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NEIL POSTMAN / CHARLES WEINGARTNER
Semantisches Bewußtsein
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Mißbraucht wird die Sprache, wenn ihre metaphorische Natur verschleiert wird, d.h. wenn das Wort mit der bezeichneten Sache  identifiziert  wird.

Eine fünfte Art des semantischen Bewußtseins hängt mit den sogenannten "fotografischen" Wirkungen der Sprache zusammen. Wir leben in einem Universum des unaufhörlichen Prozesses. In der materiellen Welt um uns verändert sich alles. Wir selbst befinden uns, zumindest körperlich, in dauernder Veränderung. Aus diesem  Mahlstrom  von Ereignissen wählen wir bestimmte Stücke aus, denen wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Wir nehmen diese Stücke auf, indem wir ihnen Namen geben. Dann fangen wir an, auf die Namen so zu reagieren, als ob es die Stücke selber wären und verunklären damit die Wirkungen der Veränderungen.

Die von uns verwendeten Namen neigen dazu, das Benannte zu "fixieren"; vollem dann, wenn die Namen auch emotionale Konnotationen enthalten. Die Ärzte warnen uns zum Beispiel davor, Medikamente über das Verfallsdatum hinaus aufzubewahren, weil sich deren chemische Zusammensetzung wie alles andere ebenfalls verändert. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt therapeutisch wirksam gewesen sein mag, kann zu einem anderen tödlich sein - obwohl der  Name  gleich geblieben ist. Es gibt Semantiker, die darauf hingewiesen haben, daß Wendungen wie "nationale Verteidigung" und "nationale Souveränität" auf ähnliche Weise über das Verfallsdatum hinaus konserviert werden. Was zu einer bestimmten Zeit im politischen Sinne therapeutisch gewesen sein mag, kann sich in einer anderen als politisch tödlich erweisen.

Eine Variante der "fotografischen" Wirkung der Sprache steckt in der Feststellung, wie "unscharf" eine Fotografie sei. "Unschärfe" entsteht auch dann, wenn allgemeine Namen für Klassen verwendet werden, die die Unterschiede zwischen den einzelnen Gliedern der Klasse undeutlich werden lassen. Ein verbreitetes Beispiel für diesen Mangel an semantischem Bewußtsein findet man in den sozialen "Vorurteilen": die Reaktion auf ein Individuum ist vorbestimmt, weil der Name der Klasse, unter der die Person gefaßt wird, schon negativ beurteilt worden ist. Die auffälligst und gewöhnlichste Bemerkung und solchen Fällen lautet: "Sie sind alle gleich." Damit wird der Sachverhalt deutlich.

Andere Formen der Unschärfe findet man in alltäglichen Behauptungen wie "Teenager sind verantwortungslos", oder "Jungen mit langen Haaren sollte man in die Armee stecken". Eine andere Art der Unschärfe ist die Übervereinfachung: eine Aussage über ein Problem, die entscheidende Details ausläßt. Was die Übervereinfachung vor allem auszeichnet, ist die Zuschreibung einer einzigen Ursache zu komplexen Problemen. Heute (1972) besteht etwa die Tendenz, jedes politische Ereignis, das als beunruhigend gilt, der kommunistischen Verschwörung zuzurechnen. Der allgegenwärtige Kommunist ist die einzige Ursache für die Studentendemonstrationen an der Westküste bis zu den Protestaktionen der Schwarzen in den Städten. Die Tendenz zur Übervereinfachung hat eine lange Geschichte und es wird uns leichter fallen, sie an anderer Stelle und zu einer anderen Zeit zu untersuchen.

Übervereinfachung hat zur Folge, daß unmittelbar Handlungen zugelassen werden, ohne daß man sich vorher dem Prozeß der "extensionalen" (realitätsnahen) Verifikation unterwerfen muß. Unsere Rechtsprechung stellt einen gesellschaftlichen Versuch dar, Übereinfachung auf ein Mindestmaß zu reduzieren, indem man von authentischen Beobachtungen ausgeht, die Verifikation von Fakten und ein strenges semantisches Bewertungsverfahren durchführt (wie etwa im Dialog zwischen Anklage und Verteidigung). Wird die Übervereinfachung nicht kontrolliert, dann kann aus ihr Gewalt entstehen, etwa in nationalen Angelegenheiten oder das wahllose Bombardieren von "feindlichen Gebieten" im Krieg. Daß sie eher dazu dient, die Probleme komplizierter zu machen, statt sie zu lösen, scheint zumindest für die Gegenwart kaum erwähnenswert.


