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FRITZ BEROLZHEIMER
(1869-1920)
Das Urproblem der Ethik

"Die Rechtsphilosophie ist nimmermehr ein lästiger Appendix der Wissenschaft des Rechts, vielmehr die berufene Führerin für die lebendige Erfassung des Rechtsstoffes, indem sie in vollkommener Reinheit den Geist des gewordenen und des werdenden Rechts spiegelt und so den Leitstern darstellt in Recht und Wirtschaft."

"Man kann das Gewissen nicht zum Maßstab des Sittlichen machen (wie Kant dies will), so wenig man aus dem (körperlichen Gesundheitsgefühl die Norm der Betätigung des körperlichen Verhaltens entnehmen kann. Das Gewissen ist vielmehr (wie das körperliche Gesundheitsgefühl) ein Korrektiv (ein ethischer Barometer), das anzeigt, daß etwas nicht in Ordnung ist. Die Regung des Gewissens bestätigt, daß ein Unrecht geschieht oder geschehen ist. Aus dem Gewissen kann man daher nicht die ethische Norm entnehmen, sondern nur den Einklang des handelnden Subjekts mit der Norm oder die Störung dieses Einklangs.


Vorrede

Mehr als zwanzig Jahre sind vergangen, seitdem mit LASSONs "System der Rechtsphilosophie" das letzte systematische Werk über die gesamte Rechtsphilosophie erschienen ist.

Inzwischen hat sich in der geistigen Welt der Kulturvölker ein bemerkenswerter Umschwung vollzogen. Der überwuchernde Einfluß der Naturwissenschaften, insbesondere der Deszendenz- [Abstammungs- | wp] und der Selektionstheorie auf die Geisteswissenschaften, der einen pseudophilosophischen Atheismus und einem jeglicher wissenschaftlichen Bekleidung baren Materialismus das Feld geebnet hatte, ist im Weichen begriffen. Man beginnt zu erkennen, daß die Naturwissenschaft weder befähigt, noch berufen ist, aus sich allein eine Weltanschauung zu erzeugen. Der Idealismus findet wieder Eingang und mit ihm erwacht neues Interesse für die philosophische Forschung.

Aber die Gesamtkultur ist seit den Zeiten KANTs, FICHTEs, HEGELs nicht stillgestanden. Die exakte Forschung, die mit der prädominierenden Stellung der Naturwissenschaft ihren Einzug auch in die Welt der Geisteswissenschaften genommen hat, wird darin als dauernde Errungenschaft der letzten fünfzig Jahre verbleiben. Eine rein spekulative Philosophie wird daher künftig weder aufgrund eines "kategorischen Imperativs", noch mittels "intellektueller Anschauung", noch durch eine "dialektische Methode"; noch mit irgendeiner anderen Grundhypothese ähnlicher Art Geltung gewinnen können. Die Methode hat in der Wissenschaft gewechselt (wie in der Kunst die Technik). Anstelle erdentrückter Phantasie tritt reale Forschung, die das Gegebene klar ins Auge faßt, nach Inhalt und Grenzen scharf zu umschreiben strebt. Statistik, Kenntnis des Wirtschafts- und Rechtslebens, exakte Psychologie, sind die Hilfsmittel, welche heute der Rechts-, Staats-, Gesellschafts- und Volkswissenschaft das bieten, was Mikroskop und chemische Physiologie, Experiment und Analyse dem Mediziner leisten. Mit jenen Hilfsmitteln allein kann aber keine Rechts-, Gesellschafts- oder Wirtschaftsphilosophie ins Leben gerufen werden. Vielmehr bedürfen diese einer der biologischen Forschung analogen Hilfswissenschaft. Diese ergibt die prähistorische Methode: Durch Rechtsvergleichung, welche die Rechts- und Gesellschaftsverhältnisse der noch bestehenden Naturvölker mitumfaßt, durch Verwertung der ethnologischen Funde, und durch die seit dem Aufblühen der Sanskritforschung zu nie geahnter Exaktheit und fast untrüglicher Sicherheit fortgeschrittene Etymologie bieten sich dem Rechts- und Wirtschaftsphilosophen heute wertvolle Stützen, die ihm gestatten, das Dunkel, von dem die Anfänge von Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, Staat früher wie mit einem undurchdringlichen Schleier bedeckt waren, einigermaßen aufzuhellen.

Hatte noch der Anfang des 19. Jahrhunderts bis in dessen Mitte hinein mit voller Naivität am Naturrecht festgehalten, wie die Philosophie am Rationalismus; sodaß der Satz: "Recht und Staat ruhen auf dem Vertrag" ein ebenso unerschütterliches Dogma war, wie die Lehre: "Die reine Vernunft und sie allein ist befähigt, untrügliche Erkenntnis zu liefern"; schien dann bis in die achtziger Jahre die historische Methode in ihrem unbestrittenen Siegeszug geeignet, die Philosophie in Recht und Wirtschaft auszuschalten, indem vermeintlich die Erforschung des Römerrechts den Geist der Gesetze zu genügener Klarheit erhellt, und - wie man glaubte - die Aufdeckung der geschichtlichen Zusammenhänge bezüglich der Fortbildung der Wirtschaft jedes wirtschaftsphilosophische Leitmotiv zu ersetzen vermochte, während der kärgliche Restbedarf an Metaphysik durch das Schlagwort "Evolutionismus" gedeckt wurde, - so begann in den letzten zwei Jahrzehnten die Einsicht an Geltung zu gewinnen, daß die beste und die exakteste Methode für sich allein noch nicht vermag, uns über den Boden der Tatsachen hinauszuheben. Mit der bloßen Rechts-, Wirtschafts-, Gesellschaftspolitik lebt man - philosophisch betrachtet - von der Hand in den Mund. Eine idealistische Synthese, die in exakter Methode, auf realem Boden die Wurzeln findend (und dadurch in voller Schärfe von jeglicher Phantasie, Utopie, metaphysischer Spekulation geschieden), gleichwohl den letzten Erdenrest abstreift, kann nur die Philosophie ermöglichen.

Und an beachtlichen, ja zum Teil höchst bedeutsamen Ansätzen zu einer neuen Rechts- und Wirtschaftsphilosophie fehlt es seither keineswegs. Ich erinnere nur an JHERING, GIERKE und ZITELMANN, an KOHLER und STAMMLER, an BIERLING, JELLINEK, DAHN und GABRIEL TARDE, ferner die Ethnologien POST, LEIST und STEINMETZ unter den Juristen, an den Nationalökonomen SOMBART, an die Soziologen SCHÄFFLE und DARGUN, sowie an die Philosophen GEORG SIMMEL, LUDWIG STEIN und FERDINAND TÖNNIES.

