cr-4ra-2F. Th. VischerF. SchillerB. KernL. Kühnvon Allesch    
 
ERNST BERGMANN
Die Philosophie Guyaus
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"Wenn man an Tagen der Gesundheit hinunterlauscht in die Tiefen seines Wesens, so vernimmt man von dort ununterbrochen etwas wie einen süßen und dunklen Gesang. Das Lebensgefühl, ist es nicht die Quelle aller Lust und aller Kunst."

"Der Zweck der Kunst ist die unmittelbare, gedachte, vorgestellte und gefühlte Verwirklichung aller unserer Träume von einem idealen Leben, von einem intensiven und expansiven, von einem guten, bewegten und glücklichen Leben."

"Das Schönheitsgefühl ist nur die höhere Form des Gefühls der Solidarität und der Einheit in der Harmonie. Es ist das Bewußtsein einer Gemeinschaft in unserem individuellen Leben."


IV. Guyaus Ästhetik und
Kunstphilosophie

GUYAU hat die Ästhetik in  doppelter Fassung  vorgetragen. Anfang der 80er Jahre ist er bemüht, seine Religionsphilosophie, Ethik und Ästhetik in einen systematischen Zusammenhang aufgrund der Idee des  Lebens  zu bringen. Wenn er 1884 seine "Problémes de l'esthetique contemporaine" schreibt, beherrscht ihn diese Idee völlig. Das ästhetische Gefühl, lehrt er dann, erwacht, "wenn das Leben zum Bewußtsein seiner selbst, seiner Intensität und inneren Harmonie gelangt ist." (1) Ein Jahr später (1885) bei der Veröffentlichung seiner Ethik steht er immer noch im Bann dieser Idee. Aber schon die "Irreligion de l'avenir" (1887) kündigt sich im Nebentitel als eine "soziologische Studie" an. Vielleicht hat ihn nur der Tod daran gehindert, auch seine Ethik unter den neugewonnenen soziologischen Gesichtspunkt zu bringen. Mit der Ästhetik ist ihm dies noch gelungen. In seinem Nachlaß fand sich ein originelles, völlig ausgearbeitetes Werk: "L'art au point de vue sociologique".


A. Guyaus Wirklichkeitsästhetik

Aber schon seine "ästhetischen Probleme der Gegenwart" (2) sind in ihrer entschiedenen Polemik gegen alle bisherigen ästhetischen Theorien originell genug. Sind die Grundlagen der Religion zerstört, so wird es nötig sein, ihre großen Äquivalente, neben der Wissenschaft, Moralität und metaphysischen Spekulation namentlich die Kunst, in ihrem Wert kenntlich zu machen. Der ganze Ernst, die ganze Tiefe der Kunst, ihre ungeheure Bedeutung für das Leben wird gezeigt werden müssen. In diesem Bemühen glaubt sich GUYAU aber gehindert und gehemmt durch die in der evolutionistischen Ästhetik der Engländer ihm entgegentretende KANT-SCHILLERsche Spieltheorie. Und so wird ihm dann die Frage nach dem Wesen der Kunst und des Schönen im wesentlichen zur Frage nach der Berechtigung der Spieltheorie. Ist die Kunst wirklich nur  Spiel,  winkt ihr dann die große Zukunft, die GUYAU ihr prophezeien möchte? Hat sie aber den Ernst des Lebens, wie er überall nachweisen wird, ist ihr das Prinzip das Leben selbst, so ist ihre Zukunft gesichert. "Zweck unseres ganzen Buches ist, diesen Ernstcharakter der Kunst, namentlich der Poesie, zu begründen." (3)

Es ist klar, daß diese ganze Argumentation nur möglich ist, wenn man die SCHILLERsche Theorie in einen falschen Gegensatz und damit in eine falsche Beleuchtung rückt. GUYAU kann die Schriften der deutschen Ästhetik unmöglich gründlich studiert haben. Sein Gewährsmann ist vielmehr ausschließlich SPENCER, und wie es mit dessen Kenntnis SCHILLERs beschaffen ist, ersieht man zur Genüge, wenn man in den "Prinzipien der Psychologie" (1855) zu Beginn des Kapitels über die ästhetischen Gefühle auf die Bemerkung stößt, er habe von einer Andeutung einer Beziehung zwischen "Kunst" und "Spiel" gehört, die "ein deutscher Autor gemacht hat, an dessen Namen er sich nicht erinnern kann." Und so konstruiert dann GUYAU eine vollkommene Übereinstimmung hinsichtlich der Spieltheorie unter den Schulen aller Länder. Wie KANT und SCHILLER, so lehrt auch SCHOPENHAUER, daß die Kunst nichts ist, als ein höheres Spiel, das vom Elend des Daseins auf einige Zeit befreit. Wie SPENCER und GRANT ALLEN in seiner "Physiologischen Ästhetik" (1878), so lehren auch die Kantianer in Frankreich (RENOUVIER), das Schöne gründe sich auf das freie Spiel von Verstand und Einbildungskraft, völlige Interesselosigkeit hinsichtlich des Wahren, Wirklichen und Nützlichen sei Hauptbedingung bei jeder Art von ästhetischem Genießen (4). Wenn GUYAU also die Spieltheorie bekämpft, fühlt er sich als Reformator der Ästhetik. Er wird einwenden: ein lebhafter ästhetischer Eindruck ist unabhängig von aller Wahrheit, Wirklichkeit und Nützlichkeit überhaupt undenkbar. In der Spieltheorie liegt nach GUYAU eine völlige Verkennung des Ernstcharakters großer Kunst (5). Er stellt ihr seine Lebenstheorie oder Wirklichkeitstheorie entgegen. Aber schon aus dieser Gegenüberstellung erhellt sich, daß GUYAU die Eigenart der SCHILLERschen Theorie nicht recht begriffen hat. Schon VOLKELT hat in seinem "System der Ästhetik" (bei aller Anerkennung des mancherlei Anregenden, das GUYAU bring) auf dieses Mißverständnis hingewiesen. (6)

1. - Zunächst, meint GUYAU, wäre die evolutionistische Kunsttheorie in einem wichtigen Punkt zu vervollständigen. Das Eigentümliche der ästhetischen Lust liegt nach SPENCER darin, daß sie nicht mit den Lebensfunktionen verwachsen ist. Die ästhetische Lust an Tönen, Linien, Farben, Gerüchen ist  Luxusgenuß,  sie ergibt sich aus dem "Spiel" des lange in Ruhe gewesenen Organs, in dem sich ein Überschuß an Nervenkraft angespeichert hat und in dem sich der Trieb regt, sich zu betätigen, wenn sein Tun auch zwecklos ist. In der zwecklosen, uninteressierten Befriedigung dieses "Spiel"triebs des Organs liegt die Quelle der ästhetischen Lust. Mag sein, sagt GUYAU, aber die Kunst ist nicht nur Luxus, nicht nur Spiel. Sie fördert die allgemeine Entwicklung. Sie ist eine Gymnastik des Nervensystems. Sie gleicht die durch die wachsende Differenzierung der Arbeitsverrichtung des einzelnen herbeigeführte Verkümmerung der Organe wieder aus. Die Kunst wird uns immer mehr zur Lebensnotdurft werden, zum täglichen Brot. (7)

2. - Aber dies nur nebenbei. Die Kunsttheorie der Engländer erweckt in GUYAU grundlegende Bedenken. Beginnt das Ästhetische wirklich erst mit dem Spiel? "Ist es wirklich so, daß alles, was Ernst in uns ist, nicht mehr schön ist? Kann uns nicht ebensowohl jede Handlung, die ihren Zweck nicht in sich selbst trägt, jede  nützliche  Handlung in demselben Maße als schön erscheinen?" (8) - SPENCER scheidet mit KANT das Schöne sorgfältig vom  Nützlichen Schön ist nur der Gegenstand, der keinen Zweck hat. Mit Genugtuung verzeichnet GUYAU die Absurdität GRANT ALLENs, daß ein Bahnhof, eine Markthalle nie schön sein können. Da habt ihr's! Zu derlei Konsequenzen führt der  kantische  Formalismus! Industrie und Kunst schließen sich also aus! Schönheit und Nutzlosigkeit sind also eins. Zweckmäßigkeit ist nicht mehr Schönheit.

