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ALEXANDER LASURSKI
Über das Studium
der Individualität

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"All die unendlich mannigfaltigen Formen und Abarten der menschlichen Charaktere hängen vor allen Dingen damit zusammen, daß die verschiedenen Seiten ein und derselben zugrunde liegenden Organisation bei verschiedenen Menschen nicht gleich stark entwickelt sind."

"Die den Kern der Persönlichkeit des Menschen bildenden, intensiv entwickelten Neigungen erweisen sich in den meisten Fällen als eng miteinander verbunden. Dieses Untereinanderverbundensein der Neigungen ist es, wodurch hauptsächlich die Einheitlichkeit der Richtung, die das Seelenleben und die Tätigkeit des einzelnen Individuums beherrscht, bedingt wird."


Kapitel II.
Die neuropsychische Organisation

Im vorhergehenden Kapitel waren wir bestrebt, uns bloß auf die Tatsachen zu beschränken, die mittels Untersuchung der verschiedenen Seiten des Seelenlebens gewonnen werden. Die Neigung definierten wir als die Möglichkeit der Entstehung (bei Vorhandensein bestimmter Bedingungen) dieser oder jener Seite irgendeines psychischen Prozesses. Diese Definition ist zu Zwecken der Individualpsychologie oder Charakterologie vollkommen genügend. Indem die Individualpsychologie die Erörterung der Frage nach der Natur der Neigungen der Allgemeinpsychologie überläßt, benutzt sie die Neigungen bloß als Elemente, aus denen sie jene Komplexe konstruiert, welche wir Persönlichkeiten nennen.

Jedoch sind, beim gegenwärtigen Zustand der Psychologie, die Tatsachen und die Theorie noch so eng miteinander verbunden, daß es nicht selten schwer sein dürfte, festzustellen, wo die ersteren enden und die letztere beginnt. Außerdem kann der ausgedehnte Gebrauch, den wir vom Begriff der "psychischen Neigung" machen, uns den Vorwurf zuziehen, daß wir die Wiederbelebung der alten Vermögenstheorie samt allen ihren Fehlern und Mängeln erstreben. Das alles zwingt uns, im vorliegenden Kapitel unsere Ansicht von der Natur der Neigungen und ihren Wechselbeziehungen etwas genauer zu formulieren. Dabei werden wir die Unterschiede (und zwar sehr wesentliche Unterschiede) hervorheben, welche zwischen der empirischen Hypothese der psychischen Neigungen und der früheren, metaphysischen Vermögenstheorie bestehen.

Im ersten Kapitel ist schon darauf hingewiesen worden, daß unter den einzelnen Neigungen Verbindungen und Beziehungen stattfinden, die schließlich alle auf einige bestimmte Typen reduziert werden können. Diese Verbindungen werden nicht von zufälligen Einwirkungen der äußeren Umstände, sondern im Gegenteil von der Natur der Neigungen selbst bedingt. Infolge ihres Vorhandenseins dürfen unsere Hauptneigungen nicht als abgesonderte Substanzen oder Wesenheiten betrachtet werden, die miteinander nichts gemein haben. Im Gegensatz zu dieser letzten Ansicht, die sehr an die alte Vermögenstheorie erinnert, müssen wir annehmen, daß die Neigungen Teile ein und desselben Systems, Glieder ein und derselben organisierten Einheit sind. Diese Einheit wollen wir unter dem Namen der neuropsychischen oder biologischen Organisation verstehen. Dabei muß stets im Auge behalten werden, daß uns durchaus nicht die anatomische, sondern ausschließlich die funktionelle Seite dieser Organisation interessiert. Unsere neuropsychische Organisation ist durchaus nichts Unbewegliches, hinter den Prozessen Liegendes und diese aus sich Erzeugendes; sie selbst ist ein dauernder, sehr stabiler und ununterbrochener Prozeß, der sehr kompliziert und weitverzweigt ist, und dessen einzelne Teile bei Einwirkung der äußeren Anreizer neue, veränderliche und instabile Prozesse, die wir Äußerungen nennen, erzeugen.

Nun wird es uns möglich, eine endgültige Begriffsbestimmung der psychischen (genauer - der neuropsychischen) Neigung oder Fähigkeit zu geben: unter den Fähigkeiten verstehen wir verschiedene Seiten eines einheitlichen komplizierten und ununterbrochenen neuropsychischen Prozesses, der die subjektive Grundlage jeder menschlichen Persönlichkeit bildet. Einzelne Teile dieser komplizierten und weitverzweigten funktionellen Organisation können in ihrer Tätigkeit ziemlich unabhängig voneinander sein; genauer - Jeder von ihnen ist gewöhnlich eng mit einigen anderen, ihm irgendwie näher stehenden Teilen verbunden, während die Tätigkeit der übrigen Teile der neuropsychischen Organisation ihn nur wenig beeinflußt. Infolge dieser verhältnismäßigen Unabhängigkeit der einzelnen Fähigkeiten (bzw. der einzelnen Funktionen) kann die Potenz einer jeder von ihnen bei verschiedenen Menschen und zu verschiedenen Zeiten stark variieren, indem sie auf diese Weise die Grundlage der individuellen Züge der Persönlichkeit bildet. All die unendlich mannigfaltigen Formen und Abarten der menschlichen Charaktere hängen vor allen Dingen damit zusammen, daß die verschiedenen Seiten ein und derselben zugrunde liegenden Organisation bei verschiedenen Menschen nicht gleich stark entwickelt sind.

Die Frage nach der Art und Weise der Einwirkung der äußeren Anreizer auf diese oder jene Seiten der neuropsychischen Organisation gehört in das Gebiet der Erkenntnistheorie und befindet sich somit jenseits der Grenze unserer psychologischen Untersuchung. Dasselbe muß auch vom Begriff der psychischen Kraft oder psychischen Energie gesagt werden. Die Beobachtung lehrt uns, daß die einzelnen Fähigkeiten, die in ihrer Gesamtheit die menschliche Persönlichkeit bilden, in Bezug auf ihre Anspannung beständige Schwankungen erleiden (temporäre oder scheinbare Veränderungen der Persönlichkeit), wobei diese Schwankungen nicht allein vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein des Anreizers, sondern auch von der subjektiv bedingten Ab- und Zunahme der Tätigkeit der betreffenden Neigung (Wirkung der Ermüdung, der Erholung usw.) abhängen. Dabei können die einzelnen Neigungen miteinander in "eine Konkurrenz" wegen der psychischen Kraft treten (LIPPS). Schließlich kann die Totalsumme der gesamten Tätigkeit unserer neuropsychischen Organisation je nach den verschiedenen Bedingungen zu- oder abnehmen. Das alles zwingt uns, vom Begriff der "psychischen (bzw. neuropsychischen) Kraft oder Energie" Gebrauch zu machen, wobei wir aber die Frage nach dem Wesen dieser Energie als eine für unsere Zwecke vollkommen unwesentliche gänzlich übergehen.

Es ist uns vielleicht erlaubt, der größeren Anschaulichkeit wegen, die einzelnen Fähigkeiten mit physischen Kräften und die Anreizer mit deren Angriffspunkten zu vergleichen. Es muß daher aber nicht vergessen werden, daß wir es hier bloß mit einem Vergleich zu tun haben, der die Lösung der Frage nach dem Wesen der psychischen Neigung in keinerlei Weise beeinflussen soll. Es ist sehr möglich, daß die meisten oder sogar alle unsere Hauptfunktionen oder Hauptneigungen in der Wirklichkeit komplizierte, gegenwärtig unserer Analyse unzugängliche Mechanismen darstellen. Nichtsdestoweniger müssen wir, solange diese Analyse noch nicht geschehen ist, sie als einfach betrachten, denn sie dokumentieren sich in unserem Bewußtsein stets durch eine einzige, sie charakterisierende Seite eines bestimmten psychischen Prozesses.