Zugleich haben sich in den einzelnen Disziplinen, namentlich in Soziologie, Sozialethik, Strafrecht (positive Schule: von LISZT, FERRI, GAROFALO) seit zwei Dezennien [Jahrzehnten - wp] bedeutsame Wandlungen der Anschauungen in grundlegenden Fragen vollzogen, wurden Fundamentalsätze in ihrem Bestand teils erschüttert, teils durch neue Wahrheiten, Ansichten, Anregungen, Forschungen, Postulate ersetzt. -

Wenn nun der Versuch unternommen werden soll, das vorläufige Fazit dieser neuen Bestrebungen zu ziehen und in einem systematischen Werk niederzulegen, ist jedoch nicht nur diesem Fortschreiten der Wissenschaft gebührend Rechnung zu tragen, vielmehr wird heute eine Rechtsphilosophie für sich allein ohne Wirtschafts- (und Sozial-) Philosophie keine Existenzberechtigung, ja keine Existenzmöglichkeit mehr haben. Denn der Schematismus der Grundbegriffe des Rechts muß immer mit irgendeinem Inhalt ausgefüllt sein. Zur Zeit des Naturrechts erhielt er einen bloßen Scheininhalt an der Vertragstheorie. Die Rechtsbegriffe schienen auf sich selbst zu stehen; die Form ersetzte den Inhalt. mit der historischen Schule erhielten die Rechtsbegriffe zwar einen realen Inhalt; dieser wurde aber nicht aus dem pulsierenden Leben der wirkenden Gesamtheit in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft unmittelbar geschöpft, vielmehr ausschließlich durch Vermittlung des Römerrechts und germanischer Anklänge aus zweiter Hand geholt, von den Resten juristisch bedeutsamer Epochen zehrend. Heute ist es an der Zeit, die Rechtsbegriffe mit einem lebendigen Inhalt zu erfüllen. Und diesen realen Kern ergibt die Wirschaft. Denn die Wirtschaft ist nichts anderes als der Materialinhalt des Rechts. Die Volkswirtschaft als geschlossene, selbständige Einheit deckt sich mit dem Staat als der Rechtseinheit; die Wirtschaftsglieder fallen zusammen mit den Staatseinwohnern; die Wirtschaftssubjekte sind identisch mit den Rechtssubjekten; die Wirtschaftsobjekte sind zugleich (aktuell oder potentiell) die Rechtssubjekte. Wirtschaft und Recht verhalten sich wie Inhalt und Form, wie Kern und Schale.

Demgemäß ist Objekt der Rechtsphilosophie die Idee des Gerechten nach der formellen Seite, Objekt der Wirtschaftsphilosophie die Idee des Gerechten nach ihrem Inhalt. Was der Form nach gerecht ist, findet seinen materiellen Inhalt stets in der Beziehung auf die sozialen oder die wirtschaftlichen Verhältnisse der Glieder der Gemeinschaft. Rechts- und Wirtschaftsphilosophie haben daher denselben Gegenstand: Recht ohne Wirtschaft ist leer, Wirschaft ohne Recht ist formlos. (1)

In dieser inhärent notwendigen Reziprozität [Wechselseitigkeit - wp] von Wirtschaft und Recht mag die Erklärung (oder - wenn man lieber will - die Entschuldigung) dafür erblickt werden, daß die von mir in Angriff genommene Arbeit auch die Wirtschaftsphilosophie mitumfassen soll. -

Manche Rechtsphilosophen haben sich damit begnügt, die Rechtsphilosophie "auf dem Grund der Ethik" aufzubauen; andere bezeichnen die Rechtsphilosophie als einen Teil der Ethik; noch andere gliedern ihre Rechtsphilosophie an ein bestehendes philosophisches System einfach an; wieder andere haben ihren Stoff so behandelt, wie wenn er einer theologischen Disziplin zugehört; manche vermeinen gar, die Rechtsphilosophie "voraussetzungslos" in Angriff nehmen zu können, d. h. in die Luft zu bauen.

In der Tat sind Rechts- wie Wirtschaftsphilosophie Disziplinen der praktischen Philosophie, denen ihre Stelle innerhalb eines philosophischen Systems angewiesen werden muß. Allein wo findet man eine Philosophie, die heute noch restlos befriedigen könnte? - So ist mir dann nichts übrig geblieben, als den philosophischen Unterbau, aus dem meine Rechts- und Wirtschaftsphilosophie organisch herauszuwachsen vermöchte, selbst zu unternehmen, wie auch die Abgrenzung von Recht und Wirtschaft gegenüber der Ethik selbständig versucht werden soll.

Aus all dem ergab sich folgender Arbeitsplan:

An den philosophischen Einleitungsband, die vorliegende Kritik des Erkenntnisinhaltes, wird sich als zweiter Band die Universalgeschichte der rechts- und wirtschaftsphilosophischen Ideen reihen; in Verbindung damit sollen die Grundbegriffe der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie sowie der Ethik untersucht und fixiert werden. Der dritte Band wird die Staats- und Sozialphilosophie, der vierte Band die Philosophie des reinen Privatrechts und der Einzelwirtschaft, der fünfte Band die Philosophie des Strafrechts behandeln.

Es sei mir gestattet, bezüglich des vorliegenden ersten Teils des gesamten Werkes noch einige Bemerkungen anzufügen.

Wenn ich auch in dieser Einführung notgedrungen ein rein philosophisches Grundthema behandle und variiere, schreibe ich doch in erster Linie als Jurist; daraus mag sich manche Einseitigkeit, vielleicht auch mancher Mangel der Abhandlung erklären.

Der geschichtliche Abriß des Erkenntnisproblems im ersten Kapitel ist gedrängt gehalten. Wer sich hierüber näher informieren will, finden in den Spezialwerken über Geschichte der Philosophie vortreffliche eingehende Darstellungen. Die Kernsätze der einzelnen Erkenntnislehren habe ich meist mit den Worten der Philosophen angeführt, da der Philosoph in der Regel zugleich der beste Verkünder der von ihm erkannten Sätze ist. Dagegen habe ich mir im Gebrauch philosophischer Fachausdrücke eine möglichste Beschränkung auferlegt.

