![]() |
![]() ![]() ![]() ![]() ![]() | ||||
Gedanken über die Sozialwissenschaft der Zukunft
V o r w o r t Die menschliche Gesellschaft ist, gleich den Naturorganismen, ein reales Wesen, ist nichts mehr, als eine Fortsetzung der Natur, ist nur ein höherer Ausdruck derselben Kräfte, die allen Naturerscheinungen zugrunde liegen, das ist die Aufgabe, das ist die Thesis, die der Autor durchzuführen und zu beweisen sich gestellt hat. Und wenn sich der Verfasser dabei nicht gescheut hat, die letzten Errungenschaften der Naturwissenschaft, namentlich der Biologie und Anthropologie auch auf die Sozialwissenschaft anzuwenden und bis in ihre äußersten Konsequenzen zu verfolgen, so glaubt er, damit nicht nur der oberflächlich materialistischen Weltanschauung keinen neuen Vorschub, sondern im Gegenteil der ideellen Weltanschauung einen besonderen Dienst geleistet zu haben. Denn durch die Zusammenstellung des sozialen Lebens mit der Entwicklung der Naturkräfte tritt gerade jenes Gebiet hervor, das einzig und allein als Einigungspunkt für die bis jetzt feindlich, ja unversöhnlich sich gegenüberstehenden materialistischen und spiritualistischen Weltanschauungen dienen kann. Es wird wohl einige Zeit verfließen, ehe die in scholastischen Formen und Anschauungen erstarrten Verfechter der dogmatischen Gesellschaftslehre sich gewöhnen werden, den sozialen Organismus als reales Wesen zu betrachten. Nichts ist schwerer, als von einmal eingetretenen Bahnen, besonders auf geistigem Gebiet, abzugehen, und umso schwerer, je einseitiger, falscher und schiefer die einmal eingeschlagenen Richtungen sich erweisen. Doch wird und muß die Wahrheit früher oder später sich siegreich die Bahn brechen. Und wie die Anwendung der empirischen Methode auf dem Gebiet der Naturwissenschaft herrliche Früchte zum Wohl der Menschheit und zur Beförderung der höheren Kultur getragen hat, so wird auch die Verwendung derselben Methode für die menschliche Gesellschaft, hoffentlich in naher Zukunft, gleich reichliche Früchte tragen und nicht minder den Fortschritt des Menschengeschlechts befördern helfen. Das Werk, das hiermit dem lesenden Publikum zur Prüfung vorgelegt wird, ist zu einem rein wissenschaftlichen Zweck abgefaßt. Die die Gegenwart beschäftigenden sozialen Fragen sind in diesem ersten Teil nur insofern berührt, als sie in den Bereich allgemein wissenschaftlicher Betrachtung fallen, und nur vom wissenschaftlichen Standpunkt aus beleuchtet. Von Parteigeist und von einseitiger Tendenziosität, - diesen unversöhnlichen Feinden jeder wissenschaftlichen Forschung, hat der Verfasser gesucht sich möglichst fernzuhalten. Die in diesem Teil dargelegten Prinzipien werden dem Autor in der Folge als Basis und Ausgangspunkt für die Lösung derjenigen praktisch-sozialen Fragen dienen, von welchen die Gemüter und Leidenschaften der gegenwärtigen Generation so mächtig ergriffen sind. Wenn diese Arbeit nicht den erhofften Nutzen mit sich bringt, wenn sie nicht dazu befähigt, das Gebiet der Sozialwissenschaft zu erweitern und fester zu begründen, so kann die Ursache nur in der Unzulänglichkeit der Kräfte des Autors und der ihm zu Gebote stehenden Mittel liegen, nicht aber in der Mangelhaftigkeit der Methode und der Haltlosigkeit der Prinzipien, auf die er sich gestützt hat und auf denen, seiner innersten Überzeugung nach, das ganze Gebäude der sozialen Wissenschaft einzig und allein dauerhaft geführt werden kann. Einwendungen und Vervollständigungen, zumal wenn sie sich auf genügende Tatsachen, Realitäten, stützen, selbst von entgegengesetzten Standpunkten aus, wird der Verfasser, bei seiner