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THOMAS ACHELIS
Die Ethik der Gegenwart in ihrer
Beziehung zur Naturwissenschaft

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"Gut oder böse, schön oder unschön wird Etwas nur, insofern wir es zu einem bestimmten Zweck oder Ideal in Beziehung setzen, welchem es gemäß oder nicht gemäß erscheint. Wir kennen und setzen wohl Zwecke und Ideale für unser menschliches Handeln; aber wir kennen keinen Zweck der gesamten Natur oder gar der Dinge-ansich."

Daß Philosophie nicht ausschließlich eine gymnastische Übung des Denkens ist, sondern in einem unlösbaren Konnex mit dem ganzen menschlichen Geist steht, daß jede theoretische Erkenntnis eine sittliche Vertiefung, wenn nicht de facto, so doch de jure enthält, ist eine Wahrheit, die von den Tagen PLATOs und SPINOZAs bis auf DÜHRING (diesen Gesinnungsphilosophen kat exochen [schlechthin - wp], als wie er sich geriert [aufführt - wp]) unzählige Male wiederholt ist. Aber je bereitwilliger die Reziprozität [Wechselseitigkeit - wp] beider Sphären, der rein logischen und ethischen, zugegeben wurde, desto versöhnlicher entbrannte der Kampf um die Feststellung desjenigen Prinzips, dem bei gelegentlichen Kollisionen das Primat gebühren sollte. Es bedarf nicht der Erinnerung an die Art, wie KANT in diesem Streit späterhin die Entscheidung lediglich oder doch mit einer gewissen Vorliebe der Autorität der praktischen Vernunft unterstellt hat; auch unsere Zeit hallt wieder von dem erbitterten und leidenschaftlich geführten Kampf subjektiver Meinungen, die mitunter wohl einen leidlichen Kompromiß untereinander eingehen, aber die Hoffnung eines endgültigen Friedens als sehr zweifelhaft erscheinen lassen.

Auf der einen Seite die schroffen, gänzlich unbeweisbaren Machtsprüche des populären Materialismus, der im guten Vertrauen auf die ihm so wohl bekannte Materie den Geist als ein antiquiertes Residuum früheren Aberglaubens behandeln zu dürfen glaubt, auf der anderen Seite eine ebenso exklusive idealistische Richtung, die jeder Berührung mit der empirischen Welt ängstlich aus dem Weg geht und in dieser forcierten Fassung der "Tagesansicht" den wüsten Ausgeburten des Spiritismus allerlei Konzessionen zu machen nicht abgeneigt ist, diese Extreme mit unendlich verschiedenen Mittelstufen bilden die charakteristische Signatur der Gegenwart. Ebenso hat LOTZE unfraglich Recht, wenn er es als einen traurigen Tatbestand hinstellt, in der Wissenschaft den Grundsätzen des Erkennens bis in die äußersten Ergebnisse zu folgen und im Leben sich von den hergebrachten Gewöhnungen des Glaubens nach ganz anderen Richtungen treiben zu lassen (Mikrokosmus, Vorrede, Seite IX, zweite Auflage). Aus diesem Konflikt kann nur eine unbefangene Prüfung der beiden entgegenstehenden Forderungen retten, und diese hat wiederum meines Erachtens mit einer kurzen Rekapitulation desjenigen Resultates zu beginnen, das die kritische Philosophie unserer Tage als das Ergebnis aller ihrer Anstrengungen, dem Skeptizismus wie dem Dogmatismus gleich unnahbar, festgestellt hat.

Unser gesamtes Denken ist gebunden an die Schranken des Raumes, der Zeit und der Kausalität, von denen wir gerade so wenig abstrahieren können, wie von unserem Ich, das als latente Voraussetzungen allen unseren Vorstellungen zugrunde liegt. Jene ersten beiden sind die ursprünglichen, freilich erst durch den Gebrauch gradatim [stufenweise - wp] vervollkommneten Formen unserer Anschauung, in die wir jedes Geschehen, es sei noch so abstrakt, einzukleiden genötigt sind; die Kausalität aber beherrscht als spontane Funktion die Tätigkeit unseres Geistes, die sich gerade so mächtig erweist in den Fieberparoxysmen eines Phantasierenden, wie in den logischen Kombinationen eines kalten Denkers. Dies ist das Gebiet der (um kantisch zu reden) möglichen Erfahrung, sofern sie Objekt menschlicher Erkenntnis werden kann. Alles folglich, was jenseits dieser genau abgegrenzten Sphäre liegt, mag Gegenstand religiöser Verehrung, poetischen Ahnens und visionärer Erscheinungen sein, für die strenge Wissenschaft bildet dieses reich kultivierte Gebiet der dogmatischen Metaphysik eine vollständige terra incognita [unbekanntes Land - wp]. Eine leichte Ergänzung von Zwischengedanken forderte sodann für die schrankenlose Ausdehnung des Kausalzusammenhanges in allem Geschehen die Beseitigung der idealistischen Hypothese, von einem titanhaft schöpferischen, gestaltungsreichen Ich, das aus seiner spontanen Machtfülle sich eine Welt hervorzuzaubern vermag, oder, wie KANT sich ausdrückt, die Reihe der Erscheinungen von Neuem zu beginnen.

Das menschliche Ich, dieser Zentralpunkt unseres Organismus, weit entfernt, ein schon von Anfang an fertiges, mit göttlichem Glanz umstrahltes, selbstherrliches Wesen zu sein, bildet umgekehrt eine Menge von höchst verschiedenartigen, bisweilen äußerst feindlichen, steter Entwicklung unter der Herrschaft des Kausalgesetzes unterworfenen Elementen, die freilich nach einem gemeinsamen Zentrum (Selbstgefühl oder Bewußtsein, synthetische Apperzeption und dgl. genannt) gravitieren (vgl. ERNST LAAS, Die Kausalität des Ich, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. IV, Seite 326f). Diese ziemlich allseitig zugestandenen Tatsachen werden im Folgenden für unsere Untersuchung des Einflusses, den die Naturwissenschaft auf die Methode und das Resultat der Ethik ausgeübt haben, den Leitfaden bilden.

Den Grundsatz der idealistischen Ethik hat in dem bekannten Diktum KANTs seinen bündigsten Ausdruck gefunden: "Handle so, daß deine Maxime jederzeit Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung werden kann." Dies soll der unweigerlich befehlende, gegen alle Einflüsse sinnlicher Art völlig gleichgültige kategorische Imperativ, dem KANT ja eine warmempfundene Apotheose [Verherrlichung - wp] gewidmet hat; die Form dann, in welcher sich jener rigorose, allmächtige Faktor dokumentiert hat, war die Pflicht, die einem Jeden unabhängig und im Widerstreit mit seinen Neigungen das spezielle Verhalten vorgeschrieben hat. Leider zeigte sich nur zu bald die völlige Unmöglichkeit, die Tatsachen der Erfahrung mit jenem Kriterium zu vereinbaren; denn abgesehen von dem höchst bedenklichen Umstand, daß jene Erkenntnis von einer universalen Verwendbarkeit des Handelns offenbar nicht apriorisch funktionieren, sondern erst durch das wirkliche Versuchen, also verbunden mit vielen Irrtümern, sich praktisch herausstellen konnte, so entsprang aus jener Deduktion eine Forderung, welche schlechterdings von der empirischen Beobachtung nicht unterstützt wurde.