Der heutige Stand der Wissenschaft erfordert bei der Behandlung philosophischer Probleme die eingehende Berücksichtigung der Fülle reichen Materials, welches die prähistorische Forschung und die Sprachvergleichung bieten. Denn die Erhellung der philosophischen Grundfragen kann ausschließlich durch die prähistorische Methode gewonnen werden, die anstelle spekulativer Willkür jenen Grad annähernder Gewißheit ermöglicht, welche man von rein naturwissenschaftlicher oder psychologischer Forschung vergeblich für die Philosophie erhofft. -

Möge es meinem Streben gelingen, ein bescheidenes Scherflein dazu beizutragen, daß die Rechtsphilosophie wieder die Stellung erringt, die ihr in der Rechtswissenschaft gebührt, und von der sie heute so weit entfernt ist.

Die Rechtsphilosophie ist nimmermehr ein lästiger Appendix der Wissenschaft des Rechts, vielmehr die berufene Führerin für die lebendige Erfassung des Rechtsstoffes, indem sie in vollkommener Reinheit den Geist des gewordenen und des werdenden Rechts spiegelt und so den Leitstern darstellt in Recht und Wirtschaft.



Das Urproblem der Ethik

Man bemißt den Wert eines philosophischen Systems meist nach dem Wert der vom Philosophen gegebenen Erkenntnislehre. Zu diesem theoretischen Maßstab gesellt sich aber ein praktischer Prüfstein, die Ethik. Denn schließlich findet alles Philosophieren seinen Ausgangspunkt und sein Ende in der dominierenden Frage: Nach welchen Gesichtspunkten sollen wir uns in der Lebensführung leiten lassen? Was sollen wir wollen?

Wenn eine Erkenntnislehre nicht von vornherein in sich haltlos erscheinen soll, muß sie in konsequenter Durchführung auch den Aufbau der Ethik ermöglichen. Dies erweist uns - nebenbei bemerkt - aufs Neue die Irrtümlichkeit der Grundlagen der kantischen Erkenntnislehre. Denn die von KANT gegebene Begründung der Ethik steht seiner "Kritik der reinen Vernunft" diametral gegenüber; während die reale Welt der Dinge ansich unserer Erkenntnis nach KANT schlechthin verschlossen ist, soll sich gleichwohl dem handelnden Menschen durch das in seiner Brust lebendige Sittengesetz die intelligible Welt auftun! Hiernach ist die Theorie der Ethik, die KANT gibt, nicht ein Aufbau auf seiner Erkenntnislehre, vielmehr eine Unterminierung seiner Erkenntnisphilosophie (2).

Nicht minder verfehlt ist die Ansicht, die eine Ethik "voraussetzungslos", frei von einem schwankenden Grund egal welchen philosophischen Systems, aufzubauen unternimmt. Wollte man ernsthaft daran gehen, eine voraussetzungslose Ethik zu schaffen, so würde man dem Baumeister gleichen, der ein Haus "ohne Grund" in die Luft baut, oder dem Schiffsbauer, der ein Schiff ohne Kiel konstruiert. In der Tat wird unter der sehr vornehm wissenschaftlich klingenden Bezeichnung "Voraussetzungslosigkeit" in der Regel verstanden: Unter Absehung von den durch positive Religionen und diesen mehr oder weniger verwandte philosophische Systeme gegebenen Stützen und unter ausschließlicher Benützung der aus den Naturwissenschaften und der exakten Psychologie gewonnenen Grundlagen, Errungenschaften, "Beweise". Allein diese auf rein naturwissenschaftlichem Grund aufbauenden Ethiker übersehen, daß man die Sache auf den Kopf stellt, wenn man den Grund für eine philosophische Disziplin aus einer Sonderwissenschaft gewinnen will.

Der Urgrund aller Wissenschaft überhaupt ist der philosophische, der erkenntnistheoretische, und auch die Paläste der Wissenschaft kann man nicht von oben nach unten erbauen. Die Ethik ist eine rein philosophische Disziplin und sie muß daher ihr unterstes Fundament der Erkenntnistheorie entnehmen, genau so, wie die Metaphysik oder die Ästhetik. Zugleich ergibt die Brauchbarkeit der gewonnenen Resultate ein greifbares argumentum ad hominem [auf die Person abzielend - wp] für die Richtigkeit der zugrunde gelegten, den Aufbau der Ethik ermöglichenden Erkenntnistheorie.

Nach meiner Erkenntniskritik ruht auf der ideologischen Weltbetrachtung die Wesenssonderheit des Kulturmenschen. Wenn aber der Kulturmensch als Erkenntnissubjekt durch das ideologische Moment charakterisiert wird, muß er auch als Subjekt des Handelns in der ideologischen Weltauffassung Norm und Maßstab des Wollens finden. Die ideologische Erkenntnislehre führt somit ohne Weiteres zu einer ideologischen Ethik. Die Kulturmenschheit muß sich als wollende in den Dienst der Idee stellen, wie sie als erkennende durch die Auffindung der Ideen sich von anderen Erkenntnissubjekten unterscheidet. Die Idee der Ethik kann daher nichts anderes besagen, als: Lebe als Kulturmensch. Betätige Dich als das, als was Du erkennst. Die Ethik ist folglich nichts anderes, als die Betätigung der Kultur im praktischen Handeln.