Die Art und Weise, wie jede Hauptneigung oder -funktion sich äußert, ist vom Gehalt oder von der Konfiguration des im gegebenen Moment aus sie einwirkenden Anreizers abhängig (siehe Kapitel I). Interessant ist es, daß wir einer ähnlichen Erscheinung in der Physiologie begegnen. Ein und dieselbe biologische Funktion kann in ihren Äußerungen sehr mannigfaltig sein, indem sie in verschiedenen Fällen ganz verschiedene Formen annimmt. Es genügt hier, an die Tatsache zu erinnern, daß das zentrale Nervensystem der Ameise oder der Biene ganz anders eingerichtet ist, als dasjenige der Wirbeltiere, was aber sowohl diese als jene nicht hindert, oft ganz ähniche Instinkte und Fähigkeiten zu äußern. Die Verdauungs-, Atmungs-, Zirkulations- und Bewegungsorgane sind bei verschiedenen Tieren verschieden eingerichtet, befriedigen aber nichtsdestoweniger dieselben Bedürfnisse der Ernährung, der Versorgung mit Sauerstoff usw., wobei jedoch die Art und Weise, wie das geschieht, jedesmal von den Eigentümlichkeiten des entsprechenden Anreizers abhängig ist.

Wirken zwei verschiedene Anreizer während eines sehr bedeutenden Zeitabschnitts abwechselnd auf ein und dieselbe Neigung ein, so spaltet sich die letzte endlich infolge dieser wiederholten Einwirkung (oder oft vielleicht infolge der vererbten Disposition), indem sie nun zwei Eigenschaften bildet, die miteinander verwandt sind, sich jedoch voneinander unterscheiden und nicht immer bei ein und demselben Menschen zusammen angetroffen werden. So z. B. kommt es nicht selten vor, daß ein Mensch, der in einigen Äußerungen sehr rasch ist, sich durch Langsamkeit der anderen auszeichnet; so paart sich z. B. eine lebhafte Rede nicht selten mit langsamen Bewegungen des Rumpfes und der Extremitäten. Sogar einander so nahe stehende Äußerungen, wie die Geschwindigkeit der einfachen Reaktion und diejenige der Wahlreaktion gehen nicht immer parallel (9).

Stellen wir uns auf den Standpunkt der Evolutionstheorie, so werden wir genötigt, zuzugeben, daß überhaupt alle unsere Neigungen auf diesem Weg entstanden sind. Besonders erscheinen diejenigen, die wir oben als verwandte Neigungen bezeichnet haben, von diesem Standpunkt als das bloße Resultat einer späteren Zergliederung oder Differenzierung irgendeiner elementaren Funktion des einfachsten psychophysischen Urorganismus. Andererseits kann jede unsere elementare Neigung im Laufe der Zeit, infolge einer Einwirkung von seiten irgendwelcher beständigen Umstände wiederum differenziert werden und eine oder mehrere neue, untereinander verwandte Eigenschaften bilden. Solche Keime zu weiteren Differenzierungen kann man oft in den Äußerungen verschiedener Neigungen bemerken.

Es muß aber nicht vergessen werden, daß beim Aufbau der Individualpsychologie als einer empirischen Wissenschaft eine solche hypothetische Verallgemeinerung ungeachtet ihrer Wahrscheinlichkeit vollkommen entbehrlich ist.

Um einen deutlichen Begriff von der Art und Weise, wie die einzelnen Neigungen in eine allgemeine funktionelle Organisation vereinigt werden können, zu geben, wollen wir die wichtigsten Hauptfähigkeiten etwas näher betrachten.

Als Beispiele sollen uns einige Neigungen dienen, die sich auf die Wahrnehmungs- und Gedächtnisprozesse beziehen. Hier müssen vor allem folgende Seiten dieser Prozesse hervorgehoben werden die Einprägung, das Aufbewahren im Gedächtnis, die Reproduktion und Wiedererkennung. Wir werden gezwungen, anzuerkennen, daß ihnen besondere Hauptneigungen zugrunde liegen, denn alle diese Seiten eines komplizierten Prozesses werden vom Bewußtsein deutlich unterschieden, sind einer weiteren Analyse nicht zugänglich und zeichnen sich durch eine gewisse Selbständigkeit aus, d. h. ihre Potenzen entwickeln sich bei ein und derselben Person nicht parallel. Nichtsdestoweniger muß man von unserem Standpunkt anerkennen, daß diese Unabhängigkeit relativ und nicht absolut ist. Alle oben genannten Neigungen stellen keine selbständigen Substanzen dar, sondern nur einzelne Seiten eines allgemeineren, noch wenig erforschten psycho-physiologischen Prozesses, welcher die Möglichkeit der Wahrnehmung und Aufbewahrung konkreter Eindrücke bedingt. Bei Einwirkung eines äußeren Anreizers, an den er sich adaptiert, verändert dieser Prozeß die Richtung seiner Tätigkeit, und verläuft von nun an in dieser neuen Richtung. Eine solche Adaption der entsprechenden Neigung an den Anreizer bildet, wie es scheint, eine der wichtigsten Seiten des Wahrnehmungsprozesses (über die anderen Seiten weiter unten). Auf diese Weise erweist sich der Wahrnehmungsprozeß auf das Engste mit demjenigen der Einprägung ins Gedächtnis verbunden. Nicht ohne Grund versucht man gegenwärtig sie beide unter dem gemeinsamen Namen der "Merkfähigkeit" zu vereinigen.

Ist die durch den betreffenden Anreizer bewirkte Veränderung in der Richtung der gegebenen Funktion genügend stark gewesen, so bleibt sie auch nach der Entfernung des Anreizers bestehen und bildet die Grundlage zur sogenannten Aufbewahrung im Gedächtnis. In diesem Sinn kann das Gedächtnis als eine der Gewohnheit verwandte Erscheinung betrachtet werden, da diese beiden Erscheinungen sich durch dieselbe charakteristische Seite auszeichnen, nämlich durch ein äußeres Gepräge, welches von einem zufälligen Anreizer auf die Äußerung (bzw. Richtung) des betreffenden Prozesses gedrückt wird. Dieses Gepräge wird auch dann bewahrt, wenn der gegebene Prozeß infolge seiner Abnahme sich nicht mehr im Bewußtsein dokumentiert. Nimmt die Anspannung des Prozesses unter dem Einfluß beliebiger Umstände zu, so entsteht das betreffende Bild in unserem Bewußtsein wieder. Darin besteht der Reproduktionsakt (10). Kommen andere, neuentstandene Wahrnehmungen (d. h. Veränderungen in der Tätigkeit der entsprechenden Neigung) den früheren Veränderungen in Bezug ihrer Richtung so nahe, daß sie nach einiger Adaption [Anpassung - wp] mit diesem vollkommen zusammenfallen, so erhält man den Prozeß des Wiedererkennens.

