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Die Philosophie Guyaus [ 4 / 5 ]
IV. Guyaus Ästhetik und Kunstphilosophie GUYAU hat die Ästhetik in doppelter Fassung vorgetragen. Anfang der 80er Jahre ist er bemüht, seine Religionsphilosophie, Ethik und Ästhetik in einen systematischen Zusammenhang aufgrund der Idee des Lebens zu bringen. Wenn er 1884 seine "Problémes de l'esthetique contemporaine" schreibt, beherrscht ihn diese Idee völlig. Das ästhetische Gefühl, lehrt er dann, erwacht, "wenn das Leben zum Bewußtsein seiner selbst, seiner Intensität und inneren Harmonie gelangt ist." (1) Ein Jahr später (1885) bei der Veröffentlichung seiner Ethik steht er immer noch im Bann dieser Idee. Aber schon die "Irreligion de l'avenir" (1887) kündigt sich im Nebentitel als eine "soziologische Studie" an. Vielleicht hat ihn nur der Tod daran gehindert, auch seine Ethik unter den neugewonnenen soziologischen Gesichtspunkt zu bringen. Mit der Ästhetik ist ihm dies noch gelungen. In seinem Nachlaß fand sich ein originelles, völlig ausgearbeitetes Werk: "L'art au point de vue sociologique". Aber schon seine "ästhetischen Probleme der Gegenwart" (2) sind in ihrer entschiedenen Polemik gegen alle bisherigen ästhetischen Theorien originell genug. Sind die Grundlagen der Religion zerstört, so wird es nötig sein, ihre großen Äquivalente, neben der Wissenschaft, Moralität und metaphysischen Spekulation namentlich die Kunst, in ihrem Wert kenntlich zu machen. Der ganze Ernst, die ganze Tiefe der Kunst, ihre ungeheure Bedeutung für das Leben wird gezeigt werden müssen. In diesem Bemühen glaubt sich GUYAU aber gehindert und gehemmt durch die in der evolutionistischen Ästhetik der Engländer ihm entgegentretende KANT-SCHILLERsche Spieltheorie. Und so wird ihm dann die Frage nach dem Wesen der Kunst und des Schönen im wesentlichen zur Frage nach der Berechtigung der Spieltheorie. Ist die Kunst wirklich nur Spiel, winkt ihr dann die große Zukunft, die GUYAU ihr prophezeien möchte? Hat sie aber den Ernst des Lebens, wie er überall nachweisen wird, ist ihr das Prinzip das Leben selbst, so ist ihre Zukunft gesichert. "Zweck unseres ganzen Buches ist, diesen Ernstcharakter der Kunst, namentlich der Poesie, zu begründen." (3) Es ist klar, daß diese ganze Argumentation nur möglich ist, wenn man die SCHILLERsche Theorie in einen falschen Gegensatz und damit in eine falsche Beleuchtung rückt. GUYAU kann die Schriften der deutschen Ästhetik unmöglich gründlich studiert haben. Sein Gewährsmann ist vielmehr ausschließlich SPENCER, und wie es mit dessen Kenntnis SCHILLERs beschaffen ist, ersieht man zur Genüge, wenn man in den "Prinzipien der Psychologie" (1855) zu Beginn des Kapitels über die ästhetischen Gefühle auf die Bemerkung stößt, er habe von einer Andeutung einer Beziehung zwischen "Kunst" und "Spiel" gehört, die "ein deutscher Autor gemacht hat, an dessen Namen er sich nicht erinnern kann." Und so konstruiert dann GUYAU eine vollkommene Übereinstimmung hinsichtlich der Spieltheorie unter den Schulen aller Länder. Wie KANT und SCHILLER, so lehrt auch SCHOPENHAUER, daß die Kunst nichts ist, als ein höheres Spiel, das vom Elend des Daseins auf einige Zeit befreit. Wie SPENCER und GRANT ALLEN in seiner "Physiologischen Ästhetik" (1878), so lehren auch die Kantianer in Frankreich (RENOUVIER), das Schöne gründe sich auf das freie Spiel von Verstand und Einbildungskraft, völlige Interesselosigkeit hinsichtlich des Wahren, Wirklichen und Nützlichen sei Hauptbedingung bei jeder Art von ästhetischem Genießen (4). Wenn GUYAU also die Spieltheorie bekämpft, fühlt er sich als Reformator der Ästhetik. Er wird einwenden: ein lebhafter ästhetischer Eindruck ist unabhängig von aller Wahrheit, Wirklichkeit und Nützlichkeit überhaupt undenkbar. In der Spieltheorie liegt nach GUYAU eine völlige Verkennung des Ernstcharakters großer Kunst (5). Er stellt ihr seine Lebenstheorie oder Wirklichkeitstheorie entgegen. Aber schon aus dieser Gegenüberstellung erhellt sich, daß GUYAU die Eigenart der SCHILLERschen Theorie nicht recht begriffen hat. Schon VOLKELT hat in seinem "System der Ästhetik" (bei aller Anerkennung des mancherlei Anregenden, das GUYAU bring) auf dieses Mißverständnis hingewiesen. (6) 1. - Zunächst, meint GUYAU, wäre die evolutionistische Kunsttheorie in einem wichtigen Punkt zu vervollständigen. Das Eigentümliche der ästhetischen Lust liegt nach SPENCER darin, daß sie nicht mit den Lebensfunktionen verwachsen ist. Die ästhetische Lust an Tönen, Linien, Farben, Gerüchen ist Luxusgenuß, sie ergibt sich aus dem "Spiel" des lange in Ruhe gewesenen Organs, in dem sich ein Überschuß an Nervenkraft angespeichert hat und in dem sich der Trieb regt, sich zu betätigen, wenn sein Tun auch zwecklos ist. In der zwecklosen, uninteressierten Befriedigung dieses "Spiel"triebs des Organs liegt die Quelle der ästhetischen Lust. Mag sein, sagt GUYAU, aber die Kunst ist nicht nur Luxus, nicht nur Spiel. Sie fördert die allgemeine Entwicklung. Sie ist eine Gymnastik des Nervensystems. Sie gleicht die durch die wachsende Differenzierung der Arbeitsverrichtung