Offene und geschlossene Systeme

Die Vorstellung, das Studium eines Faches sei im wesentlichen ein Studium der Sprache, scheint überall anerkannt zu sein, außer in der Schule. Ein kurzer Blick auf das, was einen Frageprozess konstituiert, zeigt, daß der ganze Prozess praktisch aus sprachlichen Handlungen besteht. Wenn wir es zulassen, daß die Fragemethode das Fragestellen, Definieren, Beobachten, Klassifizieren, Verallgemeinern, Verifizieren und Theoretisieren einschließt, dann wird die Untrennbarkeit von Sprache und Fragemethode deutlich.

Selbstverständlich gibt es Unterschiede im Hinblick auf die Sprache der Fragemethode in den verschiedenen "Fächern" - in einigen Fällen sogar beträchtliche. Zum Beispiel: Was ist eine "Tatsache" in der Biologie? Ist es dasselbe wie eine "Tatsache" in der Mathematik? Gibt es in der Mathematik überhaupt Tatsachen? Welches sind die Merkmale einer "historischen Verallgemeinerung"? Sind es die gleichen wie bei einer "Verallgemeinerung" in der Chemie? Was heißt der Ausdruck "Gesetz" in der Biologie, Linguistik, Psychologie oder Physik? Was heißt "Theorie", wenn man von einem "Fach" zum anderen übergeht?

Oder betrachten wir einmal das scheinbar einfache Wort "Antwort". Untersuchen wir, wie der Prozess der Sprachverwendung an der Produktion dessen, was wir Fragen nennen, beteiligt ist. Ob wir ein "Fach" studieren, ein Kreuzworträtsel lösen oder es mit alltäglichen Geschichten zu tun haben. Wir unterscheiden jedoch kaum zwischen den verschiedenen Arten von Antworten, die wir suchen; eine Antwort ist eine Antwort, das ist alles. Was geschieht, wenn wir unfähig sind, Unterscheidungen zu treffen? Eine Möglichkeit ist die, daß wir mit einer "Antwort" aufwarten, die irrelevant ist: sie ist unbrauchbar und genügt den Anforderungen nicht, denen sie entsprechen soll. Antworten dieser Art sind am auffälligsten, wenn sie von Physikern, Mechanikern oder Politikern gegeben werden, deren Antworten man in der Praxis sehen kann. Die falsche Antwort eines Physikers auf die Frage "Was stimmt nicht?" endet mit einer Vorgehensweise, die das Problem meist nur verschlimmert. Die falsche Antwort eines Mechanikers kann mit einer großen Rechnung für eine Reparatur enden, die am Automobil nichts verbessert.

Die "Antwort" eines Staatssekretärs kann zu unnötigem Morden und Zerstörungen führen.

Wie wir gesagt haben, kann man irrelevante Fragen dadurch vermeiden, daß man verschiedene Arten von Antworten unterscheidet. Die nützlichste Strategie dabei ist die, zu bestimmen, mit welchem System man konfrontiert ist. "System" bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Situationen, in denen wir etwas "wissen" wollen; in denen wir versuchen, Bedeutungen zuzuordnen. Ein Kreuzworträtsel kann als ein System (von Bedeutungen) aufgefaßt werden; ebenso die Geometrie, Geschichte, Mathematik, Medizin, internationale Beziehungen, Ökonomie und Astrophysik.

Diese Systeme unterscheiden sich sehr stark in ihrem Grad an "Geschlossenheit" oder "Offenheit". Ein geschlossenes System ist eines, in dem alles Wißbare fixiert ist. Beispiele solcher Systeme sind alle die, in denen die meisten Antworten entweder Ja oder Nein, Richtig oder Falsch lauten, ohne andere Möglichkeiten. Die meisten mathematischen Probleme sind geschlossene Systeme (zumindest die in der Schule dargestellten.) Es gibt innerhalb der Systemgrenzen eine richtige Antwort und jede andere ist falsch.