Wir sehen also, daß die Einprägung, Aufbewahrung, Reproduktion und das Wiedererkennen (auch mehrere andere Äußerungen, über die siehe weiter unten) keine abgegrenzte, selbständige Substanzen vorstellen, sondern bloß einzelne, verhältnismäßig unabhängige Seiten eines allgemeinen, ununterbrochen dauernden, die Grundlage unseres ganzen Seelenlebens bildenden Prozesses. Daraus folgt, daß diese Seiten nicht nur den intellektuellen Gebilden eigen sein müssen, sondern allen unseren seelischen Erlebnissen ohne Ausnahme. Von diesem Standpunkt aus wird RIBOTs Behauptung begreiflich, daß wir neben dem intellektuellen Gedächtnis auch das affektive unterscheiden sollen, wobei letzteres nicht gänzlich auf das erstere reduziert werden kann. Denn auch die emotionalen Neigungen jedes gegebenen Menschen können sich verändern, indem sie sich an neue Anreizer adaptieren, wodurch neue Gefühlserlebnisse entstehen; diese Veränderungen in der Tätigkeitsrichtung der entsprechenden Neigungen können fortbestehen, ab- und zunehmen usw. ganz in der oben beschriebenen Weise. Auf dem Gebiet der Willensprozesse spielen die gewohnheitsmäßigen willkürlichen und automatischen Handlungen oder genauer eine gewisse Aufeinanderfolge der äußeren und inneren Impulse, die auch behalten, reproduziert usw. werden kann, eine Rolle, die derjenigen der Wahrnehmungs- und Gedächtnisvorstellungen analog ist. Sobald wir den Standpunkt des extremen Intellektualismus verlassen und die verhältnismäßige Selbständigkeit der Gefühls- und Willensprozesse anerkennen, werden wir gezwungen, auch auf diese letzten die Grundseiten oder Hauptneigungen, die den intellektuellen Erlebnissen eigen sind, auszudehnen. Wir werden gezwungen anzuerkennen, daß die Bildung neuer Vorstellungen, sowoh der wahrgenommenen als auch der reproduzierten, nach demselben Typus geschieht, wie die Bildung neuer Gefühle und Willensäußerungen. Der Unterschied zwischen diesen im Grund gleichartigen Prozessen wird einerseits durch die Eigentümlichkeiten der entpsrechenden Anreizer, andererseits durch die verschiedene Stellung, welche die Verstandes-, Gefühls- und Willensneigungen den inneren und äußeren Anreizern gegenüber einnehmen, bedingt.

Wie bekannt besteht der Wahrnehmungsprozeß nicht nur in der Einprägung der äußeren Gebilde (bzw. der Elemente dieser Gebilde) und deren Assimilation [Angleichung - wp] an die reproduzierten Vorstellungen, sondern auch in der Vereinigung all dieser getrennten Bilder zu einem Ganzen. Diese Synthese bildet eine abgesonderte charakteristische Seite des Prozesses, deren Selbständigkeit auf dem Weg der Beobachtung bewiesen werden kann. Wir führen hier eine solche Beobachtung aus eigener Erfahrung an.

In das Lesen und Durcharbeiten eines speziellen psychologischen Traktats vertieft, saß ich an einem Sommertag auf meinem Zimmer. Bei der Lektüre des in einem trockenen und abstrakten Stil geschriebenen Werkes waren meine Hauptbemühungen darauf gerichtet,, die einzelnen Gedanken des Verfassers einander gegenüberzustellen, sie zu verknüpfen und den Grundgedanken auszuscheiden. Nach einiger Zeit verließ ich das Buch, betrat den Garten und, einen Pfad einschlagend, ging ich einer kleinen von Bäumen umschatteten Wiese zu. Diese Bäume hatte ich schon vielmals gesehen und, wie es bei wohlbekannten Gegenständen geschieht, interessierte ich mich gewöhnlich nicht nur für das Ganze, sondern für die Details, die einzelnen Eigentümlichkeiten und kleinen Veränderungen, die in den Bäumen oder in der Wiese, die sie umstanden, bemerkt wurden. Aber diesmal, als ich stehen blieb und einen Blick um mich warf, trat die Wiese mit den sie umrahmenden Bäumen mir als etwas Ganzes, als ein einziges Bild entgegen. Das Bewußtsein dieser Einheit war so lebhaft und unterschied sich so stark von den früheren Wahrnehmungen derselben Objekte, daß meine Aufmerksamkeit unwillkürlich davon gefesselt wurde.

Dieser Vorfall kann, wie uns scheint, nur auf folgende Weise erklärt werden. Das Lesen des psychologischen Traktats, welches mit intensiven Bemühungen, die einzelnen Gedanken zu vergleichen und zu verbinden, verbunden war, rief die gesteigerte Betätigung jener Neigung oder jenes uns unbekannten psychophysiologischen Mechanismus hervor, dessen Wirkung wir die synthestische nennen (komplexe Einheitsapperzeption nach LIPPS). Nachdem ich in den Garten getreten war, kombinierte sich die Tätigkeit dieses stark erregten und noch nicht zur Ruhe gelangten Mechanismus mit dem neuen Inhalt, die nun mein Bewußtsein erfüllte und im Resultat entstand jenes ungewöhnliche obenerwähnte Erlebnis. Das Entstehen der synthetisierenden Tätigkeit durch die "Konstellation" oder durch den Inhalt "der Apperzeptionsmassen der Vorstellungen" zu erklären ist gegebenenfalls offenbar nicht möglich, da die Vorstellungen und Gedanken, durch die Lektüre des psychologischen Traktats hervorgerufen, dem Inhalt nach mit den Eindrücken, welche beim Eintritt in den Garten in mein Bewußtsein drangen, nichts gemein hatten. Diese Neigung zur Vereinheitlichung, die nicht mit der schöpferischen Synthese des Bewußtseins identifiziert werden soll, ist nicht nur für die allgemeine Psychologie, sondern auch für die Individualpsychologie von großer Bedeutung. Nicht selten gibt es Menschen, bei denen die Einprägungs- und die Assimilationsfähigkeit stark entwickelt sind, dagegen aber das Synthetisieren verhältnismäßig gering ist, weshalb ihre intellektuellen Vorstellungen, wie auch ihre Gefühle und Triebe, trotz ihrer Intensität und Schärfe doch als fragmentarisch und miteinander unverbunden erscheinen. Auch umgekehrte Fälle sind möglich.

Bisher war nur von den psychischen (bzw. psychophysiologischen) Neigungen, welche sich auf die Bildung und Bewahrung von einzelnen konkreten Eindrücken, Vorstellungen, Gefühlen und Wünschen beziehen, die Rede. Der größte Teil dieser Neigungen muß zu den niederen gezählt werden (die Einprägungs-, Aufbewahrungs-, Reproduktions- und Wiedererkennungsfähigkeiten), einige von ihnen - zu den höheren, wie die Neigung zur Synthese. Zu den höheren Neigungen müssen offenbar auch die Abstraktionsfähigkeit, die Neigung zur Schlußbildung und ähnlich gezählt werden.

