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EDMUND HUSSERL
Erfahrung und Urteil
[3/5]

"Das Wahrnehmen, die wahrnehmende Zuwendung zu einzelnen Gegenständen, ihre Betrachtung und Explikation, ist bereits eine aktive Leistung des Ich. Als solche setzt sie voraus, daß uns schon etwas vorgegeben ist, dem wir uns in der Wahrnehmung zuwenden können. Und vorgegeben sind nicht bloß einzelne Objekte, isoliert für sich, sondern es ist immer ein Feld der Vorgegebenheit, aus dem sich Einzelnes heraushebt und sozusagen zur Wahrnehmung, zur wahrnehmenden Betrachtung reizt, ... es ist objektiv Seiendes, solches, das nicht nur Wahrnehmbares für mich ist, sondern auch für Andere, für meine Mitmenschen."

"Das Zeitbewußtsein ist die Urstätte der Konstitution von Identitätseinheit überhaupt. Aber es ist nur ein eine allgemeine Form herstellendes Bewußtsein. Was die Zeitkonstitution leistet, ist nur eine universale Ordnungsform der Sukzession und eine Form der Koexistenz aller immanenten Gegebenheiten."

"Die Tendenz in einem mannigfachen Tun des Ich geht darauf, das Etwas im Wie der einen Erscheinungsweise zu verwandeln in dasselbe Etwas im Wie anderer Erscheinungsweisen. Sie geht auf die Erzeugung immer neuer Erscheinungsweisen, die wir auch Bilder nennen können - ein Begriff von Bild, der natürlich mit Abbildung nichts zu tun hat, der aber durchaus sprachüblich ist; so wenn man etwa von einem Bild spricht, dasa man sich von einer Sache macht, womit gemeint ist, eben die Weise, wie man sie sieht, wie sie sich einem darstellt."


I. Abschnitt
Die vorprädikative (rezeptive) Erfahrung

1. Kapitel
Die allgemeinen Strukturen der Rezeptivität

§ 15. Der Übergang zur Analyse
der äußeren Wahrnehmung

An den Akten äußerer Wahrnehmung als des Bewußtseins leibhafter Gegenwart individueller raumdinglicher Gegenstände soll im Folgenden exemplarisch studiert werden, was das Wesen vorprädikativer Erfahrungsleistung ist, und wie sich darauf die prädikativen Synthesen bauen. Wenn dabei in diesem Bereich des Wahrnehmens, der ja nur einen Teilausschnitt aus dem Gesamtbereich der doxischen, objektivierenden Erlebnisse bildet, verschiedene Strukturen unterschieden werden wie die von passiver Vorgegebenheit und aktiver Ichzuwendung, von Interesse, von Rezeptivität und Spontaneität, so ist dabei zu betonen, daß solche Unterschiede nicht auf den Bereich des Wahrnehmens, ja überhaupt der doxischen Erlebnisse beschränkt sind, sondern daß es sich dabei um Strukturen handelt, die in allen anderen Bereichen des Bewußtseins in gleicher Weise zu finden sind. Es gibt also nicht nur eine ursprüngliche Passivität sinnlicher Gegebenheiten, von "Sinnesdaten", sondern auch des Fühlens, und im Gegensatz dazu nicht nur eine objektivierende aktive Zuwendung, wie etwa in der Wahrnehmung, sondern auch eine solche im Werten, im Gefallen; und auch da gibt es Analoga der Evidenz, also auch der Wahrnehmung, als ursprünglicher Selbstgebung von Werten, von Zwecken.

Das Wahrnehmen, die wahrnehmende Zuwendung zu einzelnen Gegenständen, ihre Betrachtung und Explikation, ist bereits eine aktive Leistung des Ich. Als solche setzt sie voraus, daß uns schon etwas vorgegeben ist, dem wir uns in der Wahrnehmung zuwenden können. Und vorgegeben sind nicht bloß einzelne Objekte, isoliert für sich, sondern es ist immer ein Feld der Vorgegebenheit, aus dem sich Einzelnes heraushebt und sozusagen zur Wahrnehmung, zur wahrnehmenden Betrachtung "reizt". Wir sagen, das, was uns zur Wahrnehmung reizt, ist vorgegeben in unserer Umwelt, aus ihr her uns affizierend. Aber gemäß unserer einleitenden Ausführungen wollen wir hier davon absehen, daß es immer ein Wahrnehmen von Gegenständen der Welt, zunächst unserer Umwelt ist. Denn darin liegt ja: es ist objektiv Seiendes, solches, das nicht nur Wahrnehmbares für mich ist, sondern auch für Andere, für meine Mitmenschen. Wir setzen nur voraus in der angedeuteten Beschränkung, daß es ein Feld von Abgehobenheiten für mich ist, denen ich mich wahrnehmend zuwende. Die Konstitution dieses Feldes selbst wäre Thema eigener, sehr umfassender Analysen. Im Rahmen dieser Untersuchung müssen einige kurze Andeutungen genügen.


§ 16. Das Feld passiver Vorgegebenheiten
und seine assoziative Struktur.

Nehmen wir das Feld passiver Vorgegebenheiten in seiner, freilich nur abstraktiv herzustellenden Ursprünglichkeit, d. h. sehen wir ab von all den Bekanntheitsqualitäten, Vertrautheiten, mit denen alles, was uns affiziert, im Voraus schon, aufgrund früherer Erfahrungen für uns dasteht. Nehmen wir es so, wie es ist, bevor eine ichliche Aktivität daran noch irgendwelche sinngebenden Leistungen geübt hat, so ist es im eigentlichen Sinne noch kein Feld von Gegenständlichkeiten. Denn Gegenstand ist ja, wie schon erwähnt, Produkt einer vergegenständlichenden, ichlichen Leistung, und im prägnanten Sinn einer prädikativ urteilenden Leistung. Darum ist dieses Feld aber doch kein bloßes Chaos, ein bloßes "Gewühl" von "Daten", sondern ein Feld von bestimmter Struktur, von Abgehobenheiten und gegliederten Einzelheiten. Ein Sinnesfeld, ein Feld sinnlicher Gegebenheiten, z. B. optischer, ist das einfachste Modell, an dem wir diese Struktur studieren können. Wenn auch ein Sinnesfeld, eine gegliederte Einheit von sinnlichen Gegebenheiten, Farben etwa, nicht unmittelbar als Gegenstand in der Erfahrung gegeben ist, in der die Farben schon immer "aufgefaßt" sind als Farben von konkreten Dingen, Oberflächenfarben, "Flecken" auf einem Gegenstand usw., so ist doch jederzeit die abstraktive Blickwendung möglich, in der wir diese apperzeptive Unterschicht selbst zum Gegenstand machen. Darin liegt: die abstraktiv herauszustellenden sinnlichen Gegebenheiten sind selbst schon Einheiten der Identität, die in einem mannigfaltigen Wie erscheinen und die dann als Einheiten selbst zu thematischen Gegenständen werden können; das Jetzt-sehen der weißen Farbe in dieser Beleuchtung usw. ist nicht die weiße Farbe selbst. So sind auch die sinnlichen Gegebenheiten, auf die wir als abstrakte Schicht an den konkreten Dingen jederzeit den Blick wenden können, bereits Produkte einer konstitutiven Synthesis, die als unterstes die Leistungen der Synthesis im inneren Zeitbewußtsein voraussetzt. Sie sind die untersten, die alle anderen notwendig verknüpfen. Das Zeitbewußtsein ist die Urstätte der Konstitution von Identitätseinheit überhaupt. Aber es ist nur ein eine allgemeine Form herstellendes Bewußtsein. Was die Zeitkonstitution leistet, ist nur eine universale Ordnungsform der Sukzession und eine Form der Koexistenz aller immanenten Gegebenheiten. (1) Aber Form ist nichts ohne Inhalt. Dauerndes immanentes Datum ist nur als dauerndes Datum seines Inhaltes. So sind die Synthesen, die die Einheit eines Sinnesfeldes herstelenn, bereits sozusagen ein höheres Stockwerk konstitutiver Leistungen.

Betrachten wir nun ein einheitliches Sinnesfeld, wie es in einer immanenten Gegenwart gegeben ist, und fragen wir, wie in ihm überhaupt das Bewußtsein eines abgehobenen Einzelnen möglich ist, und weiter, welche wesensmäßigen Bedingungen zu erfüllen sind, damit das Bewußtsein einer abgehobenen Vielheit Gleicher oder Ähnlicher zustande kommt.

Jedes solche Sinnesfeld ist ein einheitliches für sich, eine Einheit der Homogenität [Gleichartigkeit - wp] Zu jedem anderen Sinnesfeld steht es im Verhältnis der Heterogenität [Ungleichartigkeit - wp]. Einzelnes in ihm ist abgehoben dadurch, daß es gegen etwas kontrastiert, z. B. rote Flecken auf einem weißen Hintergrund. Die roten Flecken kontrastieren gegen die weiße Fläche, aber miteinander sind sie kontrastlos verschmolzen, freilich nicht in der Weise, daß sie ineinander überfließen, sondern in einer Art Fernverschmelzung: sie sind miteinander zur Deckung zu bringen als gleiche. Freilich auch in jedem Kontrast bleibt etwas von Verwandtschaft und Verschmelzung; die roten Flecken und die weiße Fläche sind miteinander ursprünglich verwandt als visuelle Gegebenheiten. Und diese Homogenität ist unterschieden von der Heterogenität andersartiger, z. B. akustischer Gegebenheiten. So sind die allgemeinsten inhaltlichen Synthesen von abgehobenen Sinnesgegebenheiten, welche jeweils in der lebendigen Gegenwart eines Bewußtseins vereinigt sind, die nach Verwandtschaft (Homogenität) und Fremdheit (Heterogenität). Man kann freilich sagen, daß Ähnlichkeit zwischen den Einzelgegebenheiten kein reales Band herstellt. Aber von den realen Beschaffenheiten sprechen wir jetzt nicht, sondern von der Art und Weise einer immanenten Verbindung der Empfindungsgegebenenheiten.

