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Philosophie der Romantik [ 2 / 2 ]
Friedrich Schlegel I. Lebenselemente Unübersehbar weiten sich die Studien FRIEDRICHs. Er entwirft eine Fülle von Plänen. Alles greift ihm ineinander, Moral, Theologie, Physiologie, kantische Philosophie, Politik, Mathematik, in den Nebenstudien Medizin! Nur das wenige wissen wir, was er an den Bruder schreibt; es sind nur Senker [Gewichte an Fischernetzen - wp], die auf den Grund seiner Lebensanschauung weisen. Wir wollen Leben spüren. Wir wollen Wirklichkeit, Kraft, Dasein der Seele empfinden. Daraus entspringt die große Frage seiner Selbstbesinnung. Was ist Wirklichkeit im Menschen? Was gibt seinem Dasein Wert? Wonach trachten wir in Lust, Kampf und Liebe? Es gibt eine Grundkraft: die Sehnsucht nach dem Unendlichen, nach dem Ewigen, nach dem höheren Dasein, das in uns selber angelegt ist, nach den Zuständen der Seele, in denen das Ewige wirksam ist. Diese nennen wir Leben, diese sind unsere Werte und unsere Welt. Aber jene Sehnsucht selber ist nicht zu fassen und nicht zu stillen. Drei Grundtriebe spüren wir im Leben unserer Seele. Nur wo diese zusammenwirken, da ist eine Wirklichkeit der Seele, da ist wahrhaftes Gefühl. Es läßt sich immer in drei Elemente auflösen, drei ewige Unterschiedde, die unser Sein erfüllen und umfassen. "Vielheit, Einheit, Allheit - nur die Vermählung aller erzeugt menschliches Dasein." Vielheit, das ist Leben, Fülle, Mannigfaltigkeit. Einheit, das ist Kraft, Selbsttätigkeit, eigene Tat. Allheit, das ist Herz, Tugend, das Vermögen der Ideale, der Zusammenfassung und das Maß alles Wertvollsten, das ist Gott in uns.
Es ist im Grund nur sein Erlebnis, immer dasselbe, das in den verschiedensten Gestalten, in unzähligen Deutungen wiederkehren wird, das sein ganzes Wesen trägt und nährt bis an sein Ende, und dem sein Denken hier zum erstenmal nahe kommt. Jeder Mensch hat ein solches ihm ursprünglich eigenes Erlebnis, in dem die Form seines Geistes vorgebildet ist, in dem ihm das unmittelbar gegeben wird, was er dann als seine Schönheit und Wahrheit, seine Sittlichkeit im Leben ausgestalten soll; dieses Grunderlebnis jedes Menschen, wenngleich es selber auch in einem gesetzlichen Zusammenhang stehen muß, ist nicht weiter ableitbar. Es enthält die Kraft, die diesem Menschen seine Werte schaffen wird. Wir beschreiben diese Kraft immer als eine Form, als Form des Geistes, des Gefühls, des Erlebens. Wir zeichnen damit aber immer nur Ausgestaltungen nach, die ein ursprüngliches und produktives Vermögen im Stoff des Lebens empfängt. Dieses Vermögen ist aber nicht als eine mystische "Form" in den Menschen vorhanden, sondern als ein unmittelbarer Inhalt, als Leben. FRIEDRICH nennt dies, was er als sein tiefstes Leben spürt: Allheit. Als seinem höchsten Inhalt gibt er ihm auch den heiligsten Namen: Gott. Als Form, als ein Glied seines Denkens, nennt er diesen Lebensinhalt: System. Als schaffende Kraft, als ewigen Antrieb, als sein Gewissen, nennt er ihn: Ideal. Dies sind "die köstlich lauten Urkunden unseres göttlichen Adels".
"Es gibt nur ein wirkliches System, die große Verborgene, die ewige Natur oder die Wahrheit." Natur nicht als Summe der einzelnen Dinge, nicht "wenn sie von aller Tugend sorgsam gereinigt ist", sondern als Seele des Alls, als Summe des Wertvollen, das er erlebend in ihr empfindet, nicht die magische, sondern die moralische Natur, "das mächtige Leben, das in allem, was entsteht und vergeht und untergeht, seine eigene unendliche Fülle in wechselnder Liebe und wechselndem Kampf mit sich selbst ewig umschlingt." Er ahnt "im heiligen Dunkel nicht ein unendliches Nichts, sondern ewige Quellen vergänglichen Lebens", einen unendlichen Zusammenhang, der die Seele, die Wahrheit, die Sittlichkeit der Schöpfung ist: Gott. So träumt er nur die Form seines eigenen Geistes ins All hinaus, die Form seines Wahrheit- und Werterlebens, wie sie immer geblieben ist. So rechtfertigt er sie durch Religion. Alles, was wir als wertvoll empfinden, Wahrheit, Schönheit, Sittlichkeit, ruht also auf dem einen Grundwert. Was ist nun dieser "Geist des Systems", wie FRIEDRICH diesen höchsten Wert mit einem der Worte benennt, die den Sinn verdecken? Es ist ein Wert, der nur im Gefühl unmittelbar ergriffen werden kann. Der Geist des Systems, der etwas ganz anderes ist, als ein System, führt allein zur Vielseitigkeit. System ist Einheit in der Vielheit, innerer Zusammenhang, innere Vollendung, "Vollständigkeit". So ist das Wesen der Wahrheit dasselbe wie das Wesen des Dichters: "Harmonie innerer Fülle." Es ist also der Wahrheitswert des künstlerischen Denkens, der hier in den Mittelpunkt gestellt wird. Bloßes Leben, reine Natur ist nichts als Fülle - und darum nur ein Element der Wahrheit und der Schönheit. Ein Ganzes wird daraus nur durch Einheit und System. Seele des