnis entscheidet, da für die Frage nach dem Nutzen die verschiedensten Gesichtspunkte, solche aus dem religiösen, aus dem rechtlichen, wirtschaftlichen, privaten Leben usw. herangezogen werden können, so ist über das utilitaristische Moment der Erkenntnis weder eine zeitlich gültige, noch eine prinzipiell eindeutige Entscheidung möglich. Ruht in der Forderung NIETZSCHEs "Das Wohl der Menschheit muß der Grenzgesichtspunkt im Bereich der Forschung nach Wahrheit sein" ? irgend welche theoretische Sicherheit? (4) Ist das "Wohl der Menschheit" in so eindeutiger und fester Weise bestimmt, daß man es als Kriterium und Richtschnur für die Erkenntnis gebrauchen könnte? Die utilitaristische Deutung hat lediglich den  willkürlich festgelegten, peripherischen  Wert einer Handlung, und sei dies auch eine Erkenntnishandlung, nicht aber deren immanente logische Bedeutung, nicht deren sachlichen, theoretischen Gehalt im Auge. Daß die wissenschaftliche Forschung irgend welche äußeren Erfolge hat, ist unbestreitbar. Ebenso daß unter Umständen die Aussicht auf solche Erfolge den Menschen zur wissenschaftlichen Forschung veranlaßt; als ein Stück der Erfahrungswelt hat die Erkenntnis auch ihre empirische Bedeutung, hat sie praktische, sozialökonomische Tragweite, und solche oft in allerstärkster Weise. Aber in der kritischen Logik der Erkenntnis ist die Untersuchung nicht auf das außertheoretische Moment des Nutzens eingestellt, sondern die reine erkenntnistheoretische Geltung, die wissenschaftliche Gesetzesbedeutung der Erkenntnis liefert das Kriterium für die Untersuchung der Erkenntnis. Diese Geltung der Erkenntnis ist schon da logisch vorausgesetzt, wo nach dem Nutzen der Erkenntnis gefragt wird. Die Erkenntnis "gilt", bevor noch die Frage nach dem Nutzen nicht nur entschieden, sondern überhaupt aufgeworfen ist.

Und so "verwenden", "verifizieren" die einzelnen Methoden der Wissenschaft die Idee des Systems in dem Sinne, daß diese Idee ihnen als transzendentallogische Voraussetzung dient, durch welche die begriffliche Struktur jener Methoden prinzipiell gesichert ist, und der gemäß dann jene Methoden ihren besonderen erkenntnismäßigen Vollzug bewerkstelligen. Auf diese Weise entwickelt sich ein lückenlos geschlossener Zusammenhang von rein logischer Bedeutung, der mit voller Sicherheit in sich ruht, der rein logisch-theoretischen Geltungswert und Geltungssinn besitzt, und dessen einzelne Momente in jeder Hinsicht durch den Begriff der grundlegenden Einheit und Systematik der Erkenntnis bestimmt und verbunden sind. Dieser Zusammenhang bedarf keines Seins, das seiner Einheit als Träger diente.


b) Die besonderen Funktionen der Systemidee.
1. Systemidee und Kategorien.

Wenn das System die condition sine qua non der Erkenntnis bedeutet, so heißt das, daß es das Grundsätzliche und Grundgesetzliche der Erkenntnis ausmacht. So bezieht es sich nicht auf die empirische, nicht auf die Zeitliche und assoziative Erkenntnisform. Das ist schnell zu begreifen. Wie aber verhält sich der Systemgedanke zu den anderen grundsätzlichen und grundgesetzlichen Bedingungen, auf denen die Erkenntnis beruht. Hat er die gleiche prinzipielle Geltung wie sie? Man wird diese Frage nicht bejahen können. Die einzelnen Kategorien sind nur insofern Bedingungen der Erkenntnis, sie üben die Funktion der vereinheitlichenden Verknüpfung nur insofern in objektivem Sinne aus, als sie selber auf dem Grund der Systemkategorie ruhen. Denn nur diejenigen Formen der Erkenntnis können als Kategorien gelten, die die Funktion der Systematisierung vollziehen, und die also apriori dem Gesichtspunkt des Systems unterstellt und von hier aus als Kategorien ausgezeichnet werden. Man fragt apriori: Durch welche Bedingungen ist die  Erkenntnis als System möglich?  Man fragt nach den kategorialen Bedingungen, man sucht diese aus der Erkenntnisgesamtheit herauszuheben, indem man nach denjenigen Formen fragt, die das  System der Erkenntnis als System  bedingen. Der Gedanke, daß die Kategorien Erkenntnisbedingungen sind, der Gedanke, der sie als solche auszeichnet, zielt hin auf das System der Erkenntnis. Sie sind solche Bedingungen, insofern sie Bedingungen für das System der Erkenntnis sind.

Das aber ist richtig zu verstehen. Jene Formulierung besagt, daß allerdings die Kategorien ihrerseits das System der Erkenntnis ermöglichen. Aber sie ermöglichen es  in dem Sinne, daß sie die theoretische Ausführung, daß sie den logischen Vollzug des Systems in concreto ermöglichen.  Das besagt zugleich, daß sie den Systembegriff, indem sie ihn vollziehen, indem sie ihn zur Ausführung bringen, gedanklich voraussetzen. Sie sind gleichsam die Vollstrecker des Systemgedankens, die Vehikel, deren dieser sich zu seiner methodischen Leistung für die Erkenntnis bedient. Jede einzelne Kategorie bedeutet an ihrem Teil einen Teilvollzug, eine spezielle Gestalt, einen speziellen Ausdruck des universellen Systemgedankens. (5)

So enthüllt sich ein weiterer logischer Geltungswert des Systembegriffes, den man vorläufig folgendermaßen bezeichnen kann:  der Systembegriff ist das Apriori der Kategorien; er ist der transzendentallogische Gehalt und Kern der Kategorien.  Er ist der Konstituent der Konstituentien der Erkenntnis. Ein Moment der Erkenntnis  gilt  als Kategorie, insofern als es den Gedanken des Systems richtig in sich trägt, ihn geltend macht und ihn zu theoretischem Ausdruck, zu logischer Entfaltung an dem Inhalt der Erkenntnis bringt. Das ist der Sinn der Bezeichnung, daß die Kategorien die Funktion der notwendigen Vereinheitlichung in Bezug auf den Stoff der Erkenntnis üben, daß sie die Klammern und Scharniere des Erkenntnisganzen sind, daß sie den Vollzug der theoretischen Systematisierung ausüben: sie begründen und bedingen die Erkenntnis, indem sie unter Zugrundelegung des Systemgedankens die Grundlegugn der einzelnen Wissenschaften ermöglichen.


2. Systemidee und die Methode der Deduktion und Induktion

Wenn die Systemidee die grundlegende Funktion für den Aufbau und für die Durchführung des Gesetzesgedankens der Erkenntnis übt, dann muß sich diese Funktion auch in denjenigen Verfahrungsweisen geltend machen, durch die sich der Aufbau der Erkenntnis in seiner Gesetzmäßigkeit vollzieht. Damit ist das Problem gegeben, welches Verhältnis zwischen der Idee des Systems und den Grundmethoden der Erkenntnis, also Induktion und Deduktion, bestehe.

Induktion wie Deduktion sind Inbegriffe von gesetzmäßigen Reihen und Relationen, ganz gleich, ob die eine Reihe vom Besonderen zum Allgemeinen, wie die Induktion, oder ob die andere Reihe vom Allgemeinen zum Besonderen, wie die Deduktion, fortschreitet. Beide Verfahrungsweisen dienen in gleicher Weise der Herstellung des Gesetzeszusammenhanges der Erkenntnis, d. h. beide streben gleichermaßen nach Verifizierung der Systemidee. Sie sind im Verhältnis zu den Kategorien, die natürlich auch die transzendentallogischen Bedingungen jener beiden Methoden darstellen, eine weitere Konkretisierung, eine gleichsam noch mehr der Linie der positiven Erkenntnis angenäherte Darstellung und Verwirklichung der Systemidee. Sind die Kategorien die  unmittelbaren  Vehikel für den Vollzug der Systemidee, so sind Induktion und Deduktion die genaueren, die konkreteren Bestimmungslinien, in denen jener Vollzug mittels der Kategorien verläuft. Keine von beiden könnte ihre methodische Leistung entfalten, wenn sie sich nicht an dem Gedanken des Systems orientierte. Die Möglichkeit, die Struktur dieser Methoden beruht auf nichts Anderem als auf der Idee der systematischen Verbindung des Einzelnen aus einem Ganzen. So ist der ganze Organismus dieser Methoden von der Idee der Einheitlichkeit, der Vereinheitlichung, des Systems beherrscht und getragen.

Damit ist nun dasjenige Moment bezeichnet, durch das sich beiden Methoden in eine innere Einheit bringen lassen. Die Durchführung der Idee des Systems, der beide gleichermaßen dienen, bedingt es auch, daß sie in dem positiven Wissenschaftsbetrieb unaufhörlich zusammenwirken und zusammengehen. Gerade den jüngsten Forschungen auf dem Gebiete der transzendentalen Logik verdanken wir die zunehmende Einsicht in die logisch-methodisch Verbundenheit beider Verfahrungsweisen, (6) wenn auch darüber ihr Unterschied bei ihrer positiven Anwendung, d. h. in der Praxis der Wissenschaft, nicht übersehen werden darf. Sie beide erwirken in wechselseitiger Bezugnahme aufeinander den Einheitszusammenhang, die Gesetzesordnung der Erkenntnis. Darin besteht, unter logisch-methodischem Gesichtspunkt, ihre Geltung, ihre Bedeutung für die Idee des Systems der Erkenntnis und damit auch für die Erkenntnis selber.