Hieraus erklärt es sich, daß die Geschichte der Ethik nicht unbeträchtliche Wandlungen aufweist. Denn die Geschichte der Ethik ist nichts anderes, als die Geschichte der ethischen Ideale, und die Entwicklung der ethischen Ideale ist nichts anderes, als der markanteste Ausdruck der jeweils herrschenden Kultur. Die griechische Kultur sieht nur in den Freien Kultursubjekte und die griechische Ethik kennt daher als Kulturideal nur die Vervollkommnung des Freien, Edlen. Ihre Grundtugend ist die sophrosyne, die Tugend der Vornehmen; die griechische Ethik ist aristokratisch, wie die griechische Kultur. Die in das theokratische Gesetzgebungswerk MOSIS gehüllte jüdische Ethik spiegelt die jüdische Kultur. Sie umfaß das ganze jüdische Volk vom Höchsten bis zum Niedrigsten; gleichwohl ist sie exklusiv. Sie bleibt auf das Judentum begrenzt, weil das Judentum zur Reinhaltung der monotheistischen Idee sich von fremden Elementen sondern mußte. Mit Recht nennt sich die Judenheit trotz all der Knechtung und Bedrückung, die sie seit der Auflösung des jüdischen Staates erfahren hat "das auserwählte Volk" (wie sich der Gottesgnadenkönig auch in Bettellumpen noch als König fühlt), da sie die wichtigste erkenntnistheoretische Kulturmission erfüllt hat, die Aufhellung, Klärung und Bewahrung der monotheistischen Idee, die durch die jüdischen Tochterreligionen den Eroberungszug in die weite Welt angetreten hat. Aber in der zur Wahrung der Gottesidee befohlenen Abschließung des Judenvolkes und Beschränkung auf sich selbst liegt zugleich die Enge des jüdischen Kulturhorizonts begründet. Als Kultursubjekt und demgemäß als ethisches Subjekt erscheint dem Judentum das Judentum; was außerhalb liegt, steht jenseits der ethischen Sphäre. So gelingt dem Judentum die soziale Verbreiterung des ethischen Ideals, das hier zur Lebensnorm für jeden Volksgenossen wird - nicht beschränkt bleibt auf die Vornehmen und Edlen -, aber es ist zugleich national begrenzt, anti-universal, anti-humanistisch.

Der Weg zu einem die ganze Menschheit in sich schließenden Kultur- und damit ethischen Ideal konnte nur von unten herauf, von jener sozialen Schicht aus, deren Glieder "nichts als Menschen" waren, gefunden werden. In den Worten des Mattheus-Evangeliums 5, 14: "Ihr seid das Licht der Welt" ist das Fundament für die Begründung der christlichen Ethik ausgesprochen: Die Menschheit ist Kultursubjekt. Und daran schließt sich die ethische Grundforderung (ebd. 5, 16): "Also laßt Euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie Eure guten Werke sehen, und Euren Vater im Himmel preisen." Die Menschheit als Kultursubjekt ergibt zugleich die Menschheit als ethisches Subjekt. Die mit und seit Christus herrschend gewordene ethische Grundformel lautet daher, an die Gesamtheit der Menschen gerichtet: Lebe als Kulturmensch. Dieses Postulat, an alle gerichtet, enthält sowohl die Grundidee der Individualethik, wie jene der Sozialethik. (Respektiere dich und respektiere die andern als Menschen, d. h. als Kultursubjekte.)

Weder das Mitleid (SCHOPENHAUER), noch die Liebe (TOLSTOI) bezeichnen die christliche Idee erschöpfend, nicht einmal vollständig richtig. Sie urteilen nur symptomatisch, nicht charakteriologisch. (Mitleid und Liebe können ja doch nur das Ergebnis einer Gefühls- und Willensrichtung sein, die der Mensch in seinem ethischen Handeln hervorrufen mußte; wesentlich ist aber nicht das Produkt der Gesinnung, sondern diese selbst.) Diese Urteile sind zudem auch nicht genau. Man hat die Form, in welche Christus seine Lehre gekleidet hat infolge des äußerlichen, zufälligen Umstandes, daß er seine Predigt in erster Linie an die Enterbten richtet, für den Kern genommen, und ist durch diese Nichtachtung der Perspektive zu einer verfehlten Auffassung der christlichen Ethik gelangt. Man hat das neue Testament nach seinem Wortinhalt interpretiert, nicht nach seinem Geist. PLATO hat zu den Erlesensten gesprochen, MOSES richtete das Wort an sein Volk, JESUS wandte sich an die Ärmsten, die im schlimmsten Joch der körperlichen und geistigen Bedrückung Schmachtenden. Eine Wahrheit wird aber in verschiedenen Formen gepredigt nach der Verschiedenheit im Rezeptionsvermögen der Hörenden. Durch die Nichtachtung der Perspektive ist man daher zu einer irrigen Deutung der christlichen Ethik gelangt. Doch nur die Doktrin (nicht nur des Anhängers TOLSTOI, sondern auch des Antichristen NIETZSCHE; auch dieser bekämpft gar nicht die christliche Ethik, wie sie ist, sondern das, was er fälschlich in ihr erblickt: das lebenverneinende, lähmende, asketische Ideal, die indische Lebensweisheit, die auch SCHOPENHAUER irrig mit dem christlichen Ideal identifiziert, während in der Tat dieses nichts anderes als ein veredelter, spiritualisierter Neuplatonismus ist.) (3) Daher der scheinbare Widerspruch zwischen christlicher Lehre und Leben der Christenheit. Dieser Widerspruch besteht nur für die mißverstehende, die Form für den Kern nehmende (allerdings häufige) philosophische und theologische Deutung der christlichen Ethik.

Die von Christus als göttliche Heilslehre der gedrückten Menschheit verkündete Botschaft stellt sich - auch entkleidet der theologischen Formulierung und erkenntniskritisch betrachtet - als die wahre, die richtige Ethik dar: Die Gesamtheit der Menschen ist erkennendes Kultursubjekt und ist eben deshalb berufen als handelndes Kultursubjekt oder als Subjekt der Ethik. In dieser ethischen Urwahrheit liegt die seit zweitausend Jahren ungebrochene Kraft der christlichen Idee. So erklärt sich auch die wundersame Erscheinung, daß die seither aufgestellten ethischen Systeme und verkündeten ethischen Ideale gleichviel welcher Philosophen im letzten Grund nichts anderes aussprechen, als den Kern der christlichen Ethik. Mit einer Ausnahme: NIETZSCHE.