Ganzen, Wahrheit, Sittlichkeit ist nur, wo ein in sich vollendetes Ganzes ist. Zwei Unendlichkeiten müssen sich hier begegnen: die der Natur, der Fülle und die der unendlichen, einheitlichen inneren Kraft. Im Verstand sind sie nicht zu vereinigen. Die Forderung der Wahrheit ist nie erfüllt, es bleibt ein ewiger Zwiespalt zwischen dieser Forderung und der uns umdrängenden Fülle der Natur. Die Natur bleibt stumm vor der Wahrheit. Niemand soll sie zu besitzen wähnen; der Durst nach Ewigkeit wird hier nicht gestillt. Wie ist Einigung möglich? "Allheit", "Einheit", das ist ja nur ein Wort für selige Stimmungen dieser seltenen Einigung, die in Wahrheit aber immer wieder entweichen. FRIEDRICH fühlt stark, daß ihm hier in seinem Leben die Kraft noch fehlt, die allein diese Einheit dauernd herstellen kann, und daß hier viele Rätsel sich lösen müssen. Wenn er auf diese Dinge kommt, spricht er abgerissen, suchend. Der Geist soll sich dem Wirklichen anschmiegen, soll eins mit der Natur werden. Sonst wirkt er zu sehr nur aus sich und aus seinen Begriffen. Dann ist diese Einheit nicht möglich, so bei SCHILLER. Im Carlos sucht man sie vergeblich. SCHILLER ist überhaupt "zu abgerissen und unnatürlich"; ihm fehlt die "Harmonie". Was ist diese Harmonie, die SCHILLER hier abgesprochen wird? Die Einheit im Hamlet ist seine Stimmung - "die ihm ganz eigentümliche Ansicht von der Bestimmung des Menschen", aber diese ist eben gerade auf einen unseligen Dualismus gebaut. Der Gegenstand und die Wirkung dieses Stückes ist heroische Verzweiflung. Unser zerbrechliches Dasein kann unseren göttlichen Forderungen nie Genüge leisten. Im Götz ist es der Rittergeist; aber auch dieses Stück läßt "zuviel Bitteres zurück". Die höchste Schönheit der Anordnung ist hier also noch nicht erreicht. Es muß noch ein Höheres geben, ein Etwas, mit dem die Schönheit innig zusammenhängt. Es ist die Schönheit, von der WINCKELMANN spricht; FRIEDRICH empfindet sie sehr stark, und ihr Geheimnis eben nennt er jetzt die "Einheit". Aber er kann sich nicht Rechenschaft geben über das Wesen dieser Einheit. Es ist keine Vernunfteinheit, "daß der freie Geist stets siegt über die Natur", wie sie im Hamlet sich selber sprengt. Es ist auch nicht bloß die Natureinheit wie im Götz. "Die Teile müssen in das größere Ganze sanft verschweben wie Wellen eines Stroms." In GOETHE ist eine solche Einheit. Auch im Romeo ist Einheit, "aber noch habe ich sie nicht erforschen können" und bald darauf: romantische Melodie sei ein höchst treffender Ausdruck für das Wesen von Romeo. "Kein Gedicht ist so romantisch und so musikalisch. Die schöne schwärmerische Schwermut des Romeo ist ein wesentlicher Zug." Zum erstenmal wird hier also "romantisch" im Sinn eines neuen, noch nicht faßbaren Elements der Schönheit genommen. Auf Romeo hat wohl AUGUST WILHELM den Ausdruck zuerst angewandt; für FRIEDRICH schmilzt er zusammen mit jenem letzten besten, was er selber so leidenschaftlich such und seinem Leben wünscht. FRIEDRICH hat diese "Einheit" und damit den Grund seiner künstlerischen Weltanschauung in seiner Freundschaft mit CAROLINE gefunden. In den Stunden, in denen er mit dieser Frau zusammen war, wurde sein Leben zum erstenmal im Mittelpunkt getroffen. Er hatte bisher schwer ringend, kämpfend gelebt in seiner Welt. Wohl fühlte er seine verborgensten Kräfte lebendig, aber all sein inneres Leben war drängende Fülle, jeder Gedanke bewegte die ganze schwere Masse. Mit geheimer Bangigkeit schaute er zu, "in der Furcht, es möchten beim Mißlingen mit doppelter Verzweiflung alle diese Kräfte in ihren vorigen angstvollen Schlaf zurücksinken." Seine Leidenschaft zum Ewigen hatte ihn verzehrt. Er stand oft am Rand der Verzweiflung. Ein unselig grübelnder Verstand machte ihm sein unmittelbares Leben und Genießen unrein und ekel. Er wußte nicht, wie "Harmonie" möglich sein soll bei diesem Trieb nach dem Unendlichen und dieser Verzweiflung. Die Schönheit war ihm zerreißend. Er fand keinen Ausgleich im Leben. Heilige Schönheit in den seltenen Stunden des Aufschwungs - marternde Wahrheit, bis zum Verzweifeln ihn verzehrend, dies war das Leben seines Geistes. Dazwischen ging sein Dasein in Rausch und Ekel. Es war ein Mißverhältnis seines genießenden und denkenden Vermögens. Die Vernunft, die aller Leidenschaft seines Gefühlslebens Genüge tun sollte, der Schönheitssinn, der alle Ideale der fessellosen Vernunft, allen Hunger nach der Ewigkeit still machen sollte - beide hatten ihn zuletzt gemartert, weil er von beiden Unmäßiges verlangte. Sein Geist konnte sich nicht an die Wirklichkeit schmiegen; "der leise Gang der Natur" war ihm verloren. Zwischen dem hohen Flug und dem Ekel am Alltaglichen war keine Mitte. "Eine Liebe ohne Gegenstand brannte in ihm und zerriß sein Inneres". Er erwartete in jedem Augenblick, es müsse ihm etwas Außerordentliches begegnen. Er war unter den Dingen und