Die Verwandtschaft oder Ähnlichkeit kann verschiedene Grade haben mit dem Limes vollkommenster Verwandtschaft, der abstandslosen Gleichheit. Überall, wo keine vollkommene Gleichheit besteht, geht Hand in Hand mit der Ähnlichkeit (Verwandtschaft) Kontrast: Abhebung des Ungleichen von einem Boden des Gemeinsamen. Wenn wir von Gleichheit zu Gleichheit übergehen, gibt sich das neue Gleiche als Wiederholung. Es kommt mit dem ersten hinsichtlich seines Inhaltes zu einer vollkommenen abstandslosen Deckung. Dies ist es, was wir als Verschmelzung bezeichnen. Auch wenn wir von Ähnlichem zu Ähnlichem übergehen, tritt eine Art Deckung ein, aber nur eine partielle unter gleichzeitigem Widerstreit des nicht Gleichen. Auch in dieser Ähnlichkeitsüberschiebung liegt so etwasa vor wie eine Verschmelzung, aber nur eben nach dem gleichen Moment, keine reine und vollkommene Verschmelzung wie bei der völligen Gleichheit. Was sich in einer rein statischen Beschreibung als Gleichheit oder Ähnlichkeit gibt, ist also selbst schon als Produkt der einen oder anderen Art von Deckungssynthesis anzusehen, einer Deckungssynthesis, die wir mit dem traditionellen Ausdruck, aber unter Verwandlung seines Sinnes als Assoziation bezeichnen. Das Phänomen der assoziativen Genesis ist es, das diese Sphäre der passiven Vorgegebenheit beherrscht, aufgestuft auf den Synthesen des inneren Zeitbewußtseins.

Der Titel Assoziation bezeichnet in diesem Zusammenhang eine zum Bewußtsein überhaupt gehörige, wesensmäßige Form der Gesetzmäßigkeit immanenter Genesis. Daß sie ein Generalthema phänomenologischer Deskription und nicht bloß objektiver Psychologie werden kann, liegt daran, daß das Phänomen der Anzeige etwas phänomenologisch Aufweisbares ist. (Diese bereits in den Logischen Untersuchungen herausgearbeitete Einsicht bildete dort schon den Keim der genetischen Phänomenologie.) Jede Auffassung der Assoziation und ihrer Gesetzmäßigkeit als einer Art durch objektive Induktion zu gewinnender psychophysischer Naturgesetzlichkeit muß also hier ausgeschlossen bleiben. Assoziation kommt hier ausschließlich in Frage als der rein immanente Zusammenhang des "etwas erinnert an etwas", "eines weist auf das andere hin". Dieses Phänomen können wir nur da konkret zu Gesicht bekommen, wo wir einzelne Abgehobenheiten, einzelne Gegebenheiten als sich heraushebende aus einem Feld haben: das eine erinnert an das andere. Und dieses Verhältnis ist selbst phänomenologisch aufweisbar. Es gibt sich in sich selbst als Genesis; das eine Glied ist bewußtseinsmäßig charakterisiert als weckendes, das andere als gewecktes. Nicht immer ist freilich eine Assoziation in dieser Weise originär gegeben. Es gibt auch Fälle mittelbarer Assoziation unter Überspringung von Zwischengliedern, Assoziation also, in der die Zwischenglieder und die zwischen ihnen bestehenden unmittelbaren Ähnlichkeiten nicht explizit zu Bewußtsein kommen. Aber alle unmittelbare Assoziation ist Assoziation nach Ähnlichkeit. Sie ist wesensmäßig nicht anders möglich als durch Ähnlichkeit jeweils verschiedenen Grades bis zum Limes der völligen Gleichheit hin (2). So beruth auch aller ursprüngliche Kontrast auf Assoziation: das Ungleiche hebt sich ab vom Boden des Gemeinsamen. Homogenität und Heterogenität sind also das Ergebnis zweier verschiedener Grundweisen assoziativer Einigung. Eine andere davon unterschiedene ist die der Einigung eines Sinnesfeldes ist also Einheit erst durch assoziative Verschmelzung (homogene Assoziation), ebenso wie seine Ordnung und Gliederung sowie jede Bildung von Gruppen und Gleichheiten in ihm hergestellt ist durch die Wirkung der Assoziation: Ähnliches wird durch Ähnliches geweckt und tritt in Kontrast zu Unähnlichem. Dies läßt sich zunächst aufweisen an der Struktur eines homogenen Sinnesfeldes, es gilt dann aber in gleicher Weise für alle, auch für die mehr komplexen Gegebenheiten. Und das, was wir als Wahrnehmungsfeld bezeichnen, als das Feld passiver Vorgegebenheit, dem sich die wahrnehmende Erfassung zuwendet, daraus einzelnes als Wahrnehmungsgegenstand herausfassend, ist ja bereits ein "Feld" von viel komplizierterer Struktur, schon durch die synthetische Vereinigung und das Zusammenwirken mehrerer Sinnesfelder konstituiert.


§ 17. Affektion und Ichzuwendung. Rezeptivität
als niederste Stufe ichlicher Aktivität.

Alle Abgehobenheiten im Feld, seine Gliederung nach Gleichheiten und Verschiedenheiten und die daraus entstehende Gruppenbildung, das Sichabheben einzelner Glieder vom homogenen Untergrund, sind das Produkt assoziativer Synthesen von mannigfacher Art. Es sind aber nicht einfach passive Vorgänge im Bewußtsein, sondern diese Deckungssynthesen, haben ihre affektive Kraft. Wir sagen z. B., das durch seine Unähnlichkeit aus dem homogenen Untergrund Herausgehobene, sich Abhebende "fällt auf"; und das heißt, es entfaltet seine affektive Tendenz auf das Ich hin. Die Synthesen der Deckung, sei es nun der Deckung in unterschiedsloser Verschmelzung oder der Deckung unter Widerstreit des nicht Gleichen, haben ihre affektive Kraft, üben auf das Ich einen Reiz aus zur Zuwendung, ob es nun dem Reiz folgt oder nicht. Kommt es zur Erfassung eines sinnlichen Datums im Feld, so geschieht das immer aufgrund einer solchen Abgehobenheit. Es hebt sich durch seine Intensität heraus aus einer Mehrheit von Affizierendem. Zum Beispiel ist in der sinnlichen Sphäre ein Ton, ein Geräusch, eine Farbe mehr oder weniger aufdringlich. Sie liegen im Wahrnehmungsfeld und heben sich aus ihm heraus, üben, noch nicht erfaßt, auf das Ich einen stärkeren oder schwächeren Reiz aus. Ebenso kann ein auftauchender Gedanke aufdringlich sein, oder ein Wunsch, eine Begierde kann uns vom Hintergrund her mit Aufdringlichkeit angehen. Das Aufdrängen ist bedingt durch eine mehr oder weniger scharfe Abhebung, in der sinnlichen Sphäre durch Kontraste, qualitative Diskontinuitäten erheblichen Abstandes und dgl. Im Bereich nicht-sinnlicher Gegebenheiten ist von solchen qualitativen Diskontinuitäten freilich keine Rede; doch gibt es auch hier etwas Analoges: unter verschiedenen dunklen Gedankenregungen, die uns bewegen, hebt sich z. B. ein Gedanke vor allem anderen heraus, hat eine empfindliche Wirkung auf das Ich, indem er sich ihm gleichsam entgegendrängt.

Wir müssen nun jene Diskontinuitäten (in der sinnlichen Sphäre von allem qualitative oder intensive Diskontinuitäten) unterscheiden, die ein Aufdrängen "bewirken" und was sonst in ähnlicher Weise Bedingung des Aufdrängens ist, vom Aufdrängen selbst. Die Aufdringlichkeit hat graduelle Abstufungen und das sich Aufdrängende kommt dem Ich dabei näher oder bleibt ferner: es drängt sich mir auf. Wir unterscheiden also das, was sich aufdrängt, und das Ich, dem es sich aufdrängt. Je nach der Intensität der Aufdringlichkeit hat das sich Aufdrängende größere Ichnähe oder Ichferne. Diese Unterschiede der Aufdringlichkeit und die der entsprechenden Reize auf das Ich können wir im Bewußtseinsfeld im Rückblicken sehr wohl konstatieren - es sind phänomenologisch aufweisbare Daten - ebenso den Zusammenhang dieser Gradualität mit anderen Momenten, der kontinuierlichen Abgehobenheit, Intensität und sonstigen mehr mittelbaren Momenten, die insgesamt dem Bereich der weitest gefaßten Assoziation angehören.

Ein Neues tritt ein, wenn das Ich dem Reiz folgt. Der Reiz des intentionalen Objekts (3) in seiner Richtung auf das Ich zieht dieses mit einem stärkeren oder weniger starken Zug an, und das Ich gibt nach. Eine graduelle Tendenz verbindet die Phänomene, eine Tendenz des Übergangs des intentionalen Objekts aus dem Status des Ichhintergrundes in den des Ichgegenüber; eine Wandlung, die korrelativ eine solches ganzen intentionalen Hintergrunderlebnisses in ein Vordergrunderlebnis ist: das Ich wendet sich dem Objekt zu. Die Zuwendung selbst ist zunächst ein intermediärer Prozeß, das Hinwenden endet mit dem Sein des Ich beim Objekt und seinem es berührenden Erfassen. Mit diesem Nachgeben des Ich ist eine neue Tendenz aufgetreten, eine Tendenz vom Ich her auf das Objekt hin gerichtet. Wir müssen also unterscheiden:
    1. die Tendenz vor dem Cogito, die Tendenz als Reiz des intentionalen Hintergrunderlebnisses mit ihren verschiedenen Stärkegraden. Je stärker diese "Affektion" ist, umso stärker ist die Tendenz zur Hingabe, zur Erfassung. Wie schon berührt, hat diese Tendenz ihre zwei Seiten:

      a) das Eindringen auf das Ich, den Zug, den das Gegebene auf das Ich ausübt.

      b) vom Ich aus die Tendenz zur Hingabe, das Gezogensein, Affiziertsein des Ich selbst. Von diesen Tendenzen vor dem Cogito ist geschieden.