NIETZSCHEs Philosophie ist darum so hochbedeutsam, weil sie die philosophische Konsequenz des Darwinismus (der Selektionstheorie) zu ziehen unternimmt. Mag sein, daß NIETZSCHE von STIRNERs Predigt des schrankenlosen Individualismus mehr oder weniger beeinflußt war - die Grundidee, welche NIETZSCHEs Philosophie trägt, ist die Züchtung des Übermenschen (4). Wie der große Philosoph HEGEL mit der von SCHELLING übernommenen Neubetonung des entwicklungsgeschichtlichen Moments dem Lamarckismus das philosophische Pendant gegeben hat, so der mindergroße Philosoph und echte Künstler NIETZSCHE der im Darwinismus eingeschlossenen Idee der Veredelung. Das Unhistorische, Atavistische in NIETZSCHEs Philosophie liegt in der Art, welche er als Idealtypus hinstellt: Bald dient "die blonde Bestie", bald die kraftüberquellende Renaissance-Fürstenmenschheit als Vorbild - Halbkultur und (dekadente) kulturelle Überreife. Der logische Fehler, den NIETZSCHE überdies begeht, beruth darin, daß er diese gekürt, ja planmäßig zu erstrebende "Züchtung" des vornehmeren Typus der natürlichen Höherentwicklung der Arten gleichsetzt. Es ist nicht wahr, was das Grundthema in Zarathustras Predigt bildet (5):
    "... Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser großen Flut sein ..."
Keineswegs haben die niedrigen Arten die höheren "geschaffen", vielmehr waren jene das bloße Medium der Aufartung. Ebenso irrig ist der Gedanke, den NIETZSCHE (6) in die Worte kleidet:
    "Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham."
Das Zeitalter der Affen als höchster Subkulturträger hat genau so sehr seine in sich geschlossene Bedeutung und für sich seiende Berechtigung, wie jenes des Protoplasmas und alle übrigen (falls eine derart zoo-anthropo-zentrische Ausdrucksweise gestattet ist).

Das stärker interessierende, das wertvollere, und vor allem das erkenntniskritisch (im engeren Sinne: geschichtsphilosophisch) bedeutsamere Problem lautet jedoch nicht: Wie kam NIETZSCHE zu einer Philosophie?, sondern vielmehr: Was verschaffte der Philosophie Nietzsches die begeisterte Bewunderung, die glühende Anhängerschaft so vieler guter Köpfe? Zum Teil hat hier sicher der darwinistische Unterbau von NIETZSCHEs Ethik das Seine getan. Beachtlich ist auch, daß NIETZSCHEs Einfluß hauptsächlich auf Künstlernaturen (die Schriftsteller eingeschlossen), weniger auf die philosophisch Geschulten, auf die eigentliche Gelehrtenwelt gewirkt hat. Die ästhetische Seite steht eben in NIETZSCHEs Philosophie durchaus im Vordergrund, - nicht nur bezüglich der (mit Recht) immer betonten künstlerisch-dichterischen Form seiner philosophischen Produktion, - es ist vielmehr vor allem die ästhetische Gestaltung der Lebensführung, das schönheitserfüllte Ideal, was NIETZSCHEs Ethik charakterisiert. Der vornehme Typus wird von ihm als der wahrhaft schöne empfunden und gegeben; NIETZSCHEs Ethik läßt sich in einer Modifikation des bekannten IBSEN-Wortes dahin festlegen: "In Schönheit leben." (7)

Mir scheint jedoch, daß auch hiermit die wichtigsten Faktoren noch nicht erschöpft sind. Der demokratische Gedanke hatte nicht nur seinen politischen Siegeslauf beendet (1789 bis 1871: Allgemeines deutsches Wahlrecht), er hat nicht nur seit MARX bis BEBEL das ökonomische Feld befruchtet und die Saat vielfältig zum Aufgehen gebracht, - er begann zunehmend unter der Flagge "Sozialpolitik" über das wirtschaftliche Gebiet hinaus das soziale, und als "Sozialethik" die Sphäre der sittlichen Grundanschauung zu durchtränken: Die Welt drohte in der überwuchernden pandemokratischen Idee zu versumpfen und hier mußte notwendig die Reaktion einsetzen; die Intellektuellen wandten sich von den "Plebejer"-Idealen und NIETZSCHE wurde ihr Prophet: Die ersten Anfänge der sozialen Neo-Renaissance begannen Wurzel zu schlagen. Das neu-aristokratische Manifest NIETZSCHEs wendet sich an die Mächtigen aller Länder und sein Kernsatz lautet: Allmacht der Macht. Aber dieses Ideal - einen so wahren Kern es in sich schließt - ist kein ethisches Ideal, es ist schlechterdings die Verneinung aller Ethik, Un-Ethik. Denn die Ethik wendet sich nicht an den Mächtigen und zu Stärkenden, sondern an den Menschen als Menschen, an das schwache menschliche Wesen. Der Mensch von heute trägt seine Macht nicht in sich, in seiner menschlichen Persönlichkeit, sondern in seiner Rechtsstellung, in seiner Rechtspersönlichkeit (als Rechtssubjekt). Die Verkörperung der Macht offenbart sich im Recht; die Ethik dagegen erweist uns die Allmacht der Ohnmacht. Entgegen dem wahren ethischen Ideal lehrt die Talpredigt [im Gegensatz zur Bergpredigt - wp] des modernen Hyper-Individualismus: Lebe gemäß deiner Individualität, Lebe Dich selbst aus, sei "Dein Eigener" (eine Formulierung STIRNERs) (8). Eine Talpredigt ist diese Lehre in der Tat! Denn sie zieht die Philosophie hinab in die Sphäre der drängenden, hastenden Begehrungen wollender Menschen, anstatt umgekehrt durch eine weltumspannende Lehre die Menschheit in die Sphäre der reinen Idee zu heben. Das Wirklichkeitsurbild des Individualismus sans phrase [ohne Umschweife - wp] ist nicht, wie dieser wähnt, der Renaissance-Mensch, sondern umgekehrt der seine Willenssymptome stetig beachtende, ängstlich zur Geltung bringende Neurastheniker [müde und erschöpft - wp]. Der Individualismus als Mittel zur Heranziehung von Renaissance-Naturen (9) (Züchtung von Herrenmenschen) wurzelt in einem logischen Fehler: Das Herrenmäßige, jede Schranke Mißachtende, Autokratische, alle Gebundenheit Zurückweisende des Renaissance-Menschen ist eine Begleiterscheinung, ist eine sekundäre Nach- und Nebenwirkung im Charakterbild einer kraftschwellenden, kraft- und selbstbewußten Elite, - ist Kraftüberschuß. Indem der Kulturmensch von heute das "Sich Räuspern und Spucken" jenen Kraftmenschen abgewöhnt, wird er nicht zum Kraftmenschen, sondern höchstens zur Karikatur eines solchen. Man erwirbt nicht fremde Tugenden, indem man die aus ihnen hervorquellenden Fehler kopiert!