des einzelnen herbeigeführte Verkümmerung der Organe wieder aus. Die Kunst wird uns immer mehr zur Lebensnotdurft werden, zum täglichen Brot. (7) 2. - Aber dies nur nebenbei. Die Kunsttheorie der Engländer erweckt in GUYAU grundlegende Bedenken. Beginnt das Ästhetische wirklich erst mit dem Spiel? "Ist es wirklich so, daß alles, was Ernst in uns ist, nicht mehr schön ist? Kann uns nicht ebensowohl jede Handlung, die ihren Zweck nicht in sich selbst trägt, jede nützliche Handlung in demselben Maße als schön erscheinen?" (8) - SPENCER scheidet mit KANT das Schöne sorgfältig vom Nützlichen. Schön ist nur der Gegenstand, der keinen Zweck hat. Mit Genugtuung verzeichnet GUYAU die Absurdität GRANT ALLENs, daß ein Bahnhof, eine Markthalle nie schön sein können. Da habt ihr's! Zu derlei Konsequenzen führt der kantische Formalismus! Industrie und Kunst schließen sich also aus! Schönheit und Nutzlosigkeit sind also eins. Zweckmäßigkeit ist nicht mehr Schönheit. GUYAU wird nicht mit SOKRATES das Schöne mit dem Brauchbaren zusammenfallen lassen. Nur soviel verlangt er: Zweckmäßigkeit ist schon Schönheit. (9) Die Lust am Schönen steht zumindest nicht im Widerspruch mit dem Gefühl für das Nützliche. Ja, der Nützlichkeit als solcher wohnt stets schon eine gewisse Schönheit inne. Sie gründet sich teils auf intellektuelle Befriedigung, hervorgerufen durch die Zweckmäßigkeit des Gegenstandes, teils auf Befriedigung der Sinnlichkeit, hervorgerufen dadurch, daß die Zweckerfüllung als angenehm empfunden wird. Das Nützliche ist also schön "durch das intellektuelle Element seiner wahrgenommenen Finalität und durch das sinnlich wahrnehmbare Element einer von vornherein empfundenen Genugtuung." (10) Wie leicht rollt der Wagen auf der schönen, glatten Landstraße dahin! Ein Gegenstand ist schön, wenn er stets bereit erscheint, uns einen Dienst zu erweisen. Die Nützlichkeit ist die erste Stufe der Schönheit bei den Gegenständen der Außenwelt. 3. - GUYAU wendet den Gedanken ins Subjektive. Kann das Bedürfnis, die Begierde, Quelle ästhetischer Gefühle sein? SPENCER freilich antwortet (mit KANT, SCHILLER und SCHOPENHAUER): Nein! Bedürfnis und Verlangen schließen das ästhetische Gefühl aus. Er korrespondiert mit GUYAU über diese Fragen, und GUYAU veröffentlicht den Inhalt ihrer Korrespondenz (11). Wenn ich in der Pariser Markthalle Lebensmittel einkaufe, so bediene ich mich meiner Gesichtswahrnehmung in einer Weise, wie ich es beim ästhetischen Betrachten nicht tue. Verfolgt der Geist seine Interessen zur Erhaltung des Lebens, so kann er nicht zugleich Sitz ästhetischer Gefühle sein. Der ästhetische Charakter des Betrachtens geht verloren, sobald ich einen praktischen Zweck verfolge. Das Beispiel ist nicht sehr treffend gewählt. SPENCERs Käufer befindet sich im Zustand der Neutralität. Die Stunde des Verlangens ist beim Einkauf noch nicht gekommen. GUYAU läßt seinen Käufer von einer weiten, sommerlichen Wanderung zurückkehren. Erblickt dieser Käufer die saftigen Pfirsiche in der Markthalle, so wird er in dem Moment, wo er die Hand nach ihnen ausstreckt, unbedingt ästhetische Gefühle empfinden. Das Verlangen und seine Befriedigung ist nach GUYAU nicht nur nicht anti-ästhetisch, wie SPENCER behauptet, mit der Befriedigung unserer Lebensbedürfnisse sind vielmehr die allerintensivsten Lustgefühle ästhetischer Natur verbunden. Jedes starke Verlangen sammelt unsere Lebenskraft wie in einem Brennspiegel in sich. Jede der vier wesentlichen Lebensfunktionen des Menschen, Atmung, Bewegung, Ernährung und Fortpflanzung kann nach GUYAU ästhetischen Charakter annehmen, und dies umso mehr, je elementarer sie zur Betätigung drängt. Hier liegt ein eigentümliches Element in der Ästhetik GUYAUs, die man eine "Ästhetik der Lebensglut" nennen könnte. Sie hat große Ähnlichkeit mit NIETZSCHEs Ästhetik des "Rausches", des "erhöhten Machtgefühls" und des "Geschlechtstriebes" (12). Tiefes Atmen in staubfreier Luft empfinden die kranken Lungen GUYAUs als berauschenden Genuß. Welch süßes Gefühl, aus verdorbener Atmosphäre in die reine Luft hoher Berge zu treten! Sein persönliches Schicksal rückt ihm den physiologischen Gesichtspunkt nah. Auch die Ernährung gilt als günstiger Boden für das Entstehen ästhetischer Gefühle. Nach der Nahrungsaufnahme fühlen wir das Erwachen neuer Lebenskraft. Wir fühlen, wie unser Blut heißer durch die Adern strömt. Welch ein Gefühl reinster Harmonie!
4. - Suchte GUYAU soeben dem sinnlichen Element im Reich des Ästhetischen zu seinem Recht zu verhelfen, so geschieht nun das gleiche mit der Aktivität (18). Die Evolutionisten ebenso wie die Kantianer haben das Element des Handelns vom Ästhetischen ganz ausgeschlossen. Das Dogma der Willenlosigkeit im ästhetischen Verhalten beruth aber nach GUYAU auf einem grundlegenden Irrtum. Es gehört vielmehr zum Wesen der Kunst, daß sie unser gesamtes Interesse zum Handeln antreibt. Die lebhaftesten ästhetischen Gefühle sind dort zu finden, wo sie sich unmittelbar in Handlungen umsetzen. So empfanden die Spartaner die ganze Schönheit der Gesänge des TYRTAIOS erst, wenn sie in den Kampf zogen.