Einige "moralische" oder "juristische" Antworten sind von diesem Typus. Es gibt eine richtige und eine falsche Antwort; die Vorstellungskraft wird dabei nicht beansprucht. Da der Großteil unserer formalen Erziehung darin besteht,  Entscheidungen  fällen zu lernen (Ja/Nein-Antworten in geschlossenen Systemen), neigen wir zu der Annahme, daß dieses Verfahren auf alle Situationen anwendbar sei. Auch wenn wir versuchen, aufgeschlossen zu sein, sagen wir wahrscheinlich "Wir wollen beide Seiten der Frage betrachten", oder "Wir wollen jetzt mal die Kehrseite der Geschichte hören".

Wenn wir so reden, geschieht folgendes: die Wörter, die wir brauchen, um das Problem zu umreißen, lassen nur zwei Möglichkeiten zu, und diese beiden nimmt man automatisch als Widerspruch an. Ganz klar, daß wir bei solchem Vorgehen bei den meisten Fragen aus zumeist offenen Systemen geschlossene machen. Offene Systeme können als Situationen vorgestellt werden, in denen es Grade der "Richtigkeit" gibt und in denen eine heute richtige Antwort morgen falsch sein kann. Wenn wir uns nicht bewußt sind, ob wir in einem geschlossenen oder einem offenen System handeln, könenn wir ständig bei Antworten enden, die bestenfalls enttäuschend, schlimmstenfalls tragisch sind.

Nur sehr wenige Probleme von großer Bedeutung können beantwortet werden, wenn man sie unter dem Aspekt "geschlossener Systeme" betrachtet. Die meisten menschlichen Probleme verlangen, daß wir eine "Auswahl" treffen und "Lösungen" finden. Mit "Auswahl" meinen wir das Bestimmen einer Möglichkeit unter mehreren. Dieser Vorgang ist sehr viel komplizierter und anspruchsvoller als das Fällen einer Entscheidung. Wir müssen mehr berücksichtigen, mehr wissen, mehr überlegen. Eine Lösung ist eine Antwort, zu der wir kommen, wenn wir uns auf so aufgeschlossene Weise umgesehen haben, wie es Menschen eben tun können.

Die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen ergeben Lösungen. Weltraumfragen werden zum Beispiel als offene Systeme behandelt, in denen meist Fragen zum ersten Mal beantwortet werden sollen. Ein Astrophysiker wird kaum enttäuscht sein, wenn er auf etwas Unerwartetes stößt. Vielmehr erwartet er gerade alle möglichen neuen Dinge, und er weiß, daß das von ihm an einer bestimmten Raum/Zeit-Stelle Wahrgenommene zu einem zukünftigen Zeitpunkt nicht mehr "wahr" sein kann. Alles was sich vom Erwarteten unterscheidet, ist für das System zugelassen; es führt den Wissenschaftler dazu, in der Folge seine Wahrnehmungen und Handlungen zu ändern.

Sowohl die Astrophysik als auch die Kernphysik liefern ausgezeichnete Beispiele dafür, was wir über die Beziehung zwischen dem "Erkennen" und dem Symbolsystem gesagt haben, in dem sich menschliches Erkennen abspielt. In beiden Gebieten müssen die Erkennenden alle möglichen Arten neuer Symbole erfinden, um das neu Erkannte zu kodifizieren. Die alten Symbole und Symbolsysteme, verbale und mathematische, "funktionierten" ganz einfach nicht mehr. Die Sprache der Newtonschen Physik, ein relativ geschlossenes System, besteht aus Denkmustern, Annahmen und Begriffen, die für den Grad simultaner Komplexität nicht mehr ausreichen, wie er in der Astrophysik oder Kernphysik "erkannt" werden muß, damit "gehandelt" werden kann. Neue Sprachen mußten entwickelt werden, damit das System offen gemacht werden konnte.