War die Pflicht in der Tat eine lex hominibus innata [dem Menschen angeborenes Gesetz - wp], die jedemm Menschen, einerlei welchen Standes und welcher Intelligenz, jederzeit das normale Verhalten vorschreibt, so mußten diese verschiedenen Äußerungsweisen, wenn nicht materiell identisch, so doch in ihrem Sinn vergleichbar sein, gleichsam ein System wohlgegliederter sittlicher Ideen, die eben entsprechend den aufsteigenden Entwicklungsstufen ihre adäquate Realisierung finden würden: Jedenfalls wäre es unmöglich, daß wir in der einen Wertschätzung Etwas als höchst verdienstlich gepriesen finden, was eine andere als fluchwürdiges Verbrechen ahndet; derartige schreiende Widersprüche lassen sich auch nicht mit der geübtesten dialektischen Kunstfertigkeit als Phasen ein und desselben Prozesses begreifen. Nun hat aber die Naturwissenschaft und im Besonderen die Ethnologie in ihrer bekannten, jeglichem subjektivem Belieben unzugänglichen Art solche Abgründe aufgezeigt, nachgewiesen, daß in gewissen Kulturphasen der Totschlag nicht allein nicht als Vergehen, sondern als ruhmvolle Tat gegolten hat, daß sittliche Exzesse der gröbsten Form (nach unserer Anschauung) unbedenklich ohne jede Regung des Gewissens bei manchen Naturvölkern im Schwange sind, während häufig die anscheinend unbedeutendsten, ja lächerlichen zeremoniellen Bestimmungen die höchste sittliche Wertschätzung genießen.

Wo bleibt da die Allgemeingültigkeit der sittlichen Anschauung, wenn sie sich in rerum natura [der Natur der Dinge nach - wp] in so sich widersprechende und einander aufhebende Forderungen verliert, wo die Möglichkeit, sich aus dem eigenen Kopf heraus eines universell zuträglichen Prinzips bewußt zu werden und zu bedienen, das, da es den Existenzbedingungen des ausführenden Individuums widerstreiten würde, somit sich selbst vernichtet? Denn zugegeben, die Einsicht z. B. von der Verwerflichkeit der Blutrache würde sich Jemandem aufdrängen und es ihm beikommen, dieses Institut in einer rein friedensgenossenschaftlich organisierten Zeit vernachlässigen und ausrotten zu wollen, was würde die Folge sein? Entweder er selbst würde zugrunde gehen, oder die ihn tragende und stützende Assoziation auseinander brechen und einem wüsten Chaos Platz machen (sofern natürlich noch nicht die Zeit für einen Übergang in die staatliche Periode gekommen ist); in beiden Fällen also würde das angestrebte Prinzip spurlos im Sand verlaufen und aus der Opposition gegen ein historisch berechtigtes, weil die Organisation förderndes Verfahren würde sich nicht ein moralisch lobenswertes, sondern tadelndes Prädikat konstruieren lassen. Der offenbare Fehler jener idealistischen Ansicht liegt folglich in der ungenügenden Revision der Prämissen, die den systematischen Grundsatz zum Erweis bringen sollen. Das Material nämlich, dem sie entnommen sind, stammt nicht etwa aus einer vergleichenden Übersicht derjenigen Formen, in welchen sich die Wertmessung des Tuns höchst verschiedenartig ausgeprägt hat, sondern aus dem ganz einseitigen Gesichtspunkt des moralisch und intellektuell völlig (sit venia verbo! [Man verzeihe mir den Ausdruck. - wp] ausgereiften Bewußtseins unserer Tage; aus der Perpektive des 18. und 19. Jahrhunderts heraus wird die Höhe und Tiefe bemessen, welche überhaupt für sittliche Unterschiede in Betracht kommt, eine Sittlichkeit, ein apriorisches Gesetz konstruiert, das sich sehr gefällig und einschmeicheld für den dogmatischen Metaphysiker ausnehmen mag, aber dem nüchternen Beobachter der Wirklichkeit kein wissenschaftliches Interesse abgewinnen kann. Mit Recht haben daher in neuerer Zeit Männer, unter denen hier nur JOHN STUART MILL und HERBERT SPENCER genannt sein mögen, es versucht, der Ethik einen mehr gesicherten, den naturwissenschaftlichen Anschauungen entsprechenden Unterbau zu geben.

Erinnern wir uns der großen Wahrheit, die die Entwicklungslehre auch auf biologischem Gebiet zur Anerkennung gebracht hat, nachdem die Geologie ihr schon gehuldigt, jener Überzeugung, daß jedes Wesen die Phasen seiner Genesis [Werdung - wp] noch an und in sich trägt, und daß es daher nur eines scharfen Auges und geschulten Denkens bedarf, aus diesen Symbolen einer schon früher durchlaufenen Vergangenheit die ganze zusammenhängende Geschichte der Morphologie [Lehre der Entwicklungsformen - wp] zusammenzutragen. Dieser weittragende Gedanke, für die Entzifferung der Rätsel des stirnten Himmels, wie für die Erklärung irgendeiner Humusdecke in gleicher Weise wirksam, wurde von jener Wissenschaft lebhaft ergriffen, die, schon eben erwähnt, an dieser Stelle eine eingehende Würdigung erfordert, von der Ethnologie. Ihr Name brigt zugleich ihre Aufgabe, die, wie wir uns erinnern, zunächst in möglichst lückenloser Entwicklung der Erlebnisse der menschlichen Rasse besteht. Ein verwegenes und in sich widerspruchsvolles Unternehmen, so wird Mancher ausrufen, namentlich der historisch denkende Kritiker; denn wie soll es möglich sein, über ganz entlegene, jeder detaillierten Kunde auf immer entzogene Teile geschichtlicher Kenntnis eine auch nur annähernde Sicherheit zu erlangen? Und wenn selbst völlig wundersame Entdeckungen dies ermöglichen, wenn die Erde aus ihren Tiefen Urkunden aufsteigen ließe, die über das Leben und Treiben bisher vielleicht nur dem Namen nach bekannter Völkerschaften mit ausführlicher Sorgfalt berichtet hätten, wenn wirklich zumindest die Bildung der Kultur auf dem ganzen Erdball in einem ununterbrochenen Zusammenhang beschrieben werden könnte, welcher Kausalnexus würde dann zwischen diesem freilich imponierenden Gemälde der Geschichte und des Wachsums politischer Organisationen und den ethischen Aufgaben bestehen, deren Lösung uns hier lediglich beschäftigt?

Jenes erste Bedenken wird durch die Überlegung hinfällig, daß es sich in dieser Perspektive gar nicht um den gewöhnlichen chronologischen Leitfaden der Ereignisse handelt, mit welchem der Historiker operiert, sondern um die psychologische Entwicklung der bezüglichen Erscheinungen auseinander; diese hat aber ansich Nichts mit der Zeit zu tun, sondern es kann vorkommen, daß z. B. zwei Tatsachen des Völkerlebens temporär durchaus nicht zusammenliegen, während sie doch innerlich, d. h. nach ihrer inhaltlichen Übereinstimmung, unmittelbar zueinander gehören, wie Ursache und Wirkung: Ebenso ist es umgekehrt möglich, daß zwei zeitlich nacheinander sich vollziehende Phänomene tatsächlich völlig verschiedenen Motiven entspringen. Das entscheidende Kriterium für die Anordnung ist nicht das lokale oder temporäre Moment, sondern das der inneren Gleichartigkeit; daher verschwindet für diese Anschauung die Schranke der spezifischen Völkerbetrachtung, die sich mit dem einzelnen ethnischen Komplex beschäftigt, und andere nur so weit hineinzieht, als sie mit jenem in einem nachweisbaren historischen Zusammenhang stehen.
    "Rechtsgebräuche, welche mit verschiedenartigen ethnisch-morphologischen Organisationsformen auf das Innigste zusammenhängen und charakteristisch für bestimmte Entwicklungsstufen sind, findet man zeitlich durch Jahrhunderte und Jahrtausende getrennt bei verschiedenen Völkerschaften. Die Chronologie hat stets nur für ein einzelnes ethnisches Organisationsgebiet Bedeutung. Im ethnischen Gesamtgebiet liegen stets alle Entwicklungsstufen nebeneinander. Es ist nun möglich, diese sämtlichen Erscheinungen des Völkerlebens bis zu einem gewissen Grad nach diesen Entwicklungsstufen zu ordnen und diese Entwicklungsstufen in einen genetischen Zusammenhang zu bringen. Man erhält sodann ein ganz ähnliches Bild, wie es die genetische Morphologie an die Stelle des durch die systematische Botanik und Zoologie dargebotenen gesetzt hat." (Hermann Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft, Bd. 2, 5., Oldenburg 1881)
Die einzelnen Elemente dieses Prozesses, welche im historischen Sinn das höchste Interesse beanspruchen, die Völker in ihren auf- und absteigenden Differenzierungsphasen, vergleichbar den rein individuellen biologischen Erscheinungen, verschwinden völlig gegenüber dem Unternehmen, die Genesis der menschlichen Rasse nach ihren verschiedenartigsten Manifestationen hin von den primitivsten tierischen Anfängen bis zu den kompliziertesten Kulturprodukten zu zeichnen. Wie nun dieser Plan im Detail zu verwirklichen ist, welche Menge von Hilfsmitteln primärer und subsidiärer Natur hierbei zur Anwendung zu gelangen haben, darf uns jetzt nicht aufhalten: Wohl aber weisen wir im Anschluß an den oben erwähnten Fundamentalsatz der Evolutionstheorie nochmals auf die prinzipielle Methode hin, die überhaupt der genetischen Weltanschauung eignet, d. h. auf das induktive Verfahren durch unermüdliches Vergleichen der zur Prüfung vorliegenden Tatsachen nach ihren gegenseitigen Beziehungen das geheime Gesetz der Wechselwirkung zu entdecken, das alle jene sonst nur äußerlich miteinander verknüpften Ereignisse als wohlbegründete Entwicklungsmomente ein und desselben Geschehens aufzufassen gestattet.