6. - GUYAU untersucht nunmehr die Bedingungen der Schönheit in den Bewegungen, Gefühlen und Empfindungen (Kapitel 4, 5 und 6). Welche Bewegung ist anmutig? Die, sagt SCHILLER, und SPENCER spricht es ihm nach, bei der die Glieder frei spielen, alle Muskelkraft verschwunden zu sein scheint. Daher ist die krummlinige Bewegung so wohlgefällig, fügt SPENCER hinzu. Es wird Kraft gespart. Alle Schönheit in der Bewegung ist zurückführbar auf Kraftersparnis. Eine scharfsinnige Theorie, bemerkt GUYAU. Aber sie ist einseitig. Die Arbeit eignet sich genau so wie das Spiel Bewegungen ästhetischer Natur an. Arbeiter auf der Leiter, die sich Ziegelsteine reichen, Ruderer, Schmiede, Schnitter, Holzfäller sind schön trotz aller Anstrengung, was SPENCER wohl nie bestritten haben würde. Ob aber auch anmutig? Für GUYAU sind hier Schönheit und Anmut eins. Er achtet auf den Gegensatz von Arbeit und Spiel, und die Arbeit erscheint ihm ästhetischer. Zweckvolle Bewegung interessiert mehr als zwecklose. "Jede Arbeit, die sich durch einen vernünftigen Zweck rechtfertigt, enthält ästhetische Elemente." (22) Das Spiel ist eine zwecklose Ausübung des Tätigkeitstriebes. Es ist nicht nur nicht das Prinzip des Schönen, sondern hat geradezu etwas widerästhetisches an sich. Es bedarf der Entschuldigung. Der Spielbegriff ist ihm so sehr zuwider, daß er auch die Anmut im engeren Sinne auf den Begriff der Arbeit gründet. Anmut ist nach GUYAU eine Art unbewußte Arbeit, die mit geringerer Anstrengung und mit mehr Genauigkeit ausgeführt wird. Anmut ist "vollkommene Anpassung an einen wirklichen oder nur eingebildeten Zweck, mit anderen Worten: ein harmonisches Gleichgewicht zwischen dem Leben und seiner Umgebung". (23) HERKULES am Spinnrad ist komisch. Trägt er aber den Atlas, so wird er anmutig. Er verrichtet eine Arbeit, die im richtigen Verhältnis zu seiner Muskelkraft steht. "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt", sagt SCHILLER. "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er arbeitet", sagt GUYAU. Und die höchste Schönheit liegt in der Verwendung der Kraft, nicht in der Kraftersparnis, wie SPENCER will. Jener staubbedeckte, schweißtriefende griechische Bote, der den Lorbeer von Marathon über dem Haupt schwingend tot zusammenbricht, ist das Symbol der menschlichen Arbeit, dieser höchsten Art von Schönheit. - 7. - Aber die Schönheit der Bewegung ist nur ein geliehenes Gut. Ein Bewußtseinszustand, Gefühle werden in jeder Bewegung dargestellt. GUYAU schließt sich hier enger an SCHILLER an. Die Schönheit der Bewegung hat ihren Sitz im Ausdruck, und diese Schönheit ist umso größer, je sittlicher das nach außen übertragene Leben ist. Die Anmut z. B. ist der Ausdruck des befriedigten Willens, vor allem aber der Ausdruck der Liebe (24). "Die Anmut scheint zu lieben und eben deshalb wird sie geliebt." Ein junges Mädchen, das noch nicht geliebt hat, besitzt vielleicht muntere Anmut, aber nicht jene Anmut der Zärtlichkeit, die schöner ist als die Schönheit selbst. Ist aber das sittliche Gefühl als solches schon ästhetisch? Ist die sorgfältige Scheidung des Schönen und Guten, die SPENCER mit KANT vornimmt, berechtigt? Freilich, das Gute kann kein Spiel sein, es ist die ernsteste Sache von der Welt. Die Anhänger der Spieltheorie sind zu dieser scharfen Trennung gezwungen. Allein GUYAU gehört nicht zu ihnen. Für ihn ist jedes moralische Gefühl ästhetisch und umgekehrt. Die patriotische Handlung ist nicht nur gut, sondern auch schön, und zwar in dem Maße, als sie gut ist. Mitleid, Sympathie sind schön und gut. "Im allgemeinen hat jedes Wesen so viel Moral, als es fähig ist, ein ästhetisches Gefühl nachhaltig zu empfinden." (25) Der Moralist GUYAU identifiziert absichtlich und bewußt die gute Handlung mit der schönen Handlung, das moralische Gefühl mit dem ästhetischen höchster Gattung. Kunstwerke, die sich allzusehr an Gefühle egoistischer und gewalttätiger Natur wenden, bezeichnet er geradezu als minderwertig. Kunst und Moral sind nicht eins, aber die Kunst gründet sich auf dieselben moralischen Gefühle, wie die menschliche Gesellschaft, auf das Mitleid und die Großmut. Und das höchste ästhetische Gefühl ist nach CORNEILLE die sittliche Bewunderung. Bewunderung hat mit Spiel nichts zu tun. Bewunderung ist ein sittliches Urteil. "Im Gefühl der Bewunderung fallen Wirklichkeit und Erdichtung, Sein und Schein zusammen." (26) Das Schöne, Gute und Ernste sind eins, trotz SPENCER. 8. - Will man GUYAUs Wirklichkeitsästhetik mit ihren Mängeln und Vorzügen in ihrer ganzen Eigenart begreifen, so wird man vor allem auf seine Lehre von der "Schönheit der Sinnesempfindungen" achten müssen (6. Kapitel). Auch hier, wo es sich um den ästhetischen Wert der verschiedenen Sinne handelt, gelangt GUYAU in seiner Polemik gegen die Engländer zu einer Theorie, die die herkömmlich völlig auf den Kopf stellt. SPENCER und namentlich GRANT ALLEN lehren, daß die Empfindungen, wollen sie ästhetisch bleiben, sich lokalisieren müssen. Sie dürfen nicht ausstrahlen, nicht den Gesamtorganismus in Mitleidenschaft ziehen. Der ästhetische Charakter geht verloren, sobald sich die Empfindungen mit allgemeinen Erregungen des Lebensgefühls verbinden. Im schärfsten Gegensatz zu dieser Meinung wird GUYAU auch hier den Wirklichkeitscharakter seiner Ästhetik aufrechterhalten. Eine Empfindung ist umso ästhetischer, je unmittelbarer sie dem Leben dient. Gerüche, Farben, Klänge gefallen, wenn sie das Organ leicht anregen, ohne es zu ermüden oder zu beschädigen, und durch diese Anregung das