Eine ähnliche Entwicklung findet man in der Religion. In vielen Varianten des Christentums standen den Rechtgläubigen traditionellerweise eine Reihe relativ geschlossener Sätze zur Verfügung. Ein Glaubenssatz oder eine Handlung waren entweder richtig oder falsch, und man traf einfache eine Entscheidung für das eine oder das andere. Die gegenwärtige Notwendigkeit einer "Situationsethik" stellt eine viel offenere Menge an Problemen dar, für die es eine große zahl von Faktoren zu berücksichtigen gilt.

Über die Frage der Ethik der vorehelichen Sexualität hatten die Gläubigen mit geschlossenen Systemen eine klare Entscheidung. Heute weisen Geistliche immer mehr darauf hin, daß das Problem nicht so einfach ist. Es gibt dabei Fragen wie: Wer wird - wenn überhaupt - durch ein solches Handeln verletzt? Gibt es ein Gefühl der gegenseitigen Verantwortung? Welches sind die möglichen psychischen Konsequenzen? Wie die neue Physik stellt die neue Religion im wesentlichen eine neue Sprache dar.

Wenn sich ein geschlossenes System in ein offenes verwandelt, ist immer ien neues System der Kodifizierung notwendig, damit produktives Denken möglich wird. In welchem Sinne sind etwa die folgenden Begriffe noch brauchbar: Erbsünde, Wunder, Gottesfurcht, Errettung, Heil usw.? Einige Theologen sind der Ansicht, daß auch das Wort "Gott"den Menschen bei der Selektion und Lösung ihrer Probleme nicht mehr helfen kann.

Die gleiche Situation findet sich in der Politik. Der Satz, "Ob richtig oder falsch, es ist mein Land", mag als Leitprinzip in einer einfacheren Welt genügt haben. Die Nürnberger Prozesse haben die Lage jedoch verändert. Eichmanns Entscheidung, das zu tun, was sein Land von ihm verlangte, wurde auf der ganzen Welt verurteilt. Wir sind mit komplizierten Problemen der Selektion konfrontiert. Welches sind die "besten" Bedeutungen von Patriotismus, Loyalität, nationalen Interessen, usw.? Brauchen wir eine neue Sprache des Bürgerrechts? Offenbar ja, denn das  Bürgerrecht  ist kein geschlossenes System eindeutiger Verpflichtungen mehr.

Ganz offensichtlich brauchen wir eine neue Sprache für den Krieg. In früheren Zeiten war es so, daß eine Nation entweder verlor oder gewann. Es gab dabei nur eine Frage: Wie können wir gewinnen? Heute ist es nicht mehr so einfach. Wir müssen fragen: Welches sind die Folgen, wenn wir gewinnen? Was heißt  gewinnen ? Ist es für uns von Vorteil, wenn wir  verlieren ? Es versteht sich von selbst, daß die verhängnisvollen Entscheidungen in Vietnam von Männern getroffen wurden, die an einen Sprachgebrauch gewöhnt sind, der nicht länger der Wirklichkeit angemessen ist.

Die üblichen Verfahren der Beurteilung von Schülern sind ein weiteres Beispiel dafür, wie wichtig es ist, zwischen den vorkommenden Arten von Systemen zu unterscheiden; ebenso zwischen den Antworten, die gegeben werden könenn. Man fällt meist Entscheidungen über die Leistungen von Kindern, indem man etwa fragt: "Beherrscht es die Mathematik?" Wir können sicher sein, daß aus dem Kind die Antwort  wird , wenn diese "nein" lautet. Würde stattdessen eine Selektion getroffen, dann hießen die Fragen (Plural) so: "Was weiß es in der Mathematik?" "Was könnte es lernen?" usw. Wird eine Lösung gesucht, dann hießen die Fragen so: "Warum hat es in der Mathematik beim Lernen Schwierigkeiten?" "Wie können wir diese Schwierigkeiten und ihre Ursachen beheben?" Natürlich sind die Chancen für den Schüler dann am besten, wenn eine Lösung gesucht wird.