Um zu einer einwandfreien Erfassung des ethischen Ideals zu gelangen, muß man sich das geschichtsphilosophische Grundgesetz vor Augen halten. Aller Fortschritt ist nichts anderes, als eine Wiederholung früherer Zeiten in einer höheren Aufstiegslinie. Die anorganische Welt bedarf des Anstoßes von außen; sie kann nicht von sich aus tätig werden; sie reagiert rein "gesetzmäßig", mechanisch, auf physikalische und chemische Einwirkungen (10). Hier gibt es nur reines, absolutes Müssen. Die Welt der Organismen scheidet sich von der anorganischen wesentlich dadurch, daß jene nicht extrinsecus [von außen - wp], sondern spontan tätig werden. Der Anstoß zum Handeln ist wohl durch äußere Reize bedingt, aber nicht verursacht; die wesentliche Bedingung, die Ursache liegt im Organismus selbst begründet. Folglich muß der Organismus eine Fähigkeit in sich tragen, welche für das Müssen des Anorganischen einen adäquaten Ersatz bietet. Der Wille des organischen Geschöpfs muß in seiner Wahl geleitet werden. Das hohe Maß von Freiheit, von Wahlmöglichkeit, Deliberationsfähigkeit, ob und wie auf den Reiz zu reagieren ist, erfordert einen wirksamen Regulator. Dieser Regulator erwächst dem tierischen Organismus durch den Instinkt. Ausschließlich der Instinkt regelt die Lebensfunktionen der niedern tierischen Organismen. Die höheren Tiere und die Naturmenschen erleiden eine Abschwächung der Instinkte parallel mit dem quantitativen und qualitativen Wachsen des Bewußtseins und dem dadurch begründeten und erweiterten Vorstellungskomplex. Ihr Wahlfähigkeit wird erhöht und sie bedürfen dadurch eines weiterreichenden Regulators für Tun und Lassen: Der Verstand bildet sich aus. Wenn ein Pferde nicht mehr die Brücke betreten will, auf der es einen Unfall erlitten hat; wenn ein Hund den Fremden umschmeichelt, der ihn schon einmal gefüttert hat und wenn das aufgescheuchte Jagdwild den Jäger fürchtet, ist es nicht der Instinkt, welcher sich leitend erweist, sondern die Reproduktion von Vorstellungen (das Gedächtnis) und die sich anknüpfende Kritik ermöglichen das verstandesmäßige Urteil. Beim Kulturmenschen endlich sind die Instinkte nur noch rudimentär als Gefühle vorhanden, dagegen stellt sich eine neue Fähigkeit ein: Die Vernunft, welche die Apperzeption von Ideen ermöglicht. Hieraus ergibt sich das ethische Grundpostulat: Lebe vernünftig, weil Du mit einem ideologischen Erkenntnisvermögen ausgestattet bist. Der Kulturmensch hat die größten Wahlmöglichkeiten in seinem Willensbildungsprozeß: während die niedrigen Tierorganismen beherrscht von dem Instinkt sind, während den höheren Tieren und dem Naturmenschen die Abschwächung der Leistung und Wirksamkeit der Instinkte den Gebrauch des Verstandes abnötigt, muß der Kulturmensch den nahezu völligen Verlust des nur noch rudimentär als Gefühl vorhandenen Instinktes ersetzen durch die Betätigung seiner Vernunft, durch welche sein Handeln (genauer: sein Willensbildungsprozeß) nicht nur durch Vorstellungen, sondern auch durch Ideen beeinflußt wird. Der Stein hat überhaupt keinen Willen; die Protozoen [einzellige Parasiten - wp] vegetieren rein instinktiv; das Pferd und der Urmensch werden vom Verstand geleitet; der Kulturmensch bedarf für seine Willensbildung einer Idee zur Gewinnung der für sein Handeln maßgebenden Norm: der Ethik. So erklärt es sich auch, daß in der Entwicklung des Kindes parallel mit der Entfaltung der Erkenntnis auch das sittliche Reifen verläuft; solange die Erkenntniswelt des Kindes die ideologische Betrachtung noch nicht erreicht hat, ist beim Kind so wenig von Sittlichkeit die Rede, wie beim höheren Tier oder beim Naturmenschen. Und so kommt es auch, daß gewisse Formen psychischer Degeneration die ethische Verantwortlichkeit zur Aufhebung bringen. (11)

Die Ethik ist daher nicht mehr und nicht weniger als die Lehre vom richtigen Leben oder präziser: sie ist die Lehre von der richtigen Determinierung des Willens. (12)

Hierbei ist es ganz gleichgültig, ob man unter dem Einfluß einer chaotischen Betrachtungsart und unter Zugrundelegung des Kausalgesetzes von JOHN STUART MILL den Willen als nezessiert [notwendig - wp] betrachtet, oder Menschen eine Willensfreiheit zuschreibt. (13) Jedenfalls stehen die Menschen unter der Supposition [Annahme - wp] der Willensfreiheit, indem sie - in ihrem gesamten Tun und Lassen vor zahllose Wahlmöglichkeiten gestellt - sich die Frage vorlegen: Welchen Maßstab sollen wir unserem Tun zugrunde legen, durch welche Vorstellngen sollen wir uns determinieren lassen, was "wollen wir wollen sollen?" Oder mit anderen Worten: die Menschheit braucht ein (wie immer geartetes) Ideal für ihre Lebensführung, für die Determinierung ihres Willens, sie sucht ein solches Ideal und findet es in der Ethik. Wie der Kulturmensch für seine materielle Lebensführung Kleider braucht, weil anstelle des schützenden Fells die bloße Haut getreten ist, wie er Werkzeuge benötigt, weil seine Kräfte zu schwach und seine Sinne zu stumpf sind, um ihm das Erforderliche zu beschaffen, so braucht er die Ethik für die ideologische Seite in seinem Willensbildungsprozess, weil sich seine Instinkte zu bloßen Gefühlen angeschwächt haben. Die Ethik ist daher der ideologische Schutzmantel der Menschheit. -