Gründen sich aber auch beide Methoden gleicherweise auf die Idee des Systems, so haben sie beide doch nicht genau dasselbe Verhältnis zu ihr. Vielmehr tritt hier die logische Superiorität des deduktiven Momentes hervor. Bleiben wir einmal bei der einfachen Formulierung, daß die Induktion in dem Fortgang vom Besonderen zum Allgemeinen bestehe. Durch diesen Fortgang soll der Gesetzeszusammenhang der Erkenntnis in  einer  Richtung entwickelt werden. Denn was als "Allgemeines" bezeichnet wird, das ist der Gedanke des Gesetzes. Wie aber kann die Induktion einen solchen Zusammenhang herstellen, wie kann sie den Gesetzesgedanken entwickeln und verifizieren, wenn sie gleichsam blind darauf los arbeitet und nicht ihr Vorgehen von vornherein an dem Gedanken des Gesetzes orientiert? Dann würde sie bloß den Wert eine Rhapsodie und ihr Resultat den eines Aggregates haben. Der Gedanke des Gesetzes also ist apriori leitend auch für die Induktion. Und das bedeutet, daß "die Induktion ein Allgemeines nicht bloß zum Ziele hat, sondern sie hat, ebenso gut wie die Deduktion, ein Allgemeines zur logischen Voraussetzung. Diese Voraussetzung eines Allgemeinen für die Induktion kann man in der Tat als das deduktive Moment der Induktion bezeichnen." (7) Durch das in ihr enthaltene deduktive Moment ist sie bezogen auf den Gedanken des Systems, durch ihn vollzieht auch sie an ihrem Teil die Verifikation jenes Gedankens. Ist die logische Durchführung der Induktion nur möglich unter Zugrundelegung des Deduktiv-Allgemeinen, so heißt das, daß sie nur unter Zugrundelegung des Systemgedankens durchführbar ist.

Daß aber auch in dem deduktiven Verfahren die Systemidee die Geltung des leitenden Gesichtspunktes besitzt, leuchtet ohne weiteres ein. Jedes Moment in der inneren Struktur der Deduktion ist bestimmt durch jene Idee; die Deduktion, die das vornehmste Mittel zur Errichtung des gesetzmäßigen Erkenntniszusammenhanges ist, ist auch der klarste Ausdruck der Grundidee des Systems. In ihr und durch sie hat jene Idee die nächstliegende Bahn und Linie für ihre  Determination. 

So erweisen sich sowohl Deduktion als auch Induktion in jedem Schritt als die methodischen Determinationen der Systemidee. Beide Verfahrungsweisen führen im Verein miteinander jene Determination durch. Die Ergebnisse, die Niederschläge dieser Durchführung der Determination der Systemidee sind die einzelnen konkreten Wissenschaften. Diese Durchführung ist nie und nirgends an ihrem Ende angekommen, nie und nirgend zu einem endgültigen Abschluß gelangt. Davon aber ist bereits weiter oben die Rede gewesen.


3. Die Begreiflichkeit der Natur.

Die transzendentale Funktion und Geltung des methodisch gemeinten Einheitsbegriffes äußert sich darin, daß dieser Begriff die Erkenntnis überhaupt ermöglicht. Unter dem Begriff der Einheit ist also stets Einheit der Erkenntnis zu verstehen. Die Idee der methodischen Einheit oder, m. a. W., die Idee des Systems ist die reine Form und Gestalt des Geltungsbegriffes, die reine Gestalt der theoretischen Geltung überhaupt. Es ist nicht möglich, hinter die Idee des Systems zurückzugehen oder über sie hinauszugehen, weil jeder gedankliche Schritt nur bei ihrer Zugrundelegung und Zugrundegelegtheit vollzogen werden kann, weil jede gedankliche Setzung überhaupt nur in Relation zu bereits geleisteten Setzungen erfolgen kann, kann also nur ein Glied in der Kette des Systems ist und an alte, vorhandene Glieder sich anschließt.  Jeder geltende Gedanke hat seine Geltung nur auf Grund und nur innerhalb seines Geltungszusammenhanges.  In dem Begriff der Geltung ist analytisch der Begriff des Zusammenhanges enthalten. Etwas denken, heißt, etwas als geltend denken; auch das Nicht-Geltende wird im Denken als geltend gedacht, geltend eben als nicht-geltend. Da alles Geltende im Denken gegründet ist und alles Denken Zusammenhangsdenken ist, so ist mit dem Begriff der Geltung der Begriff des Zusammenhanges, in dem die Geltung gedacht wird, unlösbar verbunden.

Lediglich in diesem transzendenten Geltungssinn tritt auch die Idee der Einheit bei KANT auf. Sie steht bei ihm nicht in Verbindung mit irgend einem metaphysischen Substrat, sondern nur in Beziehung zur Erkenntnis. Welcher Erkenntnis? Läßt sich dieser Begriff noch näher bestimmen? Und läßt sich angeben, welche Erkenntnissynthese durch die Idee der Einheit erreicht wird?

Wir sahen, daß Einheit stets Vereinigung, Vereinheitlichung, daß System stets System bedeutet. Was soll denn vereinigt werden? Welche etwaigen Gegensätze sollen verbunden und überbrückt werden, damit einheitliche Erkenntnis entstehe?

Es ist ein doppelter Gegensatz, um dessen Versöhnung, um dessen Synthese KANT sich oft bemüht hat.  Erstens  der Gegensatz zwischen dem Reich der Natur und dem Reich der Freiheit, d. h. der Gegensatz einerseits zwischen der mechanischen, gleichsam blinden Ordnung der Naturvorgänge, in welcher Ordnung auch der Mensch als Naturwesen einen durch Naturkausalität und durch den Naturmechanismus notwendig bestimmten Platz einnimmt, und dem "Reich vernünftiger Zwecke" andererseits, das der Mensch aus seiner Vernunft heraus ideell entwirft. Dieses Reich ist keine metaphysische, keine transzendente Welt, sondern nichts anderes als die intelligible Sinn-Ordnung von Vernunftgedanken, in welcher, von dem Menschen als homo-noumenon ideell gesetzten Sinn-Ordnung, der Mensch einen durch sinnvolle Freiheitskausalität von ihm selbst bestimmten sittlich-sinnvoll-vernünftigen Platz einnimmt.

Der  zweite  Gegensatz ist gegeben durch die Frage nach dem Verhältnis zwischen den  besonderen  Gesetzen der Natur und den allgemeinen Gesetzen, d. h. denen die die Gesetzmäßigkeit der Natur a priori begründen, und die man als die reinen Gesetzesformen bezeichnen kann. "Auf mehrere Gesetze aber als die, auf denen eine  Natur überhaupt  als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon  nicht vollständig  abgeleitet werden, ob sie alle insgesamt unter jenen stehen. Es muß Erfahrung dazu kommen, um die letzteren überhaupt kennen zu lernen; von Erfahrung aber und dem, was als ein Gegenstand derselben erkannt werden kann, geben allein jene Gesetze a priori die Belehrung." (8)

Wie dieses Verhältnis unter kritischem Gesichtspunkt, unter dem Gesichtspunkt der transzendentalen Logik zu denken sei, hat KANT in ebenso eindeutiger, wie überzeugender Weise dargelegt. (9) "Selbst Naturgesetze, wenn sie als Grundsätze des empirischen Verstandesgebrauchs betrachtet werden, führen zugleich einen Ausdruck der Notwendigkeit, mithin wenigstens die Vermutung einer Bestimmung aus Gründen, die a priori und vor aller Erfahrung gültig sind, bei sich. Aber ohne Unterschied stehen alle Gesetze der Natur unter höheren Grundsätzen des Verstandes, indem sie diese nur auf besondere Fälle der Erscheinung anwenden. Diese allein geben also den Begriff, der die Bedingung und gleichsam den Exponenten zu einer Regel überhaupt enthält, Erfahrung aber gibt den Fall, der unter der Regel steht". (10)

Aber dieser Gedanke der universellen Gesetzgebung der Vernunft, durch die die Einheit und Systematik der Erkenntnis verständlich werden, erhält eine außerordentliche Verstärkung und Vertiefung durch eine Konzeption, die erst in der "Kritik der Urteilskraft" zu näherer Bestimmung gebracht wird - in voller Gemäßheit mit dem fortschreitenden Interesse an der Aufklärung der Idee der Einheit - und die nun auch den erstgenannten Gegensatz: Natur - Freiheit aufhebt und versöhnt. Diese Konzeption besteht darin, sowohl Natur als Freiheit, ferner das Allgemeine und das Besondere als korrelative Glieder in einem  umfassenden teleologischen System  anzusehen, mithin zwischen allen diesen Momenten eine Vernunftbeziehung zu entwickeln, nach welcher die Natur als die empirische Darstellung der sittlich-praktischen Freiheit und die Sittlichkeit als Sinn und Gehalt, als Ideal des Seins zu denken wären. Darnach könnte die Natur als so eingerichtet gelten, daß Freiheit, daß vernünftig-sittliches Wollen in ihr möglich wäre. Sie würde m. a. W. nicht bloß einen sinnlosen Mechanismus darstellen, sie könnte vielmehr den Prozeß der Realisierung der Vernunft und der Kultur bedeuten, sodaß auf diese Weise von einem "Endzweck", "der allein in der Natur und mit Einstimmung ihrer Gesetze wirklich werden kann," (11) die Rede sein dürfte.