Leben fördern. Hätte GRANT ALLEN recht, dann kämen nur den Gesichts- und Gehörsempfindungen ästhetische Qualitäten zu, weil sie allein den Gesamtorganismus nicht in Mitleidenschaft ziehen. Nach GUYAU aber können, wie er im bewußten Gegensatz zur landläufigen Theorie der KANT, MAINE de BIRAN, COUSIN, JOUFFROY, SPENCER und GRANT ALLEN ausführt, alle angenehmen Empfindungen ästhetischen Charaker annehmen, sobald sie eine gewisse Intensitätsstufe erreichen und nicht von Natur mit widerstrebenden Assoziationen verknüpft sind. Alle unsere Sinne können nach GUYAU ästhetische Gefühle liefern, und gerade die niederen Sinne am meisten, eben weil sie das Lebensgefühl unmittelbarer berühren als die höheren (27). Auch hier ist GUYAUs Theorie eng mit seiner Persönlichkeit verwachsen. Schon den Temperaturempfindungen eignet nach seiner Meinung ein hoher ästhetischer Wert. Die Sonnenwärme empfindet der ganze Organismus als angenehm. Eis auf fieberglühender Stirn ist eine unbeschreiblich liebliche Empfindung durchaus ästhetischer Natur. GUYAU entsinnt sich eines Moments aus seiner Leidensgeschichte, wo er beim Auflegen des Eisbeutels auf die Stirn eine "unendlich süße, physische und moralische Beruhigung" empfand. Der Tastsinn ist eine beständige Quelle ästhetischer Gefühle. Ist er geübt, so kann er empfindlicher sein für die Schönheit der Formen als das Auge. Er kann das Weiche, Seidige, Glatte wahrnehmen, was das Auge nicht vermag. Die Schönheit z. B. des Samts kann nur durch Betasten ausgeschöpft werden. Der Geschmack schließlich vermittelt wahrhaft ästhetische Genüsse. GUYAU berichtet, wie ihm gelegentlich einer Pyrenäenwanderung ein Schäfer ein Glas eiskalte Milch gereicht hat, die allen Duft des Hochgebirges zu atmen schien. Beim Trinken glaubte er eine Pastoralsymphonie durch den Geschmackssinn zu vernehmen. Ähnlich erging es ihm beim Genuß von spanischem Wein. Schon die bloße Stillung des Durstes gewährt durchaus ästhetische Gefühle. Die ganze Poesie der Naturvölker - man denke nur an das Hohelied Salomons - ist voll von Metaphern, die dem Bereich des Geschmackssinns entnommen sind. Auch der Geruchssinn, den GUYAU bezeichnenderweise an letzter Stelle unter den niederen Sinnen nennt, vermittelt noch Gefühle von hohem ästhetischen Wert. Der Duft der Rose ist ein Gedicht. Die Lieblichkeit der Sommernächte besteht zum großen Teil aus Wohlgerüchen. Bei allen landschaftlichen Schönheiten spielt der Geruchssinn eine außerordentliche Rolle. Wer könnte sich die Bretagne ohne Meergeruch, die Heide ohne Kiefernduft vorstellen? Im Vergleich zu den niederen Sinnen treten bei GUYAU die höheren an ästhetischem Wert gänzlich zurück. Greift nicht auch der Dichter, um die Schönheit einer Sache auszudrücken, zu Beiworten wie süß, lieblich, heiß, ergreifend, herb, bitter, köstlich, balsamisch, Beiworten also, die dem Reich der niederen Sinne entnommen sind, wo die Lebensgefühle tiefer und stärker strömen? Und doch erkennt GUYAU auch den Gesichts- und Gehörsempfindungen noch, wenn auch nur geringen, ästhetischen Wert zu, weil sie nicht ganz an der Oberfläche haften, wie die Engländer lehren. Jede Empfindung kann ästhetischen Charakter annehmen. Und zwar hängt dies vom Grad der Empfindung ab. Jede Empfindung verläuft nach GUYAU in drei Stadien. Auf den ersten leichten Anschlag folgt das Klarwerden der Empfindung und schließlich die "nervöse Diffussion". Die Empfindung überschwemmt, überflutet das Bewußtsein, breitet sich wie eine Welle über das ganze Nervensystem aus. Und erst in diesem dritten Stadium offenbart sie ihren ästhetischen oder widerästhetischen Charakter. Bisher war sie nur angenehm oder unangenehm. Die ästhetische Erregung beruth also nach GUYAU auf einem Weiterklingen der Empfindung durch den Gesamtorganismus. Assoziierte Lustgefühle werden in großer Anzahl geweckt und klingen mit. So entsteht die "Klangfarbe" der ästhetischen Erregung, wie GUYAU sagt, d. h. die "ästhetische Verbindung von Lustgefühlen", von denen das eine dominiert, die übrigen durch Assoziationen geweckt werden. (28) Die Klangfarbe der Empfindung nun ist nach GUYAU der Ort, wo dem Schönen sein Platz anzuweisen ist. Bei den höheren Sinnen tritt vermöge ihrer größeren Indifferenz die "nervöse Diffusion" viel seltener ein, als bei den niederen Sinnen, und so erklärt sich dann in GUYAUs Augen ihr geringer ästhetischer Wert. Das völlige Gegenteil des Richtigen ist es aber, die ästhetische Lust auf das "Spiel" eines Einzelorgans zurückzuführen, wie die Engländer tun. "Man sollte den Anbetern der Schönheit dasselbe zurufen, was DIDEROT zu den exklusiven Religionen gesagt hat: Erweitert euren Gott!" (29) 9. - Das sind die Grundgedanken der GUYAUschen Wirklichkeitsästhetik, die, in fortlaufender Polemik gegen die englische Schule gewonnen, zum Schluß in ein System zusammengefaßt werden. Das Schöne und das Angenehme sind nicht eins, aber letzteres ist die Quelle des ersteren. "Das Angenehme ist wie ein Lichtkern, dessen strahlende Aureole [Lichtkranz - wp] die Schönheit ist" (30). Jedes Lustgefühl möchte ästhetisch werden. Was anenehm bleibt, wird gleichsam nicht reif. Schönheit ist innere Fruchtbarkeit, innere Reife. So ergeben sich folgende Gesetze: Erlangt eine sehr angenehme Empfindung nicht ästhetischen Charakter, dann ist sie so geartet, daß ihre Diffusion im Zerebralsystem auf erhebliche Schwierigkeiten stößt. Das Lustgefühl bleibt sinnlicher Natur. Erlangt sie dagegen das Maximum der Ausbreitung im Bewußtsein, so tritt die ästhetische Befriedigung ein, die zugleich