Der Abstraktionsprozeß oder die Bildung der Allgemeinvorstellungen und der abstrakten Begriffe zeichnet sich durch eine gewisse Unabhängigkeit von den rein konkreten Prozessen der Einprägung und des Behaltens aus. Wie die obenerwähnte Neigung zur Synthese, kann die Abstraktionsfähigkeit mit verschiedenen konkreten Vorstellungen, die miteinander nichts gemein haben, in Verbindung treten. Bekanntlich kann ein und derselbe abstrakte Begriff bei verschiedenen Menschen und zu verschiedener Zeit die mannigfaltigsten "Vertreter" haben. Sehr belehrend sind in dieser Hinsicht die Experimente von BINET (11), der aufgrund einer genauen experimentellen Analyse zu dem Schluß gelangt, daß abstrakte Begriffe nicht nur mittels der verschiedenartigsten Bilder, sondern zuweilen auch ganz ohne irgendwelche deutlich zum Bewußtsein kommende Bilder gedacht werden können. Ferner können wir öfters beobachten, wie ein Mensch, der sich durch eine bedeutend entwickelte Abstraktionsfähigkeit auszeichnet, nachdem er plötzlich in eine für ihn ganz neue Umgebung versetzt worden ist und sich gezwungen sieht eine ganz neue Tätigkeit anzufangen, bald auch hier die Grundzüge seines Charakters äußert: die neuen konkreten Eindrücke und Vorstellungen verbindet er, vergleicht und abstrahiert gerade auf dieselbe Weise, wie er es mit den früheren getan hat. Nicht weniger häufig kommen Fälle vor, wo die Abstraktionsfähigkeit einen sehr bedeutenden Grad der Entwicklung erreicht hat, zugleich aber das Gedächtnis und die Beobachtungsgabe bei demselben Menschen verhältnismäßig schwach entwickelt sind, was auch auf die relative Unabhängigkeit dieser zwei Arten von psychischen Neigungen hinweist.

Alle diese Tatsachen reden unserer Meinung nach entschieden zugunsten der Selbständigkeit der Abstraktionsfähigkeit, welche eine besondere psychische (bzw. psychophysiologische) Neigung höherer Art bildet, die nicht auf eine Summe der niederen, wie z. B. auf die verschiedenen Kombinationsarten der assoziativen Vorstellungsreihen reduziert werden kann. In dieser Hinsicht fallen die Resultate der Beobachtung und des Experiments vollkommen mit den Ergebnissen der unmittelbaren Selbstbeobachtung, von denen im vorherigen Kapitel die Rede war, zusammen, nämlich enthalten die Äußerungen jeder höheren Neigung nicht nur die Gesamtheit der Äußerungen von anderen, niederen Neigungen, welche mit ihr verbunden sind, sondern stets noch etwas Ergänzendes, der weiteren Analyse Unzugängliches und zugleich eben für die gegebene höhere Neigung sehr Charakteristisches. Dieses Neue, Ergänzende kann nicht als eine logische Kategorie betrachtet werden, sondern es ist die Äußerung einer selbständigen Neigung, deren Intensität und Anspannung zu- und abnehmen können, und die sich in der innigsten organischen Verbindung mit anderen psychischen Neigungen und Dispositionen befindet.

Indem wir eine solche relative Unabhängigkeit der höheren Neigungen von den niederen anerkennen, möchten wir durchaus nicht die Lösung der Frage nach der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Evolutionshypothese, die das Hervorgehen der höheren Neigungen aus den niederen auf dem Weg einer langsamen allmählichen Veränderung und demjenigen der Vererbung zuläßt, vorwegnehmen. Im Gegenteil erscheint uns diese Hypothese als sehr wahrscheinlich. Zu ihren Gunsten spricht die Tatsache, daß es beinahe immer möglich ist, zwischen den niederen Neigungen und den ihnen entsprechenden höheren eine Reihe von Übergangsformen zu konstatieren, welche das Feststellen einer scharfen, beständigen Grenze nicht zulassen. Ein solches Bindeglied ist im gegebenen Fall die Neigung zur Entstehung der Allgemeinvorstellungen, welche eine Übergangsstufe zwischen den konkreten Vorstellungen und den abstrakten Begriffen bilden. Ungeachtet dieser Bindeglieder sind jedoch die äußersten Glieder dieser ununterbrochenen Reihe beim erwachsenen Menschen, wie wir ihn kennen, nicht nur voneinander wesentlich verschieden, sondern auch in einem bedeutenden Grad in ihrer Tätigkeit voneinander unabhängig. Eben diese Unabhängigkeit ist es, welche die empirische Psychologie im allgemeinen und die Individualpsychologie im besonderen veranlaßt, die höheren und die niederen Neigungen als selbständige Elemente des psychischen Lebens einander gegenüberzustellen.

Wenn wir unsere psychischen Neigungen als das Resultat der Adaption der neuropsychischen Organisation an die Umgebung betrachten, so wird eine solche Gegenüberstellung der höheren und der niederen Neigungen auch durch den Unterschied der ihnen entsprechenden Anreizer gerechtfertigt. Die Anreizer der konkreten Neigungen (z. B. das Glockengeläut von einem Kirchturm, der sich unserem Fenster gegenüber befindet) zeichnen sich durch eine größere Beschränktheit im Sinne des Gebundenseins an eine gegebene, bestimmte Erscheinung der äußeren Welt aus. Ferner, obgleich bloß eine einzige Seite des äußeren Prozesses als Anreizer im eigentlichen Sinne erscheint (das Verhältnis zwischen den Schwingungen des tonerzeugenden Gegenstandes und der Tonlosigkeit, d. h. der Unbeweglichkeit der umgebenden Luft), aber diese eine Seite ist so eng mit den übrigen verschmolzen, daß eigentlich die ganze Erscheinung mit allen ihren Seiten als Anreizer erscheint. Im Gegenteil können die Rolle des unmittelbaren Anreizers einer höheren Neigung (wir sprechen an diesem Ort nur von den unmittelbaren Anreizern und nicht von den zufälligen Veranlassungen zur Entstehung dieser Anreizer - siehe Kapitel I) solche äußere und innere Erlebnisse übernehmen, die, was ihren Inhalt anbetrifft, öfters nichts miteinander gemein haben und nur ein ähnliches Schema darbieten. Zum Beispiel kann das Pflichtgefühl (welches, wie wir weiter unten sehen werden, auch zu den höheren Neigungen gezählt werden muß) unter dem Einfluß der verschiedensten Ereignisse und Eindrücke entstehen, nur ein gewisses Verhältnis ist dazu erforderlich, nämlich dasjenige des Konflikts zwischen dem unmittelbaren Trieb und dem Gedanken an die Unzulässigkeit dieses Triebes. Das eben bedingt das Allgemeine und Abstrakte der höheren Neigungen, was so charakteristisch für sie ist.

So haben wir dann anerkannt, daß der Unterschied zwischen den konkreten Vorstellungen und abstrakten Begriffen nur einen speziellen Fall des allgemeinen Unterschieds zwischen den höheren und niederen Neigungen bildet. Der Schluß liegt nahe, daß ein ähnliches Verhältnis auch auf anderen Gebieten unseres seelischen Lebens beobachtet werden könnte. In der Tat finden wir etwas Analoges auch auf dem Gebiet der Willensprozesse.

Es ist oben bereits auf die Ähnlichkeit hingewiesen worden, die in einigen Hinsichten zwischen den konkreten intellektuellen Vorstellungen einerseits und den gewohnheitsmäßigen Handlungen andererseits besteht. Wie jene zeichnen sich auch diese durch Kompliziertheit und durch einen Reichtum an Details aus; dabei sind sie auch ebenso partiell oder beschränkt, d. h. sie scheinen eben an das gegebene Bedürfnis, an die komplizierte Gesamtheit der Umstände, denen sie ihre Entstehung verdanken, angepaßt zu sein.