Diese komparative Methode, natürlich gestützt auf ein unendliches, täglich anwachsendes Material kann sich ebenfalls, wie auf biologischem Gebiet, derselben Hilfsmittel bedienen, die hier zu so überraschenden Resultaten geführt haben, wir meinen der empirisch gesicherten Rückschlüsse aus den spezifischen Merkmalen und Symptomen, die nur noch singulär oder verkümmert vorhanden sind, auf den Charakter der schon längst verflossenen Periode; sie ist nur noch in diesen Überresten (von TYLOR survivals [Überlebendes - wp] genannt) vorhanden, welche für den Unkundigen häufig Gegenstand des Lächelns werden können, während sie für den Eingeweihten, der aus ihnen morphologisch die Struktur der ganzen Organisation herauszuerkennen vermag, einen geradezu unersetzlichen Schatz ethnologischen Wissens enthalten. Vielleicht ist es uns gelungen, die Befürchtungen einigermaßen zu beschwichtigen, welche gegen die wissenschaftliche Sicherheit unserer Disziplin sich immer noch erheben; es wäre in der Tat zu sonderbar, diesem Zweig naturwissenschaftlichen Denkens die gebührende Anerkennung zu versagen, die man doch sonst, ob gern oder ungern, jeder induktiv verfahrenden Forschung zugesteht.

Aber umso heftiger wird sich der Zweifel erheben, den wir oben an zweiter Stelle berührt haben, nämlich ob sich überall ein tatsächlicher Zusammenhang dieser universellen Morphologie des Menschengeschlechts mit ethischen Problem nachweisen läßt. Ich bemerkte schon vorhin, daß die ethnologische Behandlung sich durchaus nicht einseitig auf die Darstellung sogenannter politischer Vorgänge oder auf die Untersuchungen von Rechtsinstitutionen beschränkt, sondern daß sie das ganze Leben der menschlichen Gattung nach ihren verschiedenartigsten Äußerungen hin, in Religion, Sitte, Kunst usw. in ihren Bereich zieht. Denn soll sie überhaupt ihrer Aufgabe gerecht werden, eine Entwicklungsgeschichte der Menschheit zu schreiben, so kann sie dieselbe nicht mit der engherzigen Verfolgung nur einer der vielen Strahlenbrechungen des Geistes lösen.

So muß also eo ipso [schlechthin - wp] eine zusammenfassende Beschreibung sämtlicher ethnisch-morphologischer Bildungen auch die verschiedenen Versuche in sich schließen, welche der Mensch gemacht hat, um den einzelnen sittlichen Gefühlen und Strebungen einen mehr oder weniger klaren Ausdruck zu verleihen; in diesem Sinne rekapituliert jeder Mensch je nach seiner Analage verschieden die Entwicklungsstadien, welche überhaupt die Gattung, die Menschheit, durchlaufen hat, er ist, wie LEIBNIZ sagt, ein Spiegel der Welt, oder um BASTIANs Worte zu gebrauchen:
    "So werden wir unser eigenes Geistesleben und rein organisches Wachstum in den Reflexen ethnologischer Spiegelung erschauen, um in einem klar zurückgeworfenen Bild das zu erkennen, was unmöglich sein würde, an sich selbst zu sehen. Wenn sämtliche Verhältniswerte in der Gedankenwelt festgestellt sind, dann muß sich der Gesetzesplan offenbaren, der, in der Auffassung individueller Existenzen gebrochen, aus eigenem Selbst als Bewußtsein hervorstrahlt, und aus der Mannigfaltigkeit ethnologischer Gestaltungen auf dem Bund geographischer Einheit schwebt der Flug der Geschichte in die Weite des Unbegrenzten fort." (Beiträge zur vergleichenden Psychologie, Vorrede, Seite XI)
Wie die psychologische Bedeutsamkeit dieser Lehre klar ist, indem sie uns in fast experimenteller Anschaulichkeit in das verschlungene Gewebe bewußter und unbewußter seelischer Tätigkeit blicken läßt, so bietet sie auch für die vorliegenden Probleme den sichersten Ausgangspunkt und sehr häufig auch die einzig induktiv gesicherte Entscheidung. Anstatt also wie früher die Prinzipien der Ethik rein spekulativ zu entwickeln, etwa nach dem Voranschreiten der Alten das Schema des naturae convenienter vivere [übereinstimmend mit der Natur leben - wp] voranzustellen und danach die verschiedenen Postulate zu konstruieren oder aus bestimmten vorweg gefaßten Urteilen deduktorischer Art die einzelne Handlung und ihrer Qualität zu präzisieren, anstatt solcher rein abstrakter, nur durch die subjektive Stimmung, nicht durch die Tatsachen der Erfahrung bedingter Beweisführungen wurde durch den Einfluß der Naturwissenschaft das Augenmerk der Untersuchung hauptsächlich auf die Entstehung und Bildung sittlicher Wertbestimmungen gelenkt. Einerlei ob man sich diese nach HERBART als unwillkürliche Akte des Gefallens und Mißfallens vorstellt oder sie als gebunden an die kritische Tätigkeit irgendeines bewußt verfahrenden psychischen Vermögens betrachtet, darin herrschte völlige Übereinstimmung, daß nicht irgendein supranaturaler [übernatürlicher - wp] Faktor die Konstituierung ethischen Lebens ausmacht, sondern daß dies zu gründe sei allein auf die höchst wechselhaften, aber doch fortwährend sich betätigenden Aussagen des sittlichen Bewußtseins selbst.