unter den Menschen "wie einer, der mit Angst etwas sucht, woran sein ganzes Glück hängt." Er hatte gar keinen Sinn für das Unbedeutende. Es war ihm, als wolle er eine Welt umarmen und könne nichts greifen. Von hohen Plänen und "gefräßiger Wißbegier" trieb es ihn in den "gefährlichen Abgrund von Sehnsucht und Wehmut", in die Trunkenheit der Kunst. Nie hatte er weniger eine Ansicht vom Ganzen seines Ich. So stürzte er sich mit Lust und Übermut in das Chaos von innerem Leben, in eine Raserei des Gefühls. Es kam eine Krisis seiner ganzen Natur, eine "Krankheit des Geistes, die immer tiefer und geheimer an seinem Herzen nagte". Dies alles heilte und vernichtete der erste Anblick einer Frau. Jetzt ergriff ihn ein neues, unbekanntes Gefühl, daß dieser Eindruck ewig ist. Im Kampf mit seiner eigenen Liebe festigte sich sein Wesen. Er zerriß alle Bande von ehedem, und "die Vergötterung seiner erhabenen Freundin wurde für seinen Geist ein fester Mittelpunkt und Boden einer neuen Welt." So schreibt FRIEDRICH in der Lucinde von der Zeit, in der er mit CAROLINE, der versprochenen Frau seines Bruders zusammentraf, in der das Leben mit unmittelbarer Gewalt zwischen seine stürmenden Gedanken trat. Was hier zwischen Leben und Gedanken, das war entscheidend nicht nur für die Festigkeit seines Lebens, sondern auch für die Begründung der Romantik. Um ein einfaches Stück Menschenleben sammelten sich die hohen Träume von neuer Schönheit und neuer Kunst. Das Göttliche, das vordem mit den Schauern des Untergangs ihm umgeben war, wie ein verzehrendes Meer, das seine Söhne tötet und verschlingt, das vermählte sich nun mit dem Fröhlichen, mit dem Leichten, und aus dem orphischen Kult von Schönheit und Untergang wurde die frohe Botschaft von der Schönheit, die die Freude selber ist. Nicht die Gedanken und die Worte der geliebten Frau haben ihn hier aus der schwärmenden Dunkelheit geleitet, sondern ihre "bloße Existenz", die Art, wie sie Schmerz und Freude genommen hat, wie sie durch helle und unsäglich dunkle Stunden ging, wie sie das Leben meisterte mit einer siegreichen und tiefen Anmut, dies wurde ihm "Mittelpunkt einer neuen Welt". Deshalbe gehört das Leben dieser Frau mehr als ihre Worte und mehr als irgendein anderes in die Geschichte des romantischen Denkens. Denn in einer Zeit, wo die Menschen mehr als jemals zuvor sinnlich dachten, wo alle Gedanken - nach FRIEDRICHs Zeugnis - sichtbare Gestalt und Bewegung annahmen und wider einander wirkten mit der sinnlichsten Klarheit und Gewalt, da ist das Leben selber so wichtig fast wie die Deutungf, die ihm gegeben wird, die Gestaltung des Lebens so wichtig wie die Gestaltung der Gedanken, die darauf bezogen sind. Und keiner war damals in diesem Kreis, der nicht in CAROLINE das Dasein eines neuen und seltenen Menschentums empfunden hätte. So steht ihr Bild hinter vielen romantischen Gedanken wie die lebendige Tat hinter dem Wort des Dichters, der sie rein und ewig macht. Wenn wir das Leben von FRIEDRICH SCHLEGEL, NOVALIS, CAROLINE auf seinen unmittelbaren Gehalt anschauen, fällt eines auf in jener Zeit: es ist fast gar keine Sentimentalität mehr darin. Man hat deshalb diese Menschen auch in ihrem Leben damals nicht verstanden. SCHLEIERMACHER, der große Herzenskenner, ist der einzige, der das klar erkannte; er hat FRIEDRICH SCHLEGEL seiner Freundin HENRIETTE HERZ gegenüber ausdrücklich von dieser Seite her verständlich zu machen gesucht. Das war damals etwas Unerhörtes. Noch ging das Leben in seinen hohen Augenblicken im Taumel empfindsamer Seelenschwelgerei dahin. Gewisse Anlässe waren mit einem gewissen Grad an Rührung unbedingt verknüpft, und man hatte bestimmte Zeremonien, wodurch diese Gefühle fast mechanisch ausgelöst wurden. Nun kamen diese Menschen, die ihr Leben mit einer rücksichtslosen Wahrhaftigkeit leben wollten, von aller Konvention frei; sie wollten das Leben ihrer Seele leben, nicht die Ideen, die ihr Kopf darüber hatte. Empfindsamkeit geht meist mit Aufklärung und Rationalismus zusammen. Diese neuen Menschen lebten "nicht in der Sinnlichkeit, aber im Sinnlichen". Wort, Klang, Bewegung war ihrer Seele näher als die Rührungen, die durch bestimmte Szenerien angeregt wurden. Sie schienen herzlos, gottlos darum. Diese Romantiker wollten gerade das "Romantische" von sich abhalten - wie man es damals und heute versteht. Sie alle haben eine unmittelbare Überzeugung vom Gehalt des Daseins, den Glauben an das reine Leben der Seele; an etwas, was wirklich in uns ist, ewig, fest, rein, etwas ganz einfaches, Grundkräfte von schlichter Gewalt, die man durch "Grundsätze" erhellen kann, die man bilden kann, die einen sicher durchs Leben führen. Darum lieben sie HEMSTERHUIS, den Aufklärer der Seele; darum lieben sie die besonnene Grundstimmung, die für unsere modernen Zeiten den natürlichen Gesichtspunkts darbietet. Darum empfiehlt NOVALIS FRANKLINs