GUYAU wird nicht mit SOKRATES das Schöne mit dem Brauchbaren zusammenfallen lassen. Nur soviel verlangt er:  Zweckmäßigkeit  ist  schon  Schönheit. (9) Die Lust am Schönen steht zumindest nicht im Widerspruch mit dem Gefühl für das Nützliche. Ja, der Nützlichkeit als solcher wohnt stets schon eine gewisse Schönheit inne. Sie gründet sich teils auf intellektuelle Befriedigung, hervorgerufen durch die Zweckmäßigkeit des Gegenstandes, teils auf Befriedigung der Sinnlichkeit, hervorgerufen dadurch, daß die Zweckerfüllung als angenehm empfunden wird. Das Nützliche ist also schön "durch das intellektuelle Element seiner wahrgenommenen Finalität und durch das sinnlich wahrnehmbare Element einer von vornherein empfundenen Genugtuung." (10) Wie leicht rollt der Wagen auf der schönen, glatten Landstraße dahin! Ein Gegenstand ist schön, wenn er stets bereit erscheint, uns einen Dienst zu erweisen. Die Nützlichkeit ist die  erste Stufe der Schönheit  bei den Gegenständen der Außenwelt.

3. - GUYAU wendet den Gedanken ins  Subjektive.  Kann das Bedürfnis, die  Begierde,  Quelle ästhetischer Gefühle sein? SPENCER freilich antwortet (mit KANT, SCHILLER und SCHOPENHAUER): Nein! Bedürfnis und Verlangen schließen das ästhetische Gefühl aus. Er korrespondiert mit GUYAU über diese Fragen, und GUYAU veröffentlicht den Inhalt ihrer Korrespondenz (11). Wenn ich in der Pariser Markthalle Lebensmittel einkaufe, so bediene ich mich meiner Gesichtswahrnehmung in einer Weise, wie ich es beim ästhetischen Betrachten nicht tue. Verfolgt der Geist seine Interessen zur Erhaltung des Lebens, so kann er nicht zugleich Sitz ästhetischer Gefühle sein. Der ästhetische Charakter des Betrachtens geht verloren, sobald ich einen praktischen Zweck verfolge. Das Beispiel ist nicht sehr treffend gewählt. SPENCERs Käufer befindet sich im Zustand der Neutralität. Die Stunde des Verlangens ist beim Einkauf noch nicht gekommen. GUYAU läßt  seinen  Käufer von einer weiten, sommerlichen Wanderung zurückkehren. Erblickt  dieser  Käufer die saftigen Pfirsiche in der Markthalle, so wird er in dem Moment, wo er die Hand nach ihnen ausstreckt, unbedingt ästhetische Gefühle empfinden. Das Verlangen und seine Befriedigung ist nach GUYAU nicht nur nicht anti-ästhetisch, wie SPENCER behauptet, mit der Befriedigung unserer Lebensbedürfnisse sind vielmehr die allerintensivsten Lustgefühle ästhetischer Natur verbunden. Jedes starke Verlangen sammelt unsere Lebenskraft wie in einem Brennspiegel in sich. Jede der vier wesentlichen Lebensfunktionen des Menschen, Atmung, Bewegung, Ernährung und Fortpflanzung kann nach GUYAU ästhetischen Charakter annehmen, und dies umso mehr, je elementarer sie zur Betätigung drängt. Hier liegt ein eigentümliches Element in der Ästhetik GUYAUs, die man eine "Ästhetik der Lebensglut" nennen könnte. Sie hat große Ähnlichkeit mit NIETZSCHEs Ästhetik des "Rausches", des "erhöhten Machtgefühls" und des "Geschlechtstriebes" (12). Tiefes  Atmen  in staubfreier Luft empfinden die kranken Lungen GUYAUs als berauschenden Genuß. Welch süßes Gefühl, aus verdorbener Atmosphäre in die reine Luft hoher Berge zu treten! Sein persönliches Schicksal rückt ihm den physiologischen Gesichtspunkt nah. Auch die  Ernährung  gilt als günstiger Boden für das Entstehen ästhetischer Gefühle. Nach der Nahrungsaufnahme fühlen wir das Erwachen neuer Lebenskraft. Wir fühlen, wie unser Blut heißer durch die Adern strömt. Welch ein Gefühl reinster Harmonie!
    "Wenn man an Tagen der Gesundheit hinunterlauscht in die Tiefen seines Wesens, so vernimmt man von dort ununterbrochen etwas wie einen süßen und dunklen Gesang. Das Lebensgefühl, ist es nicht die Quelle aller Lust und aller Kunst." (13)
Ähnliches gilt von der  Bewegung.  Das Innenleben nach außen kund zu tun, ist ästhetisch angenehm. Weiter Raum erweckt einen Rausch von Freiheit in uns. Und nun gar die  Fortpflanzung!  Der Geschlechtstrieb ist nach GUYAU von größter Bedeutung für das Ästhetische. "Der Urtyp des ästhetischen Gefühls ist das Liebesgefühl." (14) Die Frau ist nichts als eine höhere Form der Schönheit. Was wir am schönsten an ihr finden, ist stets zugleich das, was unser Verlangen erregt. "Die Kunst ist in der Hauptsache nichts als eine Umbildung der Liebe, die ihrerseits eins der fundamentalsten Bedürfnisse des menschlichen Wesens ist." (15) Es ist nach GUYAU geradezu oberflächlich, das ästhetische Verhalten unabhängig vom Geschlechtstrieb zu betrachten. Es ist oberflächlich, das Gefühl für das Schöne in einen schroffen Gegensatz zum Interesse zu rücken, wie KANT, SCHOPENHAUER, SPENCER, COUSIN und JOUFFROY tun. Was schön ist, ist aus dem gleichen Grund auch begehrenswert. "Bedürfnis und Verlangen, d. h. das Angenehme und da wiederum das, was zum Leben dient, da haben wir das ursprüngliche, noch rohe Kriterium der Ästhetik." (16) - "Es gibt kein ästhetisches Gefühl, das nicht eine Unzahl von mehr oder weniger bewußten Wünschen und Bedürfnissen in uns erweckt." (17)

4. - Suchte GUYAU soeben dem sinnlichen Element im Reich des Ästhetischen zu seinem Recht zu verhelfen, so geschieht nun das gleiche mit der  Aktivität  (18). Die Evolutionisten ebenso wie die Kantianer haben das Element des Handelns vom Ästhetischen ganz ausgeschlossen. Das Dogma der Willenlosigkeit im ästhetischen Verhalten beruth aber nach GUYAU auf einem grundlegenden Irrtum. Es gehört vielmehr zum Wesen der Kunst, daß sie unser gesamtes Interesse zum Handeln antreibt. Die lebhaftesten ästhetischen Gefühle sind dort zu finden, wo sie sich unmittelbar in Handlungen umsetzen. So empfanden die Spartaner die ganze Schönheit der Gesänge des TYRTAIOS erst, wenn sie in den Kampf zogen.
    "Was mich anlangt, so habe ich die Erhabenheit des Himmels nie tiefer empfunden, als wenn ich unter großen Anstrengungen einen hohen Berg erklomm. Dann glaubte ich tatsächlich gleichsam in den Himmel hineinzusteigen, ihn mit jedem Schritt mühsam zu erobern." (19)
5. - In den schreiendsten Widerspruch mit der gesamten bisherigen Ästhetik tritt GUYAU, wenn er den  Scheincharakter  des Ästhetischen nicht als ein wesentliches Merkmal der Kunst gelten lassen will. Was nach SCHILLER und seiner Schule als das Wesen der Kunst erscheint, nämlich daß sie kein wirkliches Leben hervorzubringen vermag, ist nach GUYAU nur ein  Mangel  der Kunst.
    "Der Schein ist durchaus keine Bedingung des Schönen in der Kunst, er ist eine Schranke der Kunst.  Leben, Wirklichkeit,  das ist das wahre Ziel der Kunst. Nur infolge einer Art von Fehlgeburt kann sie nie dahin gelangen." (20)
Die MICHELANGELO und TIZIAN sind verunglückte  Jehovas.  Nur  gegen  seinen Willen schafft der Künstler die Scheinwirklichkeit. Würden die Dramen des EURIPIDES oder CORNEILLE an Schönheit eingebüßt haben, wenn sie sich in der Wirklichkeit abgespielt hätten! Dann wäre es allein der Marmor, der die  Venus von Milo  so schön macht. Stiege sie herab von ihrem Sockel, so wäre es mit unserer Bewunderung zu Ende. "Als wenn es nicht der höchste Wunsch, das nie zu verwirklichende Ideal des Künstlers wäre, seinem Werk Leben einzuhauchen, Schöpfer zu sein, nicht bloß Bildner." Sucht er nicht deshalb nach dem  Häßlichen,  weil er glaubt, hierdurch seiner Schöpfung eine größere Lebenswahrheit zu verleihen? "Der Künstler erdichtet nur, um uns glauben zu machen, daß er nicht erdichtet." (21) Die Wirklichkeit ist das Ziel seiner Kunst. Hier ist wohl der Punkt, wo sich GUYAU in seinem reformatorischen Bestreben am weitesten von der Wahrheit entfernt.