    2. die Zuwendung als Folgeleisten der Tendenz, mit anderen Worten: die Umwandlung des tendenziösen Charakters des intentionalen Hintergrunderlebnisses, durch die es zum aktuellen Cogito wird. Das Ich ist nun dem Objekt zugewendet, von sich aus tendenziöse darauf hin gerichtet. So ist, allgemein gesprochen, jedes Cogito, jeder spezifische Ichakt ein vom Ich her vollzogenes Streben, das seine verschiedene Formen der Auswirkung hat. Es kann sich ungehemmt oder gehemmt, vollkommener oder weniger vollkommen auswirken, wovon wir bald ausführlich zu sprechen haben.
Auch diese Tendenz hat verschiedene Grade der Spannungsstärke. Das Ich kann schon mehr oder weniger lebhaft und in verschiedenem Tempo der Intensitätssteigerung, eventuell auch unter Einspringen eines plötzlichen Intensitätszuflusses zu einem Affizierenden hingezogen sein. Dementsprechend kann Art und Tempo des Folgens ähnliche Unterschiede haben, ohne aber dadurch allein bestimmt zu sein. Das Ich braucht sich einem starken Reiz nicht ganz hinzugeben, und es kann sich mit verschiedener Intensität in ihn einlassen. Steigerung der affektiven Kraft ist zwar notwendig bedingt durch gewisse Veränderungen der wahrnehmungsmäßigen Gegebenheitsweise des Objektes, so z. B. derjenigen des Pfiffes einer an uns heranfahrenden Lokomotive; aber dergleichen allein braucht keine Zuwendung zu erwirken. Man achtet nicht auf den gewalttätigen Reiz, wo man mit einer "wichtigen" Person spricht, und selbst wo man momentan bezwungen wird, kann es bloß eine sekundäre Zuwendung, eine Zuwendung im Nebenbei sein, oder auch ein nur momentan Hingerissen- und Abgelenktsein, ohne "eingehend" darauf zu achten.

Das Vollziehen der Zuwendung ist es, das wir als Wachsein des Ich bezeichnen. Genauer gesprochen ist das Wachsein als faktischer Vollzug von Ichakten und das Wachsein als Potenzialität, als Zustand des Akte-vollziehen-könnens, der die Voraussetzung für ihren faktischen Vollzug bildet, zu unterscheiden. Erwachen ist, auf etwas den Blick richten. Gewecktweren heißt eine wirksame Affektion erleiden; ein Hintergrund wird "lebendigt", intentionale Gegenstände kommen von da dem Ich mehr oder weniger nahe, dieser oder jener zieht das Ich wirksam zu ihm selbst hin. Es ist bei ihm, wenn es sich zuwendet.

Sofern das Ich in der Zuwendung aufnimmt, was ihm durch die affizierenden Reize vorgegeben ist, können wir hier von der Rezeptivität des Ich sprechen.

Dieser phänomenologisch notwendige Begriff der Rezeptivität steht keineswegs in einem ausschließlichen Gegensatz zur Aktivität des Ich, unter welchem Titel alle spezifisch vom Ichpol ausgehenden Akte zu befassen sind; vielmehr ist die Rezeptivität als unterste Stufe der Aktivität anzusehen. Das Ich läßt sich das Hereinkommende gefallen und nimmt es auf. So unterscheiden wir z. B. unter dem Titel Wahrnehmen einerseits das bloße Bewußthaben in originalen Erscheinungen (welche Gegenstände in originaler Leibhaftigkeit darstellen). In dieser Art ist uns je ein ganzes Wahrnehmungsfeld vor Augen gestellt - schon in purer Passivität. Andererseits steht unter dem Titel "Wahrnehmen" die aktive Wahrnehmung als aktives Erfassen von Gegenständen, die sich in dem über sie hinausreichenden Wahrnehmungsfeld abheben. Ebenso mögen wir ein Feld der Wiedererinnerung haben und können es schon haben in purer Passivität. Aber wieder ist das bloß erinnerungsmäßige Erscheinen noch nicht das aktiv erfassende und sich mit dem Erscheinenden (dem, "was uns einfällt") befassende Wiedererinnern. Offenbar meint der normale Begriff von Erfahrung (Wahrnehmung, Wiedererinnerung usw.) die aktive Erfahrung, dies sich dann als explizierende auswirkt (vgl. das nächste Kapitel).


§ 18. Aufmerksamkeit als Ichtendenz

Was speziell den Bereich der objektivierenden Erlebnisse betrifft, der doxischen, in denen uns, sei es auch hintergrundmäßig, "Seiendes" bewußt wird, so ist es im Allgemeinen die entsprechende doxische Zuwendung, welche gewöhnlich die Psychologen als Aufmerksamkeit im Auge haben. Indessen wer, ganz der Schönheit eines Bildes hingegeben, im Gefallen daran lebt und nicht im Seinsglauben, in der Intention auf Seiendes, und ebenso wer im Vollzug einer werktätigen Handlung ganz im willentlichen Vollzug lebt, heißt im gewöhnlichen Leben ebenfalls "aufmerksam", aufmerksam auf die Schönheit, aufmerksam auf sein werktätiges Geschehen in den verschiedenen Stadien bis zum vollendeten Werk. Freilich geht hierbei vielfach beides, Seinserfassung im Seinsglauben (bzw. Seinsauslegung, Auslegung des Seienden wie es ist) und wertendes, bzw. werktätiges Handeln ineinander über, sich verflechtend; derart etwa, daß ein doxisches Tun fundierend ist für ein handwerkliches, und ein nachkommendes doxisches Feststellen des Fertigseins, bzw. des fertigen Werkes sich verbindet mit dem praktischen Zur-Seite-stellen für den künftigen Gebrauch. Es ist auch klar, daß jede nicht-doxische Zuwendung und fortgehende Beschäftigung mit etwas die Einstellungsänderung frei läßt in eine doxische, welche die aus jener hervorgehenden Leistungsgebilde als Seiendes erfaßt und als das tätig auslegt.

Allgemein ist Aufmerksamkeit ein zur Wesensstruktur eines spezifischen Aktus des Ich (eines Ichaktes im prägnanten Wortsinn) gehöriges Tendieren des Ich auf den intentionalen Gegenstand hin, au die immerfort im Wechsel der Gegebenheitsweise "erscheinende" Einheit, und zwar als ein vollziehen-Tendieren. Der mit der Zuwendung einsetzende Vollzug, der Einsatzpunkt des Aktvollzuges, ist Anfang eines fortgehenden vollziehenden Gerichtetseins des Ich auf den Gegenstand. Der Anfang zeichnet eine Richtung eines weiteren, synthetisch einheitlichen (obgleich vielleicht vieldeutig fortzuführenden) Vollzugsprozesses vor, in dem sich Phase für Phase die ihm vom Einsatz und den bisherigen Vollzügen zugewachsene Tendenz erfüllt, aber zugleich tendenziös sich forterstreckt und vorweist auf neue Erfüllungsstadien. So bis zum "Ende" oder bis zum Abbrechen, eventuell in der Form des Undsoweiter. Der Anfang hat also einen intentionalen Horizont, er weist über sich hinaus in einer leeren, erst in nachkommenden Verwirklichungen anschaulichen Weise; er verweist implizit auf einen kontinuierlichen synthetischen Prozeß (eventuell unbestimmt irgendeine der einzuschlagenden Richtungen einer Mehrdimensionalität von möglichen Prozessen), durch den eine kontinuierlich einheitliche Tendenz sich hindurcherstreckt. Sie hat im Ablauf kontinuierlich abgewandelte Erfüllungsmodi, einen jeden mit dem Charakter der intermediären Erfüllung, die noch horizontmäßig auf neue Erfüllungen verweist.

Zu allen intentionalen Erlebnissen gehört dieser wesensmäßige Unterschied im Modus der Tendenz, daß entweder "in" einem Erlebnis das Ich tätig lebt, in ihm auf die intentionale Gegenständlichkeit gerichtet, mit dieser beschäftigt ist, oder aber daß dies nicht der Fall ist; wobei günstigenfalls vom Erlebnis aus - Modus des Hintergrunderlebnisses - bzw. dem darin intentionalen Gegenstand ein weckender Zug auf das Ich hin stattfindet, ein weckender Reiz in verschiedener affektiver Kraft auf das (im Falle der Wachheit anderweitig schon tätige) Ich hingeht.


§ 19. Die erfahrende Ichtendenz als "Interesse"
am Erfahrenen und ihre Auswirkung im "Tun" des Ich.

Ein besonderer Fall der aufmerkenden intentionalen Erlebnisse, der im Vollzug stehenden Ichakte sind die doxischen, die auf Seiendes (in eventueller Modalisierung: möglicherweise Seiendes, vermutlich Seiendes, nicht Seiendes) gerichteten Akte; darunter gehören die anschauenden in verschiedenen Modis intentionaler Unmittelbarkeit bzw. Mittelbarkeit, letztlich die evidenten, die Seiendes selbst gebenden Erfahrungen, da auch Erfahrung und Anschauung so allgemein gefaßt werden kann, daß damit alle Akt- und Gegenstandsarten umspannt sind). Wenn wir im weiteren von Aufmerksamkeit, im Besonderen von Wahrnehmung und Erinnerung sprechen, sind immer die doxischen Akte gemeint.

Wie allgemein schon gesagt wurde, so ist es auch hier, daß der Einsatz der Zuwendung, des Aufmerkens auf das Seiende ein tendenziöses Verhalten, ein strebendes, ins Spiel setzt. Es ist ein verwirklichendes Streben, ein tuendes in seinen verschiedenen Abbruchs- oder Abschlußformen. Der Anfang des wahrnehmendenn Aktes mit der Zuwendung ist zwar schon ein Bewußtsein des Seins beim Objekt selbst - Wahrnehmen ist ja Bewußtsein der Erfassung des Objektes in seiner sozusagen leibhaften Gegenwart. Aber die Tendenz vom Ich her ist mit dem Einsatz der Zuwendung noch nicht zu ihrem Abschluß gekommen. Sie ist zwar auf das Objekt gerichtet, aber zunächst bloß abzielend darauf. Wir können sagen, es ist mit ihr ein Interesse am Wahrnehmungsgegenstand als seiendem erwacht. Wir sind auf ihn selbst kontinuierlich gerichtet, wir vollziehen das kontinuierliche Bewußtsein seines Erfahrens. Das Bewußtsein seines Daseins ist hierbei ein aktueller Glaube; vermöge der Einstimmigkeit, in der die Wahrnehmungserscheinungen in ursprünglicher Präsentation, Retention [Erinnerung - wp] und Protention [Erwartung von Zukünftigem - wp] abfließen als einer Einstimmigkeit kontinuierlicher Selbstbestätigung, ist der Glaube eine kontinuierliche Glaubensgewißheit, die in dieser Ursprünglichkeit des Gegenstandes in seinem leibhaften Gegenwärtigsein gewiß ist. Aber in dieser festen Richtung auf den Gegenstand, in der Kontinuität seines Erfahrens, liegt eine Intention, die über das Gegebene und seinen momentanen Gegebenheitsmodus hinaus tendiert auf ein fortgehendes plus ultra. Es ist nicht nur ein fortgehendes Bewußthaben, sondern ein Fortstreben zu einem neuen Bewußtsein als ein Interesse an mit dem weitergehenden Erfassen eo ipso [schlechthin - wp] sich einstellenden Bereicherung des gegenständlichen "Selbst". So geht die Tendenz der Zuwendung weiter als Tendenz auf eine vollkommene Erfüllung.