So wurde auch für dieses Problem jener genetische Gesichtspunkt geltend, dessen fruchtbare Anwendung wir schon öfters zu konstatieren Gelegenheit hatten. Der kategorische Imperativ, das Gewissen, Gutes und Böses, alle diese früher als völlig fertige Erscheinungen funktionierenden Momente unterlagen somit derselben Prüfung, wie Alles, was überhaupt in den Bereich induktiv-empirischer Forschung gelangte. Mit dieser genetisch-psychologischen Methode, welche sich die Entwicklung sittlicher Begriffe zu erklären vorgenommen hatte, wurde plötzlich der vordem häufig verspottete Gedanke SPINOZAs wieder aufgenommen, den er in seiner nüchternen Weise so ausspricht:
    "Was das Gute und das Schlechte anlangt, so bezeichnen sie auch nichts Positives in den Dingen, wenn sie ansich betrachtet werden. Sie sind nur Arten des Denkens und Begriffe, die man aus der Vergleichung der Dinge bildet. Denn ein und dieselbe Sache kann zugleicher Zeit, gut, schlecht und gleichgültig sein ... Unter Gut verstehe ich das, von dem wir gewiß wissen, daß es uns nützlich ist; unter Schlecht verstehe ich das, von dem wir gewiß wissen, daß es uns verhindert, ein Gut zu erreichen." (Ethik IV, Vorrede).
Damit ist das Vorurteil beseitigt, daß es sich hier um etwas Substantielles an und in den Dingen handelt, das schon vor jeder prüfenden Zergliederung ansich feststeht, und nachdrücklich darauf hingewiesen, daß wir es mit einem erst allmählich sich bildenden, höchst wechselhaften Kriterium zu tun haben. Mag man nun diesen Wertmesser Gewissen, sittliches Bewußtsein oder sonst wie nennen (darauf kommt vorläufig Nichts an), so würde die erste und unweigerliche Forderung in einer graduellen Analyse derjenigen Gründe bestehen, welche für die Gestaltung jenes Faktors wirksam geworden sind.

Nun lehrt die Ethnologie, daß für die ursprünglichsten assoziativen Gebilde (denn vom isolierten Menschen redet diese Disziplin nnicht) Sitte und Recht völlig kongruent sind und erst in allmählicher Sonderung sich voneinander differenzieren. Alles dasjenige, was geeignet ist, die jeweilige Organisation zu erhalten und zu kräftigen, ist sittlich und damit eo ipso rechtlich, ganz abgesehen davon, ob sich die Beobachtung dieses Kausalzusammenhangs, bzw. der Verstoß gegen diese Reziprozität nur in der Form traditioneller, gewohnheitsmäßiger Anschauung, oder in bestimmten kodifizierten Normen fixiert hat. Danach ergibt sich der Schluß, daß alle Maßnahmen, die auf die Konsolidierung irgendeines sozialen Gebildes abzielen, gut und sittlich, alle Kollisionen mit ihren Prinzipien schlecht und unsittlich sind.

Aber wir haben dadurch nur die Frage verschoben, nicht gelöst; denn es wird sich sofort der Zweifel erheben, woher denn jene Organisation zu erklären ist, deren Existenz erst jenen schwankenden und haltlosen Bezeichnungen ein sicheres Fundament verleiht? Einmal ist es selbstredend die bestimmte Eigennatur der Individuen selbst, die in irgendeinem derartigen ethnischen Komplex vereinigt erscheinen; diese selbst nach der Art der Sensualisten als ein zufälliges, ex post [im Nachhinein - wp] kommendes Produkt der Erfahrung anzusehen, so daß der Mensch nach dem Ausdruck LOCKEs als tabula rasa [leere Tafel - wp] zur Welt kommt, verbietet uns unsere kritische Überzeugung. Auch für den darwinistischen Standpunkt des struggle for life [Kampf ums Dasein - wp] muß dieses Moment unbedingt festgehalten werden, falls sich nicht die gröbsten mechanischen Vorstellungen einschleichen.

Soll von einer Entwicklung, von einer Anpassung, von einer Differenzierung etc. wirklich die Rede sein, so genügt es nie, für den verlangten Prozeß eine Summe äußerer Bedingungen aufzuzählen, die aus einem bis dahin gänzlich unqualifizierten Etwas (das man lieber Nichts nennen sollte) ein wirkliches, lebefähiges, von Anderen seines gleichen unterschiedenes Wesen zu gestalten vermöchten: Das ist eine Hexerei, die uns keine auch noch so geschichte Verhandlungshypothese jemals begreiflich machen könnte. In derselben Weise daher, wie auch die erkenntnistheoretische Forschung sich genötigt sah, für den Begriff des Atoms die Forderung eines spezifischen psychischen Habitus aufzustellen, muß die Entwicklungsgeschichte beginnen nicht bei indifferenten, lediglich physischen Komplexen allerlei äußerer Eigenschaften, gleichsam Reservoirs für einen ihnen völlig fremden, gleichgültigen Inhalt, sonderm mit freilich sehr gleichartig gestalteten Exemplaren des genus humanum [Menschengeschlecht - wp], die aber nichtsdestoweniger, um es ganz bescheiden zu bezeichnen, eine spezifische psychische Reaktionskraft für die Eindrücke der Außenwelt besitzen. Die Genesis der Individuen biologisch und kosmisch weiter zu verfolgen, führt zu unendlichen Schwierigkeiten und hat im Besonderen für unsere nächstliegende Aufgabe kein unmittelbares Interesse.

Der zweite große Faktor in dieser Geschichte ist nun die unendliche Reihe von Ursachen, die man gemeiniglich äußere nennt, und von denen wir nur als die wichtigsten Klima, Nahrung, Bodenbeschaffenheit und Fortpflanzung herausheben. Aus der ununterbrochenen Wechselwirkung dieser beiden, in ihrem Verhältnis natürlich höchst abwechselnd intensiven Ursachen setzt sich jeder ethnische Komplex, er sei so groß und klein wie er will, zusammen; Alles, was wir politische und äußere oder Kultur- und innere Geschichte nennen, überhaupt jegliches Ereignis im Völkerleben würde in der Berechnung jener beiden Größen seine Stelle finden, und es käme nur auf eine freilich immense Vervollkommnung unserer empirischen Kenntnisse und Hilfsmittel an, um aus dieser Mechanik den Verlauf des Geschehens zu konstruieren. Solange wir aber zu dieser universalen Arbeit noch nicht imstande sind, begnügen wir uns, die Grundzüge für diese genetische Anschauung zu entwerfen.

Die ganze Mannigfaltigkeit der Organisationen unseres Erdballs würde sich, wie wir meinten, auf die immanente Wechselwirkung der Individuen und äußerer Bedingungen zurückführen lassen; jene müßten sich sowohl durch die Reibung untereinander, als auch durch die Anbequemung an die Außenwelt fortdauernd umgestalten und je nach der Verschiedenartigkeit dieser beiden Momente divergent entwickeln. Daß wir auf den primitiven Stufen der Kultur verhältnismäßig eine große Übereinstimmung hinsichtlich der Organisationsformen erblicken (obwohl selbst hier, wie die Ethnologie lehrt, keineswegs monotone Uniformität herrscht), ist aus der ziemlich geringen Differenzierung der menschlichen Rasse in ihren dürftigsten Anfängen wohl begreiflich; erst allmählich konnten unter fortwährenden Umwälzungen sich wesentliche Unterschiede in Sitte und Recht einstellen, aus dem bloßen Individuum, einen gleichgültigen Exemplar der Gattung gleich anderen eine volle, spezifisch geartete Persönlichkeit, aus der friedensgenossenschaftlichen Organisation der Staat werden. Das Sittengesetz für jene ersten Zeichen menschlicher Existenz war nichts weiter als der Ausdruck ihrer ethnischen Organisation; will man nun noch weiter zurückgehen (obgleich die wissenschaftliche Begründung schwerlich mit dem rein individuellen Moment viel weiter kommen wird), so müßte man die psychische Disposition, welche wir dem Einzelnen eo ipso inhärent [innewohnend - wp] dachten, sich in der praktischen Beurteilung mit der Wirklichkeit als wirksam, dann durch hereditäre [vererbte - wp] Übermittlung den Nachkommen mitgeteilt und so das Gefüge eines sozialen Baus und zugleich einen, wenn auch noch so seltsamen und beschränkten Kanon von sittlichen und rechtlichen Normen sich entwickelnd vorstellen.