Dieser Gedanke wird dann von spezieller Bedeutung und Fruchtbarkeit für die Entscheidung der Frage nach dem Verhältnis der Organismen zu dem allgemeinen Naturmechanismus. Doch verfolgen wir hier dieses Problem und die Art, wie es entschieden wird, nicht weiter. Für uns ist von Wichtigkeit, daß KANT jene großartige Konzeption, mit der u. a. bekanntlich schon LEIBNIZ gerungen hatte, entwirft, um das mechanische Prinzip der Natur in Einklang zu setzen mit dem teleologischen. Und in diesem Zusammenhange entwickelt er die kühne Hypothese, man könne sich denken, daß der Mechanismus, nach dem die organischen Wesen entstanden sind, dem teleologischen Grunde eines solchen Wesens beigesellt sei, "gleichsam als das Werkzeug einer absichtlich wirkenden Ursache, deren Zwecke die Natur in ihren mechanischen Gesetzen gleichwohl untergeordnet ist". Aber der kritische Denker übersieht nicht, sofort anzumerken: "Die Möglichkeit einer solchen Vereinigung zweier ganz verschiedenen Arten von Kausalität, der Natur in ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit mit einer Idee, welche jene auf eine besondere Form einschränkt, wozu sie für sich gar keinen Grund enthält, begreift unsere Vernunft nicht; sie liegt im übersinnlichen Substrat der Natur, wovon wir nichts bejahend bestimmen können, als daß es das Wesen an sich sei, von welchem wir bloß die Erscheinung kennen". (12)

Lehnt er die metaphysische Erkenntnis dieser Idee des Übersinnlichen auch ab, so eröffnet er doch zugleich den Weg zu einer positiven Bestimmung dieser Idee. Denn dieser Begriff eines übersinnlichen Substrates oder einer übersinnlichen Einheit der Natur bedeutet in positiver Beziehung, d. h. in Bezug auf seine transzendentale Funktion und Geltung für die Einheit der Erkenntnis, nichts Anderes als die Idee der systematischen Einheit. Diese Idee ermöglicht es, die unendliche Mannigfaltigkeit empirischer Gesetze a priori zu einer Einheit, nämlich der Einheit der Natur als Einheit erkennen. Diese Einheit ist nicht als Faktum gegeben, sondern sie ist der Gesichtspunkt, sie ist die Idee für die Erkenntnis der Natur.

Diese Idee selber kann nicht Gegenstand der Erkenntnis sein, da sie vielmehr ihre Grundbedingung ist.  Wenn nicht a priori die Idee der Einheit der Natur aufgestellt ist, so ist eine Begreiflichkeit der Natur von vornherein unmöglich. Die Aufstellung und Entwickelung dieser transzendentalen Idee der systematischen Einheit der Natur als der notwendigen Voraussetzung für die Erkenntnis, für die Begreiflichkeit der Natur, ist der Schlußstein der transzendentalen Kritik.  Der Begriff der Natur findet seine Begründung und Sicherstellung in dem Gedanken der systematischen Einheit. Und dadurch gelangt das große Rätsel zu theoretischer Lösung, wie denn überhaupt die Natur begreiflich sein könne, welchen Sinn es habe, von einer Begreiflichkeit der Natur zu sprechen. Die "Natur" verrät von sich aus der Erkenntnis nicht das Geheimnis ihrer Begreiflichkeit, denn die Begreiflichkeit ist selber ein Gesichtspunkt, ein Akt der Erkenntnis, sie ist selber eine Erkenntnissynthese. Und nichts Anderes hat es mit der "Natur" auf sich. Auch diese ist begreiflich, weil sie selber nichts Anderes als ein Begriffenes ist, weil sie selber nichts Anderes ist als der in und mittels der Erkenntnissynthese aufgebaute und in ihr gegründete Gegenstand. In aller Erkenntnis handelt es sich um Begriffe, und so handelt es sich in unserem Falle um die Natur als Begriff. Und als Begriff ist, was ohne Weiteres einleuchtet, die "Natur" gegründet in dem Zusammenhang, in der Einheit der Erkenntnis, sie ist gegründet auf die transzendentale Idee der systematischen Einheit der Vernunft.


4. Mechanismus und Systemidee

Aber diese Entscheidung führt einen bedeutenden Schritt weiter.

Alle Determinationen, durch welche der Begriff der Natur seine Bestimmung und Begründung erhält, sind Determinationen der Erkenntnis, es sind Bestimmungen und Funktionen der begrifflich-vernünftigen Arbeit, es sind Gesichtspunkte und Methoden, in und nach denen sich die Erkenntnis vollzieht.

Eine der wichtigsten, weil grundlegenden Determinationen ist die Bestimmung der "Natur" durch den Gesichtspunkt des Mechanismus. Durch ihn erfolgen Grundlegung und Aufbau der mechanischen Naturwissenschaften. Der "Mechanismus" ist nichts Mechanisches, sondern eine begriffliche Determination; er hat die logische Geltung eines Gesichtspunktes, einer Methode für die Naturerkenntnis; er ist ein begriffliches Mittel, durch das die Erkenntnis ihre logische Arbeit bewerkstelligt, durch den, wenigstens nach  einer  Richtung hin, die Erkenntnis begründet wird, durch den sich wenigstens  eine  Seite der Erkenntnis aufbaut.

Daraus aber folgt, daß der Gesichtspunkt des Mechanismus selber der immanent-teleologischen Einheit der Erkenntnisfunktion überhaupt unterstellt und eingeordnet ist; er ist ein spezieller Weg, eine spezifische Richtung, die diese teleologische Funktion in der immanenten Entwickelung des Erkenntniszusammenhanges einschlägt. Der mechanische Gesichtspunkt oder noch genauer: die Konstruktion des Naturbegriffs durch den Mechanismus als Gesichtspunkt weist zurück auf die umfassende teleologisch-systematische Funktion der Erkenntnis überhaupt; sie ist ein besonderer Ausdruck, in dem und durch den diese Idee sich darstellt und erkenntnismäßig festlegt. Die mechanische Naturerkenntnis, m. a. W. die Natur als Mechanismus aufgefaßt, ist, auf ihre transzendentale Voraussetzung zurückgeführt, überhaupt nur möglich unter der Zugrundelegung der umfassenden Idee der teleologischen Einheit der Natur. Der mechanische Gesichtspunkt ist selber ein unter die Idee der teleologischen Einheit der Natur befaßtes teleologisch-systematisches Prinzip der Erkenntnis.

So führt gerade die Einsicht, daß die "Natur", selbst wenn sie lediglich als Mechanismus begriffen wird, in der Einheit, im System der Erkenntnis ihre Begründung hat, dazu, nicht bei der bloß mechanischen Interpretation stehen zu bleiben. Es gilt vielmehr, die mechanische Konstruktion der Natur zu begreifen als  ein  Ausdruck, als  eine  spezielle Ausprägung der universalen Idee der teleologischen Einheit überhaupt; es gilt, die Beziehung zu beachten, die zwischen der mechanischen Naturerkenntnis und der Idee der universalen teleologischen Einheit besteht. (13)

Das darf nicht so verstanden werden, als ob die mechanische Naturauffassung entbehrlich und durch die teleologische schlechtweg zu ersetzen sei. Muß man auch erkennen - und diese Erkenntnis ist unabweisbar - daß die mechanische Naturauffassung durchaus einseitig ist, mag man ihr auch mit BERGSON den Vorwurf machen, daß sie den zu erkennenden Tatbestand innerlich aushöhle, ihn leblos mache, ihn gewaltsam in ein apriori feststehendes Begriffsschema einschnüre und den Gehalt an individueller Bestimmtheit, der in ihm unter Umständen zum Ausdruck kommt, verkümmern lasse, so bleibt doch mit allem diesem ihr  spezifischer  Wert und ihre  eigentümliche  logische Geltung unberührt. Mögen auch neben der mechanischen Naturauffassung andere Standpunkte, andere Interpretationen möglich sein, so darf doch ihre methodische Leistungsfähigkeit, die darin besteht, von  einer  Seite her ein konsequentes System der Naturerkenntnis zu entwickeln, nicht verkannt werden. (14) Und "hierauf gründet sich", so wird man mit KANT sagen müssen, "nun die Befugnis und, wegen der Wichtigkeit, welche das Naturstudium nach dem Prinzip des Mechanismus für unseren theoretischen Vernunftgebrauch hat, auch der Beruf: alle Produkte und Ereignisse der Natur, selbst die zweckmäßigsten, soweit mechanisch zu erklären, als es immer in unserem Vermögen (dessen Schranken wir innerhalb dieser Unternehmungsart nicht angeben können) steht, dabei aber niemals aus den Augen zu verlieren, daß wir die, welche wir allein unter dem Begriffe vom Zwecke der Vernunft zur Untersuchung selbst auch nur aufstellen können, der wesentlichen Beschaffenheit unserer Vernunft gemäß, jene mechanische Ursachen ungeachtet, doch zuletzt der Kausalität nach Zwecken unterordnen müssen." (15)

Ist es also "vernünftig, ja verdienstlich, dem Naturmechanismus zum Behuf einer Erklärung der Naturprodukte soweit nachzugehen, als es mit Wahrscheinlichkeit geschehen kann" (16), so wird man doch, über den Standpunkt der mechanischen Erklärungsart hinausgehend, die  Frage nach ihrer Stellung in dem Gesamtsystem der Erkenntnis und nach ihrem Verhältnis zur Idee der Einheit der Natur  aufwerfen müssen. Diesem Problem darf gerade die transzendentalkritische Grundlegung der Erkenntnis nicht ausweichen. Denn diese darf sich nicht auf die kritische Begründung der mathematisch-mechanischen Naturwissenschaft, wie überhaupt keiner einzelnen wissenschaftlichen Disziplin, beschränken, wenn anders sie nicht den Gesichtspunkt der Einheit der Erkenntnis aus den Augen verlieren will. Gerade die Einsicht in die systematische Bedeutung und in die Geltung, die der mechanischen Erklärungsart in prinzipiellem und methodischem Betracht innewohnt, fordert zu ihrer Konfrontation mit der Idee des Systems der Erkenntnis heraus. Und es wird sich zeigen, daß zwischen dieser und dem Prinzip des Mechanismus ein eigentümliches Spannungsverhältnis besteht, daß sich m. a. W. in diesem Verhältnis noch ein Problem meldet, das dem Gedanken der universalen Gesetzeseinheit der Erkenntnis zunächst hinderlich zuu sein scheint.