Die Ansicht, als würde das moralische Gesamtquantum in der Welt bei zunehmender Kultur ständig steigen oder gar die Meinung, als sei die Entwicklung, der "Fortschritt im Wesentlichen in der Hebung des Gesamtniveaus der Sittlichkeit gelegen, erweist sich folglich (erneut) durch die erkenntniskritische Festlegung der Ethik als eine fundamental irrige philosophische Ansicht. Vielleicht findet sie ihre Stütze oder eine ihrer Stützen darin, daß es unserem Selbstbewußtsein schmeichelt "es so herrlich weit gebracht zu haben", sodaß wir mit dem Gefühl "berechtigten Stolzes" die Gegenwart mit der Vergangenheit in einen Vergleich stellen. Eine wahrhaft idealistische Weltauffassung muß gegen diese selbstgefällige Anschauung mit aller Entschieden Front machen. Die Gesamtsumme des Sittlichen in der Welt kann sich weder jemals erhöhen, noch vermindern; dies ergibt sich mit unmittelbarer Notwendigkeit aus der Annahme des Waltens einer Gottheit, eines organischen Ur- und Allwesens. Dem mechanischen Gesetzt der Erhaltung von Kraft und Stoff muß daher ein psychologische Gesetz der Erhaltung des sittlichen Gesamtquantums entsprechen. Dieser Satz ist aposteriorisch, induktiv unmöglich nachweisbar, wohl aber ergibt er sich a priori, deduktiv unmittelbar aus jeder theistischen oder idealistisch-pantheistischen Metaphysk; denn er ist für jede idealistische Weltanschauu begrifflich in der Idee des All-Urwesens mitenthalten. Die Sittlichkeit als solche bleibt im Ganzen unverändert, nur die Formen des Sittlichen.

Was die von mir bekämpfte Ansicht scheinbar zu stützen vermag, ist die Wahrnehmung, daß die Differenzierung, die Gesittung, die Feinheit und Milde der Sitten, im Allgemeinen bei fortgeschrittener Entwicklung und mit dem Fortschreiten der Entwicklung zunehmend wachsen. Je feiner organisiert, je empfindlicher der Mensch wird, desto stärker muß eben das zum Schutz der Schwäche errichtete Bollwerk der sittlichen Normen sein. -