sinnlicher und geistiger Natur ist. Nur was das ganze Wesen durchklingt, verdient den Namen des Schönen. Die Spieltheorie ist das verkehrteste, was man sich denken kann. Denn das Spiel zieht nur ein Organ in Mitleidenschaft und läßt den Rest unseres Wesens indifferent. Aber gerade in dieser Indifferenz unseres Wesens sah SCHILLER das Ideal, die Freiheit des Künstlers. GUYAU nennt SCHILLERs Theorie eine "Theorie des Quietismus [religiöse Ichaufgabe und Gottergebenheit, Rückzug von der Welt - wp]" (31). Er habe die Kunst über die Sphäre des Lebens erheben wollen und sie unter das Leben erniedrigt. Erweitert euren Gott! "Den echten Künstler erkennt man daran, daß das Schöne ihn ebenso tief, ja vielleicht noch tiefer ergreift und erschüttert als das wirkliche Leben. Es ist für ihn die Wirklichkeit selbst." (32) Das Schöne gründet sich auf das volle Bewußtsein des Lebens. Ästhetisches Genießen bedeutet eine Erhöhung der Intensität des Lebensgefühls. Schon die Befriedigung eines Bedürfnisses ist elementare "Schönheit der Empfindung". Das Schöne ist "im Grunde identisch" mit dem Begehrenswerten. "Statt etwas Äußerliches am menschlichen Wesen zu bleiben, einer Schmarotzerpflanze vergleichbar, erscheint uns das Schöne wie ein Aufblühen dieses Wesens selbst, wie die Blüte des Lebens." (33) Nur ein Unterschied des Grades und der Ausdehnung trennt in GUYAUs Theorie das Schöne vom Angenehmen. Bei den niederen Wesen bleibt die Empfindung des Angenehmen grobsinnlich. Sie stößt eben nicht auf ein geistiges oder moralisches Milieau, in dem sie sich ausbreiten und "Klangfarbe" gewinnen kann. Bei den höheren Wesen aber wird das Leben "aufgewühlt" im tiefsten Grunde. Die Kunst ist nach GUYAU kein intellektuelles Spiel, vom Leben getrennt, keine Jllusion, die uns über die Realitäten des Lebens trösten will, sondern sie wurzel gerade in diesen Realitäten. GUYAU setzt anstelle des KANT-SPENCERschen Formalismus einen entschiedenen Realismus, anstelle des Spielbegriffs die Idee des Lebens. Und diese Idee leitet ihn hinüber zur soziologischen Ästhetik. Das soziale Leben, das sympathische, sich mitteilende ist es, das die Kunst schafft und sich durch das Schöne ausspricht. soziologisches Phänomen EMILÉ BOIRAC hat in der Revue philosophique (1890) eine meisterhafte Studie über GUYAUs Stellung in der Geschichte der Ästhetik veröffentlicht. BOIRAC unterscheidet drei Hauptepochen: eine Ästhetik des Ideals bei PLATO, eine Ästhetik der Wahrnehmung bei KANTund eine auf das Prinzip der Sympathie gegründete soziologische Ästhetik bei GUYAU. FOUILLÉE möchte diese drei Epochen etwas anders benennen. (34) In der metaphysischen Kunstphilosophie des PLATO ist das Schöne der Ausdruck eines erhabenen Ideals, das objektive Realität hat. Seitdem mit DESCARTES die Einkehr ins denkende Ich begonnen hat, ist die moderne, nunmehr psychologisch gerichtete Kunstphilosophie bestrebt, in der geistigen und sinnlichen Konstitution des Subjekts die Gründe der ästhetischen Lust aufzusuchen. Die Höhepunkte dieser Epoche liegen bei KANT, SCHILLER und SPENCER. Die Spieltheorie ist der prägnante Ausdruck dieser subjektiven Ästhetik. Nach FOUILLÉE hat GUYAU in den "Ästhetischen Problemen der Gegenwart" diese Theorie schlagend widerlegt und begründet nun in seiner Schrift: "Die Kunst als soziologisches Phänomen" die dritte Epoche der Ästhetik, die soziologische, die sich als eine ideale Synthese der beiden vorausgegangenen, der objektivistischen und subjektivistischen Epoche, darstellt. 1. - Man wird in der Bewertung dieser "neuen prophetischen Formel der Kunst der Zukunft" nicht so weit gehen dürfen wie BOIRAC und FOUILLÈE, und dennoch ihre eigentümliche Bedeutung anerkennen können. Doch zeigt sich gerade in diesem letzten Werk GUYAUs wie nirgends sonst der dem Dichterphilosophen innewohnende Hang zu ultrawissenschaftlicher Phantastik. Das 18. Jahrhundert, so läßt sich GUYAU im Vorwort vernehmen, hat im wesentlichen egoistische Theorien in der Ethik gezeitigt. Das 19. Jahrhundert hat die wissenschaftliche Psychologie und Soziologie begründet. Aufgabe des 20. Jahrhunderts wird es sein, die soziologische Idee durch alle Wissenschaften und Künste hindurch zu verfolgen. Die Soziologie wird ein gut Teil der Ethik und Ästhetik aufsaugen. Man wird erkennen, daß die sozialen Gefühle "durch Anziehung und Abstoßung der Nervensysteme" entstehen, den astronomischen Erscheinungen vergleichbar. GUYAU hegt, wie wir später sehen werden, die verschwiegene metaphysische Hoffnung, daß unser Bewußtsein in einer geheimen Verbindung mit allen übrigen Bewußtseinen steht. Er glaubt an ein über das ganze Universum ausgebreitetes, kosmisches Bewußtsein. Die Soziologie wird also "eine Art komplizierte Astronomie" werden (35). In der Religionswissenschaft hat GUYAU, wie wir gesehen haben, den soziologischen Gesichtspunkt in fruchtbarer Weise durchgeführt. Eine mythische und mystische Soziologie ist nach GUYAU der Kern aller Religionen. Die Religion schlingt ein soziales Band zwischen Menschen und höheren Mächten. Auch die Kunst schafft ein ideales Reich erdichteter Gestalten, mit denen uns soziale Bande verknüpfen. Auch die Ästhetik und Kunstphilosophie wird eine soziologische Wissenschaft werden müssen (36) GUYAU bemerkt die tiefe Verwandtschaft zwischen Religion und Kunt. Der Unterschied zwischen beiden ist nach ihm nur der, daß die Religion mit der Schöpfung einer übernatürlichen Gestaltenwelt praktische Zwecke verfolgt, nämlich die tatsächliche Befriedigung aller unserer Wünsche nach einem idealen Zustand.