5. Systemidee und "Zufälligkeit" der Erfahrung.

Zunächst sei dieses Problem formuliert: Steht das Ganze der mechanischen Erfahrung, wie es in den mathematischen Naturwissenschaften vorliegt, in methodischer und prinzipieller Selbständigkeit da? Oder kann man nicht auch  dieser  Erfahrung gegenüber die Frage nach ihrer Begründung, die Frage nach dem Bezugssystem, in dem sie sich gründet, aufwerfen? Nicht etwa in dem Sinne, als solle diese Erfahrung von etwas  außer  ihr, von einem ihr Übergeordneten abhängig gemacht werden. Das hieße zur Ausflucht in die Metaphysik greifen. Aber ist denn  diese  Erfahrung die Erfahrung überhaupt? Ist sie Erkenntnis in der umfassenden Bedeutung des Begriffes? Kann neben ihr keine andere Art des Erkenntnisvollzuge gedacht werden? M. a. W. Verwirklicht der Begriff des Mechanismus die Idee der Erkenntnis in ihrer vollen Bedeutung?

Schon das Problem, das sich im Begriff des Organismus erhebt, zeigt, daß der Mechanismus nicht für jedes Gebiet der Erkenntnis gleichermaßen zuständig und ausreichend ist. Die mechanistische Erfahrung bedeutet doch nur einen speziellen Erkenntnisvollzug von eingeschränkter, innerhalb dieser ihrer Einschränkung allerdings notwendiger Geltung. Aber das System der mathematischen Naturwissenschaften ist nicht das System der Erkenntnis überhaupt. Erhebt sich doch neben ihm das Problemgebiet der Geschichtswissenschaften, besitzt doch dieses nicht geringere methodische Eigenmächtigkeit als jene.

Stellen aber die mathematischen Naturwissenschaften eine einzelne Systemlinie der Erfahrung dar, so ersteht der Gedanke, ob denn nicht diese Erfahrung selber "etwas ganz Zufälliges (17) sei. Wenn die mechanische Erfahrungsart nicht die ganze Weite, nicht die ganze Notwendigkeit der Erkenntnisidee beherrscht, so muß der Punkt aufgezeigt werden, an dem sich die Schranke ihrer Geltung erhebt, und an dem sich der "Abgrund der intelligibeln Zufälligkeit" auftut. So unbedingt auch der Begriff der Notwendigkeit  innerhalb  dieses mathematisch-mechanischen Erfahrungsbestandes gilt undherrscht: wie aber steht es denn mit der Notwendigkeit dieses Erfahrungsbestandes als eines Ganzen selber? Wie läßt sich denn "das für die menschliche Einsicht Zufällige in den besonderen (empirischen) Naturgesetzen" (18) überwinden? Oder müssen wir dabei stehen bleiben, daß diese mechanische Erfahrung, als Totalität begriffen, unauslöschlich mit dem Merkmal der Zufälligkeit behaftet ist?

Wir fassen aber diese Erfahrung selber als Einheit und zu Einheit zusammen. Wir begreifen die Mannigfaltigkeit empirischer Gesetze als Einheit. Das heißt nichts Anderes, als daß die mathematische-mechanische Erfahrung der Gesichtspunkt des Systems herangebracht, daß sie diesem Gesichtspunkt unterstellt und damit der Idee einer "für uns zwar nicht zuergründenden, aber doch denkbaren gesetzlichen Einheit in der Verbindung ihres Mannigfaltigen" (19) eingeordnet wird. Schon die Aufstellung und Entwickelung des Begriffes der mathematisch-mechanisch Erfahrung weist hin und gründet sich auf die Idee der Erkenntnis überhaupt. Diese Erfahrung selber kann als Einheit dann erst  begriffen  werden, sie kann als System dann erst  gelten,  wenn die immanente Beziehung dieser Erfahrungsnotwendigkeit und Erfahrungseinheit zu der systematischen Einheit der Erkenntnis überhaupt erfaßt ist.

Nicht außerhalb des Erfahrungsgebietes, nicht jenseits der Erfahrungsobjektivität liegt diese systematische Einheit, in der die Notwendigkeit der Erfahrungsobjektivität wurzelt. Die systematische Einheit stellt vielmehr die transzendentale Bedingung auch für die Erfahrungseinheit dar. Im teleologischen Gesetzesgefüge des in der Idee der Erkenntnis zusammengefaßten Erkenntniszusammenhanges ruht die Erfahrungs-Objektivität; in der Idee der Gesetzlichkeit überhaupt gründet sich die Mannigfaltigkeit der empirischen Gesetzlichkeiten. Dadurch wird der Abgrund der intelligibeln Zufälligkeit der mathematisch-mechanischen Erfahrung überbrückt: die Notwendigkeit der letzteren wird begriffen, indem ihre Beziehung zu der teleologischen Einheit der Erkenntnis der Natur begriffen wird. Auch die Erfahrungsgesetzlichkeiten sind Gesetzlichkeiten nur im System der Gesetzlichkeit; auch sie wurzeln ihrem Gesetzescharakter nach in der Idee der einheitlich-teleologischen Gesetzlichkeit überhaupt. Der Idee des Systems gegenüber schwindet das logische Recht und der logische Sinn des Begriffs der Zufälligkeit. Schon die Behauptung der Zufälligkeit setzt, wenn sie einen logischen Sinn haben soll, die Idee des Systems voraus. Nur unter Zugrundelegung dieser Idee kann überhaupt eine Aussage, mithin auch die der Zufälligkeit, mit dem Anspruch auf logische Bedeutung getan werden. Absolute Zufälligkeit kann nicht gedacht werden, denn alles Denken beruht auf der teleologischen Gesetzeseinheit der Vernunft. Selbst das Chaos ist nur denkbar als eine besondere Form der Ordnung.


6. Systemidee und Zweckgedanke.

Die intelligible Unselbständigkeit der mechanischen Naturerklärung, die Notwendigkeit, sie einzubeziehen in die Idee der teleologischen Einheit überhaupt führt zu dem weiteren Problem, ob nun diese teleologische Einheit ein Letztes und Definitives ist. Oder drängt sich nicht gerade unter dem Gesichtspunkt der Teleologie mit Macht die  Frage nach einem Endzweck  dieses teleologischen Zusammenhanges auf, nach einer Instanz, deren Geltung nicht von diesem Zusammenhang abhängig ist, sondern in Bezug auf welche dieser Zusammenhang sowohl als Zusammenhang als auch in besonderen Sinne als ein teleologischer gilt?

Zunächst sei diese Frage noch genauer bestimmt. Es wurde früher gezeigt, daß unter dem Begriff des Systems nicht ein in feste Grenzen abgeschlossene Totalität, nicht ein fixes und fertiges Ganzes, sonder ein unendlicher Zusammenhang, eine unendliche Reihe von stets neu geschaffenen Momenten zu verstehen sei, daß die Idee des Systems identisch sei mit der Idee der unendlichen, in spontaner und autonomer Entwickelung begriffenen Kontinuität.

Hält man diesen Gedanken fest, dann leuchtet ein, daß die Frage nach dem Endzweck nicht etwa so aufzufassen wäre, als  ob ein  bestimmter,  ein  einzelner Zweck, als  ob ein  die ganze Kette abschließendes einzelnes Glied angegeben werden sollte. Dem widerspricht der Begriff der unendlichen Kontinuität. Es hieße, den als unendlich gedachten Zusammenhang willkürlich unterbrechen und abbrechen, es hieße, gerade die Kontinuität des notwendigen und folgerichtigen Fortgehens verneinen und aufheben, es hieße die Unendlichkeit in Grenzen einschließen, wollte man ein bestimmtes Glied der Kette als endgültigen Abschluß ansetzen. Der Systemzusammenhang, gerade weil er als ein teleologischer aufzufassen ist, verbietet jede Vereinzelung und jegliche vereinzelnde Auszeichnung eines Gliedes untersagt jene Hervorhebung eines einzelnen Momentes, falls dieses Moment allen übrigen als etwas Selbständiges, Höheres übergeordnet werden soll.

Soll trotzdem die Zweckfrage noch Sinn und Recht behalten, dann muß etwas Anderes mit ihr gemeint sein als der Versuch einer verselbständigenden Herauslösung eines Einzelnen aus dem Ganzen. Dann muß die Unendlichkeit der Reihe in jeder Weise und nach allen Richtungen hin völlig gewahrt bleiben, dann muß gerade in der Unendlichkeit der Reihe die Voraussetzung und Grundlage dafür liegen, um jene Zweckfrage überhaupt aufzuwerfen.

Damit aber ist implicite angedeutet, in welchem Sinne und mit welchem Rechte die Zweckfrage überhaupt aufgeworfen werden kann. Richtet sich die Frage nicht auf ein einzelnes Glied, und sie dieses auch ein angeblich "letztes", so kann sie sich nur auf das Ganze als Einheit richten.

Was aber bedeudet das: Zweck des Ganzen? Da doch das Ganze als  unendliches  System zu denken ist, wie läßt sich da von einem bestimmten Zweck sprechen, auf dessen Erreichung dieses unendliche System angelegt wäre? In diesem Fall könnten immer nur einzelne, relative Zweckbestimmtheiten festgelegt, es könnten nur jeweilige, verschiebbare Zwecksetzungen angegeben werden. Aber über den  besonderen  Zweck des unendlichen Systems selber läßt sich keine feste Einzelbestimmung treffen. Durch welchen Gedanken, durch welches Mittel, auf welchem Wege sollte wohl eine solche Bestimmung möglich sein, wenn das Moment subjektiver Willkür naturgemäß ausgeschaltet ist? Es müßte sonst die Erkenntnis an irgend einer Stelle ihren eigenen Zusammenhang durchbrechen und über ihn hinaustreten. Und fingieren wir einmal selbst  diesen  Fall, so könnte doch eine solche Bestimmung lediglich mit denjenigen theoretischen Mitteln erfolgen, die aus dem unendlichen Systemzusammenhang selber stammen, die in ihm ihreWurzel und ihre Begründung haben, die eine angebbare theoretische Geltung nur in und durch jenen Zusammenhang besitzen.