Das Affizierende zieht zunächst in ungeschiedener Einheit den Blick des Ich auf sich. Aber diese Einheit geht sogleich in ihre konstituierenden Momente auseinander; sie beginnen sich abzuheben; während das eine im Blickpunkt ist, sind die anderen als zum Gegenstand gehörig in die intentionale Einheit desselben thematisch hineinbezogen, und üben als das ihre Reize aus. Ebenso sind mit allem wirklich Gegebenen Horizonte geweckt; etwa wenn ich den ruhenden dinglichen Gegenstand von vorne sehe, ist im Horizont bewußt die ungesehene Rückseite; die Tendenz, die abzielt auf den Gegenstand, ist nun darauf gerichtetf, ihn auch von der anderen Seite zugänglich zu machen. Erst in dieser Bereicherung der Gegebenheit, dem Eindringen in die Einzelheiten und dem Gegebenwerden "von allen Seiten" geht die Tendenz aus dem anfänglichen Modus der Abzielung über in den Modus der Erzielung, der wieder seine verschiedenen Stufen hat: unvollkommene Erzielungen, partielle, mit Komponenten der unerfüllten Abzielung.

So wirkt sich die Tendenz in einem mannigfachen "Tun" des Ich aus. Sie geht darauf, die Erscheinung (Darstellung), die das Ich von einem äußeren Gegenstand hat, in andere und wieder andere "Erscheinungen vom selben Objekt" überzuführen. Sie bewegt sich in der geschlossenen Mannigfaltigkeit "möglicher Erscheinungen". Sie erstrebt immerfort neue Erscheinungsveränderungen, um sich den Gegenstand allseitig zur Gegebenheit zu bringen. Gerichtet ist sie dabei auf das eine identische Objekt, das sich in all den Erscheinungen "darstellt", denselben Gegenstand von der Seite und von jener Seite, von näher und ferner; aber die Tendenz geht darauf, das Etwas im Wie der einen Erscheinungsweise zu verwandeln in dasselbe Etwas im Wie anderer Erscheinungsweisen. Sie geht auf die "Erzeugung" immer neuer Erscheinungsweisen, die wir auch "Bilder" nennen können - ein Begriff von Bild, der natürlich mit Abbildung nichts zu tun hat, der aber durchaus sprachüblich ist; so wenn man etwa von einem Bild spricht, dasa man sich von einer Sache macht, womit gemeint ist, eben die Weise, wie man sie sieht, wie sie sich einem darstellt.

In diesem Sinn ist jeder Gegenstand der äußeren Wahrnehmung in einem "Bild" gegeben und er konstituiert sich in einem synthetischen Übergang von Bild zu Bild, wobei die Bilder als Bilder (Erscheinungen) von Demselben zu einer synthetischen Deckung kommen. Jede Wahrnehmung, die mir das Objekt in dieser Orientierung darbietet, läßt die Übergänge in die anderen Erscheinungen desselben Objekts, und zwar in gewissen Gruppen von Erscheinungen, praktisch offen; die Übergangsmöglichkeiten sind praktische Möglichkeiten, zumindest wenn es sich um ein Objekt handelt, das als unverändert dauerndes gegeben ist. Da gibt es also eine Freiheit des Durchlaufens derart, daß ich die Augen bewege, den Kopf bewege, meine Körperhaltung ändere, herumgehe, den Blick auf das Objekt gerichtet usw. Wir nennen diese Bewegungen, die zum Wesen der Wahrnehmung gehören und dazu dienen, den Wahrnehmungsgegenstand möglichst allseitig zur Gegebenheit zu bringen, Kinästhesen. Sie sind Auswirkungen der Tendenzen der Wahrnehmung, in gewissem Sinne "Tätigkeiten", obgleich nicht willkürliche Handlungen. Ich vollziehe damit (im allgemeinen) keine willkürlichen Akte. Unwillkürlich bewege ich die Augen usw., ohne dabei "an die Augen zu denken". Die betreffenden Kinästhesen haben den Charakter von tätigen subjektiven Verläufen; mit ihnen geht Hand in Hand, durch sie motiviert, ein Verlaufenn der wechselnden "zugehörigen" visuellen oder taktuellen "Bilder", während mir doch der Gegenstand in der ruhenden Dauer oder in seiner Veränderung "gegeben" ist. Ich bin einerseits in Bezug auf ihn rezeptiv und andererseits doch wieder produktiv. Das Sicheinstellen der Bilder steht "in meiner Macht"; ich kann die Reihe auch abbrechen lassen, ich kann z. B. die Augen schließen. Aber nicht in meiner Macht steht, daß, wenn ich die Kinästhesen ablaufen lasse, sich ein anderes Bild einstellt; ihm gegenüber bin ich bloß rezeptiv: wenn ich diesen oder jene Kinästhesen dem Objekt gegenüber ins Spiel bringe, werden sich diese oder jene Bilder einstellen. Das gilt für Ruhe wie für Bewegung, für Veränderung wie für Unveränderung.

So ist das Wahrnehmen, anhebend mit der ersten Zuwendung des Ich, belebt von Wahrnehmungstendenzen, Tendenzen des kontinuierlichen Übergehens von Apperzeptionen in neue Apperzeptionen, Tendenzen, die kinästhetischen Mannigfaltigkeiten zu durchlaufen und dadurch die "Bilder" zum Ablauf zu bringen. Eingestellt bin ich dabei immer auf das in den Bildern Erscheinende, sich Darstellende, und speziell auf diese oder jene seiner Momente, Formen usw. Dieses Spiel von Tendenzen, der tendenziös geregelte Ablauf von motivierenden Kinästhesen, gehört zum Wesensbestand der äußeren Wahrnehmung. Es sind alles tätige Abläufe, Abläufe von Tendenzen, die sich im Verlauf entspannen.

Bei der hisherigen Beschreibung war vorausgesetzt, daß die Tendenzen der Wahrnehmung sich nach der ersten Zuwendung auswirken, und daß dieses Auswirken weiterhin im Licht der Zuwendung vor sich geht. Nun können aber auch die Objekte meines Sehfeldes z. B. ihre Reize ausüben und Tendenzen entfalten, denen ich mit Augenbewegungen nachgebe, ohne daß ich aufmerksam zugewendet bin. Diese apperzeptiven Verläufe als tätige Verläufe sind möglich ohne Zuwendung des Ich. Andererseits macht es erst die Zuwendung, bzw. das Vollziehen der Apperzeptionen in der Zuwendung des Ich, in der Form des "ich nehme wahr", daß das Objekt mein Objekt, Objekt meines Betrachtens ist, und daß das Betrachten selbst, das Durchlaufen der Kinästhesen, das motivierte Ablaufenlassen der Erscheinungen mein Durchlaufen ist, mein Betrachten des Gegenständlichen durch die Bilder hindurch. Im Cogito lebt das Ich und das gibt allem Gehalt des Cogito seine besondere Ichbeziehung. Die Zuwendung ist selbst charakterisiert als ein "ich tue", und ebenso ist das Wandern der Strahlen des aufmerkenden Blickes, des Blickes im Modus der Zuwendung, ein "ich tue". Es scheidet sich also
    1. ein Tun, das kein "Ich-tun" ist, ein Tun vor der Zuwendung;

    2. das Ich-tue, das aber, wie gesagt, auch noch nichts von einem willkürlichen Handeln in sich schließen muß: unwillkürlich bewege ich die Augen, während ich aufmerksam dem Gegenstand zugewendet bin.

§ 20. Engerer und weiterer Begriff von Interesse

Wir sprachen auch von einem Interesse, das mit der Zuwendung zum Gegenstand erwacht ist. Nun zeigt sich, daß dieses Interesse noch nichts mit einem spezifischen Willensakt zu tun hat. Es ist kein Interesse, das so etwas wie Absichten und willentliche Handlungen aus sich hervortreibt. Es ist bloß ein Moment des Strebens, das zum Wesen der normalen Wahrnehmung gehört. Daß wir dabei von Interesse sprechen, hat seinen Grund darin, daß mit diesem Streben Hand in Hand ein Gefühl geht, und zwar ein positives Gefühl, das aber nicht zu verwechseln ist mit einem Wohlgefühl am Gegenstand. Es kann zwar auch sein, daß der Gegenstand selbst unser Gefühl berührt, daß er uns wert ist, und daß wir uns ihm darum zuwenden und bei ihm verweilen. Aber ebensogut kann es sein, daß er ein Unwert ist und gerade durch seine Abscheulichkeit unser Interesse erweckt. So ist das Gefühl, das zum Interesse gehört, ein ganz eigentümlich gerichtetes. In jedem Fall - sei es, daß der Gegenstand durch seinen Wert oder durch seinen Unwert, den wir daran erfühlen, unsere Zuwendung motiviert - notwendig wird sich, sobald wir ihn erfassen, sein Sinnesgehalt bereichern, teils durch seine bloße anschauliche Fortdauer in der Wahrnehmung, teils durch die dabei erfolgende Weckung seiner dunklen Horizonte, die bezogen sind auf Möglichkeiten und Erwartungen von immer neuen Bereicherungen. Daran knüpft sich ein eigenes Gefühl der Befriedigung an dieser Bereicherung, und mit der Beziehung auf diesen Horizont sich erweiternder und steigernder Bereicherung ein Streben, dem Gegenstand "immer näher zu kommen", sich sein Selbst immer vollkommener zuzueignen. Auf höherer Stufe kann dieses Streben dann auch die Form eines eigentlichen Willens annehmen, des Willens zur Erkenntnis, mit absichtlichen Zielsetzungen usw. Doch das kommt hier, wo wir uns in der Sphäre der bloßen Wahrnehmung und der sich daran schließenden eingehenden Betrachtung befinden, noch nicht in Frage.