An dieser Stelle möchten wir betonen, daß wir nicht so sehr an unserer speziellen Terminologie hängen (offen/geschlossen; Entscheidung/Selektion(Wahl)/Lösung). Vielleicht finden Sie bessere Ausdrücke. Unsere Absicht besteht darin, eine Strategie der Fragemethode deutlich werden zu lassen. Im Zusammenhang mit der neuen Pädagogik ist damit folgendes gemeint: In der Welt, in der wir leben, gibt es immer weniger geschlossene Systeme, die für das Wissen oder für das Leben von Bedeutung sind. Unsere Schüler brauchen so viele Gelegenheiten wie nur möglich, um in offener Weise über Probleme nachdenken zu können; das heißt, um eine Selektion zu treffen und Lösungen zu finden.

Geschlossene Systeme lassen einfach zuviel aus, als daß eine brauchbare Antwort auf irgendeine Frage gefunden werden könnte; es sei denn, so abstrakte, daß die Antwort für die Menschen ohne Belang ist, die mit den Problemen ihrer ständig sich verändernden Umwelt fertigwerden müssen.

Es wäre natürlich durchaus möglich, ein Curriculum zu schaffen, daß auf einer Systemanalyse beruht. Ein solches Curriculum könnte neben einem Fragecurriculum bestehen oder es könnte sich aus diesem heraus entwickeln und würde damit den Schülern die Möglichkeit zu kontinuierlicher Erfahrung bei den Untersuchungen der Wirkungsweisen von Sprache geben, vor allem in Hinblick darauf, wie Sprache sich auf den "geschlossenen" oder "offenen" Geist auswirkt. Ein mögliches Muster brauchbarer Fragen ist das folgende:

Diese Fragen können mit Abweichungen oder Veränderungen als Grundlage für die Untersuchung jedes Systems verwendet werden (zum Beispiel Familie, Regierung, Mathematik, historischen Beschreibungen, Krieg, Ehe, Astrophysik, Schule, Vorstadtproblem, Rekrutierung).
  • Welche Zwecke verfolgt das System?
  • Welche Rollen werden den Menschen zugewiesen?
  • Welche Regeln müssen befolgt werden?
  • Welche Rechte und Einschränkungen werden gegeben und auferlegt?
  • Welches sind die entscheidenden Grundannahmen?
  • Welches sind seine wichtigsten Begriffe?
  • In welchem Ausmaß verlangen die Probleme des Systems Entscheidungen/Selektion/Lösungen?
  • In welchem Maß verändert sich das System?
  • Welches sind die Mechanismen der Veränderung innerhalb des Systems?
  • In welchem Grad ist die Sprache des Systems veraltet?
  • Welches sind die entscheidenden nichtverbalen Symbole des Systems?
  • In welchem Maße verändern sich diese?
  • Welches ist die tatsächliche Wirkung des Systems auf die Menschen?
  • Wie unterscheiden sich diese Wirkungen von den angeblichen Zwecken des Systems?
  • Gibt es Alternativen für das System?
  • Können wir ohne es auskommen?
  • In welchem Bezug steht das System zu anderen Systemen des Wissens und Verhaltens?
Wir brauchen kaum zu erwähnen, daß der Zweck des Ganzen darin besteht, die Schüler in "offene Systeme" zu verwandeln. Aus vielen Gründen machen sich die Menschen selbst zu "geschlossenen Systemen" oder werden dazu gemacht. Meist deshalb, weil sie sich nicht ausreichend bewußt sind, daß sie selbst sprachliche Systeme sind. Sie beschränken sich deshalb auf vorbestimmte Entscheidungen, indem sie ihre eigenen sprachlichen Mittel zu wenig berücksichtigen. Eine Person mit Vorurteilen gegen Schwarze kann zum Beispiel keine "Schwarzen", sondern nur "Neger" sehen, und sie entscheidet, daß sie das sind, wozu sie ein geschlossenes System gemacht hat. Der gleiche Vorgang läuft bei jemandem ab, der mit Hilfe eines beschränkten, unbewußt verwendeten Vokabulars vorbestimmt hat, was "Amerika", was ein Gedicht, ein Kommunist oder die Geschichte und die Mathematik ist.