Alles was in begrifflicher Hinsicht über das System, über seine Geltung, seine Bedeutung, seinen Zweck, sein Ziel ausgesagt werden kann, setzt die Geltung des Systems bereits voraus. Über das System hinaus kann garnichts mehr bestimmt werden. Denn jegliche Bestimmung ist nur Bestimmung im System, ist nur Selbstbestimmung des Systems.

Deshalb ist es ein theoretisch unvollziehbarer Gedanke, von einem bestimmten Zweck des Systems, eine besondere Zweckbestimmung des Systems aufstellen zu wollen. Das System ist sich selber Zweck. Es kann nur als Selbstzweck gedacht werden. Eine Beziehung auf ein Etwas, das ihm als leitend, als übergeordnet, gegenüberstünde, ist begrifflich garnicht zu konstruieren. Der Zweckbegriff, in bezug auf den das System seine Geltung hätte, für den es also Mittel für seine Realisierung gelten würde, dieser Zweckbegriff, und man nehme einen solchen, welchen man will, und gebe ihm eine Dignität, welche man will, ist selber überhaupt erst theoretisch formulierbar und theoretisch bestimmbar unter der Zugrundelegung des Systemgedankens. Gerade die Erkenntnis, daß der Zweck formal gesehen - und eine andere Betrachtung kommt für uns nicht in Frage - lediglich die Geltung eines Begriffes hat, führt dazu weiter, daß er als Begriff nur im Zusammenhang der Erkenntnis, nur unter der Voraussetzung der systematischen Ordnung gilt.

Zeigt also auch diese Konfrontierung der Systemidee mit der Teleologie, daß die Systemidee ihre theoretische Selbständigkeit unbedingt bewahrt, so soll doch dies nicht bedeuten, daß die Idee des Systems oder der Einheit im Grunde garnichts mit der Teleologie zu tun hätte, und als wenn umgekehrt auch die Teleologie jener Idee gegenüber in voller logischer Selbständigkeit bleiben könnte.

Daß das Letztere unmöglich der Fall sein kann, ergibt sich durch eine einfache Überlegung. Die Teleologie ist die Theorie, die mit dem Zweckgesichtspunkt arbeitet. Sehen wir ganz von der Frage nach der eigentümlichen wissenschaftlichen Struktur und Geltung ab, die diese Theorie besitzt. Aber schon der Umstand, daß sie überhaupt Theorie ist, und daß sie sich als Theorie nach begrifflichen Gesichtspunkten methodisch entwickelt und aufbaut, ist transzendentallogisch nur möglich unter der Zugrundelegung der Systemidee. Ohne diese Idee besäße sie nicht die Geltung der Theorie, wäre ihr Vollzug nicht denkbar. Sie untersteht logisch dieser Idee, wie dieser Idee jeglicher theoretische Vollzug, wie ihr jeglicher gedankliche Prozeß untersteht.

Was nun den ersteren Fall angeht, nämlich die Beziehung der Idee des Systems zur Teleologie, so kann auch hier von keiner grundsätzlichen Trennung die Rede sein. Der Idee des Systems liegt die Teleologie gleichsam im Blute. Denn alle Beziehungen, die unter den Auspizien und unter der Leitung der Systemidee zu Stande kommen, kommen nur zu Stande, indem bei ihrer Herstellung ein teleologisches Verhältnis der durch diese Beziehungen verknüpften Glieder a priori gedacht wird. Wenn auch im Einzelnen nachher eine bestimmte Relation von A zu B durch des Gesichtspunkt des Mechanismus vollzogen wird, so ist doch im letzten Grunde das Verhältnis von A und B schon als ein teleologisches hypothetisch angenommen und antizipiert worden, d. h. es ist a priori überhaupt als eine durch Vernunftüberlegungen, durch Vernunftdeterminationen herstellbare Beziehung gedacht worden. Diese Setzung a priori erhält dann durch den Gesichtspunkt des Mechanismus ihre logische Ausführung. Wenn "die Vernunft", wie STADLER den Gedanken KANTs ausgezeichnet formuliert, "die Qualifikation der Natur zu einer systematischen Einheit fordert", (20) so beruht die systematische Durchführung und Erweisung dieser Qualifikation darauf, daß der teleologische Gesichtspunkt als heuristisches Prinzip wirksam wird, um den besonderen Gesetzen der Natur nachzuforschen. (21) Und gerade dadurch daß KANT nachweist, das teleologische Prinzip sei nur ein Beurteilungs- und kein Erkenntnisprinzip, es habe nicht konstitutive, sondern regulative Geltung, und indem er zeigt, daß sich darin seine eigentümliche erkenntnistheoretische Geltung bekunde, hat er indirekt die innige Beziehung des teleologischen Prinzips zu dem Prinzip der Idee aufgewiesen; denn die erkenntnistheoretische Geltung der Idee besteht ja auch "nur" in ihrer regulativen Bedeutung, beruht auch "nur auf ihrer "heuristischen" Leistung, und in nichts Anderem.

Der Gedanke der regulativen Bedeutung ist derjenige Gedanke, durch den die Verbindung zwischen der Idee des Systems und dem teleologischen Gesichtspunkt gedacht wird. Schon früher wurde auf die regulative Geltung der Systemidee hingewiesen. Es wurde gezeigt, daß und wie diese Idee den Wert der den Erkenntnisvollzug leitenden Grundbedingung der Erkenntnis habe. Wir fanden so einen Unterschied zwischen ihr und den besonderen Bedingungen der Erkenntnis, die die Verifizierung der Idee in concreto bewirken und deshalb als konstitutive Bedingungen der Erkenntnis gelten, ein Unterschied, der natürlich nicht im Sinne einer Diskrepanz zwischen Idee und Kategorien gedacht werden darf, so wenig wie überhaupt zwischen Gesichtspunkt und den, diesen Gesichtspunkt durchführenden gedanklichen Mitteln eine solche Diskrepanz denkbar ist.

Die Idee des Systems enthält und trägt in sich den teleologischen Gesichtspunkt. Ihre Konzeption, ihr Sinn, die innersten Bedingungen ihrer gedanklichen Formierung sind teleologischer Natur, denn diese Idee ist nichts anderes als der umfassendste Ausdruck für die Einheit der Vernunft, für das System der Vernunft.  Einheit der Vernunft, Einheit der Erkenntnis  (wobei der Ton sowohl auf den Begriff der Einheit als auf den der Erkenntnis zu legen ist, um die korrelative Beziehung beider Begriffe festzuhalten)  ist ihrem Sinn und ihrem systematischen Geltungswert nach nicht anders zu denken und in erkenntnismäßiger Hinsicht nicht anders zu verwenden als in teleologischer Beziehung.  Gerade indem in der Idee der Einheit oder des Systems diejenige Einheitsidee gedacht wird, durch die der Erkenntniszusammenhang als Zusammenhang zu Stande kommt und als Zusammenhang begriffen wird, zeigt es sich, daß diese Idee teleologische Bedeutung hat: sie stiftet, sie ermöglicht denjenigen Zusammenhang, den man in jeder Beziehung, in jedem Momente als sinn- und zweckvollen, als vernünftigen, als rational begründeten anerkennen muß, so gewiß er ein  Erkenntniszusammenhang ist. Sinn, Zweck, Vernunft ist nirgends anders gedanklich vorhanden als in jenem Zusammenhang. In ihm steht jedes Glied zu jedem andern, steht jedes Moment zu jedem anderen Moment in keiner anderen als in einer sinn- und zweckvollen Beziehung;  der ganze Erkenntniszusammenhang ist ein Geflecht teleologisch gültiger und teleologisch wirksamer Beziehungen.  Und so kann auch die Kritik der Erkenntnis in methodischer Hinsicht nicht anders als unter Zugrundelegung der teleologischen Systematik und der systematischen Teleologie vorgenommen werden. Nur auf diese Weise wird sie dem zu begründenden Zusammenhang gerecht, und nur auf diese Weise ist sie selber methodisch möglich. Denn ebenso wie sie in ihrer theoretischen Einstellung darauf gerichtet ist, den Sinn des Erkenntniszusammenhanges aufzuzeigen und ein Sinn-Begründung dieses Zusammenhanges zu geben, so trägt sie selber als Theorie das Sinn-Moment in sich, so arbeitet sie selber bei ihrem Vorgehen mit dem Zweckbegriff als Kategorie.


7. Der theoretisch-kritische Geltungswert der Teleologie.

Diese methodische oder theoretisch-kritische Bedeutung der Teleologie ist genau abzugrenzen gegen diejenigen drei Auffassungen der Teleologie, die am häufigsten vertreten zu werden pflegen, gegen die alle drei aber in gleicher Weise kritische Bedenken wach werden. Von allen dreien ist innerhalb dieser Arbeit bereits die Rede gewesen. Ich bezeichne sie als die  metaphysische,  als die  utilitaristische  und als die  praktisch-moralische  Auffassung der Teleologie.

Die  metaphysische  Auffassung stempelt den Begriff des Zweckes zu einem selbständigen, dem Erkenntniszusammenhang gegenüber transzendenten und unabhängigen Wesen, zu einer Substanz, die als absolutes Ding den Bedingungen der Erkenntnis nicht untersteht, sondern diese Bedingungen als en per se leitet und ordnet. Das wäre die ARISTOTELische Entelechienlehre. Hier ist der Zweck die bewegende Ursache, die den Zusammenhang und die Ordnung des Kosmos bewirkt, und an der so "Himmel und Erde hängen." (22)

Die  utilitaristische  Auffassung unterstellt den gesamten Erkenntnisprozess dem Gesichtspunkt des Nutzens; sie erblickt in ihm ein Instrument, ein technisches Arrangement neben anderen, das sich wie jedes andere Organ im Verlauf des Lebens ausbildet, das das Leben sich für seine Zwecke und Absichten schafft, um zu größtmöglicher Herrschaft zu kommen.