parteilosen, gänzlich nur wissenschaftlichem Interesse gewidmeten Auffassung und Darstellung des Gegenstandes mit Dank beherzigen und nach Kräften verwerten. ![]() I. Die sozialen Fragen Zu den mannigfachen im Laufe der Zeiten dem Leben und Denken des Menschen entsprungenen Fragen, von denen einzelne, kaum entstanden, wieder in Vergessenheit geraten sind, andere ihre Lösung gefunden haben, viele jedoch noch gegenwärtig der Beantwortung entgegensehen, sind seit Beginn des vorigen Jahrhunderts zahlreiche neue Fragen - alle die Fragen nämlich, welche die sozialen Verhältnisse betreffen, hinzugekommen. Vom ersten Tag seines Daseins an lebte der Mensch in Gesellschaft seines Gleichen. Schon in ihrem Urzustand folgte die menschliche Gesellschaft denselben Gesetzen und bot dieselben wesentlichen Erscheinungen dar, wie heutigentags. Der Austausch der physischen und geistigen Kräfte unter den einzelnen Gliedern der Gesellschaft, ihre organische Verknüpfung und Wechselwirkung, die gegenseitige Befriedigung der Bedürfnisse mittels Teilung der Arbeit, der Kampf ums Dasein und um die Herrschaft, das Ringen des Geistes mit der Materie des Rechts mit der Gewalt, der stete Wechsel zwischen Entstehen und Vergehen, zwischen Leben und Tod - alle diese Erscheinungen der sozialen Bewegung ziehen sich von Anfang bis Ende durch die ganze Geschichte der Menschheit, ihren Weg bald mit hellen, bald mit dunklen Spuren bezeichnend. Wie seit Erschaffung der Materie in der uns umgebenden Natur keine Kraft vorhanden ist, zu welcher der Keim nicht schon ursprünglich gelegt worden ist, wie in der Natur sich kein Gesetz tätig zeigt, das seinen Anfang nicht mit der Entstehung der Kraft selbst genommen hat, so ist auch noch heutigentags in der menschlichen Gesellschaft keine Kraft wirksam, deren Quelle nicht schon in ihrem ursprünglichen Zustand vorhanden gewesen wäre, und kein Gesetz tut sich kund, welches nicht schon der uranfänglichen Gesellschaft als Grundlage gedient hätte. Solange die gesamte Welt existiert, bewegen sich die Körper nach ein und demselben Gesetz der Gravitation, und solange die menschliche Gesellschaft besteht, folgen Umlauf und Umsatz aller Wertgegenstände ein und demselben ökonomischen Gesetz. Der Kampf der Herrschaft mit der persönlichen Freiheit ist eine Erscheinung, die nicht nur der gegenwärtigen, sondern der Gesellschaft aller Zeiten angehört. Und dieselbe Erscheinung tut sich in der organischen Natur kund in dem Bestreben der Zentralorgane eines jeden Organismus sich alle übrigen Teile zu unterwerfen. Auch der Kommunismus ist alt wie das Eigentum und gleichzeitig mit dem Staat ist auch der Sozialismus entstanden. Der unterscheidende Zug der gegenwärtigen sozialen Bewegung besteht nicht etwa nur in der Verwirklichung irgendwelcher neuer sozialen Erscheinungen, oder im Aufwerfen irgendwelcher neuer sozialer Fragen, sondern vielmehr darin, daß die sozialen Prinzipien zu Fragen geworden sind, daß diese in einem höheren Grad als bisher Gedanken, Zweifel und Leidenschaften des Menschen wachrufen, daß das allgemeine Bedürfnis empfunden wird mit Bewußtsein auf soziale Prinzipien zurückzugehen, daß man, nicht mehr wie bisher mit der rein praktischen Lösung der Fragen zufrieden oder mit oberflächlichen spekulativen Betrachtungen sich begnügend, Nichts als wahr anerkennt, was noch der Untersuchung und des Beweises bedarf. Wie im Mittelalter religiöse Anschauungen und Überzeugungen die hauptsächlichsten Triebfedern aller sozialen und geistigen Tätigkeit unter den Kulturvölkern des westlichen Europa wurden und den Grund zu einer neuen Zivilisation gelegt