2. - Schon im Inneren des individuellen Bewußtseins entdeckt GUYAU einen sozialen Zustand. Die "ästhetischen Probleme der Gegenwart" hatten eine Resonanz des sinnlichen Eindrucks im ganzen Bewußtsein gefordert und so das Reich des Schönen erweitert. Das individuelle Bewußtsein soll nun nach den jüngsten Forschungen trotz seiner scheinbaren Einheit ein Gemeinwesen bilden, eine Harmonie von Einzelerscheinungen, "vielleicht zwischen einzelnen Bewußtseinszellen" (39). Das Bewußtsein ist nach GUYAU ein "geheimer Bund lebender Zellen", eine Gesellschaft von rudimentären Bewußtseinsgebilden, die in sympathischer und solidarischer Weise schwingen, und so die Koinästhesie [Vitalgefühl - wp], also eine Art soziales Bewußtsein im Innern des Individuums hervorbringen. Alles, was nun in diesem Kollektivbewußtsein wiederhallt, gewinnt ebenfalls einen sozialen Charakter. "Das Angenehme wird schön, je mehr es jenem Wir, das im Ich steckt, beigelegt werden kann." (40)
Ohne diese sympathische Erregung ist keine ästhetische Erregung denkbar. Aber wir sympathisieren nicht etwa nur mit Menschen, sondern auch mit leblosen Dingen, die wir durch einen Verstandesakt vermenschlichen und beseelen. Und so erwecken auch sie ästhetische Gefühle. GUYAU berührt hier (45) den Grundgedanken der modernen Einfühlungstheorie, deutet ihn aber in seinem Sinne. Die Landschaft ist eine "Vereinigung zwishen den Menschen und den Naturwesen". Wir zittern mit dem Sonnenstrahl, flimmern mit den Sternen, dämmern mit der sinkenden Nacht. "Um den Frühling so recht zu fühlen, muß man etwas von der leichten Anmut der Schmetterlingsflügel im Herzen tragen." Wir machen die Natur zu einem Wesen, das mit uns fühlt. Die Landschaft ist ebenso in unserem Herzen wie außerhalb. "Die lacrimae rerum [Unglück - wp] sind unsere Tränen." So entsteht eine "sympathische Gemeinschaft" zwischen uns und der Natur, eine "Art Assoziation zwischen uns und der Seele der Dinge." Das Gefühl für die Natur ist ein soziales Gefühl. (46) Umso mehr tragen aber die von menschlichen Wesen erregten ästhetischen Gefühle Soziabilitätscharakter in sich, ohne doch deshalb mit den moralischen zusammenzufallen. Das moralische Gefühl ist seinem Wesen nach teleologischer Natur. Es sucht das höchste soziale Leben in der Gesellschaft zu verwirklichen. Die ästhetische Erregung dagegen ist das Gefühl einer schon vorhandenen, nicht erst zu stiftenden Solidarität. Die ästhetische Erregung ist die "soziale Sympathie, die schon als Herrin in unserem Herzen wohnt, der Widerhall des kollektiven wie des universellen Lebens in uns." Während das Gute das zu verwirklichende Schöne ist, ist das Schöne das schon verwirklichte Gute. Im Soziabilitätsgedanken läßt der Moralist GUYAU beides zusammenfließen. Deutlicher vermag man den Wert des Ästhetischen nicht auszudrücken, als indem man es auf eine moralische Formel bringt. "Freuden, die nichts Unpersönliches haben, haben auch keinen Zug von Dauer und Schönheit. Eine Freude mit einem ausgesprochen universellen Charakter wird dagegen einen Ewigkeitszug haben." (47) In der Verneinung des Egoismus muß die Kunst wie die Moral das Unvergängliche suchen. >b>4. - Wie gestaltet sich nun dieser Sachverhalt, wenn anstelle des Naturdings oder des menschlichen Wesens das Kunstwerk tritt? Schon in der Sympathie mit dem Schöpfer des Kunstwerks, seiner gewaltigen Arbeitsleistung, seinem erfinderischen Geschick, liegt ein soziales Moment. Vor allem aber sympathisieren wir mit den vom Künstler geschaffenen Phantasiegestalten. Welche Lust, in ihrer Gesellschaft zu leben! Die künstlerische Erregung ist also letzten Endes eine "soziale Erregung, die uns ein dem unsrigen analoges, durch den Künstler nahegebrachtes Leben mitfühlen läßt". (48) Die Künste sind nichts als mannigfache Arten, die individuelle Erregung zu verdichten und sie auf andere übertragbar, gleichsam soziabel zu machen." (49) Die Kust ist "Schöpferin und Erzeugerin einer idealen Gesellschaft". Sie ist wie die Religion Anthropomorphismus und Soziomorphismus zugleich (50). Sie ist eine höhere Form der Soziabilität. Ihr Wesen besteht darin, daß sie das Individuum seinem Fürsichsein enthebt, um es am universellen Leben teilhaben zu lassen. Ziel der Kunst ist also, das individuelle Leben zu vergrößern. Sie erreicht dieses Ziel, indem sie alle Herzen harmonisch vibrieren läßt, indem sie aus der Menge der individuellen Gefühle einen Komplex herauslöst, der allen gemeinsam ist. Und je besser die Kunst diese soziale Forderung erfüllt, je größer die Anzahl der Individuen ist, auf die sich die durch die Kunst geschaffene Gemeinschaft von Gefühlen erstreckt, von umso höherem Wert ist sie. Die größte Kunst ist die, die ihre Wirkung auf ein ganzes Volk ausüben kann und dabei immer noch tief genug ist, den Auserlesenen zu befriedigen. 5. - Es ist nur folgerichtig, wenn GUYAU schließlich auch das Genie unter den soziologischen Gesichtspunkt bringt. Der Hauptcharakterzug des Genies ist die Macht der Einbildungskraft. Der schöpferische Dichter gleicht dem Seher. Er lebt im Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, die er visionär erschaut. Das wirkliche Leben ist ihm nur eine Zufallserscheinung. Diese allgemein anerkannten Sätze der Genielehre behalten auch für GUYAU ihre Geltung. Aber das herrschende Gefühl beim Genie ist nach GUYAU die Sympathie (51). Der soziale Trieb ist beim Genie so stark entwickelt, daß er nur durch die Erschaffung einer neuen Welt von lebenden Wesen befriedigt werden kann. Das wahre Genie besitzt eine "gewaltige Fähigkeit zu lieben", eine aufrichtige Liebe zu allem Lebendigen. Darin besteht sein Wesen. Es besteht in einem "Aufgeben der eigenen Persönlichkeit" zugunsten der von ihm geschaffenen Wesen. GUYAU betrachtet das Genie als eine gesellschaftsbildende Macht, als den Schöpfer eines neuen sozialen Milieus. Das Genie ist die höchste Offenbarung der Soziabilität. (52) Die in der deutschen Ästhetik nach GUYAU banal gewordene Unterscheidung von subjektiven und objektiven Genies ist oberflächlich und trifft nicht das