Die  praktisch-moralische  Auffassung der Teleologie endlich identifiziert den Begriff des Zweckes mit dem des Guten, und da der letztere von ihr zu einer Hypostase [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] gemacht zu werden pflegt, so gewinnt der Zweckbegriff auch im Rahmen dieser Auffassung metaphysische Geltung. Ein Hauptwesenszug dieses praktischen Zweckbegriffes, wird in die gründende Funktion verlegt, die er in Bezug auf die Erkenntnis übt. Er gilt als die Erkenntnis zu oberst rechtfertigende Instanz, die ihr erst Gehalt, Sinn, Bedeutungswert verschafft.

Ein doppeltes ist allen drei Auffassungen gemeinsam.  Erstens  wird der Zweckbegriff überall zu einer selbständigen, zu einer in sich geschlossenen Größe erhoben. Diese Größe soll die Gewähr ihrer selbst in sich tragen, sie gilt als das alle anderen Zusammenhänge von sich aus gewährleistende Absolute. So wird von allen drei Auffassungen, nicht nur von der ersten, eine mehr oder minder verschleierte, trotzdem stets vorhandene Hypostasierung [Substantivierung, Vergegenständlichung - wp] des Zweckbegriffes vorgenommen. Denn was ist im letzten Grunde auch in der utilitaristischen Auffassung der Zweckbegriff anderes als die Verdinglichung und Verabsolutierung des Begriffes des Nutzens?

Ist die Abwehr des metaphysischen Dogmatismus schon ganz allgemein einer erste Pflicht der Philosophie, so gewinnt diese Verpflichtung eine besondere konkrete Gestalt gegenüber der berechtigten Wiedereinführung der Teleologie in den Kreis der zulässigen und zulänglichen Arbeitsmittel der kritischen Wissenschaften, wie sie gegenwärtig von verschiedenen Seiten aus geschieht. Denn der prinzipielle Fortschritt unserer wissenschaftlichen Entwickelung ist wohl von nichts so sehr abhängig, unsere wissenschaftliche Zukunft ist wohl durch nichts so sehr bedingt als von dem Geiste, durch welchen die Teleologie wieder in das wissenschaftliche Bewußtsein eingeführt wird.

Um diesem Gedanken zugleich größere Bestimmtheit zu geben, sei auf den zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft, auf die "Kritik der teleologischen Urteilskraft", hingewiesen. Hier werden von KANT in dem methodischen Ausbau seines Kritizismus auch Begriff und Wesen der  kritischen  Teleologie im Gegensatz zum Dogmatismus des Zweckbegriffes entwickelt. Und die Wiedergeburt der Teleologie und ihre wissenschaftliche Verwendung werden, falls die Teleologie volles wissenschaftliches Bürgerrecht erwerben und bewahren will, sich nicht anders als unter dem Gesichtspunkt des Kritizismus vollziehen. (23)

Mit jener metaphysischen Tendenz hängt nun das  zweite,  allen drei Auffassungen gemeinsame Kriterium zusammen. Dieses ergibt sich aus der gleichen Stellung dieser Auffassungen gegenüber den Erkenntniszusammenhang. Denn bei allen dreien wird der Zweckbegriff prinzipiell aus der begrifflichen Ordnung herausgelöst, er wird über sie hinausgehoben, und das, was nur als Moment im Ganzen einer erkenntnismäßiges Recht besitzt, wird zum Herrn über die Erkenntnis gemacht.

Und doch ist, wie mehrfach gezeigt, eine  Trennung zwischen der Idee des Erkenntnissystems und der Idee der Teleologie theoretisch schlechterdings unmöglich.  Beide Ideen sind so innerlich aufeinander bezogen, sie stehen in einer so unauflösbaren Korrelation zu einander, daß sie eigentlich, erkenntnistheoretisch gesehen und auf ihre transzendentale Geltung und Funktion hin ins Auge gefaßt, nichts Anderes als  die  theoretische Idee schlechthin darstellen.

Und deshalb ist es auch theoretisch unmöglich, deshalb bedeutet es eine unheilvolle Schwächung der theoretischen Geltungssphäre, wenn dem System der Erkenntnis ein Zusammenhang gegenübergestellt wird, der von jenem nicht nur als unabhängig, sondern als ihm übergeordnet gedacht wird.

Über das gesamte Gebiet der Philosophie herrscht der kritische Logos in uneingeschränkter, nie einzuschränkender Geltung. In seiner Entwickelung umspannt er sowohl das systematische und systematisierende, als auch das teleologische Geltungsmoment, welch letzteres, statt von unausdenkbarer dinglicher, substantieller Bedeutung zu sein, die Geltung, die Geltung des durchführenden Gesichtspunktes für den Aufbau des Systems besitzt und in  dieser  Geltung, unbedürftig jeder anderen, seine kritische und wissenschaftliche Geltung überhaupt erschöpft und erschöpfend betätigt. Auf die  kritisch-teleologische Systemidee gründet sich die wissenschaftliche Philosophie überhaupt.  Andere Sicherungen, andere Grundlagen kann sie nicht anerkennen, wenn sie nicht der Vernunft untreu werden und am Logos Verrat üben will. Auf andere Weise kann sie sich kritisch nicht rechtfertigen, kann sie weder von sich, noch von irgend etwas überhaupt Rechenschaft geben, kann sie weder für sich noch für irgend etwas kritisch einstehen. Und zu diesem Behufe und unter diesem Gesichtspunkt darf sich die Philosophie niemals von dem Mahnwort PLATOs entfernen, daß nur auf das Logische sich die Erkenntnis begründen dürfe, heißt es im Phaidon. (24)


8. Verhältnis zwischen Geltung und Sein in der logischen Sphäre.
(Der Logismus als systematischer Gesichtspunkt.)

Unter  psychologischem  Gesichtspunkt kann von einem Sein, von einer Realität nur gesprochen werden unter der Voraussetzung, daß dieses Sein zuvor als ein Geltungshaltiges, Werthaftiges instinktiv anerkannt ist, daß ihm ein Wert intojiziert wird. Das Individuum erlebt ein seiner Seele Werte, seien dies solche vorstellungsmäßiger, willentlicher oder gefühlsmäßiger Art. Die psychologische Quelle, die fundamentale psychologische Kraft für alle diese Wertsetzungen ist offenbar das Erlebnis als solches. Werte, Geltungen erleben, das ist ein ursprünglicher, elementarer Akt, und alles Sein, soweit von ihm innerhalb der psychologischen Argumentation die Rede ist, ist zuvor in Beziehung zu einem Erleben gesetzt, ist an eine Wertsetzung durch das Erleben gebunden. Es sei noch einmal als Beispiel an die psychologische Begründung der Ästhetik erinnert. Der Gegenstand der künstlerischen Anschauung, das einzelne Kunstwerk, wird nicht zunächst seinem Sein nach erfaßt, sondern zu allererst wird auf das eigentliche Wertgefühl reflektiert, in welchem jenes Sein erlebt wird, durch welches jenes Sein psychologisch konstituiert wird. Aber auch im gewöhnlichen Leben zeigt sich  diese  Abhängigkeit des Seins von dem wertverleihenden Erlebnisakt. Die elementaren Beziehungen von Menschen zu Menschen, wie überhaupt alle Beziehungen zur Wirklichkeit, ruhen auf dem Grunde psychologischer Wertmomente. Nicht die Frage nach der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selber ist das Erste, das bei diesen Beziehungen auftritt, sondern ein Mensch z. B. hat für mich, für mich als psychologischem Individuum, so viel Realität, als er für mich hat, sei das in gutem oder schlechten Sinne. Wo überhaupt keine Wertverleihung stattfindet oder keine möglich ist, da werden keine Beziehungen hergestellt, und da wird überhaupt keine Wirklichkeit erfaßt. Das ist ein empirisch allerdings unmöglicher, es ist ein fiktiver Fall. Denn unser ganzes Leben ist ein ununterbrochener Prozeß von Geltungsschöpfungen und Geltungdedikationen, stets schwankender, aber doch in irgend einer Form stets vorhandener Wertverleihungen und Wertausteilungen, kurz: überhaupt von Wertungen.

Wir sahen, wie sich unter metaphysischem Gesichtspunkt dieses Verhältnis zwischen Geltung und Sein gerade umkehrt, in voller Übereinstimmung damit, daß die Metaphysik überhaupt nur eine - kraß gesprochen - auf den Kopf gestellte Psychologie ist.

Ganz anders stellt sich das Verhältnis zwischen Geltung und Sein unter dem  objektiv-logischen  Gesichtspunkt. Hier verliert die Behauptung eines denkunabhängigen, eines in primärer oder sekundärer Hinsicht selbständig existenten Seins überhaupt jeden Sinn. Alle Realität, die gewußt wird, von der etwas ausgesagt wird, ist im Denkzusammenhang gegründet. Alle Realität ist zu gedachten, zur rein begrifflichen geworden. Das aber heißt eigentlich, daß wir es überhaupt nicht mehr mit irgend einer anderen Realität als mit dem  Begriff  derselben zu tun haben, daß "Realität"  begriffene  Realität ist,  im Sinne der Kategorie der Realität  genommen wird, genommen werden muß. Wo und wie immer unter wissenschaftlichem, begrifflichem Gesichtspunkt, in einer wissenschaftlichen Rede, in einer wissenschaftlichen Untersuchung das Problem der Realität zum Gegenstand gemacht wird, da handelt es sich stets  um das Problem,  das in dem  Begriff der Realität  steckt, und nicht um einen "Tatbestand": Realität. Was man eigentlich meint, wenn man von einer solchen Realität, die nicht im System der Erkenntnis beschlossen sei, spricht, ist unbestimmbar, ist logisch nicht zu präzisieren. Setzt doch schon jeder kleinste Ansatz zu dem Versuch, diese Realität zu bestimmen, den  Begriff  der Realität voraus. Auch "Tatbestand" ist ein Begriff. Alles Wissen von einem "Tatbestand", jede Aussage über ihn ist nur möglich unter der Voraus-Setzung seines Begriffes. Auch das logische Herangehen an den "Tatbestand", auch der Anfang seiner wissenschaftlichen Behandlung setzt den Begriff der Realität voraus. Auf keine Weise, durch keine Überlegung kann der Kreis des begrifflichen Zusammenhanges, kann der Rahmen der Erkenntnis gelockert oder gesprengt werden, solange es sich überhaupt um Erkenntnis handelt: Gott und Welt, Himmel und Erde sind in diesem Zusammenhang eingeschlossen; wir  wissen  von allen diesen Dingen nur unter der Voraussetzung der Gültigkeit der Begriffe, des begrifflichen Denkens, das aller behaupteten prologischen Realität gegenüber absolute Autonomie, absolute Suprematie besitzt.