6. - GUYAU untersucht nunmehr die Bedingungen der Schönheit in den Bewegungen, Gefühlen und Empfindungen (Kapitel 4, 5 und 6).

Welche  Bewegung  ist anmutig? Die, sagt SCHILLER, und SPENCER spricht es ihm nach, bei der die Glieder frei spielen, alle Muskelkraft verschwunden zu sein scheint. Daher ist die krummlinige Bewegung so wohlgefällig, fügt SPENCER hinzu. Es wird Kraft gespart. Alle Schönheit in der Bewegung ist zurückführbar auf Kraftersparnis. Eine scharfsinnige Theorie, bemerkt GUYAU. Aber sie ist einseitig. Die Arbeit eignet sich genau so wie das Spiel Bewegungen ästhetischer Natur an. Arbeiter auf der Leiter, die sich Ziegelsteine reichen, Ruderer, Schmiede, Schnitter, Holzfäller sind schön trotz aller Anstrengung, was SPENCER wohl nie bestritten haben würde. Ob aber auch anmutig? Für GUYAU sind hier Schönheit und Anmut eins. Er achtet auf den Gegensatz von Arbeit und Spiel, und die Arbeit erscheint ihm ästhetischer. Zweckvolle Bewegung interessiert mehr als zwecklose. "Jede Arbeit, die sich durch einen vernünftigen Zweck rechtfertigt, enthält ästhetische Elemente." (22) Das Spiel ist eine zwecklose Ausübung des Tätigkeitstriebes. Es ist nicht nur nicht das Prinzip des Schönen, sondern hat geradezu etwas widerästhetisches an sich. Es bedarf der Entschuldigung. Der Spielbegriff ist ihm so sehr zuwider, daß er auch die Anmut im engeren Sinne auf den Begriff der Arbeit gründet. Anmut ist nach GUYAU eine Art unbewußte Arbeit, die mit geringerer Anstrengung und mit mehr Genauigkeit ausgeführt wird. Anmut ist "vollkommene Anpassung an einen wirklichen oder nur eingebildeten Zweck, mit anderen Worten: ein harmonisches Gleichgewicht zwischen dem Leben und seiner Umgebung". (23) HERKULES am Spinnrad ist komisch. Trägt er aber den Atlas, so wird er anmutig. Er verrichtet eine Arbeit, die im richtigen Verhältnis zu seiner Muskelkraft steht. "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt", sagt SCHILLER. "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er arbeitet", sagt GUYAU. Und die höchste Schönheit liegt in der Verwendung der Kraft, nicht in der Kraftersparnis, wie SPENCER will. Jener staubbedeckte, schweißtriefende griechische Bote, der den Lorbeer von Marathon über dem Haupt schwingend tot zusammenbricht, ist das Symbol der menschlichen Arbeit, dieser höchsten Art von Schönheit. -

7. - Aber die Schönheit der Bewegung ist nur ein geliehenes Gut. Ein Bewußtseinszustand,  Gefühle  werden in jeder Bewegung dargestellt. GUYAU schließt sich hier enger an SCHILLER an. Die Schönheit der Bewegung hat ihren Sitz im Ausdruck, und diese Schönheit ist umso größer, je sittlicher das nach außen übertragene Leben ist. Die Anmut z. B. ist der Ausdruck des befriedigten Willens, vor allem aber der Ausdruck der Liebe (24). "Die Anmut scheint zu lieben und eben deshalb wird sie geliebt." Ein junges Mädchen, das noch nicht geliebt hat, besitzt vielleicht muntere Anmut, aber nicht jene Anmut der Zärtlichkeit, die schöner ist als die Schönheit selbst.

Ist aber das  sittliche Gefühl  als solches schon  ästhetisch?  Ist die sorgfältige Scheidung des Schönen und Guten, die SPENCER mit KANT vornimmt, berechtigt? Freilich, das Gute kann kein Spiel sein, es ist die ernsteste Sache von der Welt. Die Anhänger der Spieltheorie sind zu dieser scharfen Trennung gezwungen. Allein GUYAU gehört nicht zu ihnen. Für ihn ist jedes moralische Gefühl ästhetisch und umgekehrt. Die patriotische Handlung ist nicht nur gut, sondern auch schön, und zwar in dem Maße, als sie  gut  ist. Mitleid, Sympathie sind schön  und  gut. "Im allgemeinen hat jedes Wesen so viel Moral, als es fähig ist, ein ästhetisches Gefühl nachhaltig zu empfinden." (25) Der Moralist GUYAU identifiziert absichtlich und bewußt die gute Handlung mit der schönen Handlung, das moralische Gefühl mit dem ästhetischen höchster Gattung. Kunstwerke, die sich allzusehr an Gefühle egoistischer und gewalttätiger Natur wenden, bezeichnet er geradezu als minderwertig. Kunst und Moral sind nicht eins, aber die Kunst gründet sich auf dieselben moralischen Gefühle, wie die menschliche Gesellschaft, auf das Mitleid und die Großmut. Und das höchste ästhetische Gefühl ist nach CORNEILLE die sittliche Bewunderung. Bewunderung hat mit Spiel nichts zu tun. Bewunderung ist ein sittliches Urteil. "Im Gefühl der Bewunderung fallen Wirklichkeit und Erdichtung, Sein und Schein zusammen." (26) Das Schöne, Gute und Ernste sind eins, trotz SPENCER.