Wesen der Sache. Das Genie ist beides zugleich. GUYAU beschäftigt sich zum Schluß mit der Frage nach den Entstehungsgründen des Genies. Nach VILLEMAIN, TAINE und SAINTE-BEUVE ist das Genie ein Produkt des vorhandenen intellektuellen und sozialen Milieus. GUYAU gibt ihnen nicht ganz recht. Das Genie birgt auch unbekannte und unauflösbare Größen in sich. Das Milieu allein bildet nicht das Genie, eher das Genie das Milieu. Und gerade in seiner milieubildenden Kraft liegt seine Bedeutung (53). TAINEs soziologische Theorie ist ungenügend, sie enthält nur einen Teil der Wahrheit. Aber andererseits will GUYAU auch nicht mit HENNEQUIN behaupten, daß das Genie gar keinen Einfluß vom sozialen Milieu erfährt. Die Frage ist äußerst verwickelt. Eine wechselseitige Tätigkeit zwischen Genie und Milieu ist anzunehmen. (54) Das Milieu wirkt auf das Genie, und das Genie bringt ein neues Milieu hervor. Aber das letztere, die Initiative, die Erfindung ist der Hauptwesenszug des Genies. Das Genie ist "ein ins Riesige gesteigerter, sympathischer und sozialer Instinkt," der sich im Reich der Phantasie Befriedigung schafft. (55) 6. - Der Rest des Buches ist der Anwendung des soziologischen Prinzips auf die verschiedenen Formen der Kunst, namentlich der Poesie gewidmet. Und da wieder ist es der moderne Roman, die "soziale Epopöe" [umfangreiche Erzählung in Versform - wp] der BALZAC und ZOLA, welcher GUYAU, neben der Lyrik VICTOR HUGOs, seine besondere Aufmerksamkeit zuwendet. Seine französischen Kritiker BOIRAC (56), DAURIAC (57) und BRUNETIÈRE (58) haben dann auch GUYAUs Meisterschaft in der psychologischen Kritik aufs Höchste gepriesen. Vor allem das Kapitel über VICTOR HUGO hat ihr Entzücken wachgerufen. Bei DAURIAC findet sich auch die gleiche Überschätzung der durch GUYAU begründeten soziologischen Auffassung der Kunst. Er jetzt, meint GUYAU, und seine Kritiker sprechen es ihm nach, wird die Kunst in ihrer wahren Bedeutung für die Menschheit erkannt und gewürdigt werden. Denn erst jetzt erscheint sie als ein wirklicher Ersatz der im Aussterben begriffenen positiven Religion. Jede Kunst, die der sozialen Forderung Genüge leistet, befriedigt unser Bedürnis nach einem Ideal. Der große Künstler ist der Priester einer sozialen Religion ohne Dogma. Kunst und Poesie Diese Gedanken über die Zukunft von Kunst und Poesie hat GUYAU im zweiten Buch der "Ästhetischen Probleme der Gegenwart" in einer Weise näher ausgeführt, die uns mit mancher Unbilligkeit und Einseitigkeit seiner ästhetischen Theorie aussöhnen kann. Wird durch die immer mehr überhandnehmende wissenschaftliche Betrachtungsweise die Poesie der Dinge zerstört, derart, daß die Kunst eines Tages als unnütz beseite geworfen werden wird? Das ist eine Frage, die in der Tat zu denken gibt. SPENCER, RENAN und TAINE antworten mit einem entschiedenen: Ja! Nur der Gedanke hat Dauer. Phantasie und Gefühl scheinen weniger Lebenskraft zu besitzen. Die Kunst wird weichen vor der Wissenschaft.
Nach RENAN und EDUARD von HARTMANN ist die Kunst ferner ein Erbteil der geistigen Aristokratie. Wird nicht in der allgemeinen Mittelmäßigkeit, die durch die immer fortschreitende Verwirklichung des demokratischen Ideals herbeigeführt werden wird, die Kunst zugrunde gehen? Ein fadenscheiniges Argument! Die Demokratie wird die psychologischen Grundlagen des Genies kaum zu untergraben vermögen. Im Gegenteil! Das Genie braucht Freiheit. Die Demokratie gewährt sie ihm, während der despotische Staat die Genies unterdrückt. Der Künstler wird hier die Notdurft des Lebens leichter finden. Die Demokratie ist also dem künstlerischen Schaffen günstig. Auch der Amerikanismus braucht nicht notwendig den Untergang der Kunst herbeizuführen. Wie aber steht es mit der modernen Industrie? Nach RUSKIN und SULLY PRUDHOMME sind Kunst und Industrie unvereinbare Größen und werden es immer mehr. Die Maschine bietet der Phantasie nur geringe Handhaben. Die treibende Kraft, die die Windmühle und das Segelboot noch anschaulich darstellten, wird im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität unsichtbar. Damit geht ein ästhetisches Moment verloren. Aber ist es denn, wendet GUYAU ein, die Verkörperung einer Naturkraft, die wir am Segelboot bewundern? Ist es nicht vielmehr der Schein des Lebens? (61) Eine stillstehende Windmühle ist eine sehr häßliche Maschine. Gerade je weniger die Maschine äußere Triebkräfte verkörpert, umso größer ist nach GUYAU ihr ästhetischer Wert. Die Schönheit einer Maschine besteht im Leben, in der Bewegung, und die schönste Maschine ist die, die ganz einem lebendigen Wesen gleicht. Manche Maschinen haben sogar etwas Erhabenes, Übernatürliches an sich. Gewaltige Mächte schlummern in ihrem Busen, die sich spontan wie durch ein Wunder offenbaren. (62) Die moderne Industrie ist durchaus nicht widerästhetischer Natur und wird es immer weniger, je mehr sich ihre Erzeugnisse dem Typus des lebenden Wesens nähern. Wie schön ist der moderne Dampfkran, der sich um sich selbst dreht, dann sich hinabbeugt, um im Innern des Schiffes eine mächtige Tonne zu ergreifen! Wie schön ist das Dampfschiff, dieses folgsame Ungeheuer, wenn es sich unter den wilden Jubelausbrüchen der Sirene in Bewegung setzt! Und gibt es einen erhabeneren Anblick als eine moderne Kriegsflotte in Schlachtlinie? Kann der Ruhm und die Größe einer Nation herrlicher übers Meer getragen werden als durch so einen Trupp gigantischer Wesen? 