Einen etwas bedeutenderen Grad der Abstraktion und Allgemeinheit besitzen im Vergleich zu den gewohnheitsmäßigen Handlungen die Instinkte. Hier sind bereits komplizierte psychophysiologische Akte nicht mehr an irgendein bestimmtes Objekt angepaßt, sondern an eine ganze Gruppe mannigfaltiger Erscheinungen, die einander in irgendeiner Hinsicht analog sind. Die Katze springt nicht nur der Maus nach, sondern auch dem Knäuel wie jedem sich rasch fortbewegenden Gegenstand. Noch allgemeiner erscheinen uns solche Instinkte, wie das Bedürfnis zu arbeiten oder der Selbsterhaltungstrieb. Indem wir von Stufe zu Stufe heraufrücken, gelangen wir schließlich zu den allgemeinsten und abstraktesten Äußerungen des Willens. Das sind: die aktive Aufmerksamkeit, d. h. die Fähigkeit, willkürlich diese oder jene Gefühle oder Vorstellungen im Bewußtsein festzuhalten, die Hemmungsfähigkeit, die uns erlaubt verschiedene, im Augenblick unerwünschte Erlebnisse zu unterdrücken, oder sie aus dem Bewußtsein zu entfernen usw.

Dabei muß berücksichtigt werden, daß die partiellen konkreten Neigungen, die einen Teil des Willensprozesses ausmachen und auf die oben hingewiesen worden ist, eben solche selbständige Seiten der neuropsychischen Organisation sind, wie die allgemeineren, abstrakten Willensfähigkeiten. Es ist z. B. nicht möglich die intellektuelle Leistungsfähigkeit, oder die Fähigkeit zur aktiven Aufmerksamkeit, oder die Beharrlichkeit im Handeln und Wandeln (bzw. die Stabilität dder Willensanspannung), als einfache Äußerungen oder Richtungen einer einzigen, höheren Fähigkeit - des Willens zu betrachten. Die Erfahrung lehrt im Gegenteil, daß es Menschen gibt, bei denen die Äußerungen der Willensanspannung in ihrer allgemeinsten Form, d. h. in Bezug auf die höheren, abstrakten Motive und Bestrebungen einen hohen Grad der Intensität erreichen können, die aber im Alltagsleben, wo die eben erwähnten konkreteren Eigenschaften der Willenssphäre tätig sind, vollkommen hilflos sind.

Was die Gefühle anbelangt, so zwingt uns unser Standpunkt, die Versuche, die ganze Mannigfaltigkeit der Gefühle auf den positiven und negativen Gefühlston zurückzuführen, für verfehlt zu erklären. Obwohl wie die Hypothese der Entstehung der höheren, abstrakteren Gefühle aus den niederen nicht verwerfen, müssen wir aus den oben angeführten Gründen ihre verhältnismäßige Unabhängigkeit, wenigstens beim erwachsenen ganz entwickelten Menschen, anerkennen. Ebenso zeigt uns die Beobachtung, daß dieselben Kombinationen der intellektuellen Fähigkeiten sich mit den verschiedensten affektiven Dispositionen vereinigen können. Dieser Umstand veranlaßt uns, die emotionalen Neigungen aus der Zahl der übrigen als eine besondere Abart der psychischen Elemente auszusondern.

Wenn Äußerungen irgendwelcher Neigung einander ablösen, so kann dieser Wechsel vor allem in den veränderten Anreizern gesucht werden. Infolge der beschränkten Quantität der psychischen Energie kann die Tätigkeit der gegebenen Neigung sich nicht gleichzeitig an alle vorhandenen Anreizer adaptieren oder mit ihnen in eine Wechselwirkung treten, sondern sie beschränkt sich nur auf diejenigen, die dank ihrer Intensität oder anderen Umständen sich in einer besonders günstigen Lage befinden. Da aber die uns umgebende Welt in einem beständigen Wandel begriffen ist, muß der während einer gewissen Zeit bevorzugte Anreizer allmählich seine Stellung einem anderen, der z. B. an Intensität zugenommen hat, einräumen. Im Zusammenhang damit verändern sich dann auch die Äußerungen der entsprechenden Neigung.

Doch spielen im gegebenen Fall, abgesehen vom Wechsel der Anreizer, jene subjektiv bedingten Veränderungen in der Richtung des betreffenden neuropsychischen Prozesses, die unter dem Namen des Assoziationsprozesses bekannt sind, eine äußerst wichtige Rolle. Tatsächlich kann keine Neigung, wie intensiv sie auch ist, ununterbrochen, mit gleicher Kraft während einer unbestimmt langen Zeit wirken. Allmählich, infolge der Ermüdung oder unter der Einwirkung anderer im Bewußtsein verlaufenden Prozesse nimmt ihre Anspannung ab. Aber diese teilweise Abnahme der Tätigkeit in irgendeiner Richtung zeugt noch nicht von einer völligen, allgemeinen Erschöpfung der gegebenen Neigung: bloß die Art und Weise der Äußerung, oder mit anderen Worten: die Tätigkeitsrichtung jenes ununterbrochenen neuropsychischen Prozesses, dessen eine Seite diese Neigung bildet, hat sich verändert. Auf diese Veränderung kann eine zweite, eine dritte folgen usw., bis zuletzt die wirkliche Erschöpfung der gegebenen Neigung eintritt, oder bis andere Seiten der neuropsychischen Organisation kraft irgendwelcher Umstände in den Vordergrund treten und die psychische Energie auf sich lenken. Ein solcher sukzessiver Wechsel in der Tätigkeitsrichtung ein und derselben Neigung bildet unserer Meinung nach die Basis jedes assoziativen Prozesses, sowohl desjenigen der Vorstellungen, wie desjenigen der übrigen psychischen Erlebnisse.

Wenn irgendein komplizierter organischer Prozeß seine Tätigkeitsrichtung verändert, beobachten wir gewöhnlich Folgendes: erstens geschehen allmähliche Modifizierenden leichter (deshalb auch öfter), als plötzliche, die Richtung des gegebenen Prozesses radikal brechende Veränderungen; zweitens treten gewohnheitsmäßige, schon früher vorgekommene Veränderungen leichter ein, als ganz neue, ungewohnte. Diese allgemeine Regel muß offenbar auch auf jene wenig erforschten, komplizierten und dauerhaften psychophysiologischen Prozesse bezogen werden, welche die Grundlage jeder elementaren Neigung überhaupt bilden. Vielleicht läßt sich durch eben diesen Umstand die wichtige Rolle erklären, welche die Prinzipien der Ähnlichkeit und der Berührung in einem sukzessiven Wechsel überhaupt all unserer seelischen Zustände spielen: die allmählichen Übergänge bedingen die Ähnlichkeitsassoziation, die gewohnheitsmäßigen Übergänge - die Berührungsassoziation, welche stets nichts anderes ist, als die Wiederholung schon dagewesener Kombinationen.

Eine solche Deutung des Assoziationsprozesses verbietet uns vor allen Dingen, die Entstehung dieses Prozesses irgendeinem besonderen Vermögen zuzuschreiben, welches speziell dazu bestimmt wäre, unsere seelischen Erlebnisse miteinander zu verbinden. Im Gegenteil sehen wir, daß die Neigung zur Assoziation, wie all die übrigen psychischen Neigungen, nichts anderes ist, als eine gewisse Seite der Tätigkeit unserer neuropsychischen Organisation. Dank dem Umstand, daß keine Fähigkeit während einer unbestimmt langen Zeit dieselbe Tätigkeitsrichtung bewahren kann, findet ein beständiger Wechsel der Richtung statt, wobei die Gesetze, die diesen Wechsel regieren, für alle Abarten unserer psychischen Tätigkeiten vollkommen gleich sind. Die Assoziation der Gefühle, der Wünsche, der Bewegungen, der Handlungen, ja sogar diejenige der abstrakten Begriffe und der allgemeinsten sittlichen Beweggründe und Impulse ist von diesem Standpunkt vollkommen in demselben Maß zulässig, wie die allergewöhnlichste, typische Vorstellungsassoziation.