Jugendjahre seinem Bruder. Nichts ist bei CAROLINE stärker, bestimmender gewesen als der Glaube an diese Wirklichkeit der Seele. Sie war eine der ersten unter den heftig und leidenschaftlich lebenden Menschen jener Tage, die das empfindsame Wesen bis ins tiefste überwunden haben und ihr Leben ganz auf die besonnene Festigkeit der inneren Wirklichkeit bauten. Ihre Jugend hat sie, in einem reichen Bildungsleben verwöhnt, in unbesorgter leichtlebiger Dumpfheit verbracht, manche Torheit mehr aus Frohsinn als aus Leichtsinn begangen. Überschwenglich, doch wie sie selbst sagt, keine Schwärmerin will sie sein. Wohl liebt sie die starken und überwallenden Bewegungen der Seele; aber keine "romanhaften" Ideen will sie haben, wenn sie nicht zugleich "so ganz in der Natur" liegen wie in den Dichtungen GOETHEs. Das kleine flüchtige Glück irgendeines harmlosen Tuns beglückt sie mehr als die großen empfindsamen Erregungen. Ihr oft empfindsam überwallendes Herz soll fest werden, ihr Verstand scharf, d. h. er soll Menschen und Sachen "nach ihrem wahren Gesichtspunkt" beurteilen. In allem, was sie tut, will sie ihr Dasein spüren und genießen. So schafft sich schon das junge Mädchen, das in der gelehrten Stadt unbesorgt, fast leichtfertig hinlebt, dann die junge Frau im einsamen Eheleben mitten ihm Harz ihr immer wechselvoll gegenwärtiges Leben - bis sie dann nach dem Tod ihres Mannes, von Irrungen und Leidenschaften arg bedrängt, in Elendigkeiten des kleinstädtischen Lebens herumgestoßen, ihr inneres Leben entdeckt. Das Nachdenken erwacht, indem sie sich so allein wie vor den Toren eines Daseins sieht, dessen Fülle sich in ihr zu bewegen anfängt. Nun fühlt sie sich bald fest und stark in aller äußeren Enge. Göttern und Menschen zum Trotz will sie glücklich sein, aus sich selbst heraus, keiner Bitterkeit Raum geben, treu bleiben dem reinen Leben ihrer Seele, dem sanften Mut, der milden Gleichheit ihrer Natur. Nun verbindet sich die Schwärmerei ihres phantasievollen Herzens einer milden, kühlen Besonnenheit als einem tragenden Lebensgrund, dem man vertrauen kann, wenn man nur Helligkeit hat in seiner Seele, wenn nur jede Tat, jeder Gedanke getragen wird von diesem Grund. Was ist überhaupt nun noch an der Schwärmerei,
Jetzt wird sie wirklich überschwenglich und doch nicht als eine Schwärmerin. Das phantasievoll leidenschaftliche Leben ihrer Seele ergreift jeden kleinsten Augenblick, es staut sich nicht in verhaltender Träumerei, auch der bitterste Schmerz löst sich in jedes Geschäft, an das die Gegenwart sie heftet, in den geringsten Genuß, den sie darbietet. Sie kann sich in Liebe einer Sache ganz hingeben, und doch kann sie sich im nächsten Augenblick ganz auf sich allein verlassen. Eine starke Weltfrömmigkeit wird ihre Religion. Milde Traurigkeit und Bescheidung liegt am Grund, aber darum schwingt ein Element unermüdlichen seelischen Lebens und Begehrens, eine Freudigkeit, die Welt zu erleben in starken Sinnen und einem starken Herzen, ein fast mutwilliges Bewußtsein der inneren Unschuld und Sicherheit, weil alles hell ist und durchsichtig. So findet sie FRIEDRICH - wie mitten in äußerem und innerem Elend die Not sie nicht verfinstert, sondern heller, stärker macht, die Leidenschaft sie nicht zerschlägt, sondern wie sie in einer fast verzweifelten Lage das Leben noch einmal mit sanftem Mut besiegt. Da mußte ihm ihr ganzes Wesen doppelt groß erscheinen. In der Liebe zu dieser Frau hat FRIEDRICH sich selber gefunden und die neuen Forderungen an Leben und Menschentum frei entwickelt, die schon lang in ihm waren. Mehr als alles Einzelne hat ihn das Ganze dieses Frauenlebens leidenschaftlich beschäftigt. Schon als er nur aus spärlich mitgeteilten Briefen durch WILHELM von ihr erfahren hat und ihm damals schon in Haß und Liebe dieses Phantom mehr gewesen war "als die Wirklichkeit der Weiber", hatte er die tiefe Verwandtschaft zu ihr empfunden in der Wahrheitsliebe, dem Freundschaftsenthusiasmus, dem Stolz; er hatte sonst bei keiner Frau den Trieb nach dem Unendlichen gefunden. Aber das Zusammensein von so viel verschiedenen Leben - daß die Erhabenheit so leicht beweglich und phantasievoll sein könnte, so zart im Gefühl und auch in das Geringste eingesenkt - dies war ihm unbegreiflich, und dieses Unbegreifliche hielt ihn gebannt. Es war ja das Problem seines eigenen Lebens, und darum schuf er sich diese Frau vor allen anderen zu einem Phantom seines Denkens. Ihrem Wesen spürt er nun nach. Er emfand darin sofort etwas Seltenes, Außergewöhnliches. "Mir deucht, für sie zu schwärmen, heißt sich an ihr zu versündigen. Vielleicht gelingt es mir, sie gleich ohne Verblendung zu fassen." Sie hatte einen "ordentlich göttlichen Sinn für Wahrheit" und doch war ihr Leben nicht zerrissen und auch das Geringste hob sie zu sich auf. Er kann lange keine Worte finden, wenn er von diesem Innersten und