Von dem hier entwickelten Begriff des Interesses ist ein anderer, weiterer zu unterscheiden. Dieses Streben, in den Gegenstand einzugehen, und die Befriedigung an der Bereicherung seines Selbst stellt sich nicht ein, wenn ich dem Gegenstand bloß überhaupt zugewendet bin, sondern nur dann, wenn ich ihm zugewendet bin im spezifischen Sinn des Themas. Thema in diesem prägnanten Sinn und Gegenstand der Ichzuwendung fallen nicht immer zusammen. Ich kann mit etwas, z. B. mit einer wissenschaftlichen Arbeit, thematisch beschäftigt sein und werde darin durch einen Lärm von der Straße her gestört. Er dringt auf mich ein, und ich wende mich ihm für einen Augenblick zu. Gleichwohl ist damit mein bisheriges Thema nicht fallengelassen, sondern nur für den Augenblick in den Hintergrund getreten. Es bleibt aber dabei mein Thema, zu dem ich, wenn die Störung vorüber ist, sogleich wieder zurückkehre. Mit Beziehung darauf kann man einen weiteren Begriff von Interesse, bzw. von Akten des Interesses bilden. Unter solchen sind dann nicht nur diejenigen verstanden, in denen ich einem Gegenstand thematisch, etwa wahrnehmend und dann eingehend betrachtend zugewendet bin, sondern überhaupt jeder Akt der, sei es einer vorübergehenden oder dauerhaften Ichzuwendung, des Dabeiseins (inter-esse) des Ich.


§ 21. Die Hemmung der Tendenzen und der Ursprung
der Modalisierungen der Gewißheit.

Kehren wir nun wieder zum Interesse im ersten und eigentlichen Sinn zurück. In der Auswirkung seines tendenziösen Fortstrebens zu immer neuen Gegebenheitsbeweisen desselben Gegenstandes kommt die konkrete Wahrnehmung zustande. Diese Tendenzen können sich ungehemmt oder gehemmt auswirken.

Das besagt Folgendes: Die Tendenzen sind kein bloß blindes Forstreben zu immer neuen Gegebenheitsbeweisen des Gegenstandes, sondern sie gehen Hand in Hand mit Erwartungshorizonten, mit protentionalen Erwartungen, die sich auf das beziehen, was im weiteren Verlauf der wahrnehmenden Betrachtung vom Gegenstand zur Gegebenheit kommen wird, Erwartungen etwa hinsichtlich der bisher noch ungesehenen Rückseite. So ist jede Wahrnehmungsphase ein Strahlensystem von aktuellen und potenziellen Erwartungsintentionen. Im Normalfall der Wahrnehmung, im ungehemmten kontinuierlichen Ablaufen der Phasen, in der gewöhnlich schlechthin so genannten Wahrnehmung, findet ein kontinuierlicher Prozeß der aktualisierenden Erregung, dann der stetigen Erfüllung der Erwartungen statt, wobei die Erfüllung zugleich immer auch eine Näherbestimmung des Gegenstandes ist. Die Befriedigung des Interesses, die Erfüllung der Tendenzen im Fortstreben von Wahrnehmungsphase zu Wahrnehmungsphase, von Gegebenheitsweise zu Gegebenheitsweise des Gegenstandes, ist in eins mit der Erfüllung der Erwartungsintentionen. Das ist der Normalfall des ungehemmten Ablaufens der Intentionen; der Gegenstand steht dann in einer schlichten Glaubensgewißheit als seiend und so seiend vor uns.

Der Gegenfall ist der, daß die Tendenzen gehemmt werden. Dann bleibt es etwa bei einem Bild vom Gegenstand. Er kommt nicht allseitig, sondern nur "von dieser Seite" zur Gegebenheit. Dann bricht das Wahrnehmen ab, se es nun weil der Gegenstand aus dem Wahrnehmungsfeld verschwindet oder von einem anderen, sich davorschiebenden verdeckt wird, oder daß er uns zwar immer noch wahrnehmbar vor Augen steht, aber ein anderes stärkeres Interesse sich geltend macht, zu einer anderen thematischen Beschäftigung Anlaß gibt und das Interesse am Gegenstand verdrängt, ohne daß es zur vollen Auswirkung und Erfüllung seiner Tendenz gekommen ist. Das Interesse bleibt mehr oder weniger unbefriedigt.


a) Der Ursprung der Negation

Aber auch in anderer Weise können Hemmungen im Erfüllungsverlauf der Tendenzen eintreten: das Wahrnehmungsinteresse am Gegenstand kann andauern; er wird weiter betrachtet, ist weiter so gegeben, daß er betrachtet werden kann. Jedoch statt der Erfüllung der Erwartungsintention tritt eine Enttäuschung ein. Es wird z. B. eine gleichmäßig rote Kugel betrachtet; eine Strecke lang ist der Wahrnehmungsverlauf so abgeflossen, daß diese Auffassung sich einstimmig erfüllt. Aber nun zeigt sich im Fortgang des Wahrnehmens allmählich ein Teil der zuvor unsichtig gewesenen Rückseite, und entgegen der ursprünglichen Vorzeichnung, die da lautet "gleichmäßig rot, gleichmäßig kugelförmig", tritt das die Erwartung enttäuschende Bewußtsein des Anders auf: "nicht rot, sondern grün", "nicht kugelig, sondern eingebeult". Dabei ist aber unter allen Umständen, damit noch eine Einheit eines intentionalen Prozesses erhalten bleiben kann, ein gewisses Maß durchgehender Erfüllung vorausgesetzt. Korrelativ: eine gewisse Einheit des gegenständlichen Sinnes muß sich durchhalten durch den Abfluß wechselnder Erscheinungen hindurch. Nur so haben wir im Ablauf des Erlebnisses mit seinen Erscheinungen die Einstimmigkeit eines Bewußtsein, eine einheitliche, alle Phasen übergreifende Intentionalität, hier die Einheit des Wahrnehmungsbewußtseins von diesem Gegenstand und die Einheit der tendenziösen Richtung auf eine Betrachtung dieses Gegenstandes. Ein einheitlicher Sinnesrahmen hält sich also durch in fortlaufender Erfüllung; nur ein Teil der vorzeichnenden Erwartungsintention, der eben zu der betreffenden Oberflächenstelle gehörige, ist betroffen, und der entsprechende Teil des gegenständlichen Sinnes (des vermeinten Gegenstandes als solchen) erhält den Charakter des "nicht so, vielmehr anders". Dabei tritt ein Widerstreit ein zwischen den noch lebendigen Intentionen und den in neugestifteter Originalität auftretenden Sinnesgehalten. Aber nicht nur Widerstreit: der neu konstituierte gegenständliche Sinn in seiner Leibhaftigkeit wirft seinen Gegner gleichsam aus dem Sattel; indem er ihn, der nur leer vorerwartet war, mit seiner leibhaftigen Fülle überdeckt, überwältigt er ihn. Der neue gegenständliche Sinn "grün" in seiner impressionalen Erfüllungskraft hat die Gewißheit in einer Urkraft, die die Gewißheit der Vorerwartung als rot-seiend überwältigt. Als überwältigte ist sie nun noch bewußt, aber mit dem Charakter des "nichtig". Andererseits fügt das "grün" sich dem übrigen Sinnesrahmen ein. Das "grün und eingebeult seiend" das in der neuen Wahrnehmungsphase auftritt, und der ganze Aspekt des Dings von der betreffenden Seite, setzt die vorangegangene Erscheinungsreihe, die retentional noch bewußte, dem Sinn nach in einem einstimmigen Zug fort.

Freilich erfolgt dabei eine gewisse Verdoppelung im gesamten Sinnesgehalt der Wahrnehmung: so wie das erwartete Neue und "Andere" den im bisherigen Wahrnehmungszug protentional vorgezeichneten Sinn "rot und kugelförmig" überdeckt und nichtig macht, so geschieht Entsprechendes auch rückwirkend in der ganzen bisherigen Reihe. Das heißt der Wahrnehmungssinn ändert sich nicht bloß in der momentanenk neuen Wahrnehmungsstrecke; die noematische Wandlung strahlt in Form einer rückwirkenden Durchstreichung zurück in die retentionale Sphäre und wandelt ihre aus den früheren Wahrnehmungsphasen stammende Sinnesleistung. Die frühere Apperzeption, die auf ein fortlaufendes "rot und gleichmäßig rund" abgestimmt war, wird implizit "umgedeutet" in "an der einen Seite grün und eingebeult". Wesensmäßig liegt darin, daß wenn wir die retentionalen Bestände, also die noch frisch bewußte, aber völlig dunkel gewordene Erscheinungsreihe, in einer expliziten Wiedererinnerung anschaulich machen würden, wir an allen ihren Horizonten nicht nur die alte Vorzeichnung in der alten Erwartungs- und Erfüllungsstruktur, wie sie damals ursprünglich motiviert war, erinnerungsmäßig finden, sondern darüber gelagert die entsprechend auf "grün und eingebeult" verweist; und das in einer Art, die die damit streitenden Momente der alten Vorzeichnung als nichtig charakterisiert. Sofern aber diese Sinnesmomente bloß Momente eines einheitlichen und in fester Einheitlichkeit organisierten Sinnes sind, ist der ganze Sinn der Erscheinungsreihe modal geändert und zugleich verdoppelt. Denn der alte Sinn ist noch bewußt, aber überlagert vom neuen und nach den entsprechenden Momenten durchstrichenen.

Damit ist das ursprüngliche Phänomen der Negation, der Nichtigkeit oder der "Aufhebung", des "anders" beschrieben. Was am Beispiel er äußeren Wahrnehmung analysiert wurde, gilt in analoger Weise für jedes andere Gegenstände setzen vermeinende (positionale) Bewußtsein und seine Gegenständlichkeiten. Es zeigt sich also, daß die Negation nicht erst Sache des prädikativen Urteilens ist, sondern daß sie in ihrer Urgestalt bereits in der vorprädikativen Sphäre der rezeptiven Erfahrung auftritt. Um welche Arten von Gegenständlichkeiten es sich handelt, immer ist für die Negation wesentlich die Überlagerung eines neuen Sinnes über einen bereits konstituierten in eins mit dessen Verdrängung; und korrelativ in noetischer Richtung die Bildung einer zweiten Auffassung, die nicht neben der ersten, verdrängt liegt, sondern über ihr und mit ihr streitet. Es streitet der Glaube mit Glaube, Glaube des einen Sinngehalts und Anschauungsmodus mit dem eines anderen Sinngehaltes in seinem Anschauungsmodus.