2. - Ein unüberwindlicher Antagonismus scheint sich nun aber zwischen dem wissenschaftlichen Geist einerseits, und der Phantasie, dem Gefühl, dem spontanen Instinkt des Genies andererseits aufzutun. Werden die dichterischen Anlagen des menschlichen Geistes durch die wissenschaftliche Betrachtung, die die Gehirne immer mehr umbildet, nicht schließlich ganz ausgerottet werden? Poesie ohne Mysterien, ohne Aberglauben ist nach GOETHE, SCHELLING, WAGNER undenkbar. Halbdunkel ist Schönheit, Mondlicht ist Poesie. Die Wissenschaft aber gleicht einer schnurgeraden sonnigen Landstraße. Der Dichter, erwidert GUYAU, verliert nichts bei der wissenschaftlichen Ausdeutung der Welt. Die Poesie wird immer neben der Wissenschaft einhergehen. Denn die Wissenschaft, die mit dem Staunen begann, endet auch immer mit dem Staunen. Und das Staunen gebiert die Poesie so gut wie die Philosophie. Die menschliche Wissenschaft ist eine ewige Offenbarung und so eine ewige Poesie. (63) Was wird aus einem Wassertropfen unter dem Mikroskop des Gelehrten? Die Wissenschaft hat den Glauben der Griechen, daß die Sterne Götter sind, zerstört. Sie vernichtet alles Wunderbare und Mirakelhafte. Und dennoch, läßt sich nicht immer neue Wunder und Mirakel vor unseren Augen entstehen? (64) So wenig wie die Poesie wird der schöpferische Instinkt des Genies jemals durch die Wissenschaft verdrängt werden können. Die Kunst kann nie Sache der Methode, Sache der Wissenschaft werden. Denn ihr Wesen ist die Erfindung, und keine theoretische Erwägung der Welt vermag den unbewußt schaffenden Instinkt des Genies zu ersetzen. Die Wissenschaft zerlegt ihren Gegenstand, die Kunst muß ihn erst schaffen, enthüllen. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft (65). Selbst die Wissenschaft kann den schöpferischen Instinkt nicht entbehren. Auch das Entdeckergenie bedarf der inneren Anschauung. Ist nicht die wissenschaftliche Hypothese eine Art erhabener Roman? Und das Genie kann zu allen Zeiten und an allen Orten erscheinen. Die Wissenschaft wird ihm nie im Wege sein. (66) Und schließlich wird das Gefühl der wissenschaftlichen Analyse nicht zum Opfer fallen, wie MILL fürchtet, sondern sich den veränderten Verhältnissen anpassen. Die menschlichen Gefühle haben seit dem Altertum unter dem Einfluß der Intelligenz bedeutsame Wandlungen erfahren. Das Naturgefühl, das Gefühl des Göttlichen, die patriotischen Gefühle haben sich völlig verändert. Namentlich beim Liebesgefühl offenbart sich dieser fortschreitende Intellektualisierungsprozeß auf das Deutlichste. In der Antike war es vorwiegend sinnlicher Natur. Im Mittelalter überwog das mystische Element. Heute ist es der Widerhall metaphysischer Ideen, der dem Liebesgefühl seine besondere Weihe verleiht. Welch ein tiefes, vom Taumel der Unendlichkeit erfülltes Liebesgefühl z. B. bei VICTOR HUGO! Die Erlebnisses unseres Herzens werden heute immer reflektierter, immer philosophischer. Die Intelligenz durchdringt unser Gefühlsleben immer mehr. "Wir müssen denken können, wenn wir voll genießen wollen." (67) Die Ausdehnung der Herrschaft der Intelligenz schafft immer neue Arten von Lust und Unlust, ein immer neues Feld dichterischer Betätigung. GUYAU verweist auf den Faustdichter, auf SHELLEY, auf BYRONs "Kain", auf LEOPARDIs philosophische Gedichte und VICTOR HUGOs "Kontemplationen". Die Kunst wird sich immer mehr an wissenschaftlichen und philosophischen Ideen inspirieren. Sie kann getrost noch wissenschaftlicher und philosophischer werden, als sie es jetzt schon ist, ohne daß die Poesie darunter zu leiden braucht. (68) Nur vor dem Beschreiben hüte sie sich. Der Dichter soll offenbaren, nicht dozieren. GUYAU hätte auch die "Verse eines Philosophen" als Beispiel heranziehen können. Niemand wie er hat besser seinen eigenen (echt platonischen) Satz befolgt, daß man über die universellen Ideen der Wissenschaft nur als Dichter schreiben kann, indem man sich der Stimmungen bedient. (69) Auch dieser Umstand ist ihm eine Gewähr für die Zukunft von Kunst und Poesie. Die Wissenschaft ist unvergänglich, und so auch die Kunst.
Und ein Mirakel bleibt ihr zur Deutung vorbehalten, zu dem jene sonnige Landstraße der theoretischen Erkenntnis nicht führt. Ein Mysterium wird die Wissenschaft nie zerstören, ein Mysterium ist unvergänglich, das Mysterium der Metaphysik. (72) Dunkelheit umhüllt ewig den Grund der Dinge. ![]()
1) Irreligion, Seite 7 2) Ich bereite gerade eine Übersetzung dieses interessanten Werkes vor. 3) Vorwort, Seite VI. Ich zitiere nach der französischen Ausgabe. 4) Problémes de l'esthetique, Seite 5f 5) ebd. 6) JOHANNES VOLKELT, System der Ästhetik, München 1905, Bd. I, Seite 506f. 7) Problémes, Seite 10f 8) ebd. Seite 13 9) ebd. Seite 16 10) GUYAU, Die Kunst als soziologisches Phänomen, Seite 45 11) Problémes, Seite 18 12) Zur Physiologie der Kunst, Bd. 15, Seite 375f. 13) Problémes de l'esthetique, Seite 21 14) ebd. Seite 23 15) ebd. Seite 23 16) Problémes, Seite 24 17) Problémes, Seite 27 18) Problémes, Seite 29f 19) Problémes, Seite 31 20) Problémes, Seite 32 21) ebd. Seite 36 22) Problémes, Seite 40 23) ebd. Seite 42 24) Problémes, Seite 47 25) ebd. Seite 50 26) ebd. Seite 53 27) Problémes, Seite 61 28) Problémes, Seite 74 29) Problémes, Seite 72 30) Problémes, Seite 75 31) Problémes, Seite 78 32) Problémes, Seite 79 33) Problémes, Seite 80 34) EMILÉ BOIRAC, La Morale, l'art et la religion d'apres Guyau, Seite 26f 35) Die Kunst als soziologisches Phänomen, Seite 27. (Ich zitiere nach der deutschen Ausgabe.) 36) Nach FOUILLÉE war die Arbeit über die Kunst eine natürliche Folge der "Irrelgion". Vgl. FOUILLÉEs Einleitung zur Soziologie der Kunst. 37) Die Kunst als soziologisches Phänomen, Seite 29 38) ebd. Seite 30 39) Die Kunst als soziologisches Phänomen, Seite 39 40) ebd. Seite 40 41) ebd. Seite 41 42) ebd. Seite 45 43) ebd. Seite 33 44) Die Kunst als soziologisches Phänoemen, Seite 39 45) ebd. Seite 47 46) ebd. Seite 48 47) Die Kunst als soziologisches Phänomen, Seite 49 48) ebd. Seite 52 49) ebd. Seite 52f 50) ebd. Seite 56 51) Die Kunst als soziologisches Phänomen, Seite 63 52) ebd. Seite 66 53) Die Kunst als soziologisches Phänomen, Seite 70 54) ebd. Seite 79 55) ebd. Seite 81 56) Revue philosophique, 1890 57) Année philosophique, 9. Jahrgang, 1888 58) Revue des deux Mondes vom 1. August 1889 und 1. März 1890 59) Problémes, Seite 125 60) Problémes, Seite 97 61) ebd. Seite 116 62) Problémes, Seite 118 63) ebd. Seite 126 64) ebd. Seite 136 65) ebd. Seite 140 66) ebd. Seite 141 67) Problémes, Seite 156 68) ebd. Seite 161 69) ebd. Seite 162; vgl. Kapitel I, 5 dieser Darstellung. 70) ebd. Vorwort, Seite VIII 71) Problémes, Seite 171f 72) ebd. Seite 129 |