Eigentlichsten reden will, das er später in der Lucinde so wundervoll einfach festgehalten hat. Er kommt ihm zum erstenmal nah, indem er einen tiefen Mangel an sich selber entdeckt. "Es wäre ungerecht, mit Seele abzusprechen, aber die Seele der Seele, lieber Wilhelm, die fehlt mir doch ganz offenbar, nämlich der Sinn für Liebe." Nun sah er dieses rätselhafte Wesen im vertrautesten Umgang; er sah die eine Grundkraft, die dies alles zusammenhielt, er nannte sie Liebe und ihr Werk Harmonie. Hier also sind zuerst, als ein Stück unmittelbaren Lebens, als ein tastender Versuch seiner Deutung, die beiden Begriffe, die von nun an immer wiederkehren bei ihm, die bis in sein innerstes Denken eindrangen, in denen er alles zusammenfaßte, was ihm selber fehlte, in denen er suchend ein Element bezeichnete, in dem sich die Spannungen seines Lebens lösen sollten, und nicht nur seines Lebens, des modernen Lebens überhaupt - alles Zersplitterte, Fragmentarische, unselig Zusammenhangslose der modernen Kultur. Diese Begriffe wuchsen an zum Problem der Kultur überhaupt, mit ihnen drang er in die griechische Welt, mit ihnen stellte er das neue Problem der Romantik. Was ist dies "Seele der Seele", dieser "Sinn für die Liebe", von dem er tief betroffen seinem Bruder geschrieben hat, daß er ihm fehlt, und von dem er wußte, daß er diese Frau in ihrem so viel einfacheren Leben so schön und groß machte? Es ist nicht der Trieb nach Unendlichkeit, diese ewige Sehnsuch, die hatte er selber. Es ist vielmehr die Kraft, die allein diese Sehnsucht versöhnen kann mit dem Alltag, mit der starren Wirklichkeit, mit der Notwendigkeit der Beschränkung, die Art, wodurch allein die Schwärmerei im Schleier der stillsten Gewöhnlichkeit einhergehen und die Seligkeit der hohen Aufschwünge in den einfachsten Alltag einkehren kann. Da darf man das Glück nicht im wilden Verlangen nach dem Ewigen erjagen wollen - denn es kommt nur aus der Liebe, aus der sittlichen Liebe, die alles Leben rein und freudig empfängt, die sich nicht erzwingen läßt, weil sie unversehens und wie ein Geschenk kommt. "Die ewigen Richtungen des strebenden Gemüts und die niederziehende Fülle der Natur", diese beiden Unendlichkeiten, die uns gegeben sind, lösen sich - so erkennt er jetzt - einzig in der Kraft der Liebe. Diese Liebe ist mehr als jede Kunst, sie ist der Atem der Schönheit, Sittlichkeit und jedes hohen Tuns, sie ist die Seele der Seele. Nur durch sie wird große Kunst möglich, denn nur durch sie wird Harmonie möglich. Diese Einheit, die er suchte, als Vernunfteinheit, als Natureinheit, sie ist nur dann wahrhaft vollkommen und mit Schönheit erfüllt, wenn dieses einfach Große der Vollendung dazu gekommen ist, wenn sie durch Liebe geschaffen ist, wenn sie Harmonie ist. Denn "Harmonie ist nur ein Geschenk der Liebe". Nur in diesem Element von Liebe und Harmonie geschieht das Größte, Wunderbarste des Lebens: daß die Fülle beflügelt wird, daß das Göttliche leicht wird, daß das Feste, Sichere, Schwere mild und zart wird, nur hier ist jenes unfaßbare Element der Seele, in dem die vollendeten Dinge leben und atmen, das von ihnen ausströmt: das Glück der Vollendung. Die zartesten Grenzen, das feinste Gleichgewicht, den Sinn jenes bedeutenden Götterwinkes "Maß" lernte er jetzt als den Gipfel der Lebenskunst und als das Wesen der Schönheit zugleich verstehen. Es war die Lebenskunst CAROLINENs, wie sie in Briefen sie oft verkündet hat: die Notwendigkeit der Entsagungen, um Wahrheit zu genießen, der Bescheidungen, um die Quelle des Glücks nur in sich selber zu haben. Man meint das selige Gefühl dieser eigenen Befreiung herauszuhören, wenn er in den "Grenzen des Schönen" diesen Sinn des Maßes preist, der wie alles Göttliche nicht geradezu erreicht werden kann: "nur plötzlich und unbegreiflich tritt die Vollständigkeit wie ein Fund ins Leben." In diesem Erlebnis des Maßes ist nun das Lebenselement enthalten, das FRIEDRICH dann in den Begriff des Klassischen gefaßt hat. Dieser Begriff steht somit über jedem Gegensatz der Kunstrichtungen und Kunstinhalte. Er bezeichnet ein Letztes und Höchstes des Lebens überhaupt und ein ganz Einfaches. "Beflügelte Fülle", das ist das Wesen der Vollendung. Der Stoff des Lebens wird da überwunden. Leben ist ja nur ein Element der Schönheit, die schwere Masse wird besiegt; von innen her wird sie leicht und freischwebend. In diesem Begriff ist über den Inhalt gar nichts ausgesagt. Woher diese Fülle kommt, welcher Art sie ist, dies ist nicht in erster Linie wichtig. Über alle Inhalte hinaus ist für uns ein Wertvolles, Göttliches da: die Form, die Gestalt, der Rhythmus des Lebens. Daß diese Werte sich im Stoff erfüllen, ads ist das Verlangen aller Schönheit, und dort ist die höchste, wo keine hemmende Schwere mehr ist. So ist in die Ferne, als Maß der Vollendung, ein Ideal gestellt, das alles umfassen kann, was die Seele überhaupt