Diese Tendenz zum Wechsel der Tätigkeitsrichtung dieser oder jener Neigung (bzw. Gruppe von Neigungen) kann in jedem einzelnen Fall mehr oder weniger scharf ausgedrückt sein, im Zusammenhang sowohl mit den äußeren Umständen, wie mit den individuellen Eigentümlichkeiten des gegebenen Subjekts. Zuweilen erleidet die Richtung der im gegebenen Moment tätigen Gruppe von Neigungen einen fortgesetzten Wechsel, wobei sie eine lange Kette sukzessiver Assoziationen bildet; in anderen Fällen wird die ursprüngliche Richtung auch trotz des Wechsels in der Umgebung von der gegebenen Neigung bis zu deren völliger Erschöpfung oder Verdrängung durch andere, intensiver gewordene Neigungen bewahrt. Die Schwankungen, welche die Neigung zur Assoziation der seelischen Erlebnisse in Bezug auf ihre Potenz und Anspannung erleidet, gibt uns das Recht, sie mit anderen psychophysischen Neigungen zusammenzustellen, die ja auch wie sie bloß einzelne, verhältnismäßig unabhängige Seite oder Teile eines gemeinsamen funktionellen Ganzen sind.

Die Assoziation fassen wir also als einen Wechsel oder eine Kombinatioin der seelischen Erlebnisse auf, die auf dem Gebiet einer einzigen psychischen Neigung, oder höchstens auf dem Gebiet gleichartiger, einander nahe stehender Neigungen vor sich gehen: z. B. die Assoziation von Vorstellungen, die sich auf verschiedene Sinnesorgane beziehen, die Assoziation der niederen Gefühle oder Wünsche mit den höheren usw. Von diesem Standpunkt erscheint die übermäßige Erweiterung des Begriffs der Assozation, bei der unter dieser letzten alle psychischen Verbindungen ohne Ausnahme verstanden werden, als vollkommen unerlaubt. Es ist unrichtig, z. B. jene Fälle mit dem Namen der Assoziation zu belegen, bei denen irgendeine Wahrnehmung oder eine reproduzierte Vorstellung ein ihnen entsprechendes Gefühl wachrufen, denn hier haben wir es eher mit der anreizenden Wirkung zu tun, die die Äußerungen einer psychischen Neigung auf eine andere ausüben. Ebenso müssen jene Fälle ausgeschlossen werden, wo eine gewisse Aufeinanderfolge der psychischen Erlebnisse durch ein inneres, organisches Band, welches die diesen Erlebnissen zugrunde liegenden Neigungen miteinander verbindet, bedingt wird.

Erläutern wir es durch ein Beispiel: irgendein eigentümliches, ungewöhnliches Gefühl, entsteht im Bewußtsein des Menschenund erinnert ihn an ein anderes, ähnliches, früher erlebtes Gefühl (Ähnlichkeitsassoziation der Gefühle). Wenn in der Vergangenheit die Entstehung und Entwicklung dieses Gefühls unangenehme Folgen gehabt hat (Berührungsassoziation der Gefühle), so versucht der durch eine bittere Erfahrung belehrte Mensch sofort durch eine energische Willensanstrengung das neu entstehende Gefühl zu unterdrücken. Die affektiven Ähnlichkeits- und Berührungsassoziationen sind in diesem Fall Bindeglieder, die im Bewußsein die Entstehung eines zusammengesetzten Anreizers (der Erinnerung) hervorrufen; dieser letzte besteht aus emotionalen und intellektuellen Elementen und ruft endlich die Willensanstrengung hervor. Dieses Endresultat muß aber nicht mehr als Assoziation betrachtet werden, sondern als die Anreizung der Willensneigung durch einen entsprechenden inneren Anreizer.

Aus dem Obengesagten erhellt sich, daß der Assoziationsprozeß seinem Wesen nach nicht sowohl der subjektiven (endogenen), sondern vielmehr der objektiven (exogenen) Seite der Tätigkeit unserer neuropsychischen Organisation angehört. Hier haben wir es nicht mit dem Wechsel verschiedener Neigungen, sondern bloß mit dem Wechsel der Angriffspunkte ein und derselben Neigung, ihrer äußeren, objektiven Äußerungen, die sich in dieser oder jener Richtung gestalten, zu tun. Diesem äußeren, objektiven Charakter der Assoziation entspricht auch vollkommen die Art der Entstehung von Assoziationsverbindungen; bekanntlich stellen gewöhnlich die typischen Assoziationen nichts anderes dar, als einen getrennten Abdruck der Wechselbeziehung zwischen äußeren Eindrücken, die ihrem Inhalt nach einander nahe stehen oder sich mehrmals in einer gewissen Aufeinanderfolge wiederholt haben.

Im Gegenteil wird der Begriff der Apperzeption gewöhnlich benutzt, um die mehr subjektive Seite eines jeden psychischen Prozesses zu bezeichnen. Von unserem Standpunkt kann man die intensive Betätigung der bei einem gegebenen Individuum am meisten entwickelten Neigungen (vorzüglich der höheren) am betreffenden psychischen Prozeß mit dem Namen der "Apperzeption" belegen. Indem wir den Charakter eines beliebigen Menschen allmählich kennen lernen, wird es uns schließlich möglich, einen gewissen Kern seiner Persönlichkeit auszusondern, d. h. eine Gesamtheit untereinander engverbundener psychophysiologischer Neigungen, die sich durch maximale Potenz und Stabilität auszeichnen, zu finden. Wenn gleichzeitig und energisch mehrere derartige Neigungen (besonders aus der Zahl derjenigen, welche wir oben als die höheren bezeichnet haben) in Tätigkeit gesetzt werden, erreicht der Apperzeptionsprozeß den höchsten Grad der Kraft und Tiefe, zu dem der betreffende Mensch fähig ist. Ist aber das Bewußtsein zeitweilig von Äußerungen anderer, weniger intensiver Neigungen erfüllt, bleibt der ganze Prozeß blaß und undeutlich; mit anderen Worten fehlt es der Apperzeption, die nicht unmittelbar mit dem Zentrum verbunden ist, als Vollständigkeit und Tiefe. In diesem Sinne des Wortes erscheint die Apperzeption als der wahre Ausdruck der Persönlichkeit des gegebenen Individuums.

Als ein charakteristisches Merkmal der Apperzeption wird nicht selten ihre Aktivität hervorgehoben, welche diesen Prozeß von den passiv verlaufenden Assoziationen unterscheidet und den Gedanken an die Identität des Prozesses der Apperzeption mit einfachen und zusammengesetzten Willensakten nahelegt. Von einer kritischen Untersuchung der voluntaristischen Apperzeptionstheorie abstehend, bemerken wird an dieser Stelle bloß, daß von unserem Standpunkt diese Theorie nicht angenommen werden kann. Sobald wir die Apperzeption als die intensive Betätigung der bei einem gegebenen Individuum am meisten entwickelten Neigungen, besonders der höheren, am betreffenden psychischen Prozeß definiert haben, folgt daraus, daß wir diesen Begriff nicht ohn Grund verengen dürfen, indem wir die Apperzeption mit dem Willensvorgang oder der Willensanstrengung identifizieren. Weiter unten wird gezeigt werden, daß bei vielen Menschen als die charakteristischste Seite, als der Kern der Persönlichkeit nicht die Entwicklung ihrer Gefühls- und Willensneigungen erscheint, sondern diejenige ihrer intellektuellen Neigungen. In diesen Fällen enthält wohl der Apperzeptionsprozeß einige ergänzende Gefühls- und Willenselemente (das Interesse, die Konzentration der Aufmerksamkeit), aber seinen Grundbestand bildet doch eine intensive Tätigkeit der intellektuellen Neigungen, die diesen gegebenen Menschen charakterisieren, wie z. B. diejenige der Wahrnehmung, der Assimilation, der reproduktiven Phantasie usw. Was aber das Gefühl der Aktivität anbelangt, welches stets jeden einigermaßen deutlich ausgedrückten Apperzeptionsprozeß zu begleiten pflegt, so bildet es nicht die Ursache, sondern bloß die Äußerung dieses Prozesses. Die intensive Teilnahme eines ganzen Komplexes stark entwickelter Neigungen am betreffenden Prozeß steigert scharf die Totalsumme der Tätigkeit der gegebenen neuropsychischen Organisation, und eben diese Steigerung der Tätigkeit dokumentiert sich im Bewußtsein durch das Gefühl der Aktivität.