8. - Will man GUYAUs Wirklichkeitsästhetik mit ihren Mängeln und Vorzügen in ihrer ganzen Eigenart begreifen, so wird man vor allem auf seine Lehre von der "Schönheit der  Sinnesempfindungen achten müssen (6. Kapitel). Auch hier, wo es sich um den ästhetischen Wert der verschiedenen Sinne handelt, gelangt GUYAU in seiner Polemik gegen die Engländer zu einer Theorie, die die herkömmlich völlig auf den Kopf stellt. SPENCER und namentlich GRANT ALLEN lehren, daß die Empfindungen, wollen sie ästhetisch bleiben, sich lokalisieren müssen. Sie dürfen nicht ausstrahlen, nicht den Gesamtorganismus in Mitleidenschaft ziehen. Der ästhetische Charakter geht verloren, sobald sich die Empfindungen mit allgemeinen Erregungen des Lebensgefühls verbinden. Im schärfsten Gegensatz zu dieser Meinung wird GUYAU auch hier den Wirklichkeitscharakter seiner Ästhetik aufrechterhalten. Eine Empfindung ist umso ästhetischer, je unmittelbarer sie dem Leben dient. Gerüche, Farben, Klänge gefallen, wenn sie das Organ leicht anregen, ohne es zu ermüden oder zu beschädigen, und durch diese Anregung das Leben fördern. Hätte GRANT ALLEN recht, dann kämen nur den Gesichts- und Gehörsempfindungen ästhetische Qualitäten zu, weil sie allein den Gesamtorganismus nicht in Mitleidenschaft ziehen. Nach GUYAU aber können, wie er im bewußten Gegensatz zur landläufigen Theorie der KANT, MAINE de BIRAN, COUSIN, JOUFFROY, SPENCER und GRANT ALLEN ausführt, alle angenehmen Empfindungen ästhetischen Charaker annehmen, sobald sie eine gewisse Intensitätsstufe erreichen und nicht von Natur mit widerstrebenden Assoziationen verknüpft sind. Alle unsere Sinne können nach GUYAU ästhetische Gefühle liefern, und gerade die niederen Sinne am meisten, eben weil sie das Lebensgefühl unmittelbarer berühren als die höheren (27). Auch hier ist GUYAUs Theorie eng mit seiner Persönlichkeit verwachsen. Schon den  Temperaturempfindungen  eignet nach seiner Meinung ein hoher ästhetischer Wert. Die Sonnenwärme empfindet der ganze Organismus als angenehm. Eis auf fieberglühender Stirn ist eine unbeschreiblich liebliche Empfindung durchaus ästhetischer Natur. GUYAU entsinnt sich eines Moments aus seiner Leidensgeschichte, wo er beim Auflegen des Eisbeutels auf die Stirn eine "unendlich süße, physische und moralische Beruhigung" empfand. Der  Tastsinn  ist eine beständige Quelle ästhetischer Gefühle. Ist er geübt, so kann er empfindlicher sein für die Schönheit der Formen als das Auge. Er kann das Weiche, Seidige, Glatte wahrnehmen, was das Auge nicht vermag. Die Schönheit z. B. des Samts kann nur durch Betasten ausgeschöpft werden. Der  Geschmack  schließlich vermittelt wahrhaft ästhetische Genüsse. GUYAU berichtet, wie ihm gelegentlich einer Pyrenäenwanderung ein Schäfer ein Glas eiskalte Milch gereicht hat, die allen Duft des Hochgebirges zu atmen schien. Beim Trinken glaubte er eine Pastoralsymphonie durch den Geschmackssinn zu vernehmen. Ähnlich erging es ihm beim Genuß von spanischem Wein. Schon die bloße Stillung des Durstes gewährt durchaus ästhetische Gefühle. Die ganze Poesie der Naturvölker - man denke nur an das Hohelied  Salomons - ist voll von Metaphern, die dem Bereich des Geschmackssinns entnommen sind. Auch der  Geruchssinn,  den GUYAU bezeichnenderweise an letzter Stelle unter den niederen Sinnen nennt, vermittelt noch Gefühle von hohem ästhetischen Wert. Der Duft der Rose ist ein Gedicht. Die Lieblichkeit der Sommernächte besteht zum großen Teil aus Wohlgerüchen. Bei allen landschaftlichen Schönheiten spielt der Geruchssinn eine außerordentliche Rolle. Wer könnte sich die Bretagne ohne Meergeruch, die Heide ohne Kiefernduft vorstellen?

Im Vergleich zu den niederen Sinnen treten bei GUYAU die  höheren  an ästhetischem Wert gänzlich zurück. Greift nicht auch der Dichter, um die Schönheit einer Sache auszudrücken, zu Beiworten wie  süß, lieblich, heiß, ergreifend, herb, bitter, köstlich, balsamisch,  Beiworten also, die dem Reich der niederen Sinne entnommen sind, wo die Lebensgefühle tiefer und stärker strömen? Und doch erkennt GUYAU auch den  Gesichts-  und  Gehörsempfindungen  noch, wenn auch nur geringen, ästhetischen Wert zu, weil sie nicht ganz an der Oberfläche haften, wie die Engländer lehren. Jede Empfindung kann ästhetischen Charakter annehmen. Und zwar hängt dies vom  Grad  der Empfindung ab. Jede Empfindung verläuft nach GUYAU in drei Stadien. Auf den ersten leichten Anschlag folgt das Klarwerden der Empfindung und schließlich die "nervöse Diffussion". Die Empfindung überschwemmt, überflutet das Bewußtsein, breitet sich wie eine Welle über das ganze Nervensystem aus. Und erst in diesem dritten Stadium offenbart sie ihren ästhetischen oder widerästhetischen Charakter. Bisher war sie nur angenehm oder unangenehm. Die ästhetische Erregung beruth also nach GUYAU auf einem Weiterklingen der Empfindung durch den Gesamtorganismus. Assoziierte Lustgefühle werden in großer Anzahl geweckt und klingen mit. So entsteht die  "Klangfarbe"  der ästhetischen Erregung, wie GUYAU sagt, d. h. die "ästhetische Verbindung von Lustgefühlen", von denen das eine dominiert, die übrigen durch Assoziationen geweckt werden. (28) Die Klangfarbe der Empfindung nun ist nach GUYAU der Ort, wo dem Schönen sein Platz anzuweisen ist. Bei den höheren Sinnen tritt vermöge ihrer größeren Indifferenz die "nervöse Diffusion" viel seltener ein, als bei den niederen Sinnen, und so erklärt sich dann in GUYAUs Augen ihr geringer ästhetischer Wert. Das völlige Gegenteil des Richtigen ist es aber, die ästhetische Lust auf das "Spiel" eines Einzelorgans zurückzuführen, wie die Engländer tun. "Man sollte den Anbetern der Schönheit dasselbe zurufen, was DIDEROT zu den exklusiven Religionen gesagt hat: Erweitert euren Gott!" (29)

9. - Das sind die Grundgedanken der GUYAUschen Wirklichkeitsästhetik, die, in fortlaufender Polemik gegen die englische Schule gewonnen, zum Schluß in ein  System  zusammengefaßt werden. Das Schöne und das Angenehme sind nicht eins, aber letzteres ist die Quelle des ersteren. "Das Angenehme ist wie ein Lichtkern, dessen strahlende Aureole [Lichtkranz - wp] die Schönheit ist" (30). Jedes Lustgefühl möchte ästhetisch werden. Was anenehm bleibt, wird gleichsam nicht reif. Schönheit ist innere Fruchtbarkeit, innere Reife. So ergeben sich folgende Gesetze: Erlangt eine sehr angenehme Empfindung nicht ästhetischen Charakter, dann ist sie so geartet, daß ihre Diffusion im Zerebralsystem auf erhebliche Schwierigkeiten stößt. Das Lustgefühl bleibt sinnlicher Natur. Erlangt sie dagegen das Maximum der Ausbreitung im Bewußtsein, so tritt die ästhetische Befriedigung ein, die zugleich sinnlicher und geistiger Natur ist. Nur was das ganze Wesen durchklingt, verdient den Namen des Schönen. Die Spieltheorie ist das verkehrteste, was man sich denken kann. Denn das Spiel zieht nur  ein  Organ in Mitleidenschaft und läßt den Rest unseres Wesens indifferent. Aber gerade in dieser Indifferenz unseres Wesens sah SCHILLER das Ideal, die Freiheit des Künstlers. GUYAU nennt SCHILLERs Theorie eine "Theorie des Quietismus [religiöse Ichaufgabe und Gottergebenheit, Rückzug von der Welt - wp]" (31). Er habe die Kunst  über  die Sphäre des Lebens erheben wollen und sie  unter  das Leben erniedrigt. Erweitert euren Gott! "Den echten Künstler erkennt man daran, daß das Schöne ihn ebenso tief, ja vielleicht noch tiefer ergreift und erschüttert als das wirkliche Leben. Es ist für ihn die Wirklichkeit selbst." (32) Das Schöne gründet sich auf das volle Bewußtsein des Lebens. Ästhetisches Genießen bedeutet eine Erhöhung der Intensität des Lebensgefühls. Schon die Befriedigung eines Bedürfnisses ist elementare "Schönheit der Empfindung". Das Schöne ist "im Grunde identisch" mit dem Begehrenswerten. "Statt etwas Äußerliches am menschlichen Wesen zu bleiben, einer Schmarotzerpflanze vergleichbar, erscheint uns das Schöne wie ein Aufblühen dieses Wesens selbst, wie die Blüte des Lebens." (33)

Nur ein Unterschied des Grades und der Ausdehnung trennt in GUYAUs Theorie das Schöne vom Angenehmen. Bei den niederen Wesen bleibt die Empfindung des Angenehmen grobsinnlich. Sie stößt eben nicht auf ein geistiges oder moralisches Milieau, in dem sie sich ausbreiten und "Klangfarbe" gewinnen kann. Bei den höheren Wesen aber wird das Leben "aufgewühlt" im tiefsten Grunde. Die Kunst ist nach GUYAU kein intellektuelles Spiel, vom Leben getrennt, keine Jllusion, die uns über die Realitäten des Lebens trösten will, sondern sie wurzel gerade in diesen Realitäten. GUYAU setzt anstelle des KANT-SPENCERschen Formalismus einen entschiedenen Realismus, anstelle des Spielbegriffs die Idee des Lebens. Und diese Idee leitet ihn hinüber zur  soziologischen Ästhetik.  Das  soziale Leben,  das sympathische, sich mitteilende ist es, das die Kunst schafft und sich durch das Schöne ausspricht.