Wir  handeln  auf der Grundlage dessen, was wir "sehen". Wenn wir "die Dinge so sehen", handeln wir auch entsprechend. Die Lernfähigkeit ist abhängig von dem Maß, in dem jemand zur Veränderung seiner Wahrnehmungsfähigkeiten in der Lage ist. Wenn ein Schüler vier Jahre Schule hinter sich hat und am Ende die Dinge genau so "sieht" wie am Anfang, dann wird er eben auch so wie am Anfang handeln. Er hat also nichts gelernt. Handelt er jedoch nicht mehr gleich, dann bedeutet das, daß er seine Redeweise geändert hat. So kompliziert ist die ganze Geschichte. Und die neue Pädagogik fordert, daß wir uns diesem Problem stellen.

Die grundlegenden sprachlichen Begriffe, die das Studium jeder Frage, jedes Problems oder Systems in einem Curriculum der neuen Pädagogik fördern, könnten die folgenden sein:
  • Fragen sind Instrumente der Wahrnehmung.
  • Die Art einer Frage (ihre Form und ihre Voraussetzungen) bestimmen die Art der Antwort.
  • Definitionen und Metaphern sind Denkinstrumente und besitzen keine Autorität außerhalb des Kontextes, in dem sie verwendet werden.
  • Beobachtungen sind abhängig vom Symbolsystem, das dem Beobachter zur Verfügung steht. Je beschränkter das Symbolsystem ist, desto weniger kann der Beobachter "sehen".
  • Ein Symbolsystem ist seiner Wirkung nach eine Weise der Auffassung. Je mehr Redeweisen man beherrscht, desto größer ist die Selektion und desto mehr Lösungen können gefunden werden. Wortbedeutungen liegen bei den Menschen. Ohne Menschen gibt es keine Bedeutungen.
  • Je mehr Bedeutungen in der Erfahrung gesammelt sind, desto mehr neue Bedeutungen können erzeugt werden.
  • Die Abstraktionsebene, auf der man Sprache in einem Kontext verwendet, ist ein Index dafür, in welchem Maß man mit der Realität in Berührung kommt. Je höher der Abstraktionsgrad, desto geringer der Kontakt mit der Realität.
  • Tatsachen sind Aussagen über die Welt wie sie von Menschen wahrgenommen wird. Sie sind deshalb so provisorisch wie alle übrigen menschlichen Urteile.
  • Die Regeln zur Beurteilung der Zuverlässigkeit und des Werts menschlicher Wahrnehmungen sind selber Sprachsysteme und sind nur innerhalb eines bestimmten Kontextes anwendbar.
Weil der Erkenntnis- und Wissensprozess von der Sprachverwendung nicht zu trennen ist, wird die Sprache (d.h. alle Formen der symbolischen Kodifizierung) in der neuen Pädagogik als Vermittler aller menschlichen Wahrnehmung angesehen, und sie bildet den Brennpunkt jeder Untersuchung, die die Schüler anstellen. Zu diesem Punkt folgen nun einige Zitate, die unsere Thesen stützen sollen.
  • "Mißbraucht wird die Sprache, wenn ihre metaphorische Natur verschleiert wird, d.h. wenn das Wort mit der bezeichneten Sache  identifiziert  wird. Deshalb hängt die sprachlich saubere Verwendung der Metapher von der vollen Einsicht in ihre Grenzen ab, d.h. von dem kritischen Bewußtsein für ihre Verallgemeinerungen, Analogien und Abstraktionen." - ANATOL RAPOPORT

  • "Da die Begriffe, nach denen die Menschen leben, nur aus der Wahrnehmung und der Sprache abgeleitet sind und Wahrnehmungen nur im Lichte früherer Begriffe aufgenommen und interpretiert werden können, lebt der Mensch eigentlich in einem Gehäuse, das von der Sprache erbaut wurde." - RUSSELL F.W. SMITH

  • "Der Kern allen Denkens und Forschens sind die Symbole, und das Leben des Denkens und Wissenschaft ist das Leben in Symbolen; deshalb ist es falsch zu sagen, eine Sprache sei für ein gutes Denken nur  wichtig , sie ist vielmehr sein Wesen." - C.S. PEIRCE