So etwa könnte eine bestimmte Summe von Gesetzen und Verboten, die dann späterhin in der Form instinktiver Regung (auch unterstützt durch die Erziehung) als Gewissen oder sittliches Bewußtsein auftreten würden, sich nach dem Analogon der Entwicklungstheorie gebildet haben, die dann selbstredend, wie ja die Erfahrung zeigt, je nach verschiedenen Eindrücken der Außenwelt und den entsprechenden Reaktionen des Individuums, seltsam voneinander abweichen könnten. SCHÄFFLE, der vom Standpunkt der Deszendenztheorie [Abstammungslehre - wp] am schärfsten diese Vorgänge zergliedert hat, faßt unsere Ausführungen so zusammen:
    "Wir wagen den Satz aufzustellen, daß Recht und Sitte als gesellschaftliche, auf die Erhaltung des Gemeinwesens und seiner integrierenden Glieder gerichtete Ordnungen der Variations- (Neuerungs), Anpassungs- (Organisations-), Vererbungs- und Streitvorgänge im Inneren der menschlichen Gesellschaft aufgefaßt werden müssen, als Ordnungen, durch welche die natürliche Sozialzuchtwahl immer mehr über die bestiale Form der natürlichen Auslese emporgehoben und die subjektive Tugend, Rechtlichkeit und Sittlichkeit gesellschaftlich unterstützt und befestigt wird." ("Über Recht und Sitte vom Standpunkt der soziologischen Erweiterung der Zuchtwahltheorie", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 2, Seite 38)
Auf dem Boden also dieser genetischen Anschauungen finden wir die Phänomene der Ethik erklärt, die eine frühere Darstellung eben nur postulieren, nicht ableiten konnte. Wiederum würde sich diese empirische Begründung an die bekannten Worte SPINOZAs erinnern, daß keine Tugend vor dem Streben sich selbst zu erhalten gedacht werden kann (Ethik IV, Lehrsatz 22); denn eben diese Voraussetzung der individuellen Existenz als conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] für jede weitere sittliche Tat ist so selbstredend, daß auch nicht einmal der Zusatz besonders erläutert zu werden braucht, der in einzelnen Fällen, d. h. wo es sich um das Wohl der Gattung handelt, eine Preisgabe jenes Sonderdaseins fordert. Nun wird im Kampf mit der Außenwelt jegliche, selbst die kümmerlichste Organisation immer den besten Schatz für die eigene Sicherheit, die beste Garantie der Selbsterhaltung bieten und so sehen wir in naturgesetzlicher Notwendigkeit durch jenen anscheinend rein egoistischen Trieb die Möglichkeit zur weiteren, friedlichen Ausgestaltung des Lebens erblühen: Die natürliche Auslese sichert jeden höheren geistigen Fortschritt und dieser ist nichts weiter, als die immer sich steigernde Vervollkommnung des Ganzen auf Kosten der potenzierten Leistungsfähigkeit des Einzelnen. Vermöge aber dieses sich stetig steigernden und größere Sphären des sozialen Lebens beherrschenden Kampfes bildet sich eine immer schärfere und unvergleichbare Besonderheit des Individuums heraus, das, früher nur getragen von den psychophysischen Gesetzen des sozialen Organismus, jetzt den dominierenden Mittelpunkt des ganzen Prozesses ausmacht. Während die primitive Kultur nur ethnische Institute kennt, welche die Bedeutung des Einzelnen nicht aufkommen lassen, nur Kollektiveigentum, nur Kollektivehen, nur Kollektivpflichten, wie die Blutrache und Friedloslegung immer nur Akte des betreffenden sozialen Komplexes sind, nie spontane Taten individueller Willkür, so arbeitet sich erst sehr langsam aus diesem chaotischen, gleichartigen Gewirr die festgeschlossene Persönlichkeit des Einzelnen heraus, der in seiner Umgebung ein bestimmt abgegrenztes, höchstens mit Wenigen seines gleichen gemeinschaftliches Territorium von Pflichten und Rechten beanspruchen darf.

Und je mehr sich dieser Individualisierungsprozeß fortsetzt, umso mehr werden die früheren zentralen Mächte in ihrem Wert herabgesetzt, desto mehr verschwindet die Omnipotenz [Allmacht - wp] der betreffenden Organisationsform und wächst die Bedeutung und Wirksamkeit des Individuums. Und nicht minder einleuchtend ist, daß durch diese Dezentralisation, durch diese Verlegung des Schwerpunkts der Entwicklung von der Organisationsform als solcher auf den lebendigen Faktor der persönlichen Kraft das Gebiet der Sitte sich immer mehr differenziert und damit ein bleibender Gegensatz zum Recht geschaffen wird. Daher die Erscheinung, daß in hoch gesteigerten Kulturepochen sich die größten Widersprüche zwischen rechtlichen und sittlichen Anschauungen zeigen, während umgekehrt, wie ich schon oben bemerkt habe, die ersten Stufen der Entwicklung kaum einen nennenswerten Unterschied beider Sphären aufweisen.

Aber was haben wir mit diesem Versuch, um es kurz zu sagen, einer Naturgeschichte des Gewissens und überhaupt aller sittlichen Ideen Großes gewonnen? Liefert uns diese Übersicht wirklich einen untrüglichen Maßstab für die Entscheidung der strittigen Probleme, was nun als das höchste und erstrebenswerte Gut, was hingegen von vergänglichem Wert oder gar als völlig eitle Jllusion einer krankhaft aufgeregten Zeit zu gelten hat? Zweierlei, dünkt mir, ließe sich wohl als nicht unerheblicher Gewinn aus einer derartig genetischen Behandlung der einschlägigen Fragen verzeichnen. Zunächst ist es die Einsicht, daß der Anspruch der Moralsysteme, für irgendein Prinzip eine ewige, unverbrüchliche Geltung gefunden zu haben, die auch schon latent immerfort bestanden hat, sich durchaus nicht mit den Tatsachen der Erfahrung verträgt. Es gibt schlechterdings kein absolutes, an sich seiendes, für alle Zeiten und Völker von vornherein feststehendes Moralgesetz, keinen kategorischen Imperativ, der überall auf dem ganzen Erdball und in allen Perioden dieselben Vorschriften mit derselben unnachsichtlichen Strenge erteilt hätte, es gibt keine derartigen, dem Menschen immanente Grundsätze, die mit mathematischer Evidenz jedem Zweifel und Irrtum entrückt wären: All das sind nur Abstraktionen einer einseitig spekulativen Richtung, die sich befangen an den Tatbestand ihres eigenen Bewußtseins klammert, ohne im Geringsten die Genesis desselben zu untersuchen.