B. Die Kunst als
soziologisches Phänomen

EMILÉ BOIRAC hat in der  Revue philosophique (1890) eine meisterhafte Studie über GUYAUs Stellung in der Geschichte der Ästhetik veröffentlicht. BOIRAC unterscheidet drei Hauptepochen: eine Ästhetik des Ideals bei PLATO, eine Ästhetik der Wahrnehmung bei KANTund eine auf das Prinzip der Sympathie gegründete soziologische Ästhetik bei GUYAU. FOUILLÉE möchte diese drei Epochen etwas anders benennen. (34) In der metaphysischen Kunstphilosophie des PLATO ist das Schöne der Ausdruck eines erhabenen Ideals, das  objektive  Realität hat. Seitdem mit DESCARTES die Einkehr ins denkende Ich begonnen hat, ist die moderne, nunmehr psychologisch gerichtete Kunstphilosophie bestrebt, in der geistigen und sinnlichen Konstitution des  Subjekts  die Gründe der ästhetischen Lust aufzusuchen. Die Höhepunkte dieser Epoche liegen bei KANT, SCHILLER und SPENCER. Die Spieltheorie ist der prägnante Ausdruck dieser subjektiven Ästhetik. Nach FOUILLÉE hat GUYAU in den "Ästhetischen Problemen der Gegenwart" diese Theorie schlagend widerlegt und begründet nun in seiner Schrift: "Die Kunst als soziologisches Phänomen" die dritte Epoche der Ästhetik, die  soziologische,  die sich als eine ideale Synthese der beiden vorausgegangenen, der objektivistischen und subjektivistischen Epoche, darstellt.

1. - Man wird in der Bewertung dieser "neuen prophetischen Formel der Kunst der Zukunft" nicht so weit gehen dürfen wie BOIRAC und FOUILLÈE, und dennoch ihre eigentümliche Bedeutung anerkennen können. Doch zeigt sich gerade in diesem letzten Werk GUYAUs wie nirgends sonst der dem Dichterphilosophen innewohnende Hang zu ultrawissenschaftlicher Phantastik. Das 18. Jahrhundert, so läßt sich GUYAU im Vorwort vernehmen, hat im wesentlichen egoistische Theorien in der Ethik gezeitigt. Das 19. Jahrhundert hat die wissenschaftliche Psychologie und Soziologie begründet. Aufgabe des 20. Jahrhunderts wird es sein, die soziologische Idee durch alle Wissenschaften und Künste hindurch zu verfolgen. Die Soziologie wird ein gut Teil der Ethik und Ästhetik aufsaugen. Man wird erkennen, daß die sozialen Gefühle "durch Anziehung und Abstoßung der Nervensysteme" entstehen, den astronomischen Erscheinungen vergleichbar. GUYAU hegt, wie wir später sehen werden, die verschwiegene metaphysische Hoffnung, daß unser Bewußtsein in einer geheimen Verbindung mit allen übrigen Bewußtseinen steht. Er glaubt an ein über das ganze Universum ausgebreitetes, kosmisches Bewußtsein. Die Soziologie wird also "eine Art komplizierte Astronomie" werden (35). In der Religionswissenschaft hat GUYAU, wie wir gesehen haben, den soziologischen Gesichtspunkt in fruchtbarer Weise durchgeführt. Eine mythische und mystische Soziologie ist nach GUYAU der Kern aller Religionen. Die Religion schlingt ein soziales Band zwischen Menschen und höheren Mächten. Auch die Kunst schafft ein ideales Reich erdichteter Gestalten, mit denen uns soziale Bande verknüpfen. Auch die Ästhetik und Kunstphilosophie wird eine soziologische Wissenschaft werden müssen (36) GUYAU bemerkt die tiefe Verwandtschaft zwischen Religion und Kunt. Der Unterschied zwischen beiden ist nach ihm nur der, daß die Religion mit der Schöpfung einer übernatürlichen Gestaltenwelt praktische Zwecke verfolgt, nämlich die tatsächliche Befriedigung aller unserer Wünsche nach einem idealen Zustand.
    "Der Zweck der Kunst dagegen ist die unmittelbare, gedachte, vorgestellte und gefühlte Verwirklichung aller unserer Träume von einem idealen Leben, von einem intensiven und expansiven, von einem guten, bewegten und glücklichen Leben." (37)
Und diese soziologische Seite der Kunst macht gleichzeitig ihre  moralische  Bedeutung aus.
    "Nach unserer Meinung besteht eine tiefgehende Einheit zwischen folgenden Ausdrücken: Leben, Moral, Gesellschaft, Kunst, Religioin. Die große Kunst, die ernste Kunst ist die, in der sich diese Einheit behauptet und offenbart." (38)
Charakteristisch andererseits für den Niedergang der Kunst ist nach GUYAU die Auflösung der sozialen Gefühle und die Rückkehr zur Ungeselligkeit. Wahre Kunst trägt eine tiefe Moral und Soziabilität in sich. GUYAUs soziologische Ästhetik steht, wie wir sehen, in einem engen Zusammenhang mit seiner Wirklichkeitsästhetik.

2. - Schon im Inneren des individuellen Bewußtseins entdeckt GUYAU einen sozialen Zustand. Die "ästhetischen Probleme der Gegenwart" hatten eine Resonanz des sinnlichen Eindrucks im ganzen Bewußtsein gefordert und so das Reich des Schönen erweitert. Das individuelle Bewußtsein soll nun nach den jüngsten Forschungen trotz seiner scheinbaren Einheit ein Gemeinwesen bilden, eine Harmonie von Einzelerscheinungen, "vielleicht zwischen einzelnen Bewußtseinszellen" (39). Das Bewußtsein ist nach GUYAU ein "geheimer Bund lebender Zellen", eine Gesellschaft von rudimentären Bewußtseinsgebilden, die in sympathischer und solidarischer Weise schwingen, und so die  Koinästhesie [Vitalgefühl - wp], also eine Art soziales Bewußtsein im Innern des Individuums hervorbringen. Alles, was nun in diesem Kollektivbewußtsein wiederhallt, gewinnt ebenfalls einen sozialen Charakter. "Das Angenehme wird schön, je mehr es jenem Wir, das im Ich steckt, beigelegt werden kann." (40)
    "Das Schönheitsgefühl ist nur die höhere Form des Gefühls der Solidarität und der Einheit in der Harmonie. Es ist das Bewußtsein einer Gemeinschaft in unserem individuellen Leben." (41)
3. - Bedeutet die Sympathie der verschiedenen Teile des Ich für GUYAU den ersten Grad der ästhetischen Erregung, so wird die  universelle Sympathie  der  verschiedenen  Bewußtseine zum "Urquelle der umfassendsten und erhabensten ästhetischen Erregung. (42) GUYAU geht aus von den Forschungen des Franzosen PIERRE JANET über die unbewußte und direkte Übertragung psychischer Vorgänge in die Ferne und stellt den Satz auf, daß jeder Schmerz und jede Freude die Tendenz zeigt, sich auszubreiten. Zwei schwingende Saiten sind bestrebt, in Harmonie zu kommen. Es ist nur logisch, "in der geistigen Welt analoge Erscheinungen von sympathischen Schwingungen anzunehmen", d. h. von wechselseitiger Suggestion (43). Die Wahrnehmung des Schmerzes bei andern ist ein Vorspiel unseres eigenen Schmerzes. Unser Denken ist in seinem Kern unpersönlich, unser Empfindungsvermögen gewissermaßen sozial. "Wir wissen nicht immer, wenn wir leiden, ob das in unserem Herzen vorgeht oder in dem des andern." (44) GUYAU glaubt an eine "ursprüngliche, unbewußte Solidarität der Nervensysteme", die sich mit der weiteren Vervollkommnung des menschlichen Bewußtseins vermehrt.