haben, gleichzeitig aber zahlreiche Kriege, innere Unruhen und soziale und politische Erschütterungen erregten, so beginnen mit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts auch die Anschauungen und Überzeugungen auf sozialem Gebiet Bedeutung zu erlangen. Die soziale und politische Umgestaltung der gesellschaftlichen Zustände des Mittelalters, die Verbreitung von Wohlstand und Bildung unter der Masse des Volkes, der Aufschwung von Handel und Gewerbe, das sind die Ziele, auf welche die neueingeschlagenen sozialen Richtungen hinarbeiten. Und gleich den religiösen erzeugen auch die sozialen Fragen soziale und politische Umwälzungen, werden zu Quellen nationaler und persönlicher Feindschaft, sozialer Unduldsamkeit und politischen Fanatismus, der sich in seiner Verblendung ebenso grausam, wie der religiöse zeigt. Zur Zeit der französischen Revolution mit vernichtender Gewalt alle Schranken durchbrechend, setzen die sozialen Fluten seitdem ihren Lauf fort, Alles, wenn auch in weniger reißendem Strom, überschwemmend. Die Frage vom Verhältnis der Arbeit zum Kapital, die Arbeiter- und Proletariatsfrage, die Nationalitätsfrage, alle diese mit zukünftigen stürmischen Erschütterungen drohenden Fragen bilden den Grundton der sozialen Bewegung der Jetztzeit. Die gegenwärtige soziale Bewegung unterscheidet sich also wesentlich von den politischen Strömungen der alten Welt. Im hohen Altertum standen wie gesagt die sozialen Fragen, wie überhaupt alle geistige Bewegung der Menschheit in unlösbarer Verbindung mit den religiösen Anschauungen und Überzeugungen. Die gesamte Gesetzgebung bildete einen Teil der religiösen Dogmen. Die politische und soziale Organisation galt als ein unmittelbarer Ausfluß der göttlichen Weisheit, der göttlichen Macht. So war es bei den Indern, den Ägyptern, den Persern und Juden. Und diese tatsächlich vollkommen natürliche Verbindung der sozialen Seite des Lebens mit der religiösen dauert bis heut und kann niemals gänzlich getrennt werden. Aber während früher die religiösen Anschauungen ganz und gar fast alle Seiten des sozialen Lebens absorbiert haben, sind gegenwärtig die verschiedenen Seiten der gesellschaftlichen Entwicklung genauer und selbständiger abgegrenzt und voneinander geschieden. Das in allen Kulturstaaten der höchsten Herrschermacht, die ja im Allgemeinen als höchster Ausdruck des sozialen Lebens dient, zukommende Epitheton [Zusatz - wp] "Von Gottes Gnaden" liefert den Beweis, daß im Bewußtsein der Menschheit bis auf unsere Zeit das Göttliche dem Menschlichen in seiner höchsten sozialen Erscheinung zugrunde liegt, und das Bewußtsein dieser Verbindung wird fortdauern, solange die Menschheit überhaupt an ein höchstes Wesen glaubt. Wie in der Natur, so auch in der menschlichen Gesellschaft wird der Uranfang, das Endziel und das Wesen des Daseins niemals durch die Wissenschaft ergründet werden. Die Bemühungen des neueren Materialismus alles in Raum und Zeit Existierende auf empirische Weise zu erklären, sind erfolglos geblieben. Der Humanismus (Humanitätskult), dieser soziale Materialismus, hat, indem er den Menschen als letztes Wort der Schöpfung anerkennt, sich eben so ohnmächtig in der Entscheidung der sozialen Fragen und Widersprüche zeigt. Das Rätsel des Lebens, sowohl in der Beziehung auf den Menschen als auch auf die ihn umgebende Außenwelt, blieb wie bisher ungelöst; nur die Grenzen in den einzelnen Gebieten des menschlichen Wissens wurden weiter hinausgerückt. Und wie in Bezug auf die Natur der Mensch, ungeachtet des beständigen Fortschreitens der Wissenschaften, dennoch stets auf Fragen stößt, die sich für seinen