jemals an Inhalten in sich fassen wird. Und innerhalb der Lebensstimmungen, die den Begriff des Klassischen tragen, erheben sich nun ganz neue, noch viel weiter vordringend, die mit ganz anderen Lebensenergien erfüllt sind. Neben SOPHOKLES tritt ARISTOPHANES, neben die feierlich ruhige Seele der Iphigenie tritt die bacchantische Seele der Romantik. Aus der unbewußten Mächtigkeit des inneren Lebens sollen Stimmungen und Freuden einer ganz reinen, ungebundenen, jauchzenden Geistigkeit steigen. Über dem tiefen, schweren Lebensgrund soll ein Spiel der freien Kräfte in der Höhe sich entfalten, eine Schönheit, die dem unendlich differenzierten modernen Leben gewachsen ist, die die einfach ernsten, allgemeinen Geschicke des Tragischen hinter sich läßt, weil die Tragik - wie sie bisher gekannt wird - nur zwischen den Grundverhältnissen des primitiven Lebens sich auslösen kann, "zwischen den großen Hauptmassen" des menschlichen Schicksals, und weil darum das höchste tragische Schöne zwischen diesen Grundverhältnissen schon erreicht ist. Das höchste komische Schöne, die tiefe, reine Gewalt der Freude aber ist noch nicht entfesselt. Sie nur kann in die zartesten, verschlungensten Gänge unserer Seele eindringen, und sie trägt den Keim eines neuen Tragischen in sich selber. Schon kommen Gedanken, die dem Wesen dessen, was FRIEDRICH später Ironie nannte, ganz nah sind. Die Verletzung der einheitlichen Stimmung bei ARISTOPHANES sei in einem wesentlichen Zug des Lebens und der Freude begründet, sie sei besonnener Mutwille, überschäumende Lebenskraft. So trägt die Natur der Freude ihren Stachel und ihre Schicksale in sich selber. Sie erneuert sich im Kreislauf ihrer eigenen Regsamkeit. Sie zerstört, um nicht zu erstarren. Ihr Wesen ist die Sehnsucht nach dem Unendlichen, der "enthusiastische Geist". Ihr tiefer Lebensgehalt ist die Liebe zu allem göttlichen Leben in der Welt. In dieser Lebensstimmung vollendet sich nun seine ästhetische Weltanschauung. Er überwindet das Schwere, Lastende seines eigenen Wesens. Nach den dunklen, verwirrten Jahren hebt sich nun der voll Strom von Lebensenergie, der von jeher in ihm war. Heiterkeit, Besonnenheit hatte er seiner Seele immer gewünscht. Die mildleuchtende Freude der HEMSTERHUISschen Gedanken war ihm früh nah und vertraut. Die strahlende Heiterkeit der Jugend hatte ihn an NOVALIS entzückt, nun las er von neuem HEMSTERHUIS, nun las er die Griechen, und die starke, gläubige Frömmigkeit CAROLINENs ergriff ihn aus unmittelbarer Nähe. So bildet sich ihm nun eine unmittelbare Überzeugung vom Gehalt des Lebens, vom Inhalt alles höchsten Schönheitsempfindens, und er erkennt den seelischen Grund jener Harmonie, jener Liebe und Schönheit in ihrem tiefsten Wesen als Freude. So überwindet er erst für sich selber den Dualismus von ewig unbefriedigter Sehnsucht des Geistes und niedrigem, sich selber zerstörendem Sinnenleben voll Genuß und Schmerz, indem er Glück und Wesen der Schönheit bis in die Naturbedingungen unseres seelischen Lebens hinabreichen läßt. Genuß ist notwendig, er erfrischt und belebt die Kraft zu neuem Kampf. Aber er soll nicht Zweck des Lebens werden. Die Gesetze des Menschen fordern Sittlichkeit, Freiheit. Reizbarkeit, dieses ruhelos schwingende Element des seeliischen Aufnehmens und Begehrens, ist das schönste und gefährlichste Geschenk der Götter, es macht den Menschen leicht unfrei. Die Reize sollen nur Hülle des Schönen sein. Der Mensch soll seine Freiheit wahren. Wie ist da Genuß noch möglich? Die Liebe ist allein der Genuß des freien Menschen. Sie ahnt einen Überfluß von Güte, Geist und Fülle. Sie allein erzeugt Harmonie, der Genuß ist umso mehr wert, je selbsttätiger er ist, je mehr er von Liebe erfüllt ist, je mehr er sich dem Schönen nähert. Das Schöne ist die Vermählung von Gutem und Angenehmen, von Einheit und Fülle. Und das Symbol der Einheit und des Guten, die Erscheinung der Liebeskraft im Geist und in der Seele ist die Freude. Der Genuß des freien Menschen soll darum nicht Rausch des Lebens sein, sondern aus der hellen, reinen Kraft der Freude entspringen, denn nur diese drei reichen bis zum letzten Grund der Seele: Liebe, Harmonie, Freude. Die Menschen kennen die tiefste Kraft der Freude nicht mehr, - die Griechen waren ihr näher, sie hielten die Freude und die Lebenskraft für heilig -, sie kennen nur die heftige, unruhige, vermischte, sinnliche Freude, wie sie in der Komödie erzielt wird. Da ist kein Genuß der Harmonie mehr möglich, denn der erfordert Besonnenheit, geistige Freiheit, jene Freude erzeugt aber nur einen Rausch des Lebens und reißt den Geist mit sich fort. Die höchste Freude aber ist rein und ruhig. So schließt sich die Kette. Liebeskraft, Freude, Harmonie sie sind tief verwandt. Sie verlangen ein Beisammensein der ganzen Seele, eine höchste Energie der Lebenskraft. Sie steigen nur aus der unbewußten