Alle Versuche folglich aus a priori gegebenen, angeborenen Vermögen oder Gefühlen des Rechts [dehnow], der Billigkeit usw. eine wissenschaftlich haltbare Ethik herzuleiten, sind gerade so verfehlt, wie die religiöse gefärbten Anschauungen, die diese Erscheinungen supranatural als Geschenke göttlicher Offenbarung ansehen: Beide Argumentationen liefern keine Erklärung, sondern nur die Behauptung, daß unser sittliches Bewußtsein nun einmal so ist und sich so spezifisch äußert.k Der Wertmesser für alle ethischen Unterschiede liegt allerdings in einer durch stetig neue Erfahrungen bereicherten, hereditär übermittelten und aus bestimmten funktionellen Dispositionen hervorgewachsenen Sphäre, die den einzelnen Menschen gerade so kontinuierlich umgibt, wie die physische Atmosphäre. Aber dieser Fond sittlicher Momente erschöpft sich nicht im Urteil des Individuums, noch ist er ein konstanter und absoluter; je nachdem wie die Wertmessung schwankt, oder, wie SPENCER sich ausdrückt, die Anpassung an Zwecke (d. h. Handeln) eine verschiedene ist, variiert auch die Bestimmung über das der Tätigkeit vorschwebende und realisierbare Gut. Dies zeigt aber, wie die Erfahrung lehrt, innerhalb der verschiedenen Stufen, welche die Menschheit und in ihr der einzelne Mensch durchläuft, die denkbar heterogensten Fassungen, die an der Hoffnung, alle diese Widersprüche als Modifikatioinen eines Prinzips begreifen zu wollen, nur zu bald verzweifeln lassen. Wollte man einen durchgehenden Grundsatz aufstellen, so könnte man, ohne der Zukunft damit vorzugreifen, SPENCER Recht geben, wenn er den ethischen Prozeß abgeschlossen sehen will in der vollkommenen Anpassung an Zwecke zur Selbsterhaltung und Förderung der Gattung, ohne Schädigung der gleichlaufenden Interessen aller Individuen. Wie schwer übrigens das Verhältnis dieser beiden Faktoren gegeneinander abzumessen ist, zeigen die komplizierten Untersuchungen, die jener Autor dem Egoismus und Altruismus am Ende seines bekannten Werkes (Die Tatsachen der Ethik, deutsch von VETTER, Stuttgart 1879) widmet. Eine aber ansich fertige Moralität, die zu allen Zeiten bestanden und siegesgewiß alle Schwankungen individueller und geschichtlicher Strömungen überdauert hätte, kennt die genetische Ansicht unserer Tage nicht.
    "Nicht willkürlich gemachte und zufällige Grundsätze sind sie", sagt Schäffle, "aber doch nicht ewig in dem Sinne, daß sie ursprünglich fertig wären, daß sie in geschichtsloser Weise zur Anerkennung gelangen könnten, aus einer anderen Welt in unser Gewissen plötzlich hereingerufen, oder daß sie dem verschiedenen Inhalt verschiedener Entwicklungsperioden gegenüber stets denselben konkreten Inhalt haben müßten. Solcher Ewigkeit von Recht und Moral widerspricht die Erfahrung der ganzen Rechts- und Sittengeschichte. Enie Theokratie fordert sogar im Namen Gottes die Vernichtung der Andersgläubigen; die primitive Stammesgenossenschaft befiehlt die Blutrache und die Vernichtung aller Feinde, heiligt Menschenopfer und Menschenfresserei, während unserer Toleranz und Humanität das Alles ein rechtlicher und sittlicher Greuel ist. Aber derselbe kollektive Erhaltungstrieb ist es, der bei verschiedenen Bedingungen und Inhalten der Selbsterhaltung Verschiedenes, zum Teil Entgegengesetztes erlaubt und verbietet." (a. a. O., Seite 61).
Durch diese Kenntnisnahme eines stetigen Entwicklungsgesetzes, das in den ethnischen Gebilden jeder Zeit das relativ Beste und Förderliche zustande bringt, werden wir vor dem, z. B. in der Aufklärungsphilosophie, noch so wirksamen Vorurteil bewahrt, in einseitig teleologischer Verblendung die ganze Vergangenheit nur als Vorbereitung für die beneidenswerte Gegenwart anzusehen, um uns in dem behaglichen Gefühl zu ergehen, wie herrlich weit wir es doch gebracht haben. Dieser angeblich idealen, im Grunde doch herzlich egoistischen rationalistischen Denkart fehlt jeder gesunde historische Maßstab, der nicht voreilig die Prädikate des Absoluten und Ewigen gebraucht, um sie womöglich als glänzende Initialen wenn nicht der eigenen Existenz, so doch des betreffenden gotterleuchteten Jahrhunderts zu verwenden, sondern mit nüchternem Blick die Bildung jedes geistigen Produkts in den Epochen wieder aufsucht, die es als ihren adäquaten Ausdruck schufen. So gelangt man zu der relativen Wertschätzung jeglichen Geschehens, die, ohne die spezifischen Unterschiede desselben aufzuheben, vielmehr jedem Stadium des Prozesses seine für sich bestehende und ausreichende Bedeutsamkeit läßt.

Aber nicht nur der Wahn einer absoluten Moral eines ansich seienden Guten und Bösen wird von der ethnologischen, auf kritische Erfahrung gestützten genetischen Weltansich widerlegt, sondern das Kriterium, mit welchem jene idealistische Meinung in ethischen Problemen operiert, gänzlich beseitigt. Dieser Prüfstein ist meist das Gewissen oder das sittliche Bewußtsein oder die schlechthinnige Abhängigkeit von irgendeinem autoritativen Prinzip oder sonst irgendein Faktor, der stets rein subjektiv gefaßt wird. Statt sich, wie das üblich ist, in intrikate [komplexe, komplizierte - wp] Untersuchungen über Freiheit und Determinismus einzulassen, über das Verhältnis des Begehrungs- zum Vorstellungsvermögen, anstatt eine Reihe von angeblich absolut sicheren Geschmacksurteilen aufzustellen, die billigend und mißbilligend mit untrüglicher Sicherheit alle Handlungen der Menschen begleiten, gibt die induktiv ethnologische Forschung zunächst alle derartigen spekulativen Diskussionen auf zugunsten der Fundamentalfrage: Entscheidet über das sittliche Gute und Schlechte das Individuum als solches mit apodiktischer Gewißheit, oder die jeweilige soziale Organisation, deren Typus eben die betreffende moralische Anschauung bildet? Wir überzeugten uns schon früher, daß die Antwort auf diese Frage zufolge der Einsicht in die genetische Bildung jener Momente für den letztgenannten Faktor sich ausgesprochen hat. Wir begreifen jetzt, wie der Mensch ein Zentrum sittlicher Ideen werden konnte; denn dies blieb solange völlig unklar, als nicht der besondere Zusammenhang aufgezeigt wurde, der die Vorstellung der Verpflichtung in ihm erzeugte, und statt dieser Analyse allerlei, durch die Erfahrung nicht kontrollierbare Behauptungen über eine spontane intelligible Freiheitstat des Individuums aufgestellt wurden, vermöge deren es sich aus der Kausalkette der übrigen Wesen herauszuheben imstande ist.

In der etnologischen Anschauung erschienen aber jeder Einzelne eingefügt in die Beziehungen, welche er zu dem spezifischen tellurischen [aus der Erde stammend - wp] organischen Gebilde unterhält, das ihn produziert und erhält; aus diesem unlösbaren Zusammenhang ergibt sich allererst die Möglichkeit einer Imprägnation sittlicher Vorstellungen, die in den primitiven Formen einen sehr einfachen, ja rohen Charakter gehabt haben mögen. Das Individuum ist der adäquate Ausdruck des moralischen Typus, wie er der ganzen Organisationsform eignet; Moralität heißt sonach nichts weiter, als die Kongruenz des Individuums mit dem Charakter des ihn tragenden und erhaltenden Organismus, und diese wird desto höher sein, je mehr er zur Konsolidierung und Förderung der betreffenden Organisation beiträgt. Je geringfügiger hier die Leistung ausfällt, desto armseliger wird die Entwicklung des Individuums verlaufen und umgekehrt je mehr jene Assimilierung [Angleichung - wp] hergestellt wird, desto reicher und voller wird das Leben ausfallen, ganz abgesehen davon, ob das zu erreichende Muster ansich sittlicher war als ein anderes. Denn wie schon die logisch immer noch zulässige Steigerung des Ideals durch eine noch höhere Stufe zeigt, gibt es in der sittlichen Welt keinen absoluten Abschluß, dessen Erlangung irgendein quietistisches und nirwanahaftes Paradies verspricht, sondern unendlich verschiedenartige Abstufungen, die sich aber nur in unserer, d. h. durch die spezifische Kulturströmung des 19. Jahrhunderts beeinflußten Weltanschauung in diese Skala zerlegen: Für sich betrachtet genügen sie jeder in seiner Weise, soweit sie zur Konservierung irgendeines ethnischen Komplexes zureichen, und sind daher keiner absoluten Wertschätzung fähig. Diese ethnologische Auffassung verlegt folglich das Problem von der zufälligen Entscheidung des Individuums, von dem als transzendent gesetzten Gewissen, das sich als deus ex machina in die Entwicklung drängt, auf den spezifischen Charakter der sozialen Organisationsform, der im Individuum einen zwar vorübergehenden, aber doch unerläßlichen Repräsentanten gefunden hat.