In unserem Beispiel besteht der Streit in der eigentümlichen "Aufhebung" einer antizipierenden Intention, einer Erwartung durch eine neue Impression, wofür Enttäuschung nur ein anderer Ausdruck ist; und zwar ist es die Aufhebung nach einem beschlossenen Bestandsstück, während nach dem Übrigen sich eine Einstimmigkeit der Erfüllung forterhält. Das unmittelbar von der Aufhebung Betroffene, das primär den Charakter des "nicht" Tragende, ist das gegenständliche Moment rot und sein antizipiertes "seiend". Erst in der Konsequenz davon ist nun im Glauben das Ding selbst als das Substrat des prätendierten Rot durchgestrichen: das als überall rot seiend "gemeinte" Ding ist nicht; es ist dieses selbe Ding vielmehr an der und der Stelle grün. Nach der Wandlung, die die ursprünglich schlichte und normale Wahrnehmung vermöge der Durchstreichung erfahren hat, haben wir insofern wieder eine der normalen Wahrnehmung gleichende Wahrnehmung, als die mit der Durchstreichung Hand in Hand gehende Sinneswandlung eine Wahrnehmung von einheitlichem und durchgehend einstimmigem Sinn herstellt, in der wir fortgehend beständig eine Erfüllung der Intentionen finden: mit der Einsetzung von "grün und eingebeult" stimmt alles wieder. Aber ein Unterschied gegen früher besteht darin, daß für das Bewußtsein retentional auch das System der alten Wahrnehmungsauffassung erhalten bleibt, die sich partiell mit der neuen durchdringt. Diese alte ist noch bewußt, aber im Charakter der aufgehobenen. Man kann auch sagen, der alte Sinn wird für ungültig erklärt und ihm ein anderer als gültiger Sinn unterlegt. Das sind nur andere Ausdrücke für die Negation und Substitution eines neuen erfüllenden Sinnes für den intendierten. Es ergibt sich also:
    1. Die Negation setzt hier in der Ursprünglichkeit die normale ursprüngliche Gegenstandskonstitution voraus, die wir als normale Wahrnehmung, normal ungehemmte Auswirkung des Wahrnehmungsinteresses bezeichnen. Sie muß da sein, um ursprünglich modifiziert werden zu können. Negation ist eine Bewußtseinsmodifikation, die sich selbst ihrem eigenen Wesen nach als das ankündigt. Sie ist immer eine partielle Durchstreichung auf dem Boden einer sich dabei durchhaltenden Glaubensgewißheit, letztlich auf dem Boden eines universalen Weltglaubens.

    2. Die ursprüngliche Konstitution eines Wahrnehmungsgegenstandes vollzieht sich in Intentionen (bei der äußeren Wahrnehmung in apperzeptiven Auffassungen), die ihrem Wesen nach jederzeit durch eine Enttäuschung des protentionalen Erwartungsglaubens eine Modifikation annehmen können; diese hat in eins statt mit der hierbei wesensmäßig eintretenden Überlagerung gegeneinander gerichteter Intentionen.

b) Das Zweifels- und Möglichkeitsbewußtsein

Aber nicht nur das ursprüngliche Phänomen der Negation ist bereits in der vorprädikativen Sphäre zu finden; auch die sogenannten Modalitäten des Urteils, die ein Kernstück der traditionellen formalen Logik ausmachen, haben ihren Ursprung und ihre Grundlage in Vorkommnissen der vorprädikativen Erfahrung. Nicht immer muß es einfach zu einem glatten Bruch einer normal verlaufenden Wahrnehmung, zu einer glatten Enttäuschung einer der zu ihr gehörigen Erwartungsintentionen kommen. Anstelle der einfachen Durchstreichung kann auch ein bloßes Zweifelhaftwerden treten, wobei nicht ohne weiteres eine bisher schlicht geltende Wahrnehmungsauffassung durchstrichen wird. Der Zweifel stellt einen Übergangsmodus zur negierenden Aufhebung dar, der aber auch als Dauerzustand auftreten kann. Wir sehen etwa in einem Schaufenster eine Gestalt stehen, die wir zunächst für einen wirklichen Menschen halten, etwa einen gerade dort beschäftigten Angestellten. Dann aber werden wir schwankend, ob es sich nicht um eine bloße Kleiderpuppe handelt. Der Zweifel kann sich bei näherem Hinsehen nach der einen oder anderen Seite lösen; aber es kann auch eine Zeitlang ein Schwebezustand des Zweifels, ob Mensch oder Puppe, aufrechterhalten bleiben. Dabei überschieben sich zwei Wahrnehmungsauffassungen; die eine hält sich in der normal verlaufenen Wahrnehmung, mit der wir anfingen; wir sahen eine Weile einen Menschen da, einstimmig und unbestritten wie die anderen Dinge der Umgebung. Es waren normale, teils erfüllte, teils unerfüllte Intentionen, in der kontinuierlichen Folge des Wahrnehmungsprozesses sich normal erfüllend ohne jeden Widerstreit, ohne jeden Bruch. Dann aber erfolgt kein glatter Bruch in Form einer entschiedenen Enttäuschung, also kein Widerstreit einer Erwartungsintention gegen eine neu eintretende Wahrnehmungserscheinung mit einer Durchstreichung der ersteren; vielmehr erhält nun mit einem Mal der voll, konkrete Gehalt an eigentlicher Erscheinung einen sich darüber schiebenden zweiten Gehalt: die visuelle Erscheinung, die mit Farbigkeit erfüllte Raumgestalt, war vorher mit einem Hof von Auffangsintentionen ausgestattet, der den Sinn abgab "menschlicher Leib" und überhaupt "Mensch"; jetzt schiebt sich darüber der Sinn "bekleidete Puppe". Am eigentlich Gesehenen ändert sich nichts, ja gemeinsam ist auch noch mehr; beiderseits sind gemeinsam apperzipiert Kleider, Haare und dgl., aber einmal Fleisch und Blut, das andere Mal etwa bemaltes Holz. Ein und derselbe Bestand an Empfindungsdaten ist die gemeinsame Unterlage von zwei übereinander gelagerten Auffassungen. Keine von beiden ist während des Zweifels durchstrichen; sie stehen in einem wechselseitigen Streit, jede hat gewissermaßen ihre Kraft, ist durch die bisherige Wahrnehmungslage und ihren intentionalen Gehalt motiviert, gleichsam gefordert. Aber Forderung steht gegen Forderung, eines bestreitet das andere und erfährt von ihm das gleiche. Es bleibt im Zweifel ein unentschiedener Streit. Da die Leerhorizonte nur in eins mit dem gemeinsam anschaulichen Kern Gegenständlichkeit konstituieren, so haben wir danach ein Auseinandergehen der ursprünglichen normalen Wahrnehmung, die nur einen Sinn in Einstimmigkeit konstituierte, gewissermaßen in eine Doppelwahrnehmung. Es sind zwei sich vermöge des gemeinsamen Kerngehaltes durchdringende Wahrnehmungen. Und doch eigentlich nicht zwei, denn ihr Widerstreit besagt auch eine gewisse wechselseitige Verdrängung. Bemächtigt sich die eine Auffassung des gemeinsamen anschaulichen Kerns, ist sie aktualisiert, so sehen wir etwa einen Menschen. Aber die zweite Auffassung, die auf die Puppe geht, ist nicht zum Nichts geworden; sie ist unterdrückt, außer Kraft gesetzt. Dann springt etwa die Auffassung Puppe hervor; wir sehen eine Puppe, und dann ist die Menschauffassung die außer Funktion gesetzte, heruntergedrückte.

Die Verdoppelung ist also nicht wirklich eine Verdoppelung von Wahrnehmungen, obgleich der Grundcharakter der Wahrnehmung, das Leibhaftigkeitsbewußtsein, beiderseits besteht. Springt die Menschapperzeption in die Puppenapperzeption um, so steht zuerst der Mensch in seiner Leibhaftigkeit da und das andere Mal eine Puppe. Aber in Wahrheit steht keines von beiden da, so wie der Mensch vor Einsetzen des Zweifels dastand. Evidenterweise ist der Bewußtseinsmodus geändert, obschon der gegenständlich Sinn und seine Erscheinungsweise nach wie vor den Modus der Leiblichkeit hat. Gleichwohl ist der Glaubens-, bzw. Seinsmodus wesentlich geändert; die Weise, wie das leibhaftig Erscheinende bewußt ist, ist eine andere geworden. Statt daß es wie in der normalen, einsinnig und zugleich einstimmig verlaufenden Wahrnehmung als schlechthin-da bewußt ist, ist es nun bewußt als fraglich, als zweifelhaft, als strittig: bestritten durch ein anderes, durch ein leibhaft Gegebenes einer anderen Wahrnehmungsphase, sich mit ihm im Widerstreit durchdringend.

Man kann das auch so ausdrücken: das Bewußtsein, das originär, leibhaft bewußt macht, hat nicht nur den Modus der Leibhaftigkeit, der es vom vergegenwärtigenden Bewußtsein und Leerbewußtsein unterscheidet, die denselben gegenständlichen Sinn nicht in Leibhaftigkeit bewußt machen, sondern es hat auch einen wandelbaren Seins- oder Geltungsmodus. Die ursprüngliche, normale Wahrnehmung hat den Urmodus seiend, geltend schlechthin; es ist das die schlechthinnige naive Gewißheit; der erscheinende Gegenstand steht in unbestrittener und ungebrochener Gewißheit da. Das Unbestritten weist auf mögliche Bestreitungen oder gar Brüche hin, eben auf solche, wie die jetzt beschriebenen, mit denen sich im Zwiespältigkeitwerden eine Abwandlung des Geltungsmodus vollzieht. Im Zweifel haben die beiden miteinander streitenden Leibhaftigkeiten den gleichen Geltungsmodus "fraglich", und jedes Fragliche ist eben ein Bestrittenes, bestritten durch ein anderes.