  • "Benennen heißt Auswählen, Unterscheiden, Identifizieren, Lokalisieren, Ordnen, Gliedern, Systematisieren. Tätigkeiten wie diese werden nach älterem Sprachgebrauch dem "Denken" zugeordnet. Viel richtiger wäre es, sie der Sprache zuzuordnen, wenn man die Sprache als das lebendige Verhalten der Menschen ansieht." - JOHN DEWEY und J.A.F. BENTLEY

  • "Es gibt ein grundlegendes Klassifikationsschema, das  in  unsere alltägliche Rede und Sprache eingebaut ist. Dieses eingebaute Klassifikationssystem leitet uns so, daß wir die Dinge beobachten, die wir ohne weiteres mit den Namen, die wir kennen, belegen können; während wir stark dazu neigen, alles andere zu übersehen. Wir sehen mit unseren Kategorien." - WENDELL JOHNSON

  • "Ehe die intellektuelle Arbeit des Begreifens und Verstehens der Erscheinungen einsetzen kann, muß die Arbeit des  Benennens  vorangegangen und bis zu einem bestimmten Punkte fortgeschritten sein. Denn diese Arbeit ist es, die die Welt der sinnlichen Eindrücke, wie sie auch das Tier besitzt, erst zu einer geistigen Welt, zu einer Welt von Vorstellungen und Bedeutungen umschafft. Alles theoretische Erkennen nimmt von einer durch die Sprache schon geformten Welt seinen Ausgang: auch der Naturforscher, der Historiker, der Philosoph selbst, lebt mit den Gegenständen zunächst nur so, wie die Sprache sie ihm zuführt. Und diese unmittelbare und unbewußte Bindung ist schwerer zu durchschauen als alles, was der Geist mittelbar, was er in bewußter Denktätigkeit erschafft." - ERNST CASSIRER

  • "Die Diagnostik wandelt sich, weil sich unsere Begriffe von Erkrankung und Krankheit wandeln. Aber es ist sehr schwer, unser Denken und unsere Sprache von dem alten Krankheitskonzept zu befreien. Wir sprechen oft in bildhafter Weise davon, die Krankheit zu "bekämpfen", sie "ins Auge zu fassen", "ihr zu widerstehen" oder daß wir Krebs haben, an Arthritis leiden oder von hohem Blutdruck befallen sind. Dieser Sprachgebrauch spiegelt die Tendenz wider, weiterhin jede Krankheit als eine Sache anzufassen, ein gräßliches, hassenswertes fremdes Ding, das in den Organismus eindringt.

    Eine Wahrheit jedoch, die immer wieder gelernt werden sollte, weil wir sie immer wieder vergessen ist die, daß zwei scheinbar entgegengesetzte Ideen zugleich zutreffen können. Es ist manchmal wahr, daß Krankheit eine Invasion ist; in anderen Fällen ist es ebenso wahr, daß Krankheit keine Invasion ist. Krankheit verkörpert zum Teil, was die Welt dem Opfer angetan hat, aber zum größeren Teil, was das Opfer mit seiner Welt und mit sich selbst getan hat.

    Wogegen wir Einwände erheben, ist die so leichtfertig gezogene Folgerung, daß die diagnostischen Etiketten, die gemeinhin zur Beschreibung psychiatrischer Zusammenhänge gebraucht werden, so definitiv sind wie die Sachs-Tay-Krankheit.

    Diagnostische Namengebung kann wie eine Verurteilung wirken. Von dem Wort "Krebs" sagt man, daß es manchmal Patienten tötet, die sonst ihrem bösartigen Leiden nicht (so schnell) erlegen wären. Wir denken heute gering von Etikettierungen aller Art in der Psychiatrie, wir beklagen es, in der Psychiatrie abfällige Namen zu verwenden. Patienten, die uns konsultieren, weil sie leidend sind, verzweifelt und krank, lehnen sich mit Recht dagegen auf, daß man ihnen eine entwürdigende Karteikarte anhängt. Es ist unsere Aufgabe, diesen Menschen zu helfen, anstatt sie noch mehr zu plagen." - KARL MENNINGER