Dadurch ist, wie wir anderwärts gezeigt haben (Ausland, 1881, Seite 105f), erst ein wahrhaft sicherer Ausgangspunkt für die Konstruktionen einer wissenschaftlichen Ethik geschaffen; denn Moral und Sitte erscheinen so ans naturnotwendige Produkte einer Differenzierung des Individuums im Kamf und in der Anlehnung an die gegebenen Existenzbedingungen, die bald fördernd, bald hemmend diesen Prozeß begleitet haben. Der Begriff der Pflicht kann nicht rein spekulativ aus der schon als fertig angenommenen Natur des Menschen entwickelt werden und in der Form eines Postulats aus irgendeiner gedachten Beziehung desselben zu einer (fiktiven) omnipotenten Autonomie der Vernunft sich ergeben; denn alle diese Versuche liefern keine wahre Aufklärung, weil sie die Lösung des Problems rein analytisch bewerkstelligen, indem die fraglichen Momente irgendeinem Faktor, z. B. dem Gewissen, schon untergeschoben werden, um danach als Folgen, Eigenschaften, Funktionen oder wie man sich sonst ausdrücken will, aufzutreten. Es ist ein rein dogmatischer Machtspruch, der in diesem Sinn eine gewisse Angemessenheit des Individuums zu diesem als allgemein hingestellten und unnachsichtlich seine Erfüllung fordernden Sittengesetz hypostasiert [voranstellt - wp]: Beides, sahen wir, ist empirisch nicht zureichend begründet,, weder diese Apodiktizität eines universalen Prinips, noch die Heiligkeit desselben, vermöge deren ein Jeder sich verpflichtet fühlten müßte, es überall zu beobachten.

Diese psychologische Notwendigkeit ist so lange eine bloße imaginäre Forderung, gänzlich ihres Erfolges ungewiß, als nicht das wirksame Motiv aufgezeigt wird, das aus dem Verhältnis des Einzelnen zu irgendeiner fremden Macht die Anerkennung derselben als wünschenswert oder gar als subjektiv unerläßlich rechtfertigt. Dies geschieht erst dadurch, daß jenes Moralprinzip nicht in ätherischer Isolierung über dem wirklichen Verlauf der Dinge schwebt, sondern als unmittelbarer Ausdruck der Beziehung erscheint, die sich für Jeden aus seinem Verhältnis zu irgendeinem ethnischen Organismus ergibt. Da nun eben der Mensch nur getragen und erhalten wird durch diese Organisationsform, wird die soziologische Forderung begreiflich, mit allen Kräften die Entwicklung und den Ausbau jenes Komplexes zu betreiben: denn es ist ja nichts weiter als eine universelle Anwendung der primären Voraussetzung und Regel des alten SPINOZA: Suum esse conservare [Selbsterhaltung - wp], da das eigene Sein in der Existenz der ethnisch-morphologischen Bildung beschlossen ist. (Wir wiederholen, daß damit nicht, wie häufig voreilig geurteilt ist, der als Schreckgespenst beliebte Egoismus proklamiert ist, schon allein, weil nicht selten die Hingabe des persönlichen Daseins zugunsten der sozialen Organisationsform nötig ist.)

Der Mensch kann nie als isoliertes Wesen sich voll und ganz ausleben oder den Begriff der Menschheit realisieren, wie es in rein idealistischen Darstellungen meist heißt, sondern erst in einem unmittelbaren Austausch mit Anderen seines gleichen, die auf vergleichbarer Entwicklungsstufe stehen; diese verschiedenen Phasen des Prozesses sind eben so viel Versuche, den sozialen Beziehungen, unter denen er existiert, eine spezifische Form zu geben, die dann, eben als adäquater Ausdruck seines eigenen Wesens, als Sittengesetz mit längerer oder kürzerer Dauer sich dem Bewußtsein imprägniert. Fällt dieses Ergebnis seiner Anpassung an die äußeren Faktoren günstig aus, vollzieht es sich in ruhigen, gesetzlichen Bahnen einer stetigen, immanenten Umgestaltung, so speichert sich gleichsam in den Nachkommen durch hereditäre Übermittlung eine ganze Summe von sittlichen Anschauungen (häufig freilich nur latent und unbewußt vorhanden) auf, die dann an dem Punkt fortgebildet werden, bis wohin die frühere Entwicklung sie geführt hatte; andernfalls bei großen welthistorischen Umwälzungen oder speziellen pathologischen Erscheinungen müssen wir uns daran gewöhnen, das Gemälde eines solchen durch stete Rückfälle wieder unterbrochenen Fortschrittes verstehen zu lernen: Jedenfalls immer noch besser, weil der Wahrheit entsprechender, als in einseitig optimistischer Verblendung eine willkürlich ersonnene Hypothese über die lückenlose Entfaltung einer weltbeherrschenden sittlichen Idee, einer praktischen Vernunft als solchen, eines absoluten Sittengesetzes usw. zu dekretieren.

Nachdem die Wissenschaft den Aufbau der Ethik auf dieser neuen ethnologischen, durch die Entwicklungstheorie bezeugten Grundlage vollendet hat, lohnt es sich, auf die verschiedenen Detailfragen des Näheren einzugehen, welche meistens voreilig an die Spitze der ganzen Untersuchung gerückt werden, also das Verhältnis des Glücks zum Genuß oder der Freiheit zur Abhängigkeit und Zwang etc. zu bestimmen. Es würde dem Plan der vorliegenden Arbeit nicht entsprechen, überall den Spuren nachzugehen, welche etwa den Einfluß naturwissenschaftlichen Denkens in diesen Fragen verraten: Aber die Bemerkung können wir nicht unterdrücken, daß die vielbesprochenen und gefeierten Prinzipien des Optimismus und Pessimismus gar nicht in das Gebiet der kritischen Philosophie gehören. Bedingt lediglich durch die subjektive Stellung des Einzelnen zu seiner Umgebung, hervorgegangen aus der ganz unzulässigen Verallgemeinerung dieser individuellen Eindrücke, geknüpft endlich in ihrer Entscheidung an ziemlich wertlose dialektische Erörterungen oder an den Hinweis auf eine Erfahrung, die ex confesso [aus dem Geständnis - wp] nicht experimentell sich in der ganzen sittlichen Welt anstellen läßt, enthalten jene Weltbilder häufig recht geschickt gruppierte Kombinationen, je nach der spezifischen Tendenz günstig oder ungünstig gefärbt, mitunter auch geschmacklose Verzerrungen des wirklichen Sachverhalts, nie aber eine leidlich objektive Darstellung des Geschehens. Wie die anthropozentrische Einseitigkeit des teleologischen Prinzips recht grell in den Ausführungen des Optimismus hervortritt, so die blasierte, quietistische, weltschmerzliche Stimmung im Pessimismus: Beide kämpfen mit stumpfen Waffen, und, wie es nie gelingen wird, von einem universalen Gesichtspunkt aus jeglichen Vorgang zutreffend teleologisch zu erklären, gerade so unmöglich wird es einer Zukunftsstatistik sein, empirisch in der endgültigen Bilanz die Summe des Übels und Bösen weitaus größer als die des Guten zu erweisen.
    "Gut oder böse, schön oder unschön wird Etwas nur, insofern wir es zu einem bestimmten Zweck oder Ideal in Beziehung setzen, welchem es gemäß oder nicht gemäß erscheint. Wir kennen und setzen wohl Zwecke und Ideale für unser menschliches Handeln; aber wir kennen keinen Zweck der gesamten Natur oder gar der Dinge-ansich. Wir können also auch nicht sagen, ob die Welt ein durch und durch zweckmäßige, also die möglichst beste Welt, wie der Optimismus will, oder ob sie die möglichst schlechteste Welt ist, was der Pessimismus vorzieht." (Schultze, Philosophie der Naturwissenschaft, Bd. 2, Seite 341)
Aber ob wir optimistisch denken oder pessimistisch, ob wir einen Fortschritt der sittlichen Ideen, eine Einschränkung der bestialischen Triebe, eine graduelle Rektifizierung [Berichtigung - wp] des Verhältnisses von Pflicht und Glück annehmen, oder den Menschen am Gängelband nichtiger Jllusionen dahintaumeln lassen, bis er endlich aus dem Rausch erwacht, skeptisch-quietistisch sich auf sich selbst zurückzieht, der Welt den Rücken kehrt oder sich selbst aufgibt, - immer werden wir eines bestimmten Regulativs seiner Handlungen in Form von Motiven nicht entraten können. Unbedenklich können wir KANT zustimmen, wenn er sagt, es sei Nichts in der Welt, ja außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut gehalten werden muß, als ein guter Wille. Alle Talente des Geistes, Eigenschaften des Temperaments und alle Glücksgaben hätten keinen inneren, unbedingten Wert, da sie ohne Grundsätze eines guten Willens böse werden könnten. Aber es fragt sich sehr, ob es der jetzige Stand der Dinge noch verstattet, der kantischen Begründung des Willens zu folgen, als eines Vermögens, die Reihe der Erscheinungen aufs Neue anzufangen.