Ohne diese sympathische Erregung ist keine ästhetische Erregung denkbar. Aber wir sympathisieren nicht etwa nur mit Menschen, sondern auch mit  leblosen Dingen,  die wir durch einen Verstandesakt vermenschlichen und beseelen. Und so erwecken auch sie ästhetische Gefühle. GUYAU berührt hier (45) den Grundgedanken der modernen  Einfühlungstheorie,  deutet ihn aber in seinem Sinne. Die Landschaft ist eine "Vereinigung zwishen den Menschen und den Naturwesen". Wir zittern mit dem Sonnenstrahl, flimmern mit den Sternen, dämmern mit der sinkenden Nacht. "Um den Frühling so recht zu fühlen, muß man etwas von der leichten Anmut der Schmetterlingsflügel im Herzen tragen." Wir machen die Natur zu einem Wesen, das mit uns fühlt. Die Landschaft ist ebenso in unserem Herzen wie außerhalb. "Die  lacrimae rerum [Unglück - wp] sind unsere Tränen." So entsteht eine "sympathische Gemeinschaft" zwischen uns und der Natur, eine "Art Assoziation zwischen uns und der Seele der Dinge." Das Gefühl für die Natur ist ein soziales Gefühl. (46)

Umso mehr tragen aber die von  menschlichen Wesen  erregten ästhetischen Gefühle Soziabilitätscharakter in sich, ohne doch deshalb mit den moralischen zusammenzufallen. Das moralische Gefühl ist seinem Wesen nach teleologischer Natur. Es sucht das höchste soziale Leben in der Gesellschaft zu verwirklichen. Die ästhetische Erregung dagegen ist das Gefühl einer schon vorhandenen, nicht erst zu stiftenden Solidarität. Die ästhetische Erregung ist die "soziale Sympathie, die schon als Herrin in unserem Herzen wohnt, der Widerhall des kollektiven wie des universellen Lebens in uns." Während das Gute das zu verwirklichende Schöne ist, ist das Schöne das schon verwirklichte Gute. Im Soziabilitätsgedanken läßt der Moralist GUYAU beides zusammenfließen. Deutlicher vermag man den Wert des Ästhetischen nicht auszudrücken, als indem man es auf eine moralische Formel bringt. "Freuden, die nichts Unpersönliches haben, haben auch keinen Zug von Dauer und Schönheit. Eine Freude mit einem ausgesprochen universellen Charakter wird dagegen einen Ewigkeitszug haben." (47) In der Verneinung des Egoismus muß die Kunst wie die Moral das Unvergängliche suchen.

>b>4. - Wie gestaltet sich nun dieser Sachverhalt, wenn anstelle des Naturdings oder des menschlichen Wesens das  Kunstwerk  tritt? Schon in der Sympathie mit dem Schöpfer des Kunstwerks, seiner gewaltigen Arbeitsleistung, seinem erfinderischen Geschick, liegt ein soziales Moment. Vor allem aber sympathisieren wir mit den vom Künstler geschaffenen Phantasiegestalten. Welche Lust, in ihrer Gesellschaft zu leben! Die künstlerische Erregung ist also letzten Endes eine "soziale Erregung, die uns ein dem unsrigen analoges, durch den Künstler nahegebrachtes Leben mitfühlen läßt". (48) Die Künste sind nichts als mannigfache Arten, die individuelle Erregung zu verdichten und sie auf andere übertragbar, gleichsam soziabel zu machen." (49) Die Kust ist "Schöpferin und Erzeugerin einer idealen Gesellschaft". Sie ist wie die Religion Anthropomorphismus und Soziomorphismus zugleich (50). Sie ist eine höhere Form der Soziabilität. Ihr Wesen besteht darin, daß sie das Individuum seinem Fürsichsein enthebt, um es am universellen Leben teilhaben zu lassen. Ziel der Kunst ist also, das individuelle Leben zu vergrößern. Sie erreicht dieses Ziel, indem sie alle Herzen harmonisch vibrieren läßt, indem sie aus der Menge der individuellen Gefühle einen Komplex herauslöst, der allen gemeinsam ist. Und je besser die Kunst diese soziale Forderung erfüllt, je größer die Anzahl der Individuen ist, auf die sich die durch die Kunst geschaffene Gemeinschaft von Gefühlen erstreckt, von umso höherem Wert ist sie. Die größte Kunst ist die, die ihre Wirkung auf ein ganzes Volk ausüben kann und dabei immer noch tief genug ist, den Auserlesenen zu befriedigen.

5. - Es ist nur folgerichtig, wenn GUYAU schließlich auch das  Genie  unter den soziologischen Gesichtspunkt bringt. Der Hauptcharakterzug des Genies ist die Macht der Einbildungskraft. Der schöpferische Dichter gleicht dem Seher. Er lebt im Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, die er visionär erschaut. Das wirkliche Leben ist ihm nur eine Zufallserscheinung. Diese allgemein anerkannten Sätze der Genielehre behalten auch für GUYAU ihre Geltung. Aber das herrschende Gefühl beim Genie ist nach GUYAU die  Sympathie (51). Der soziale Trieb ist beim Genie so stark entwickelt, daß er nur durch die Erschaffung einer neuen Welt von lebenden Wesen befriedigt werden kann. Das wahre Genie besitzt eine "gewaltige Fähigkeit zu lieben", eine aufrichtige Liebe zu allem Lebendigen. Darin besteht sein Wesen. Es besteht in einem "Aufgeben der eigenen Persönlichkeit" zugunsten der von ihm geschaffenen Wesen. GUYAU betrachtet das Genie als eine gesellschaftsbildende Macht, als den Schöpfer eines neuen sozialen Milieus. Das Genie ist die höchste Offenbarung der Soziabilität. (52) Die in der deutschen Ästhetik nach GUYAU banal gewordene Unterscheidung von subjektiven und objektiven Genies ist oberflächlich und trifft nicht das Wesen der Sache. Das Genie ist beides zugleich.

GUYAU beschäftigt sich zum Schluß mit der Frage nach den  Entstehungsgründen  des Genies. Nach VILLEMAIN, TAINE und SAINTE-BEUVE ist das Genie ein Produkt des vorhandenen intellektuellen und sozialen  Milieus.  GUYAU gibt ihnen nicht ganz recht. Das Genie birgt auch unbekannte und unauflösbare Größen in sich. Das Milieu allein bildet nicht das Genie, eher das Genie das Milieu. Und gerade in seiner milieubildenden Kraft liegt seine Bedeutung (53). TAINEs soziologische Theorie ist ungenügend, sie enthält nur einen Teil der Wahrheit. Aber andererseits will GUYAU auch nicht mit HENNEQUIN behaupten, daß das Genie gar keinen Einfluß vom sozialen Milieu erfährt. Die Frage ist äußerst verwickelt. Eine wechselseitige Tätigkeit zwischen Genie und Milieu ist anzunehmen. (54) Das Milieu wirkt auf das Genie, und das Genie bringt ein neues Milieu hervor. Aber das letztere, die Initiative, die Erfindung ist der Hauptwesenszug des Genies. Das Genie ist "ein ins Riesige gesteigerter, sympathischer und sozialer Instinkt," der sich im Reich der Phantasie Befriedigung schafft. (55)

6. - Der Rest des Buches ist der  Anwendung  des soziologischen Prinzips auf die verschiedenen Formen der Kunst, namentlich der  Poesie  gewidmet. Und da wieder ist es der moderne Roman, die "soziale Epopöe" [umfangreiche Erzählung in Versform - wp] der BALZAC und ZOLA, welcher GUYAU, neben der Lyrik VICTOR HUGOs, seine besondere Aufmerksamkeit zuwendet. Seine französischen Kritiker BOIRAC (56), DAURIAC (57) und BRUNETIÈRE (58) haben dann auch GUYAUs Meisterschaft in der psychologischen Kritik aufs Höchste gepriesen. Vor allem das Kapitel über VICTOR HUGO hat ihr Entzücken wachgerufen. Bei DAURIAC findet sich auch die gleiche Überschätzung der durch GUYAU begründeten soziologischen Auffassung der Kunst. Er jetzt, meint GUYAU, und seine Kritiker sprechen es ihm nach, wird die Kunst in ihrer wahren Bedeutung für die Menschheit erkannt und gewürdigt werden. Denn erst jetzt erscheint sie als ein wirklicher Ersatz der im Aussterben begriffenen positiven Religion. Jede Kunst, die der sozialen Forderung Genüge leistet, befriedigt unser Bedürnis nach einem Ideal. Der große Künstler ist der Priester einer sozialen Religion ohne Dogma.