Als weitere, nicht weniger wichtige Merkmale der Apperzeption erscheinen die Bewußtheit des gegebenen psychischen Prozesses und die Vereinigung der einzelnen bewußten Erlebnisse zu einem Ganzen. An dieser Stelle müssen ein paar Worte darüber gesagt werden, wie sich der Begriff der Neigung und deren Äußerungen zur Frage nach einem Bewußtsein und dem Unbewußten verhält. Als die charakteristischen Merkmale jedes Bewußtseins erscheinen die Lebhaftigkeit und Deutlichkeit der bewußten Erlebnisse, wie auch das Entstehen von bestimmten Verhältnissen zwischen ihnen. Nur die Gesamtheit dieser Merkmale macht den psychischen Prozeß zu einem vollkommen bewußten, wogegen der Mangel irgendeines von ihnen die Abnahme der Bewußtheit zur Folge hat. Je schwächer der äußere Reiz, je weniger er die betreffende Neigung in Tätigkeit versetzt, desto weniger kommt er zum Bewußtsein. Andererseits werden disparate, durch nichts mit dem übrigen Bewußtseinsinhalt verbundene Eindrücke trotz ihrer eventuellen Intensität sehr schnell vergessen, indem sie spurlos aus unserem Gedächtnis verschwinden; mit anderen Worten wird hier ein Mangel an dem gefunden, was das charakteristische Merkmal jedes Bewußtseins bildet, näämlich an der Kontinuität der bewußten Erlebnisse.

Hieraus folgt vor allem, daß der Apperzeptionsprozeß, der in der gesteigerten Betätigung der bei einem gegebenenn Individuum am intensivsten entwickelten Neigungen besteht, in einem bedeutenden Maß die Lebhaftigkeit und somit die Bewußtheit der entsprechenden psychischen Erlebnisse befördern muß. Das geschieht nicht nur beim Vorhandensein äußerer oder innerer Anreizer, sondern nicht selten bei deren Mangel. Das wird durch den Umstand erklärt, daß jede Neigung nicht nur aus subjektiven (endogenen), sondern auch aus objektiven (exogenen) Elementen besteht. Alle Neigungen ohne Ausnahme sind an irgendwelche Anreizer angepaßt. Diese Adaption, die sich auf die Bildung einer bestimmten Tätigkeitsrichtung der gegebenen Neigung reduziert, erscheint als das Resultat der früheren mehrmaligen Wechselwirkung zwischen der Neigung und einem bestimmten äußeren oder inneren Anreizer; man kann sie gewissermaßen als eine Spur betrachten, welche das umgebende Medium auf dieser oder jener Seite unserer neuro-psychischen Organisation zurückläßt. Dank dem Vorhandensein dieser objektiven Bestandteile können sich Neigungen, die eine bedeutende Intensität erhalten haben, auch bei einem Mangel an Anreizern dokumentieren. Ein hungriger Mensch malt sich in der Phantasie schmackhafte Speisen aus, ein Feigling sieht eine nicht vorhandene Gefahr, energische Leute suchen instinktmäßig nach einer passenden Tätigkeit, und wenn sie keine solche finden, erkünsteln sie sich irgendeine, um nur nicht müßig bleiben zu müssen. Wenn aber ein Anreizer endlich erscheint, so paßt sich die vorige Tätigkeitsrichtung ihm schnell an (Assimilationsprozeß) und der ganze Prozeß erreicht mit einem Mal einen bedeutenden Grad von Lebhaftigkeit und Bewußtheit.

Aus dem Gesagten erhellt sich, daß keine scharfe, prinzipielle Grenze zwischen den bewußten und unbewußten psychischen Erlebnissen gezogen werden darf. Es muß nicht von unbewußten, sondern bloß von wenig bewußten Prozessen gesprochen werden. Jede Neigung, die sich einer Tätigkeitsrichtung angepaßt hat, besitzt schon den Keim der bewußten Äußerung; dieser wächst in dem Maße, wie die Neigung selber an Intensität zunimmt und ihre Verbindungen mit den anderen Neigungen schärfer hervortreten.

Neben einem solchen direkten Bewußtwerden der psychischen Erlebnisse müssen auch Fälle indirekten Bewußtwerdens unterschieden werden, wobei letzteres darin besteht, daß zu gewissen ziemlich unklaren Äußerungen sich andere deutlichere Elemente gesellen, die eine Art erläuterndes Schema zu den ersten bilden. Wir meinen an dieser Stelle hauptsächlich das, was man eine Intellektualisierung der Gefühls- und Willensprozesse nennen könnte. Unter allen unseren seelischen Erlebnissen zeichnen sich die intellektuellen durch Klarheit, Deutlichkeit und Gliederung aus. Nicht umsonst erscheinen sie als das Hauptmittel der Erkenntnis, d. h. der Orientierung des Menschen in der komplizierten und mannigfaltigen Welt, welche ihn umgibt. Umgekehrt sind die Gefühle unzweifelhaft der verworrenste und undeutlichste Teil unseres seelischen Lebens. Deshalb benutzt man sehr oft intellektuelle Vorstellungen, um ein Gefühl zu klären oder seinen Inhalt näher kennen zu lernen. So z. B. um uns irgendein früher erlebtes Gefühl zu vergegenwärtigen (affektives Gedächtnis), behelfen uns öfters damit, daß wir uns gleichzeitig Mühe geben die Begebenheiten, von denen dieses Gefühl begleitet wurde, ins Gedächtnis zurückzurufen.

Was die Eigentlichkeit der Apperzeption anbelangt, so ist sie die direkte Folge der zentralen, organischen Verbindungen und Wechselverhältnisse, die zwischen den einzelnen psychischen Neigungen bestehen. Die den Kern der Persönlichkeit des Menschen bildenden, intensiv entwickelten Neigungen erweisen sich in den meisten Fällen als eng miteinander verbunden. Dieses Untereinanderverbundensein der Neigungen ist es, wodurch hauptsächlich die Einheitlichkeit der Richtung, die das Seelenleben und die Tätigkeit des einzelnen Individuums beherrscht, bedingt wird. Allerdings kommt hier auch den äußeren, assoziativen Verbindungen, die zwischen den Äußerungen mehrerer einzelner, einander nahestehender Neigungen, dank dieser oder jener Kombination der äußeren Umstände entstehen, eine gewisse Rolle zu. Nichtsdestoweniger wird die Hauptbasis der Apperzeptionseinheit von den inneren, organischen, aus dem inneren Bau unserer neurophysischen Organisation hervorgehenden Verbindungen gebildet.