Es ist bekannt, wie SCHOPENHAUER diese Darstellung einer intelligiblen Freiheit, mit der das transzendentale oder eigentliche Ich sich als Quelle jeglichen Geschehens auffaßt und so dem gewöhnlichen Kausalnexus entrinnt, begierig ergriffen hat, um darauf seine hylozoistische Lehre [von einem belebten Urstoff - wp] vom Ansich des Willens zu gründen. Die mannigfachen Erfahrungen der Naturwissenschaft, ihre unermüdliche Gewohnheit, rein induktiv und empirisch für jedes Ereignis eine genau abgeschlossene Reihe von Ursachen zu verlangen und erst dann ein allgemeines Gesetz zu formulieren, ließen bald keinen Zweifel mehr aufkommen, daß in jenen Bestimmungen keine kritisch gesicherten Resultate mehr zu erblicken sind, vielmehr der ohnmächtige Versuch, durch einen logischen salto mortale in das Transzendente hinein der unbequemen empirischen Welt, die immer einen unverbrüchlichen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung aufzeigt, zu entgehen.

Es war in der Tat gänzlich unerfindlich, in welcher Beziehung jenes fiktive intelligible Ich zu dem, der wissenschaftlichen Untersuchung allein zuständigen empirischen steht, es sei denn, daß man zum Verständnis dieses Verhältnises allerlei mystische Organe und Funktionen kreirt, wie intellektuelle Anschauung und dgl. Gegeben ist für unsere theoretische Zergliederung, wie für unsere sittliche Beurteilung einzig und ausschließlich unser Selbst, bestimmt gleich allen anderen Erscheinungen biologischer Art durch das Walten der Naturgesetze, welche sich der Krone der Schöpfung gegenüber nicht rücksichtsvoller zeigen, wie irgendeinem anderen Natutprodukt. Ganz aussichtslos, wenigstens für eine nüchterne Betrachtung, ist der Versuch, diesen bestimmten Komplex psychischer und physischer Momente in eine empirische und transzendente Hälfte zu zerlegen, deren jede besonderen Gesetzen folgt. Nur Mystizismus und Schwärmerei vermag über die Beschaffenheit jenes intelligiblen Faktors allerlei anmutige Erzählungen zu beschaffen. Wie gesagt, unter dem wachsenden Einfluß der induktiven Methode, wie sie namentlich die Naturwissenschaft vertreten hat, befestigte sich immer mehr (schon von den Tagen HERBARTs an) die Überzeugung, daß die psychischen Phänomene jeglicher Form nicht eine regellose Flucht zusammenhangloser Moment involviert, sondern daß sie vielmehr streng gebunden ist an das kosmische Weltgesetz, das unserem ganzen Denken zugrunde liegt, an das Kausalgesetz. Anstatt des in sich widersprechenden Unternehmens, für das Gebiet menschlichen Wollens ein Privilegium sui generis [aus sich selbst heraus - wp] begründen zu wollen, wäre der Nachweis der eigentümlichen Gestaltungen, welche jenes universale Prinzip für unsere sittliche Welt angenommen hat, verdienstlicher gewesen, zu untersuchen, wie der ganze Inhalt der Vorstellungen immer motivierend auf die unendlich verschiedenartigen Objekte des Strebens und Begehrens eingewirkt hat, welche die Geschichte kennt.

Alle ethischen Taten werden ganz unverständlich, wenn statt der Herrschaft des Kausalgesetzes das Regiment chaotischer Willkür auf den Thron gesetzt wird; denn jene als Manifestationen der ursprünglichen menschlichen Natur (veranlaßt durch äußere und innere Motive) setzen zu ihrem Zustandekommen das unumschränkte Walten eines allgemeinen Mechanismus sowohl in der äußeren als in der inneren Welt voraus. Jenes, denn sonst würden sie als bloße Phantasmen unvermögend sein, in den Zusammenhang der übrigen Erscheinungen sich organisch einzufügen; dieses, da wir andernfalls sie als Ausgeburten einer plötzlichen Laune, niemals als die naturnotwendige Frucht einer bestimmten psychischen Entwicklung ansehen könnten, ihnen also niemals eine wirkliche sittliche Wertschätzung beizumessen berechtigt wären. So ist es in der Tat nicht zu verwundern, wenn sogar Männer, denen häufig spiritualistische Liebhabereien nicht mit Unrecht vorgeworfen sind, wie z. B. FECHNER, die mit einer gewissen Geringschätzung die nüchterne kalte Anschauung der Naturwissenschaft, der Nachtansicht gegen die farbenprächtige, glänzende Tagesbeleuchtung vergleichen, sich doch mit Entschiedenheit gegen die törichten Übertreibungen erklären, daß mit dem Prinzip des Determinismus, des durch bestimmte Motive necessitierten [genötigten - wp] Wollens, die ideale Welt zertrümmert und das öde Getriebe eines blinden Fatalismus eingesetzt ist. Bedenken wir daz, bemerkt Fechner, daß der Indeterminismus zwei Prinzipien des Geschehens, das der Gesetzlichkeit und einer sich davon emanzipierenden Freiheit in die Welt einführt, jedoch der Determinismus mit einem auszukommen weiß, - daß der Indeterminismus, indem er störende Eingriffe in den Naturlauf durch geistige Freiheit zuläßt, den Dualismus zwischen Geist und Materie sanktioniert, ohne die Möglichkeit zu lassen, ihn in eine höhere Einheit aufzuheben, - und daß alle Schwierigkeiten, das Dasein des Übels mit dem Dasein eines allgütigen und allmächtigen Gottes zu vereinbaren, nach indeterministischer Ansicht ungehoben bleiben (FECHNER, Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht, Seite 171).

Derartige Begriffskünsteleien eines empirischen und intelligiblen Ich, eine Wiederauffrischung, wie sie LAAS treffend nennt, der eleatisch-platonischen Unterscheidung zwischen Sinnes- und übersinnlicher oder Verstandeswelt (Die Kausalität des Ich, Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Philosophie, Bd. IV, Seite 344), der der vermöge der Idealität der Zeit dem transzendentalen Subjekt die ganze Fülle titanhafter Willkür zustand, haben gegenwärtig einer mehr induktiv, meist psychologisch gehaltenen Ansicht Platz machen müssen, der es vor Allem auf die Genesis des Sittlichen, der Phänomene des Willens usw. angekommen ist.
LITERATUR - Thomas Achelis, Die Ethik der Gegenwart in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, siebenter Jahrgang, Leipzig, 1883