C. Die Zukunft von
Kunst und Poesie

Diese Gedanken über die Zukunft von Kunst und Poesie hat GUYAU im zweiten Buch der "Ästhetischen Probleme der Gegenwart" in einer Weise näher ausgeführt, die uns mit mancher Unbilligkeit und Einseitigkeit seiner ästhetischen Theorie aussöhnen kann. Wird durch die immer mehr überhandnehmende wissenschaftliche Betrachtungsweise die Poesie der Dinge zerstört, derart, daß die Kunst eines Tages als unnütz beseite geworfen werden wird? Das ist eine Frage, die in der Tat zu denken gibt. SPENCER, RENAN und TAINE antworten mit einem entschiedenen: Ja! Nur der Gedanke hat Dauer. Phantasie und Gefühl scheinen weniger Lebenskraft zu besitzen. Die Kunst wird weichen vor der Wissenschaft.
    "Sobald das Schöne uns seinen Namen, seine Art und alle seine Geheimnisse enthüllt haben wird, wer bürgt uns dafür, daß es sich nicht aufmacht und davonfährt wie  Lohengrin mit seinem Schwan?" (59)
1. - Die Kunst wird  nicht  weichen vor der Wissenschaft, erwidert GUYAU und er verteidigt diesen Satz gegen alle Bedenken, die sich gegen ihn durchzusetzen bemüht sind. Physische Degenerierung, die demokratische Staatsform der Zukunft, Industrie und Amerikanismus, vor allem der wissenschaftliche Geist, sie alle sind nicht so erbitterte Feinde von Schönheit und Kunst, wie uns SPENCER und RENAN glauben machen möchten. Freilich die körperliche Schönheit des Menschen, die dem Griechen als heiliges Symbol am Herzen lag, befindet sich infolge  physiologischer Einflüsse  im Zustand des Niedergangs. Wir tun Recht, unseren Körper zu verhüllen. Denn er ist verunstaltet durch die Industrie, durch die Zusammenpferchung in den Städten, deren Folge Auszehrung und Siechtum ist. Dennoch ist die Zukunft der Kunst nicht gefährdet. Müssen wir auf das plastische Ideal der Griechen verzichten, der Kopf des modernen Menschen wird immer ausdrucksvoller werden. Sein Antlitz wird immer deutlicher den Stempel des Gedankens tragen. Die menschliche Schönheit wird sich intellektualisieren (60). Sie wird immer mehr von den Gliedern emporsteigen zur Stirn. Und die Kunst wird ihr folgen.

Nach RENAN und EDUARD von HARTMANN ist die Kunst ferner ein Erbteil der geistigen Aristokratie. Wird nicht in der allgemeinen Mittelmäßigkeit, die durch die immer fortschreitende Verwirklichung des  demokratischen Ideals  herbeigeführt werden wird, die Kunst zugrunde gehen? Ein fadenscheiniges Argument! Die Demokratie wird die psychologischen Grundlagen des Genies kaum zu untergraben vermögen. Im Gegenteil! Das Genie braucht Freiheit. Die Demokratie gewährt sie ihm, während der despotische Staat die Genies unterdrückt. Der Künstler wird hier die Notdurft des Lebens leichter finden. Die Demokratie ist also dem künstlerischen Schaffen günstig. Auch der  Amerikanismus  braucht nicht notwendig den Untergang der Kunst herbeizuführen. Wie aber steht es mit der modernen  Industrie?  Nach RUSKIN und SULLY PRUDHOMME sind Kunst und Industrie unvereinbare Größen und werden es immer mehr. Die Maschine bietet der Phantasie nur geringe Handhaben. Die treibende Kraft, die die Windmühle und das Segelboot noch anschaulich darstellten, wird im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität unsichtbar. Damit geht ein ästhetisches Moment verloren. Aber ist es denn, wendet GUYAU ein, die Verkörperung einer Naturkraft, die wir am Segelboot bewundern? Ist es nicht vielmehr der Schein des  Lebens? (61) Eine stillstehende Windmühle ist eine sehr häßliche Maschine. Gerade je weniger die Maschine äußere Triebkräfte verkörpert, umso größer ist nach GUYAU ihr ästhetischer Wert. Die Schönheit einer Maschine besteht im Leben, in der Bewegung, und die schönste Maschine ist die, die ganz einem lebendigen Wesen gleicht. Manche Maschinen haben sogar etwas Erhabenes, Übernatürliches an sich. Gewaltige Mächte schlummern in ihrem Busen, die sich spontan wie durch ein Wunder offenbaren. (62) Die moderne Industrie ist durchaus nicht widerästhetischer Natur und wird es immer weniger, je mehr sich ihre Erzeugnisse dem Typus des lebenden Wesens nähern. Wie schön ist der moderne Dampfkran, der sich um sich selbst dreht, dann sich hinabbeugt, um im Innern des Schiffes eine mächtige Tonne zu ergreifen! Wie schön ist das Dampfschiff, dieses folgsame Ungeheuer, wenn es sich unter den wilden Jubelausbrüchen der Sirene in Bewegung setzt! Und gibt es einen erhabeneren Anblick als eine moderne Kriegsflotte in Schlachtlinie? Kann der Ruhm und die Größe einer Nation herrlicher übers Meer getragen werden als durch so einen Trupp gigantischer Wesen?

2. - Ein unüberwindlicher Antagonismus scheint sich nun aber zwischen dem  wissenschaftlichen Geist  einerseits, und der Phantasie, dem Gefühl, dem spontanen Instinkt des Genies andererseits aufzutun. Werden die dichterischen Anlagen des menschlichen Geistes durch die wissenschaftliche Betrachtung, die die Gehirne immer mehr umbildet, nicht schließlich ganz ausgerottet werden? Poesie ohne Mysterien, ohne Aberglauben ist nach GOETHE, SCHELLING, WAGNER undenkbar. Halbdunkel ist Schönheit, Mondlicht ist Poesie. Die Wissenschaft aber gleicht einer schnurgeraden sonnigen Landstraße.

Der Dichter, erwidert GUYAU, verliert nichts bei der wissenschaftlichen Ausdeutung der Welt. Die Poesie wird immer neben der Wissenschaft einhergehen. Denn die Wissenschaft, die mit dem Staunen begann, endet auch immer mit dem Staunen. Und das Staunen gebiert die Poesie so gut wie die Philosophie. Die menschliche Wissenschaft ist eine ewige Offenbarung und so eine ewige Poesie. (63) Was wird aus einem Wassertropfen unter dem Mikroskop des Gelehrten? Die Wissenschaft hat den Glauben der Griechen, daß die Sterne Götter sind, zerstört. Sie vernichtet alles Wunderbare und Mirakelhafte. Und dennoch, läßt sich nicht immer neue Wunder und Mirakel vor unseren Augen entstehen? (64)

So wenig wie die Poesie wird der  schöpferische Instinkt des Genies  jemals durch die Wissenschaft verdrängt werden können. Die Kunst kann nie Sache der Methode, Sache der Wissenschaft werden. Denn ihr Wesen ist die Erfindung, und keine theoretische Erwägung der Welt vermag den unbewußt schaffenden Instinkt des Genies zu ersetzen. Die Wissenschaft zerlegt ihren Gegenstand, die Kunst muß ihn erst schaffen, enthüllen. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft (65). Selbst die Wissenschaft kann den schöpferischen Instinkt nicht entbehren. Auch das Entdeckergenie bedarf der inneren Anschauung. Ist nicht die wissenschaftliche Hypothese eine Art erhabener Roman? Und das Genie kann zu allen Zeiten und an allen Orten erscheinen. Die Wissenschaft wird ihm nie im Wege sein. (66)