So bleibt von der Realität eines transzendenten Seins auch nicht ein Schein übrig. Denn dieser Schein eines transzendenten Seins ist ja wiederum eine Behauptung, eine begriffliche Aussage, ist schließlich ein Urteil. Das "Sein" existiert, um diesen Ausdruck zu gebrauchen, als begriffliches Sein, als Begriff, es "existiert" in dieser Geltung als Begriff, das "Sein" hat die Geltung des Begriffs, die der Kategorie (siehe oben). Und darum treten für dieses "Sein" alle diejenigen Bestimmungen in Kraft, die sich aus der logischen Analyse des Geltungsbegriffes ergeben; und das sind vornehmlich die in der Idee der Einheit und des Systems gedachten und die mit ihnen in logischem Zusammenhang stehenden Determinationen.

Aus allem diesen folgt, daß  das "Sein" ganz und gar in den Geltungszusammenhang der systematischen Erkenntnis eingeht. Die systematische Erkenntnis ist die fundamentalste Geltungssetzung,  sobald auch nur der leiseste Versuch unternommen wird, von irgend einem Sein irgend etwas festzusetzen, auszusagen, es zu bestimmen. Man darf den Ausdruck Erkenntnis nur nicht in zu eingeschränktem, partikulärem Sinne verstehen und dabei etwa an eine einzelne Richtung der Erkenntnis denken. Es handelt sich vielmehr darum, ihn in der umfassendsten philosophischen Bedeutung zu nehmen, wonach er "Erkenntnis überhaupt", "Idee der Erkenntnis" bedeutet.  Von diesem Standpunkt aus gesehen ist alles Sein nur ein Wissen vom Sein, ist Realität der Gedanke der Realität. 

Glaubt man vom Sein sprechen, vom Sein als Sein etwas  wissen  zu können, ohne es im Gedanken zu gründen, so stellt man sich jenseits der Erkenntnis, jenseits der Wissenschaft. Dann vermag man keinem bestimmten, haltbaren, eindeutigen Begriff des Seins zu bilden, auch keine eindeutige methodische Disposition für die Lösung dieses Problems zu entwerfen; man gibt die feste Grundlage und die gedankliche Stellungnahme preis. Man glaubt wohl, sich mit der "Intuition", der "intellektuellen Anschauung", mit der "Ahnung" und ähnlichen Vehikeln der Mystik und der "Mystagogen" weiterhelfen zu können. "Daß hierin nur ein gewisser mystischer Takt, ein Übersprung (salto mortale) von Begriffen zum Undenkbaren, ein Vermögen der Ergreifung dessen, was kein Begriff erreicht, eine Erwartung von Geheimnissen oder vielmehr Hinhaltung mit solchen, eigentlich aber Verstimmung der Köpfe zur Schwärmerei liege, leuchtet von selbst ein. Denn Ahnung ist dunkle Vorerwartung und enthält die Hoffnung eines Aufschlusses, der aber in Aufgaben der Vernunft nur durch Begriffe möglich ist, wenn also jene transzendent sind und zu keiner eigenen  Erkenntnis  des Gegenstandes führen können, notwendig ein Surrogat derselben, übernatürliche Mitteilung (mystische Beleuchtung) verheißen muß; was dann der Tod aller Philosophie ist." (25)

FRIEDRICH ALBERT LANGE bemerkt einmal: "Wir sind nun einmal nicht geschaffen, bloß zu erkennen, sondern auch zu dichten und zu bauen", und er fährt fort: "dies ist etwas Großes und für die Erhaltung und Ernährung unseres geistigen Lebens so wichtig wie die Wissenschaft." (26) Aber dieser Einwand trifft nicht die umfassende Geltung, er trifft nicht den universalen Sinn dessen, was in der Idee der Erkenntnis zu denken ist und gedanklich enthalten ist. Denn selbst eine solche kulturphilosophische Entscheidung, wie LANGE sie fällt, die neben dem Gebiet der Wissenschaft das Gebiet der Dichtung (und als implicit damit die Gebiete der Metaphysik und Religion) als selbständig anerkennt, beansprucht erkenntnismäßige Bedeutung und hat eine solche. Das heißt jedoch, daß diese Entscheidung selber  nur unter der Voraussetzung der Geltung der Erkenntnis überhaupt möglich ist, daß die gedankliche  Existenz jener Gebiete - und diese Existenzart ist die einzige, die für eine logische Betrachtung überhaupt in Frage kommt - abhängig und gesichert ist durch die  Erkenntnis  jener Gebiete und damit  durch die Erkenntnis überhaupt.  Nur wenn die Erkenntnis in ihrer apriorischen Geltung feststeht, stehen auch jene Gebiete fest, nur dann weiß ich überhaupt etwas von ihnen. Ohne sie zu wissen, ohne die Geltung der transzendentallogischen Prinzipien, ohne die Geltung "prophysischer" Gedanken, um eine treffende Formulierung BAUCHs zu verwenden, (27) ist von keiner Physis, ist von keiner Natur, ist von keiner Kultur die Rede, kann von keiner die Rede sein. "Ist nun der Gegenstand kein Objekt einer uns möglichen Erkenntnis: so kann über Möglichkeit derselben weder wahrscheinlich noch unwahrscheinlich, sondern gar nicht geurteilt werden." (28) Die Fundierung des Seins auf die Idee, die Gründung aller Existenz auf den Logos ermöglichst überhaupt erst die Anerkennung des Seins als geltendes Sein. Was unter logischem Gesichtspunkt als Sein ausgesagt, als Sein determiniert wird, das ist im letzten Grunde nichts als die Selbstdetermination des Systems der Erkenntnis, wie diese sich in den positiven Wissenschaften vollzieht. Die Geltung, die von dem Sein ausgesagt, die ihm zugesprochen wird, ist lediglich die Geltung des Gedankens des Seins, die Geltung des im Gedanken gesetzten Seins: die Behauptung, das Sein habe eine Geltung, heißt nichts Anderes, als daß das Sein zur Idee erhoben, als daß es in den Gedanken hineingenommen, im Gedanken gegründet ist.

Man wird gegen derartige Ausführungen einwenden, daß sie eine Überspannung der Kompetenz des Logos enthalten und einem  absoluten Logismus  und  Rationalismus  das Wort reden. Es bleibe gleichsam nichts Festes mehr; alle "Wirklichkeit" verschwinde, wenn alles Sein in das Denken eingebettet und zum bloßen Gedanken erhoben werde. Dagegen ist die Antwort: Die Realität des transzendenten Seins wird durch alle diese Gedanken gar nicht angerührt, gar nicht verneint, gar nicht verflüchtigt, und zwar aus dem Grunde, weil das Denken sich auf jene Transzendenz gar nicht bezieht, weil es mit ihr gar nichts zu tun hat, weil jene Transzendenz kein Gegenstand möglicher Erkenntnis ist. In der Philosophie hat man es ausschließlich mit demjenigen Sein zu tun, das denkbar, das erkennbar ist, das unter den Bedingungen möglicher Erkenntnis steht, man hat es nur mit dem gedachten Sein zu tun, mit dem Sein als Gegenstand der Erkenntnis, d. h. also mit der  Erkenntnis  des Seins. Ihr Problem ist nicht das des Seins, sofern unter diesem das Problem eines denkunabhängigen X fingiert wird, denn das hieße das Undenkbare, das Nichtdenkliche zum Problem machen wollen -  ihr Problem ist vielmehr das der Erkenntnis, das der Wissenschaft. 

Man kann den Charakter der transzendentalen Logik durch eine Ausführung H. COHENs verdeutlichen, die der vorliegenden Studie zu wegweisendem Aufschluß geworden ist: "Historisch läßt sich der transzendentale Gesichtspunkt durch ein Platonisches Beispiel kennzeichnen: Nicht die Sterne am Himmel sind die Objekte, die jene Methode betrachten lehrt, um sie zur Erkenntnis zu bringen; sondern die astronomischen Rechnungen, jene Fakten wissenschaftlicher Realität sind gleichsam das Wirkliche, das zu erklären steht, auf welches daher der transzendentale Blick eingestellt wird. Wie PLATO, hatte auch DESCARTES auf die   raisons de l'astronomie  die Frage gerichtet. Worauf beruht jene Realität, welche in solchen Fakten gegeben ist? Welches sind die Bedingungen jener Gewißheit, von welcher das sichtbar Wirkliche seine Realität entlehnt? Jene Fakten von Gesetzen sind die Objekte; nicht die Sternendinge." (29)

Die strenge Blickrichtung auf die Möglichkeit der Erkenntnis bietet keinen Weg, sie bietet keine Handhabe, um dem Logismus, um dem Rationalismus zu entgehen. Von diesem Standpunkt aus kann die  Kompetenz des Logos  nicht weit genug gespannt werden. In der Erkenntnis, in der Wissenschaft ist der Rationalismus das erste und das letzte Wort. (30) Das denkende Bewußtsein ist die Voraussetzung für jede Aussage und für jede Bestimmung, die sich auf das Gebiet der Wahrnehmung und der Vorstellung bezieht, es ist die Voraussetzung überhaupt für die Erfassung alles Physischen und alles Psychischen.