All das gilt aber nicht nur für die momentane Wahrnehmungslage in der Jetztphase, sondern ebenso wie bei der Negation wirkt auch hier wesensmäßig der Widerstreit auf die bereits abgeflossenen Phasen zurück. Auch in ihnen zerfällt das einsinnige Bewußtsein in ein mehrsinniges: d. h. das Zwiespältigwerden mit seiner apperzeptiven Überschiebung setzt sich in das retentionale Bewußtsein hinein fort. Vollziehen wir dann explizit eine Vergegenwärtigung der dem Zweifel vorangegangenen Wahrnehmungsstrecke, so ist sie nun nicht mehr wie eine sonstige Erinnerung in ihrer Einsinnigkeit da, sondern sie hat dieselbe Verdoppelung angenommen; überall ist über die Menschapperzeption die Puppenapperzeption gelagert. Das gleiche gilt für die Wiedererinnerung. Vermöge der Rückstrahlung in die Retention und damit in die explizierende Wiedererinnerung vollzieht sich auch in ihr eine Modalisierung. Natürlich haben wir dabei nur Vergangenheitsstrecken im Auge für Dasselbe, das jetzt noch fortdauert als leibhaft gegenwärtig. Während die normale Erinnerung, dadurch daß sie die Reproduktion einer normalen Wahrnehmung ist, das Reproduzierte im normalen Geltungsmodus der Gewißheit als gewiß seiend bewußt macht, bietet die durch jene Rückstrahlung mit Zwiespältigkeit behaftete Erinnerung den geänderten Geltungsmodus des "fraglich", fraglich ob so oder so gewesen, gewesen als Mensch oder als Puppe.

Auch in diesem Fall des Zweifelhaftwerdens liegt, ebenso wie bei der Negation, eine Hemmung im Erfüllungsverlauf des tendenziösen Wahrnehmungsinteresses vor. Es kommt zwar nicht zur Hemmung der Wahrnehmungstendenzen in Form der glatten Enttäuschung wie bei der Negation, aber doch auch nicht zu einer einstimmigen Befriedigung und Erfüllung der zum Wahrnehmen gehörigen Erwartungsintentionen. Ihr Ablauf und damit die Befriedigung des Interesses ist in der Weise gehemmt, daß das Ich, dem Zug der Affektionen nachgebend, zu keiner schlichten Gewißheit gelangt, auch nicht zur Durchstreichung der Gewißheit, sondern es wird sozusagen zwischen Glaubensneigungen hin und her gezogen, ohne sich im Fall des Zweifels für eine entscheiden zu können. Es schwankt zwischen der Auffassung "Mensch" oder "Puppe". Die zur Wahrnehmung gehörigen vorgreifenden Erwartungsintentionen geben keine eindeutige, sondern eine zweideutige Vorzeichnung. Das führt zu einem bewußtseinsmäßigen Widerstreit mit einer Glaubensneigung für jede Seite. Nämlich indem das Ich die auf die eine Seite, auf die Auffassung als "Mensch" hingehenden Motivationen zunächst für sich aktualisiert, folgt es der dahin gehenden einstimmigen Forderung. Indem es sich ihr gleichsam ausschließlich hingibt, und das für die andere Seite "Puppe" Sprechende außer Aktion gesetzt bleibt, erfährt es seine Kraft der Anziehung, eine Neigung sich in Gewißheit zuzuwenden. Ebenso aber auch in der Aktualisierung der Gegenintentionen.

So modalisiert sich der normale Ichakt der Wahrnehmung mit seiner schlichten Glaubensgewißheit in den Akten, die wir Glaubensanmutungen nennen. Im Hinblick auf die noematische [gedachte - wp] Seite, die der bewußten Gegenstände, sprechen wir auch von Seinsanmutung. Das besagt, daß vom Gegenstand her die Affektion ausgeht, daß er sich ebenso wie sein feindlicher Partner dem Ich als seiend und so seiend anmutet. Dieses Anmutliche nennen wir auch (außerhalb der Beziehung zum Ich betrachtet) möglich; in diesem Streit von Glaubensmeinungen, korrelativ von Seinsanmutungen hat ein Begriff von Möglichkeit seinen Ursprung. Möglich-sein, Möglichkeit ist also ein Phänomen, das ebenso wie die Negation bereits in der vorprädikativen Sphäre auftritt und da am ursprünglichsten zuhause ist. Es sind in diesem Fall problematische Möglicheiten, die miteinander im Streit liegen. Wir können sie auch fragliche Möglichkeiten nennen. Denn die im Zweifel entspringende Intention auf Entscheidung eines der anmutlichen Zweifelsglieder heißt fragende Intention. Nur wo Anmutungen und Gegenanmutungen im Spiel sind, für die und gegen die etwas spricht, kann von Fraglichkeit gesprochen werden. Der bezeichnendste Ausdruck für diese Art von Möglichkeit ist aber die anmutliche Möglichkeit.

Nur in diesem Fall von Möglichkeiten, für die etwas spricht, kann auch von Wahrscheinlichkeit die Rede sein: für die eine der beiden Seiten kann aus der gesamten Wahrnehmungslage her die Glaubensneigung, bzw. die Seinsanmutung größer sein, für die andere geringer: "es ist wahrscheinlich, daß es ein Mensch ist". Es spricht mehr für die Möglichkeit, daß es ein Mensch ist. Wahrscheinlichkeit bezeichnet somit das Gewicht, das den Seinsanmutungen zukommt. Das Anmutliche ist mehr oder weniger anmutlich, und zwar gilt das auch im Vergleich aller eventuell vielfältigen problematischen Möglichkeiten, die in ein und denselben Streit gehören und durch ihn synthetisch verknüpft sind: denn auch der Widerstreit, die Spaltung eines Bewußtseins in eine wechselseitige Hemmung schafft eine Einheit; noematisch ist es die Einheit des Gegeneinander, der damit aneinander gebundenen Möglichkeiten.


c) Problematische Möglichkeit und
offene Möglichkeit

Die Eigenart der problematischen Möglichkeit, die aus der Zweifelslage entspringt, wird noch deutlicher hervortreten, wenn wir sie mit einer anderen Art von Möglichkeit kontrastieren, die wir als offene Möglichkeit bezeichnen, und deren Auftreten auch in der Struktur des Wahrnehmungsverlaufes, und zwar des ungehemmt, ungebrochen vor sich gehenden Wahrnehmungsverlaufes begründet ist. Freilich, was im apperzeptiven Horizont einer Wahrnehmung intentional vorgezeichnet ist, ist nicht möglich, sondern gewiß. Und doch liegen in solchen Vorzeichnungen allzeit Möglichkeiten, ja Umfänge mannigfaltiger Möglichkeiten beschlossen. Die Vorzeichnung, welche in der Wahrnehmung eines Dinges von der Vorderseite für die unsichtigen Seiten gegeben ist, ist eine unbestimmt allgemeine. Diese Allgemeinheit ist ein noetischer Charakter des leer vorweisenden Bewußtseins und korrelativ für das Vorgezeichnete ein Charakter seines gegenständlichen Sinnes. Zum Beispiel die Farbe der dinglichen Rückseite ist nicht als eine ganz bestimmte Farbe vorgezeichnet, und eventuell noch mehr. Ist die Vorderseite bemustert, so werden wir auch für die Rückseite das durchgehende Muster erwarten; ist es eine gleichmäßige Farbe mit allerlei Flecken, so allenfalls Flecken auch für die Rückseite usw. Aber Unbestimmtheit bleibt auch da. Diese Vorweisung hat nun, wie alle sonstigen Intentionen in der normalen Wahrnehmung den Modus der naiven Gewißheit; aber sie hat diesen Modus eben nach dem, was sie bewußt macht, und so wie, mit dem Sinn, in dem sie bewußt macht. Gewiß ist "irgendeine Farbe überhaupt", oder eine "mit Flecken unterbrochene Farbe überhaupt" und dgl. also die unbestimmte Allgemeinheit.

Natürlich ist der Gebrauch dieser Rede von Allgemeinheit hier nur ein Notbehelf indirekter, auf die Phänomene selbst hindeutender Beschreibung. Denn an logische Begriffe, an klassifizierende oder generalisierende Allgemeinheit ist hier nicht zu denken, vielmehr einfach an diese Vormeinung der Wahrnehmung, wie sie in ihr ist mit ihrem Bewußtseinsmodus der Unbestimmtheit.

Zum allgemeinen Wesen jeder leeren Intention, also auch einer solchen unbestimmten Vordeutung gehört ihre Explizierbarkeit in Gestalt von Vergegenwärtigungen. Wir können uns in Freiheit, etwa dadurch, daß wir uns vorstellen, wir gingen um den Gegenstand herum, veranschaulichende Vergegenwärtigungen vom Unsichtigen bilden. Tun wir das, so treten Anschauungen mit ganz bestimmten Farben auf. Aber wir können diese Farben offenbar innerhalb des Unbestimmtheitsrahmens frei variieren. Das sagt, sind wir rein auf bloße Veranschaulichung gerichtet, also auf eine Quasi-Erfüllung der Wahrnehmung durch vergegenwärtigte Wahrnehmungsreihen, so wird sich zwar jeweils eine konkrete Anschauung mit bestimmter Farbe einstellen; jedoch dieses bestimmte ist nicht vorgezeichnet gewesen, also auch nicht gefordert: das Vergegenwärtigte steht als gewiß, und zwar als die Rückseite da, aber eben in einem Unbestimmtheitsbewußtsein. Wenn sich andere vergegenwärtigende Anschauungen einstellen mit anderen Farben, so erstreckt sich die Gewißheit auf diese ebensowenig; für keine von ihnen ist im Voraus irgendetwas ausgemacht, keine ist gefordert.

Das gilt für die vorvergegenwärtigende Anschauung des bisher noch Unsichtigen. Kontrastieren wir sie mit Fehlen einer wirklichen Erfüllung im wirklichen Fortgang der Wahrnehmung, so ist in ihr die die unbebstimmte Vorzeichnung erfüllende Farberscheinung in sich selbst als gewiß charakterisiert. Hier erfolgt, und in Gewißheit, bestimmende Besonderung und damit Steigerung der Kenntnis. Die neu auftretende Wahrnehmungsstrecke bringt in ihrem Gewißheitsgehalt das unbestimmt Allgemeine, das vorgezeichnet war, in einer näher bestimmenden Konkretion, die, von der Einheit der Wahrnehmungsgewißheit umspannt, die Vorzeichnung, Vorerwartung einheitlich erfüllt. Die Erfüllung ist zugleich ein Zuwachs der Kenntnis. Bei der illustrierenden Vergegenwärtigung aber ist das nicht der Fall; jede andere Farbe kann für die gerade auftretende ebensogut dienen. Die Vergegenwärtigung ist nur insofern mit dem Gewißheitsmodus ausgestattet, als sie trotz der bestimmten, in ihr auftretenden Färbung ihren Unbestimmtheitsmodus in Bezug auf sie innehält. Nur dadurch unterscheidet sie sich ja von einer bestimmten Erinnerung, wie wir sie haben würden, wenn wir nach der wirklichen Wahrnehmung von der Rückseite diese uns wiedervergegenwärtigen.