An dieser Stelle kann die Frage aufgestellt werden: wodurch wird die unzweifelhafte Tatsache bedingt, daß bei verschiedenen Individuen die synthetische Tätigkeit der Apperzeption nicht gleich scharf hervortritt? Darf daraus gefolgert werden, daß die obenerwähnten organischen Verbindungen zwischen einzelnen Neigungen einen verschiedenen Grad von Intensität besitzen und in dieser Hinsicht bedeutende individuelle Schwankungen darbieten können? Eine solche Vermutung erscheint uns nicht berechtigt zu sein. Das Bestehen von Wechselverhältnissen zwischen den einzelnen Seiten der neuropsychischen Organisation ergibt sich unmittelbar aus der Natur dieser allen Menschen gemeinen Organisation und deshalb wird eine mehr oder weniger innige Verbindung zwischen zwei Neigungen durch den Inhalt dieser Neigungen selbst im Voraus bestimmt. Der einigen Menschen eigene Mangel an Apperzeptionseinheit, das Fragmentarische der Handlungen und der Urteile hängt ausschließlich davon ab, daß die Persönlichkeit des betreffenden Menschen aus solchen Neigungen oder Gruppen von Neigungen zusammengesetzt wird, die wenig miteinander gemein haben, d. h. zu verschiedenen, miteinander nicht direkt verbundenen Teilen der neuropsychischen Organisation gehören. Wir werden übrigens noch in Kapitel VI, welches von der Klassifikation der Persönlichkeiten handeln wird, darauf zurückkommen müssen.

Schon aus diese kurzen Skizze erhellt sich, in welchem Maße unser Standpunkt sich von demjenigen der alten, metaphysischen Vermögenstheorie unterscheidet. Um uns das Verhältnis dieser beiden Standpunkte zueinander noch deutlicher zu machen, fassen wir die Hauptunterschiede noch einmal kurz zusammen.

Vor allem werden von uns die Neigungen, auch die elementarsten unter ihnen, nicht als selbständige, voneinander gänzlich abgesonderte, nichts miteinander gemein habende Kräfte oder Substanzen gedacht. Von unserem Standpunkt erscheint die Personifikation der einzelnen Neigungen oder die bereits von HERBART mit Recht herb getadelte Verwandlung der Psychologie in Mythologie gänzlich undenkbar. Die einzelnen Hauptneigungen fassen wir als Seiten oder Teile der einen, allgemeinen neuropsychischen Organisation des gegebenen Menschen auf. Allerdings können diese Teile oder Seiten in ihrer Tätigkeit und Entwicklung eine gewisse Unabhängigkeit voneinander an den Tag legen, wodurch die individuellen Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen und die temporären oder scheinbaren Veränderungen der Persönlichkeit ein und desselben Menschen bedingt werden. Aber diese Unabhängigkeit der Tätigkeit bleibt, wie bedeutend sie auch sein mag, doch stets relativ, nicht absolut. Es gibt zahlreiche und mannigfaltige, aber dabei vollkommen gesetzmäßige Verbindungen und Wechselbeziehungen, welche, indem sie allen menschlichen Individuen ohne Ausnahme gemeinsam sind, die jeder Persönlichkeit eigenen Neigungen zu einem Ganzen verbinden.

Zugleich müssen im Gegensatz zur früheren Theorie unsere Neigungen, auch die allgemeinsten und abstraktesten unter ihnen, durchaus nicht als etwas Elementares und Unveränderliches betrachtet werden. Im Gegenteil verwerfen wir nicht im mindesten die Vermutung, daß auch die höchsten Neigungen sich auf dem Weg der Evolution gebildet haben mögen, wie auch, daß jede von ihnen uns einmal als ein komplizierter Mechanismus erscheinen wird, der bloß gegenwärtig keiner weiteren Analyse zugänglich ist. Unser Standpunkt betont bloß den Umstand, daß gegenwärtig, d. h. beim modernen Menschen, einige Dispositionen oder Fähigkeiten, nämlich die elementarsten und die wichtigsten, so beständig in ihrer Tätigkeit und in ihren Wechselverhältnissen sind, daß sie sich in unserem Bewußtsein stets auf gleiche Weise dokumentieren, indem sie bloß quantitative (Intensität) und nicht qualitative Veränderungen erleiden.

Die Frage nach dem Verhältnis der seelischen Eigenschaften zur Tätigkeit des entsprechenden physischen Substrats, d. h. des zentralen Nervensystems, gewinnt bei uns auch eine von der alten abweichende Beleuchtung. Nach unserer Theorie befinden sich alle unsere Fähigkeiten, die niederen so gut wie die höheren, in der innigsten Verbindung mit der Tätigkeit des zentralen Nervensystems. Ohne uns in die Erörterung der Frage nach der Natur dieser Verbindung zu vertiefen (da diese Frage jenseits der Grenzen unserer psychologischen Untersuchung liegt), beschränken wir uns bloß auf den Hinweis, daß der Standpunkt des empirischen Parallelismus, streng durchgeführt, sowohl für die Psychologie als auch für die Physiologie der Nervenzentren als der fruchtbarste erscheint.

Der wichtigste Punkt aber, worin sich unsere Theorie von der Vermögenstheorie unterscheidet, ist unserer Ansicht nach der Umstand, daß wir die Fähigkeiten nicht als mit Willkür begabte Substanzen, von denen jede nach eigenem Belieben tätig oder untätig ist, betrachten, sondern im Gegenteil als ein System untereinander verbundener Kräfte, deren Tätigkeit streng gesetzmäßig ist und jedesmal durch scharf bestimmte Momente bedingt wird, nämlich durch das Vorhandensein oder den Mangel der äußeren und inneren Anreizer, durch den allgemeinen Zustand der neuropsychischen Organisation und schließich durch Wechselbeziehungen, die zwischen den einzelnen Neigungen stattfinden. Der oben vorgezeichnete Weg erscheint uns als der zweckmäßigste für den Aufbau einer Mechanik des Geistes, die schon HERBART vorgeschwebt hat, und zu deren Elementen er nicht ganz passend die Vorstellungen wählte. Eine solche Psychologie, wenn sie einmal wirklich geschaffen werden würde, könnte am besten den Namen einer funktionellen oder energetischen Psychologie tragen, allerdings mit dem einzigen Vorbehalt: ihre Hauptaufmerksamkeit hätte sie nicht sowohl auf die Frage nach dem Wesen der psychischen Energie und deren Verhältnis zur physischen zu konzentrieren (denn dieses Problem ist seinem Wesen nach durchaus kein psychologisches), sondern auf die ausführlichste Untersuchung der Tätigkeit und der Äußerungen der verschiedenen psychischen Kräfte oder Fähigkeiten, um diese letzten schließlich zu einem gesetzmäßig wirkenden Ganzen zu verbinden.

LITERATUR - Alexander Lasurski, Über das Studium der Individualität, Pädagogische Monographien, hg. von Ernst Meumann, Bd. XIV, Leipzig 1912
    Anmerkungen
    9) Vortrag von LASURSKI und RUMJANZEW, "Experimentelle Studien über die individuellen Differenzen des Auffassungsprozesses" in der Gesellschaft für normale und pathologische Psychologie, 1909.
    10) Von diesem Standpunkt aus wird die sogenannte "Perseverationstendenz der Vorstellungen" vollkommen verständlich.
    11) ALFRED BINET, L'étude expérimentale de l'intelligence.