Nun pflegt man neuerdings wieder stärker zu betonen, daß im Zusammenhang der Erkenntnis auch ein Denkfremdes auftrete, daß irrationale Momente, die ihrem ganzen Sinn und Gehalt nicht in jenem Zusammenhang aufgehen, nicht restlos durch ihn aufgelöst werden, in ihm enthalten seien. Aber jene Irrationalität, die im Zusammenhang der Erkenntnis auftreten soll, ist doch stets  gedachte  Irrationalität.

Und ein Gleiches, wie für das Problem der Irrationalität, gilt für das Problem der "Gegebenheit", des "Inhalts", der "Materie", der "Empfindung". "Gegebenheit", "Inhalt", "Materie", "Empfindung": alles dies sind Momente  im  Zusammenhang der Erkenntnis, Faktoren, Konstituentien, d. h. Kategorien, kategoriale Bedingungen bei dem Aufbau und dem Vollzug der Erkenntnis, gegründet im Zusammenhang der Erkenntnis und nur bei seiner Zugrundelegung faßbar und wißbar (31) Entsteht nicht in diesem Prozeß der Erkenntnis alles Wissen von diesem Gegebenen? Sobald von dem Gegebenen gesprochen wird, sobald auch nur sein Begriff konzipiert wird, ist es schon nicht mehr bloßes Gegebenes im Sinne eines erkenntnisunabhängigen Seins, sondern es ist dann schon und es ist immer  gedachtes  Gegebenes. Nicht anders steht es um den Begriff des "Inhaltes". Zwischen "Form" und "Inhalt" besteht kein realer Gegensatz. Es handelt sich nicht um zwei heterogene Geltungssphären oder zwei selbständige Wesenheiten. Die kritische Analyse des Erkenntnisproblems erkennt zwischen "Form" und "Inhalt" nur eine logische Distanz. (32) Alle die genannten Bestimmungen sind Begriffe, sind methodisch gemeinte Gesichtspunkte, es sind heuristische Prinzipien der Forschung, (33) genau so, wie die theoretischen Bestimmungen der mathematischen Astronomie keine reale Aufteilung der Himmelskörper bedeuten.

Ist das aber erkannt, dann ergibt sich weiter, daß alle jene Unterscheidungsstücke der Erkenntnis, wie "Form" und "Inhalt" usw., nicht logische Priorität und Prinzipialität haben, sondern daß es sich bei ihnen nur um analytische Elemente in dem synthetischen Gesetzeszusammenhang der Erkenntnis handelt, daß also dieser es ist, dem logische Priorität und logische Prinzipialität zukommen. Sowohl das, was als "Form", wie das, was als "Inhalt" der Erkenntnis bestimmt und bezeichnet wird, ist abhängig von der systematischen Einheit der wissenschaftlichen Vernunft. Nur unter der Voraussetzung der Geltung der Einheit, nur bei Zugrundelegung der wissenschaftlichen Vernunft kann von "Form" oder "Inhalt" der Erkenntnis die Rede sein. Beide Bestimmungen haben wieder Sinn und Geltung nur im Hinblick auf die systematische Einheit.

Im Umkreis und unter dem Gesichtspunkt der Erkenntnis hat die wissenschaftliche Vernunft, hat, kurz gesprochen der Logos, die unumschränkte Herrschaft inne; es gilt der Forderung zu ihrem Recht zu verhelfen, daß  "die Panarchie des Logos wieder zu Ehren gebracht werden muß." (34)
LITERATUR, Arthur Liebert, Das Problem der Geltung, Berlin 1914
    Anmerkungen
  1. BENNO ERDMANN, Logik, I. Bd., 2. Aufl., S. 53: "Überdies gewährt die Rücksicht auf dem tatsächlichen Bestand der wissenschaftlichen Methoden einen ähnlichen Schutz gegen den leeren Formalismus, dem die Logik Jahrhunderte hindurch verfallen war, wie die Einsicht in den tatsächlichen Verlauf der Denkvorgänge, deren Normen entwickelt werden sollen". Vgl. außer den Schriften von RIEHL, auch BAUCH, Studien Seite 142: "Wissenschaftslehre ohne Wissen ist leer."
  2. VAIHINGER, Philosophie des Als Ob, Seite 7 u. a. a. O.
  3. Vgl. W. SWITALSKI, der Wahrheitsbegriff des Pragmatismus nach William James, 1910, Seite 54 ff.; W. WINDELBAND, Der Wille zur Wahrheit, Rede, 1909, Seite 14 ff., 24 u. a. a. O.; RUDOLF EISLER, Der Zweck, 1914, Seite 239 u. ö.
  4. NIETZSCHE, Nachgelassene Werke XI, Seite 16.
  5. Vgl. CASSIRER, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Seite 22 f.
  6. Von älteren Werken, die jene Einsicht bereits vertreten, ist besonders SIGWARTs "Logik" zu nennen; vgl. besonders Bd. I, S. 477 ff.; II, Seite 262 - 330 (3. Aufl. 1904).
  7. BAUCH, Studien, Seite 23
  8. KANT, Kr. d. Vern., Seite 174.
  9. Vgl. auch RIEHL, Kritizismus I, Seite 518 ff.
  10. Kr. d. r. V., Seite 198.
  11. Kr. d. Urteilskraft, Seite 36.
  12. ebenda, S. 303; auch Seite 292 f.
  13. Ein umfassender Nachweis für die Bedeutung der Zweckidee für alle Verzweigungen der Wissenschaft und Philosophie jetzt bei RUDOLF EISLER, Der Zweck, seine Bedeutung für Natur und Geist, 1914
  14. Deshalb konnte FRIEDRICH ALBERT LANGE in seiner "Geschichte des Materialismus" auf die außerordentliche methodische Fruchtbarkeit des mechanischen Standpunktes aufmerksam machen und diese Fruchtbarkeit auch an der Entwicklung der mechanischen Naturwissenschaften selber dartun, ohne daß er dabei vergaß, gegen den Versuch Front zu machen, in dem Mechanismus das ausschließlich berechtigte und allein hinreichende Fundament und Prinzip für die Entwickelung einer Weltanschauung zu erblicken, wie es von Seiten des naturwissenschaftlichen Dogmatismus oft getan wurde und wird.
  15. Kr. d. Urteilskraft Seite 295 f.
  16. ebenda Seite 298.
  17. Kr. d. r. V. Seite 617 (I, 220)
  18. Kr. d. Urteilskraft Seite 21
  19. Kr. d. Urteilskraft S. 21
  20. AUGUST STADLER, Kants Teleologie, 1874, unveränderte Neuausgabe 1912, Seite 126
  21. Kr. d. Urt., Seite 290; vgl. STADLER, Seite 132
  22. ARISTOTELES, Metaphysik XII. Buch 7. 1072 b, 14; vgl. ALBERT GÖRLAND, Aristoteles und Kant, Gießen 1909, Seite 358, 361.
  23. KANT, Kritik der Urteilskraft § 61, vgl. auch Schluß von § 65 u. a. a. O. Vgl. AUGUST STADLER, Kants Teleologie und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung; 1912, unveränderte Neuausgabe der 1. Auflage: ferner WILHELM ERNST, Der Zweckbegriff bei Kant, Kantstudien, Ergänzungsheft 14.
  24. PLATO, Phaidon 76b; vgl. NIKOLAI HARTMANN, Platos Logik des Seins, 1909. Seite 223, 463 u. ö.
  25. KANT, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, S. 13 f. Diese wundervolle Schrift ist, wie schon früher erwähnt, eine einschneidende Abfertigung aller Gefühlsphilosophie.
  26. FR. ALB. LANGE, Gesch. d. Materialismus, 7. Aufl. herausgeg. von Hermann Cohen, 1902, Bd. I, Seite 68 - 69.
  27. BAUCH, Studien etc. Seite 105.
  28. KANT, Von einem neuerd. erhob. vornehm. Ton, Seite 12 Anm.
  29. H. COHEN, Kants Begründung der Ethik, 2. Aufl., 1910, Seite 27 f.
  30. Vgl. A. RIEHL, Der philosophische Kritizismus I, 304
  31. So kann ich z. B. FRISCHEISEN-KOEHLER nicht zustimmen, der in seiner bereits erwähnten Studie: "Das Realitätsproblem" (Philosophische Vorträge, veröffentlicht von der Kantgesellschaft Nr. 1/2, 1912) S. 11 sagt: "Der Begriff eines Gegenstandes, von dem gefordert wird, daß er keine  Beziehung  auf Bewußtsein und Erfahrung einschließe, ist völlig legitim." "Oder ... es läßt sich der Begriff eines Gegenstandes bilden, von dem bestimmt wird, daß er nicht nur Gegenstand des Erkennens sei."
  32. Vgl. HÖNIGSWALD, a. a. O., S. 45
  33. Der hier vertretene Gedanke der unbedingten, prinzipiellen Einbeziehung des "Inhaltes" in den rationalen Zusammenhang läßt mich auch die sonst sehr beachtenswerte und aufklärende Formulierung nicht annehmen, mit der JONAS COHN das Verhältnis des reflexiven Inhaltes zu dem logischen Formzusammenhang bestimmt. So sehr COHN auch die Gebundenheit des Inhaltes an das Logische betont, so weist er doch andererseits auf den Abstand hin, den der Inhalt gegenüber der Rationalität des Zusammenhanges hat; nach ihm kommt dem Inhalt immer noch ein Minimum der Denkfremdheit" zu; vgl. JONAS COHN, Voraussetzungen und Ziele des Erkennens, 1908, Seite 109 f., 169 ff.
  34. E. LASK, Die Logik der Philosophie, Seite 134.