Mächtigkeit der hellen, leichten Menschenseelen empor. Sie nur sind- im tiefsten Grund - die Wirklichkeit der Seele. So hat das Leben der Schönheit einen Inhalt bekommen. Die freie, in Enthusiasmus und Bildung selbständig gewordene, die freuderfüllte und rein lebende Menschennatur erfüllt nun vor allem FRIEDRICHs Denken. Neue Lebenswertungen schöpft er daraus, ein Ideal der Geselligkeit, des Umgangs, der Moral und mit all dem auch ein neues Ideal der Frauen. Wieder verschlingen sich die Fäden, die erlebte Nähe CAROLINENs macht ihm griechisches Wesen vertrauter. So spinnt er immer an die lebendigen Anschauungen seine eigenen, vorwärts dringenden Lebensgedanken. Das Leben der griechischen Hetären sucht er zu verstehen als eine schöne sinnliche Kunst, die von der milesischen ASPASIA, die selbst SOKRATES seine Lehrerin nannte, vor allem ausgebildet wurde. Das Leben der DIOTIMA erhebt er an das neue Bild, das er von Frauenwesen überhaupt sich gestaltet. Auch die Frau soll an jenem Bildungsideal teilhaben. "Die dorische Selbständigkeit" feiert er und er feiert damit CAROLINE, die er in Briefen wohl auch die "selbständige Diotima" nannte. Nicht die grenzenlose Hingebung wird von der Frau gefordert, denn dadurch würde gerade "die Wurzel der Tugend" vernichtet. Ein neues Ideal der Leidenschaft entspricht diesem Lebenskreis, es ist - wie es CAROLINE gelegentlich ausdrückt - nicht mehr die Moral der ROUSSEAU-Zeit, sondern die romantische Leidenschaft, wie sie im Romeo aufblüht. In aller Hingabe bleibt da eine "edle Bestimmtheit der Seele, eine milde Festigkeit zurück"; es ist die Leidenschaft, wie sie CAROLINE lebte. Was CAROLINE als unmittelbare Lebensgewohnheit in sich trägt, das entfaltet sich auch immer bestimmter in FRIEDRICHs Denken. Es ist dieselbe Loslösung von der Geniezeit, dieselbe Ablehnung abstrakter Lebensregelungen. Nicht mehr der Überschwang des Rausches dumpfer Hingabe, sondern der des Spiels, der in Lust und Freiheit schwebenden Seelenbewegung. Nicht Harmonie als Gestaltung aus festen für alle gleichen Grundsätzen, sondern als Ausgleich der Momente, als "beflügelte Fülle". So tritt in den Mittelpunkt der moralischen Welt die Forderung nach Selbständigkeit. Sie vollendet erst den Charakter. Vielheit und Einheit, Fülle und innere, selbstsichere Kraft, diese beiden Grundtriebe vereinigen sich zu einem höchsten erst in der Allheit, in der Vollendung. Und diese Vollendung äußert sich "als Selbständigkeit oder als sittliche Leibe." Die Liebe ist der Genuß des freien Menschen und nur der Mensch ist ihr Gegenstand. Im freien Spiel müssen sich die Kräfte des Menschen entwickeln. "Nur vereinigt vollenden sie die Bildung des Geschmacks"; einzeln erhöhen sie nur die Reizbarkeit. Im HEMSTERHUISschen Geist wägt FRIEDRICH in den "Grenzen des Schönen" die verschiedenen Kräfte der Menschennatur gegeneinander ab und läßt sie in der Liebe vollendet sein. Im freien Genuß des Schönen nur bildet sich das Vermögen des Schönen. Freiheit ist also auch das Element der moralischen Vollendung. Die Bestimmung des Menschen ist: Bildung, Ausgestaltung all seiner Fähigkeiten, lebendiger innerer Zusammenhang seiner Kräfte. Hier - in der moralischen Welt - dringt nun eine neue Gedankenreihe FRIEDRICHs vor, in der er über CAROLINENs Genußphilosophie weit hinausstrebt. Es entfalten sich die idealistischen Antriebe seines Wesens. Es ist nicht ganz zu glauben, daß eine Gewähr des Guten in der Unmittelbarkeit seines Instinktes uns gegeben ist. CAROLINE mochte der "einfache Instinkt des Fliegens" genügen - er drang auf Erkenntnis, auf Wissen, und sie schreibt ihm dann auch später, daß sie "das Nötige und Erfreuliche desselben jetzt einsehen" lernt. Sein ganzes Sein und Denken war von jeher durch diese Grundfragen des Idealismus bewegt: nach Wert und Unwert der Handlungen und der Dinge. Es gibt Häßliches und Gemeines in der Welt, dieses Zugeständnis nötigte er dem Bruder ab. Also ist es nur eine Wortstreit, wenn man alles Natürliche gut nennt. Denn das Häßliche ist doch auch natürlich. Überall stellte er - zum Schrecken AUGUST WILHELMs - die Fragen des Werts und Unwerts. Überall drängte er auf Rechtfertigung aus ewigen Zwecken des Menschentums, so trieb er Philosophie, seit wir seine Entwicklung verfolgen können. Wer richten und urteilen will, der braucht Gesetze, wenn auch der schöpferische Mensch ganz frei ist, versichert er beruhigend dem Bruder. Aber auch bis in die tiefsten Begriffe, durch die er das Wesen des Schöpferischen im Menschen zu ergründen sucht, senkte sich die Frage von Wert und Unwert. Schöpferisch im Menschen sind die Kräfte, die unser Dasein erhöhen, die uns Werte erschaffen. "Vernunft ist das Vermögen der Ideale." Diese Ideale sind nicht abstrakt und allgemein, sondern jedem eigen und unmittelbar gegeben, als der Grundtrieb zur Allheit. Dieser Trieb entfaltet sich in Enthusiasmus und Liebe. Der "Frühling der Begeisterung" darf darum nicht versäumt werden. Ohne ihn ist Bildung, innere Vollendung des Lebens nicht möglich. Aber er ist nicht das Leben selbst. FRIEDRICH schreibt an seinen Bruder von der jugendlichen Liebe:
Darum muß jeder sich selber lieben können; er muß das göttliche Bild lieben, das in ihm ist, er muß es in schöpferischer Liebeskraft sich enthüllen. Dies ist die Sittlichkeit im Sinne FRIEDRICHs, der "verzehrende Trieb nach Tätigkeit", nach Bildung, nach einem schöpferischen Leben in der eigenen Seele, die Sehnsucht nach dem Unendlichen. Und diese innere Kraft ist das "Allgemeine und Reine"; die ewigen Zwecke entspringen daraus jedem in der ihm besonders gegebenen Bestimmung, und "eben die rechten Zwecke machen den Wert des Menschen, und echter Verstand und echter Mut können nur mit diesen verbunden sein". Wir können keinen Menschen verstehen und beurteilen, wenn wir ihn nicht von diesem inneren Gesetz aus beurteilen. Dieses Verstehen ist ein Studium, denn es gibt viele und entgegengesetzte Vortrefflichkeiten im geschichtlichen Leben der Menschheit, wenn es auch nur wenige Grundtriebe und ewige Zwecke der Menschen gibt. Darum ist Geschichte ein so unendlich wichtiges und reizvolles Studium. Hier wird ein Mensch oder ein Volk in seinem Grundwesen, im "eigenen Charakter" ergriffen, und dieses "Gemeinschaftliche", das sich aus seiner individuellen Mannigfaltigkeit herauslöst als ein Ideal, as wir in seinem eigenen Sinn zu Ende denken können, wird dann erforscht, "wie es wurde und nach der äußeren Welt sich modifizierte". Hier entfalten sich die Werte und Ideale, die die Philosophie in abstracto und die Kunst nur fragmentarisch darstellt, "in einem ganzen Menschenleben", im ewigen Widerstreit unendlich vieler Wesen und Verhältnisse, in der bewegten Fülle des geschichtlichen Daseins. Darum erhöht die Geschichte "unser eigenes Leben mehr als die höchste der Wissenschaften und das Schönste der Künste". So hat schon der Neunzehnjährige die geschichtliche Aufgabe ergriffen, in dieser engen Verknüpfung von Kulturaufgaben und historischer Beurteilung und er hat im Keim ddamit die erste idealistische Auffassung der Geschichte gegeben. Dies war Wissenschaft in einem ganz neuen Sinn. Sie sollte nicht nur das Vergangene lebendig und hell machen, sie sollte nicht nur Entwicklungen und Zusammenhänge aufweisen, sie sollte auch Blicke öffnen in ein neues Land, indem sie das vergangene Leben nachschafft, von den Idealen aus, die in ihm pulsieren. Hier wurde nun zum erstenmal und in großem Sinn Wissenschaft und Denken als eine Deutung des Lebens getrieben und Geschichte von Ideen, d. h. von Werten aus ergriffen. Gewiß war es nicht mehr der reine historische Sinn, wie er im jungen HERDER und GOETHE gelebt hatte, der hier in hingebender Schaulust Menschendasein und Geschehen nachbildet. Hier war der Geist selbstbewußter, seiner schöpferischen Bestimmung gewisser geworden. Er ergriff die wahlverwandten Vergangenheiten und schuf das Leben nach von einem Bild des Lebens aus, das den Großen unter den vergangenen Menschen in der Seele gestanden haben mag. Eine solche Geschichte - wie sehr sie auch den wissenschaftlichen Forderungen Genüge zu tun sucht - kann nur von Menschen geschrieben werden, die das schöpferische, wertschaffende Denken höher stellen als das historische. Sie haben ihren Lohn darum auch nicht mit den wissenschaftlichen Ergebnissen ihrer Arbeit dahin, sondern das Bild des Lebens lebt weiter, von dem aus sie die Geschichte des Lebens verstanden haben und neu schaffen. Alle geschichtliche Arbeit, die FRIEDRICH SCHLEGEL treibt, war bezogen auf solche Wert- und Idealbildungen, die er in der Vergangenheit wirksam gesehen hat, und immer waren es seine eigenen Lebenswerte, wie sie sich in der Zeit seiner Freundschaft mit CAROLINE festgestellt haben. Damals faßte er seine Anschauung vom Leben der griechischen Seele, von ihrer Kunst und ihrer Freude, ihrer Tragödie und ihrer Religion. Er faßte diese Anschauung nicht als geschichtliche Wahrheit, sondern selber als Leben, als eine unmittelbare Überzeugung vom Gehalt des Daseins, die ihn über das Griechische bald hinausgetrieben hat. Ein geschichtliches Denken wurzelt damit in einer Sphäre, die der wissenschaftlichen Berichtigung nicht mehr zugänglich ist. Wenn nur in einem gewissen Umfang die geschichtliche Anschauung des tatsächlichen Stoffes Herr wird, dann öffnet sich ein Gebiet, das nur von unserem eigenen Leben erfüllt werden kann. Vielleicht sind die großen wissenschaftlichen Konzeptionen überhaupt nur von diesem Gebiet aus zu fassen, in dem das Leben einen Gedanken unmittelbar, d. h. als Anschauung aus sich heraus erzeugt. Durch den Begriff des Enthusiasmus, der Bildung, der Geschichte wird FRIEDRICH in dieser romantischen Frühzeit nun unmittelbar in die Gedankenkreise des Idealismus hineingeführt. |