Und schließlich wird das  Gefühl  der wissenschaftlichen Analyse nicht zum Opfer fallen, wie MILL fürchtet, sondern sich den veränderten Verhältnissen anpassen. Die menschlichen Gefühle haben seit dem Altertum unter dem Einfluß der Intelligenz bedeutsame Wandlungen erfahren. Das Naturgefühl, das Gefühl des Göttlichen, die patriotischen Gefühle haben sich völlig verändert. Namentlich beim Liebesgefühl offenbart sich dieser fortschreitende Intellektualisierungsprozeß auf das Deutlichste. In der Antike war es vorwiegend sinnlicher Natur. Im Mittelalter überwog das mystische Element. Heute ist es der Widerhall metaphysischer Ideen, der dem Liebesgefühl seine besondere Weihe verleiht. Welch ein tiefes, vom Taumel der Unendlichkeit erfülltes Liebesgefühl z. B. bei VICTOR HUGO! Die Erlebnisses unseres Herzens werden heute immer reflektierter, immer philosophischer. Die Intelligenz durchdringt unser Gefühlsleben immer mehr. "Wir müssen denken können, wenn wir voll genießen wollen." (67) Die Ausdehnung der Herrschaft der Intelligenz schafft immer neue Arten von Lust und Unlust, ein immer neues Feld dichterischer Betätigung. GUYAU verweist auf den Faustdichter, auf SHELLEY, auf BYRONs "Kain", auf LEOPARDIs philosophische Gedichte und VICTOR HUGOs "Kontemplationen". Die Kunst wird sich immer mehr an wissenschaftlichen und philosophischen Ideen inspirieren. Sie kann getrost noch wissenschaftlicher und philosophischer werden, als sie es jetzt schon ist, ohne daß die Poesie darunter zu leiden braucht. (68) Nur vor dem Beschreiben hüte sie sich. Der Dichter soll offenbaren, nicht dozieren.

GUYAU hätte auch die "Verse eines Philosophen" als Beispiel heranziehen können. Niemand wie er hat besser seinen eigenen (echt platonischen) Satz befolgt, daß man über die universellen Ideen der Wissenschaft nur als Dichter schreiben kann, indem man sich der Stimmungen bedient. (69) Auch dieser Umstand ist ihm eine Gewähr für die Zukunft von Kunst und Poesie. Die Wissenschaft ist unvergänglich, und so auch die Kunst.
    "Was wird wohl eines Tages von all unseren religiösen Glaubenslehren übrig bleiben? Vielleicht nicht viel! Fragt man uns aber, was von den Künsten übrig bleiben wird, von der Musik, der Malerei und besonders von jener Kunst, die alle andern in sich vereinigt, der Poesie, so glauben wir getrost antworten zu dürfen: Alles!" (70)
3. - Dieser schöne und tröstliche Gedanke beherrscht auch das dritte und letzte Buch der "Ästhetischen Probleme der Gegenwart", in welchem GUYAU die  Zukunft  und die Gesetze des Verses' untersucht (71). Der musikalisch feingebildete Franzose gibt hier eine wohldurchdachte  Metrik,  deren Beurteilung wir dem Literaturhistoriker überlassen müssen. Der Gedanke, der seine Untersuchungen beherrscht und der auch in dem kurzen Vorwort zu den "Versen eines Philosophen" zum Ausdruck kommt, steht jedoch in einem engen Zusammenhang mit dem Vorausgegangenen. GUYAU verwirft die Kunst der Nachfolger VICTOR HUGOs, die auf die Schönheit des Gedankens verzichten, um, gewisse Eigenheiten des Meisters ausbildend, allein in der virtuosen Beherrschung der Form ihre Stärke zu suchen. Ist der "reiche Reim", der  Calembour"  wirklich das Ideal der Lyrik, dieser modernsten aller Dichtgattungen, wie de BANVILLE behauptet, dann wird die Dichtkunst nicht den hohen Rang behaupten können, den GUYAU ihr für die Zukunft einrichten möchte. Denn dann erniedrigt sie sich selbst zur Spielerei. GUYAUs Streben gilt vielmehr dem  "vers-pensée".  Ein tiefer Sinn in schlichtem, natürlichem Gewand, das ist das Ideal seiner  Gedankenpoesie,  wie er es in den "Versen eines Philosophen" mit so schönem Erfolg zu verwirklichen gesucht hat. Nur dann wird die Dichtkunst neben der Wissenschaft unsterblich sein, wenn sie ihren hohen Beruf nie aus den Augen verliert, Künderin und Offenbarerin zu sein der Mysterien und Mirakel des menschlichen Gemüts.

Und  ein  Mirakel bleibt ihr zur Deutung vorbehalten, zu dem jene sonnige Landstraße der theoretischen Erkenntnis nicht führt. Ein Mysterium wird die Wissenschaft nie zerstören, ein Mysterium ist unvergänglich, das Mysterium der Metaphysik. (72)

Dunkelheit umhüllt ewig den Grund der Dinge.
LITERATUR - Ernst Bergmann (Hg), Jean-Marie Guyaus Philosophische Werke, Bd. 1, Einleitung, Leipzig 1912.
    Anmerkungen
    1) Irreligion, Seite 7
    2) Ich bereite gerade eine Übersetzung dieses interessanten Werkes vor.
    3) Vorwort, Seite VI. Ich zitiere nach der französischen Ausgabe.
    4) Problémes de l'esthetique, Seite 5f
    5) ebd.
    6) JOHANNES VOLKELT, System der Ästhetik, München 1905, Bd. I, Seite 506f.
    7) Problémes, Seite 10f
    8) ebd. Seite 13
    9) ebd. Seite 16
    10) GUYAU, Die Kunst als soziologisches Phänomen, Seite 45
    11) Problémes, Seite 18
    12) Zur Physiologie der Kunst, Bd. 15, Seite 375f.
    13) Problémes de l'esthetique, Seite 21
    14) ebd. Seite 23
    15) ebd. Seite 23
    16) Problémes, Seite 24
    17) Problémes, Seite 27
    18) Problémes, Seite 29f
    19) Problémes, Seite 31
    20) Problémes, Seite 32
    21) ebd. Seite 36
    22) Problémes, Seite 40
    23) ebd. Seite 42
    24) Problémes, Seite 47
    25) ebd. Seite 50
    26) ebd. Seite 53
    27) Problémes, Seite 61
    28) Problémes, Seite 74
    29) Problémes, Seite 72
    30) Problémes, Seite 75
    31) Problémes, Seite 78
    32) Problémes, Seite 79
    33) Problémes, Seite 80
    34) EMILÉ BOIRAC, La Morale, l'art et la religion d'apres Guyau, Seite 26f
    35) Die Kunst als soziologisches Phänomen, Seite 27. (Ich zitiere nach der deutschen Ausgabe.)
    36) Nach FOUILLÉE war die Arbeit über die Kunst eine natürliche Folge der "Irrelgion". Vgl. FOUILLÉEs Einleitung zur Soziologie der Kunst.
    37) Die Kunst als soziologisches Phänomen, Seite 29
    38) ebd. Seite 30
    39) Die Kunst als soziologisches Phänomen, Seite 39
    40) ebd. Seite 40
    41) ebd. Seite 41
    42) ebd. Seite 45
    43) ebd. Seite 33
    44) Die Kunst als soziologisches Phänoemen, Seite 39
    45) ebd. Seite 47
    46) ebd. Seite 48
    47) Die Kunst als soziologisches Phänomen, Seite 49
    48) ebd. Seite 52
    49) ebd. Seite 52f
    50) ebd. Seite 56
    51) Die Kunst als soziologisches Phänomen, Seite 63
    52) ebd. Seite 66
    53) Die Kunst als soziologisches Phänomen, Seite 70
    54) ebd. Seite 79
    55) ebd. Seite 81
    56) Revue philosophique, 1890
    57) Année philosophique, 9. Jahrgang, 1888
    58) Revue des deux Mondes vom 1. August 1889 und 1. März 1890
    59) Problémes, Seite 125
    60) Problémes, Seite 97
    61) ebd. Seite 116
    62) Problémes, Seite 118
    63) ebd. Seite 126
    64) ebd. Seite 136
    65) ebd. Seite 140
    66) ebd. Seite 141
    67) Problémes, Seite 156
    68) ebd. Seite 161
    69) ebd. Seite 162; vgl. Kapitel I, 5 dieser Darstellung.
    70) ebd. Vorwort, Seite VIII
    71) Problémes, Seite 171f
    72) ebd. Seite 129