Danach versteht es sich, daß jede bloß veranschaulichende Vergegenwärtigung vor der wirklichen Kenntnisnahme hinsichtlich des quasi-bestimmenden Inhaltes einen modalisierten Gewißheitscharakter haben muß. Aber diese Ungewißheit hat das Auszeichnende, daß in ihr die zufällig gegebene Farbe eben eine zufällige ist, für die nicht etwas Beliebiges, sondern nur jede andere Farbe eintreten könnte. Mit anderen Worten: die allgemeine Unbestimmtheit hat einen Umfang freier Variabiliät; was in ihn hineinfällt, das ist in gleicher Weise implizit mit umspannt und doch nicht positiv motiviert, positiv vorgezeichnet. Es ist ein Glied eines offenen Umfangs von Näherbestimmungen, die dem Rahmen einpaßbar, aber darüber hinaus völlig ungewiß sind. Das macht den Begriff der offenen Möglichkeit aus. Sie bezeichnet eine total verschiedene Art der Modalisierung gegenüber der problematischen Möglichkeit, weil das modalisierende Bewußtsein beiderseits grundverschiedenen Ursprungs ist. Bei der problematischen Möglichkeit liegen durch die Wahrnehmungslage motivierte, miteinander im Streit stehende Glaubensneigungen vor. Es ist eine Möglichkeit, für die etwas spricht, die jeweils ihr Gewicht hat. Bei der offenen Möglichkeit ist von einem Gewicht keine Rede. Es sind keine Alternativen da, sondern innerhalb eines bestimmten Rahmens der Allgemeinheit sind alle möglichen Besonderungen in gleicher Weise offen. Die Modalisierung besteht hier darin, daß eine unbestimmt allgemeine Intention, dies selbst den Modus der Gewißheit hat, in gewisser Weise eine Abschichtung ihrer Gewißheit implizit hinsichtlich aller erdenklichen Besonderungen in sich trägt. Ist z. B. in unbestimmter Allgemeinheit eine gefleckte Farbigkeit in Gewißheit gefordert, so ist die Erfüllung insofern gebunden, als es eben "irgendeine" Farbigkeit mit "irgendwie" geformten Flecken sein muß; und jede Besonderheit dieses Typus erfüllt diese Forderung in gleicher Weise.

Von einem Urmodus der schlicht naiven Gewißheit aus läßt sich also eine geschlossene und exakt umgrenzte Gruppe von Modalitäten dadurch bestimmen, daß sie Modalisierungen sind vermöge des Streites, nämlich einer ursprünglich schlicht gewissen Forderung mit Gegenforderungen. IN diesen Kreis gehört das problematische Bewußtsein mit seinen problematischen Möglichkeiten. Grundwesentlich sind demnach zu scheiden die Modalitäten aus Widerstreit und die Modalitäten der offenen Besonderung. Beides zusammen macht einen bestimmten Begriff von Glaubens- bzw. Seinsmodalität aus. Die Modalisierung steht hier in einem Gegensatz zur Glaubens- bzw. Seinsgewißheit.


d) Der Doppelsinn der Rede von Modalisierung

Aber auch noch in einem anderen Sinn kann von Modalisierung gesprochen werden. Eine nochmalige Betrachtung des Zweifelsphänomens wird das deutlich machen. Zum Wesen des Zweifels gehört die Möglichkeit der Lösung und eventuellen aktiven Entscheidung. Der Zweifel selbst heißt im Gegensatz zu ihr Unentschiedenheit, das Bewußtsein unentschiedenes Bewußtsein. Auf dem Gebiet der Wahrnehmung vollzieht sich die Entscheidung notwendig in der Form (als der ursprünglichsten Entscheidungsform), daß sich im Fortgan zu neuen Erscheinungen (etwa in freier Inszenierung entsprechender kinästhetischer Abläufe) dem einen der miteinander streitenden Leerhorizonte eine passende, erwartungsgemäße Fülle einfügt. Abgewandelte oder völlig neue Empfindungsdaten, die auftreten, fordern unter der gegebenen intentionalen Lage Auffassungen, welche die Komplexe unbestritten gebliebener Intentionen so ergänzen, daß die Quelle des Streites verstopft und das den Zweifel speziell Motivierende durch die Kraft einer neuen Impression aufgehoben wird. Wir treten näher heran, wir fassen eventuell auch tastend zu, und die eben noch zweifelhafte Intention auf Holz (statt menschlichen Leib) erhält den Gewißheitsvorzug. Sie erhält ihn durch die einstimmige Überleitung in neue Erscheinungen, die mit der Menschauffassung nach ihren unerfüllten Horizonten nicht stimmen und sie durch ihre erfüllende Wucht der Leibhaftigkeit negieren. Es findet also nach der einen Seite, und zwar nach der Seite der die ursprüngliche Wahrnehmung fortleitenden, als zweifelhaft modalisierten Menschauffassung in dieser Entscheidung eine Verneinung statt. Im Gegenfall wäre für sie eine Bejahung eingetreten, oder was dasselbe ist, eine Bestätigung der ursprünglichen, aber hinterher zweifelhaft gewordenen Wahrnehmung. Das leibhaft Erscheinende erhielte dann den modalen Geltungscharakter "ja", "wirklich". In gewisser Weise ist also auch das bestätigende Ja wie das Nein, obwohl es Gewißheit des Glaubens und Seins gibt, eine Modifikation gegenüber dem ganz ursprünglichen, ganz unmodifizierten Urmodus der gewissen Geltung, in dem sich einsinnig und ganz streitlos die schlichte Konstitution des Wahrnehmungsgegenstandes vollzieht. So erhält die Rede von der "Modalisierung" eine Doppeldeutigkeit. Einmal kann gemeint sein jede Wandlung des Geltungsmodus gegenüber dem ursprünglichen, der sozusagen naiven Gewißheit, der nicht durch ein Zwiespältigwerden, also durch einen Zweifel gebrochen ist. Andererseits kann gemeint eine Wandlung des Geltungsmodus der Gewißheit gemeint sein, wodurch sie aufhört Gewißheit zu sein (die Modalisierungen nach Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit usw. im oben betrachteten Sinn). Der Urmodus ist Gewißheit, aber in der Form schlichtester Gewißheit. Sowie im Durchgang durch den Zweifel eine bejahende oder verneinende Entscheidung eintritt, haben wir eine Wiederherstellung der Gewißheit. Was sich als "in der Tat" wirklich oder als nicht-wirklich herausstellt, wird von neuem gewiß. Und doch ist nun das Bewußtsein geändert. Der Durchgang durch den Zweifel zur Entscheidung gibt dem Bewußtsein eben den Charakter des entscheidenden und seinem noematischen Sinn den entsprechenden Charakter, der sich dann im "ja", "in der Tat", "wirklich so" und dergleichen Redewendungen ausdrückt.

Indessen wenn wir von Entscheidung im eigentlichen Sinne sprechen, werden wir bereits über die Sphäre der Rezeptivität hinausgeführt in den Bereich spontaner Stellungnahmen des Ich. In der rezeptiven Wahrnehmung handelt es sich dagegen nur um passiv verlaufende Synthesen, die sich einstimmig durchhalten oder im Widerstreit zerbrechen, oder im Durchgang durch das Schwanken von Auffassungen wieder zur Einstimmigkeit und Lösung des "Zweifels" führen. Alle diese Phänomene sind es, die dann auf der höheren Stufe Anlaß zur Bildung von Urteilsmodalitäten im üblichen Sinne, von modalisierten prädikativen Urteilen abgeben. Das wird an späterer Stelle zu verfolgen sein. Die Lehre von den Urteilsmodalitäten hängt in der Luft, wenn sie bloß im Hinblick auf das prädikative Urteil entwickelt wird, wie es in der Tradition der Fall ist, wenn nicht der Ursprung all dieser Phänomene der Modalisierung in der vorprädikativen Sphäre aufgesucht wird. Und hier begreifen wir die Modalisierungen als Hemmungen im Ablauf des ursprünglichen Wahrnehmungsinteresses. In einer solchen Ursprungserklärung zeigt es sich, daß die schlichteste Glaubensgewißheit die Urform ist, und daß alle anderen Phänomene wie Negation, Möglichkeitsbewußtsein, Wiederherstellung der Gewißheit durch Bejahung oder Verneinung sich erst durch eine Modalisierung dieser Urform ergeben und nicht gleichwertig nebeneinander stehen.

Vnn dieser Art gehemmter Auswirkung des Wahrnehmungsinteresses, also der Hemmung als Modalisierung, ist die erstgenannte zu unterscheiden, die Hemmung der Tendenzen als Abbruch des Wahrnehmungsverlaufes; sei es nun, daß der Abbruch seinen Grund hat in der Gegebenheitsweise des Gegenstandes (Verschwinden aus dem Wahrnehmungsfeld, Verdecktwerden usw.) oder in der Verdrängung des Interesses an dem noch immer wahrnehmungsmäßig Gegebenen durch ein anderes stärkeres Interesse. Beide Arten der Hemmung können zusammenwirken und sich wechselseitig bedingen. Der Abbruch des Wahrnehmungsverlaufes kann einen nachträglichen und dann unlösbaren Zweifel, eine rückwirkende Modalisierung des bereits vom Gegenstand Gesehenen im Gefolge haben, oder die Modalisierung kann einen Abbruch motivieren, ein Erlahmen des Interesses an dem hinsichtlich seiner Beschaffenheit zweifelhaft gewordenen oder als nicht so, sondern anders (z. B. Kleiderpuppe statt Mensch) sich erweisenden Gegenstand.
LITERATUR Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil, Prag 1939
    Anmerkungen
    1) vgl. dazu unten § 38.
    2) vgl. dazu unten § 44f.
    3) Es ist dabei noch einmal daran zu erinnern, daß hier die Rede von einem Objekt, einem Gegenstand, eine uneigentliche ist. Denn wie schon mehrfach betont, kann man im Bereich der ursprünglichen Passivität im eigentlichen Sinne noch gar nicht von Gegenständen sprechen (vgl. auch oben)