Man kann die Quintessenz der Ethik auch als Seelendiätetik" bezeichnen, wenn man glaubt, mit dieser Umschreibung etwas gewonnen zu haben. Und demgemäß erscheint das Gewissen als der Seelenspiegel, als das psychische Gesundheitsgefühl. (14) Man kann daher das Gewissen nicht zum Maßstab des Sittlichen machen (wie KANT dies will), so wenig man aus dem (körperlichen Gesundheitsgefühl die Norm der Betätigung des körperlichen Verhaltens entnehmen kann. Das Gewissen ist vielmehr (wie das körperliche Gesundheitsgefühl) ein Korrektiv (ein ethischer Barometer), das anzeigt, daß etwas nicht in Ordnung ist. Die Regung des Gewissens bestätigt, daß ein Unrecht geschieht oder geschehen ist. Bei gesunden ethischen Instinkten erhebt es sich rechtzeitig, andernfalls spät oder gar nicht. Aus dem Gewissen kann man daher nicht die ethische Norm entnehmen, sondern nur den Einklang des handelnden Subjekts mit der Norm oder die Störung dieses Einklangs (Gewissensbisse, Reue) ablesen.
LITERATUR Fritz Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd.1, Kritik des Erkenntnisinhaltes, München 1904
    Anmerkungen
    1) Die nähere Ausführung dieses Gedankens habe ich in einer Abhandlung gegeben, die unter dem Titel "Das Vermögen", Juristische Festlegung einiger Wirtschaftsgrundbegriffe" demnächst in den Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft erscheinen wird (siehe auch § 7, Note 10 der gegenwärtigen Schrift).
    2) Georg Simmel, "Kant", Sechzehn Vorlesungen, gehalten an der Berliner Universität, Leipzig 1904, findet allerdings (Seite 90) den "Punkt, an dem sich die wurzelhafte Verwandtschaft der kantischen Ethik mit seiner Erkenntnistheorie aufzeigen läßt" und erläutert dies dahin: "... Dieselbe Verinnerlichung und Aktivierung all dessen, was als gegebener Lebensinhalt von selbständigem Ursprung und Substanzialität an uns heranzukommen scheint, ergreift jetzt das praktische Dasein. Hier handelt es sich freilich nicht um Empirisches, sondern um Ideelles und Werte ..." - - - Allein der von mir im Text hervorgehobene Fundamentalgegensatz zwischen Kants Erkenntnislehre und einer Begründung der Ethik wird hierdurch nicht berührt.
    3) Vgl. meine "Rechtsphilosophischen Studien", Seite 73-78.
    4) Sehr gut sagt Richard M. Meyer, Die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts (in Schlenther, Das 19. Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung, Bd. III, Berlin 1900), Seite 722 über Nietzsche: "... Auf die höchste Kunst der Lebensbejahung, auf ein Zuviel von Leben ist seine Fahrt gerichtet, und nur Mittel zum Ziel ist, was ihm als schonungslose Vernichtung der Hindernisse für eine Höherzüchtung der Menschheit unvermeidlich scheint. Hierin liegt sein positives, höchst positives Ideal. Im Allgemeinsten läßt es sich wohl in jenes Wort "Übermensch" fassen, das er von Goethe übernommen hat, um es mit einem ganz neuen Sinn zu füllen. Bloß darf man sich in der Auffassung dieses Begriffs nicht durch gewisse Paradoxien und gewisse Symbole beirren lassen; und noch weniger durch die Analogien bei älteren Denkern. Was Nietzsche unter einem Übermenschen versteht, ist mit dem höheren Menschen Jordans und Daumers, dem Freien Max Stirners, dem "modernen Europäer" Dührings unzweifelhaft verwandt; aber es steht um mehr als eine Entwicklungsstufe über all diesen Konzeptionen. Von Jordan und Dühring wie von Renan und so vielen anderen hat er gelernt auch für diesen Begriff; aber Nietzsche war ein Geist, der nicht lernen konnte, ohne fortzuführen, zu heben. - - - Eins vor allem ist wichtig, was Nietzsche von Stirner scheidet. Für Nietzsche ist der Übermensch ein Typus - nicht ein Einzelner, ein Einziger ..." (vgl. auch die vortrefflichen Ausführungen bei Ludwig Stein, der Sinn des Daseins, Tübingen und Leipzig 1904, Seite 336-344, Abhandlung über Nietzsche: "Der Philosoph der Aristokratie").
    5) Also sprach Zarathustra, Werke, I. Abt. Bd. VI, Leipzig 1897, Seite 13
    6) ebd.
    7) Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Seite 222f. "Zur Kritik des guten Menschen. - Rechtschaffenheit, Würde, Pflichtgefühl, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Geradheit, gutes Gewissen, - sind wirklich mit diesen wohlklingenden Worten Eigenschaften um ihrer selbst willen bejaht und gutgeheißen? ... Liegt der Wert dieser Eigenschaft in ihnen oder in dem Nutzen, Vorteil, der aus ihnen folgt (zu folgen scheint, zu folgen erwartet wird)? ... Anders ausgedrückt, wäre es wünschbar, Zustände zu schaffen, in denen der ganze Vorteil auf Seiten der Rechtschaffenen ist, - sodaß die entgegengesetzten Naturen und Instinkte entmutigt würden und langsam ausstürben? ... Das ist im Grund eine Frage des Geschmacks und der Ästhetik: Wäre es wünschbar, daß die "achtbarste", d. h. langweiligste Spezies Mensch übrig bliebe? Die Rechtwinkligen, die Tugendhaften, die Biedermänner, die Braven, die Gerade, die Hornochsen? ..."
    8) Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum (vgl. hierzu meine "Entgeltung im Strafrecht", Seite 127).
    9) In "Der Wille zur Macht", Seite 225-227 stellt Nieztsche den Egoismus völlig in den Dienst des Entwicklungsgedankens: "Der Egoismus ist soviel wert, als der physiologisch wert ist, der ihn hat." (Seite 225) Vgl. auch Nietzsches "Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert", Werke, 1. Abt. Bd. 8, Seite 74, 81, 88f, 102-107 und "Der Antichrist", Werke, 1. Abt. Bd. 8, Seite 215f.
    10) vgl. hierzu und zum Folgenden meine "Rechtsphilosophischen Studien", Seite 2-9.
    11) Diesem Parallelismus von ideologischer Erkenntnis und Ethik scheint die moral insanity zu widersprechen, eine von der neueren Psychiatrie nach dem Voranschreiten von Prichards (1835) vielfach als selbständige Krankheitsform anerkannte "Geisteskrankheit, welche in einer krankhaften Umwandlung der natürlichen Gefühle, Affekte, der Neigungen, des Temperaments, der Gewohnheiten, der moralischen Bestrebungen und der natürlichen Impulse, ohne eine merkliche Unordnung oder Mangel im Denken oder der Erkenntnis und der Urteilskraft ... bestehen" soll. Allein vor allem wird die moral insanity von hervorragenden Psychiatern als selbständige Geisteskrankheit überhaupt negiert, vielmehr lediglich als Sympton bei Psychosen, Imbezillität und Paranoia simplex chronica betrachte. (Vgl. Mendel in Eulenburgs "Realenzyklopädie der gesamten Heilkunde, Bd. 16, Wien und Leipzig 1898, Seite 27-39). Zudem wäre der Widerspruch nur scheinbarer. Die ideologische Erkenntnis ist bei Kranken dieser Art nur partiell vorhanden. Wie es eine Farbenblindheit gibt, so gibt es auch eine partielle ideologische Blindheit. So ist z. B. die Idee der Schönheit, der Sinn für das künstlerisch Schöne bei einem großen Teil der Kulturmenschen nur ganz mangelhaft entwickelt. Man hebt die mit diesem Mangel Behafteten auch präzise hervor, als "Ungebildete". Ist die ethische Idee bei einem Menschen - nicht infolge verwahrloster Erziehung, sondern Kraft inneren Mangels - nicht nur verkümmert, sondern völlig erstorben, so wirkt dieser partielle Mangel das Krankheitsbild der moral insanity. Der mit moral insanity Behaftete ist ein ethischer Idiot; während umgekehrt der intellektuell Idiotische moralisch gesund sein kann. Gerade weil intellektuelle und ethische Ideologie normalerweise Hand in Hand gehen, erscheint uns die völlige Verkümmerung der einen oder anderen Seite der Ideologie als Krankheit.
    12) Wenn Kant und Kantianer mit ihrer Aufstellung eines "bloß formalen Prinzips" Recht hätten, woran sollte man seinen Inhalt erkennen? - Die kantische Maxime: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte." (Kritik der praktischen Vernunft, Seite 130, Bd. 4 in der Gesamtausgabe in zehn Bänden; vgl. dazu meine Entgeltung im Strafrecht, Seite 186, Note 1) gibt uns höchst ungenügenden Aufschluß. Abgesehen vom Subjektivismus, dem sie weitgehend Raum läßt, ist durch jenen Leitsatz über den Inhalt dieser Gesetzgebung recht wenig ausgesagt. Fast unbegrenzte Kombinationen und Verschiedenheiten bleiben trotz Beachtung der Maxime noch offen. Welche der verschiedenen Ausgestaltungsmöglichkeiten sollen maßgebend sein? - - - "Richtig" leben besagt unter allen Umständen (kraft begrifflicher, inhärenter Notwendigkeit): Sein Leben im Hinblick auf ein zu betätigendes "Etwas" (Prinzip, Idee, Ideal) ausgestalten. Damit ist aber ausgesprochen: 1. Habe überhaupt ein Prinzip! Gegensatz: Charakterlosigkeit; Grundsatzlosigkeit. 2. Habe das richtige Prinzip. Hierdurch aber wird ohne Weiteres auf den über das Formale hinausgreifende, auf einen Inhalt des Prinzips verwiesen.
    13) Vgl. hierzu meine "Entgeltung im Strafrecht", Seite 40-109, 350-352 und meine "Rechtsphilosophischen Studien", Seite 10-14.
    14) Ganz einseitig sind die Ausführungen bei Paul Rée, Der Ursprung der moralischen Empfindungen, Chemnitz 1877, Seite 21-27, welcher den "Ursprung des Gewissens" ableiten will und in den Satz einmündet (Seite 25): "Je lebhafter ein Mensch fühlt, daß egoistische Handlungen schlecht sind, desto lebhafter und verwerflicher muß er sich selbst erscheinen, wenn er durch seinen Egoismus veranlaßt worden ist, doch solche Handlungen zu tun. Ein Mensch aber, der, weil er anderen Leid zugefügt hat, sich selbst schlecht und verwerflich erscheint, empfindet sogenannte Gewissensbisse." - Für Rée bildet den Kardinalpunkt aller ethischen Wertungen die Frage: Egoistisch, unegoistisch? Dadurch wird aber das ganze Gebiet der Individualethik außer Betracht gelassen (und jenes der Sozialethik in schiefer Beleuchtung gesehen; vgl. den nächsten Paragraphen der Abhandlung).