  • "Der Grund, warum Taoismus und Zen für den im westlichen Denken Erzogenen auf den ersten Blick so verwirrend sind, ist wohl darin zu suchen, daß wir einen allzu engen Begriff vom menschlichen Wissen haben. Fast unser gesamtes Wissen ist so beschaffen, daß ein Taoist es "konventionelles Wissen" nennen würde. Wir meinen nämlich, nur das wirklich zu wissen, was wir unseren Mitmenschen in Worten oder irgendeinem anderen System konventioneller Zeichen, etwa in mathematischen Formeln oder im Notenbild, mitteilen können. Solch ein Wissen wird konventionell genannt, weil es nur dank gesellschaftlicher Übereinkunft besteht - Übereinkunft nämlich im Hinblick auf die Mittel der Verständigung.

    Nicht anders wie Menschen gleicher Sprache stillschweigend Übereinkünfte darüber haben, mit welchem Wort was bezeichnet werden soll, bilden die Mitglieder jeder Gesellschaft und jeder Kultur eine Gemeinschaft, da sie gemeinsame Grundbegriffe der Verständigung haben, auf denen jegliche Übereinkunft, die Einordnung und Wertung von Handlungen und Dingen betreffend, basiert.

    Die Aufgabe der Erziehung besteht darin, Kinder dadurch zu brauchbaren Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, daß man sie von der Notwendigkeit überzeugt, die Grundregeln der Gesellschaft zu erlernen und anzuerkennen - die Regeln und Übereinkünfte in der gemeinsamen Verständigung, kraft deren eine Gesellschaft ihren eigenen Bestand wahrt. Zunächst handelt es sich hier um die gesprochene Sprache. Das Kind lernt als das entsprechende Lautzeichen für das, was ihm gerade im Bild gezeigt wird,  Baum  zu übernehmen und nicht  boojum . Es ist leicht einzusehen, daß das Wort  Baum  eine gemeinschaftliche Übereinkunft darstellt.

    Weniger augenfällig ist es, daß eine solche Übereinkunft auch den Umriß der Sache, der das Wort zugeordnet ist, bestimmt. Denn das Kind hat nicht nur zu lernen, welche Worte welche Dinge bezeichnen, sondern auch, auf welche Weise seine Kultur in stillschweigender Übereinkunft die Dinge voneinander gesondert werden, um die Grenzlinien innerhalb unserer täglichen Erfahrung zu markieren. So wird durch wissenschaftliche Übereinkunft entschieden, ob ein Aal als Fisch oder als Schlange gelten soll, und durch welche grammatische Übereinkunft wird bestimmt, welche Wahrnehmungen man Dinge, welche man Ereignisse oder Handlungen zu nennen hat.

    Wie willkürlich solche Übereinkünfte sein können, läßt sich aus folgender Frage verstehen: "Was geschieht mit meiner Faust (Substantiv-Gegenstand), wenn ich meine Hand öffne. Der Gegenstand, o Wunder, verschwindet, weil eine Aktion durch einen Teil des Satzes verborgen wurde, der für gewöhnlich ein Ding bezeichnet. Im Englischen wird, wenn auch nicht immer auf logische Weise, zwischen Dingen und Handlungen klar unterschieden. Aber eine große Anzahl chinesischer Wörter gebraucht man für beides, als Substantiva wie als Verba - so daß ein in chinesischer Sprache Denkender leicht einsieht, daß Gegenstände auch Begebenheiten sind und daß unsere Welt eher ein Sammelbegriff für Prozesse ist als ein solcher für Wesenheiten." - ALAN WATTS

  • "Wenn  ich  ein Wort gebrauche", sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, "dann heißt es genau, was ich für richtig halte - nicht mehr und nicht weniger."
    "Es fragt sich nur", sagte Alice, "ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann."
    "Es fragt sich nur", sagte Goggelmoggel, "wer der Stärkere ist, weiter nichts." - LEWIS CARROLL
    LITERATUR - Neil Postman / Charles Weingartner,  Sprachverwendung  in dies. "Fragen und Lernen" - Die Schule als kritische Anstalt, Frankfurt/Main 1972 (Titel der Originalausgabe: Teaching as an Subversive Activity)