Verstand als unauflösbar erweisen, so gibt es auch im Leben des einzelnen Menschen wie im Leben der Menschheit Seiten, Erscheinungen und Momente, die sich jeder wissenschaftlichen Erklärung entziehen und immer außerhalb des Gebietes voller Erkenntnis liegen werden. Wir sind daher genötigt einzugestehen, daß zwischen den Anschauungen des höchsten Altertums und der Jetztzeit über das Leben des Menschen und der Menschheit nur ein relativer Unterschied stattfindet und daß der von den Alten in jedes Ereignis, in jede Erscheinung hineingemischte Wille der Gottheit gegenwärtig nur auf weiter entfernte Grenzgebiete des Wissens hinausgeschoben worden ist, ebenso wie es in Bezug auf die Natur durch die neuesten Fortschritte der Naturwissenschaften geschehen ist. Keine Bemühungen des menschlichen Verstandes und Wollens werden, trotz aller Erfolge, welche die sozialen und Naturwissenschaften aufzuweisen haben, je imstande sein, die Notwendigkeit der Anerkennung des Göttlichen, d. h. des Glaubens an ein höchstes Wesen zu beseitigen. Diese Wahrheiten schon hier, am Anfang, auszusprechen halte ich für nötig, um allen Vorwürfen und Einwendungen zuvorzukommen, die etwa von Seiten der Idealisten erhoben werden könnten, wenn wir in der Folge versuchen werden auf natürlichem Weg zu erklären, was bisher für außerhalb des Gebiets der positiven Wissenschaften liegende gehalten wurde, wenn wir nachweisen werden, daß Vieles, was bis heute als der idealen Welt angehörend angesehen wurde, einen unbestreitbaren Teil der realen Welt ausmacht. - Wenn wir andererseits gegen die streng materialistische Lehre auftreten und Einwendungen machen, so sind alle unsere weiterhin zu erhebenden Einwürfe nur auf die einseitig materialistische Richtung zu beziehen, die da behauptet, alles Existierende erklären, alle Fragen der Schöpfung beantworten zu können, indem sie das Wort Materie, welche doch selbst nur ein relativer Begriff ist, anstelle des Schöpfungsbegriffs zur Geltung bringen will. - Der Begriff der Materie, zerlegt in seine Bestandteile, gibt schließlich doch keine reellen Resultate und zerfließt, gleich allen abstrakten Begriffen, in die Unendlichkeit von Raum und Zeit, in ein unbestimmtes Etwas, dessen Wesen unserem Erkenntnisvermögen unzugänglich ist. Doch kehren wir zum Gegenstand unserer Betrachtung zurück. Bei den Griechen, bei denen vorherrschend sich die ästhetische Seite entwickelt hatte, waren Gesetzgebung, Rechtskunde und Politik vorwaltend Künste. Die alten Griechen waren Künstler, nicht nur in Bezug auf die Natur, sondern auch in sozialer und politischer Hinsicht. Für den Griechen war sein Land, dessen Entwicklung, dessen Größe und das gesellschaftliche und staatliche Leben die Personifizierung des Schönen, Harmonischen, Idealen. Der Gesetzgeber hielt im alten Griechenland dasselbe Verfahren ein, wie der Künstler. Das Gebäude des Staates mußte gleichsam wie aus einem Guß, vollständig fertig, in idealer Vollkommenheit damaliger Ansichten und Überzeugungen aufgeführt werden, in derselben Weise, wie man ein Gedicht schreibt, eine Statue meisselt oder einen Tempel aufbaut. So verfuhren LYKURGOS und SOLON, diese großen Staatskünstler, so dachte und urteilte über den Staat PLATON, der größte Dichter-Philosoph des Altertums. Die Staaten entsprangen aus den Köpfen der alten griechischen Gesetzgeber völlig fertig und in voller Rüstung, wie Minerva aus dem Haupt des Jupiter. Unter solchen für einen sozialen Aufbau geltenden Bedingungen konnte die Ansicht unmöglich zur Geltung kommen, daß die menschliche Gesellschaft ein allmählich und stufenweise sich entwickelnder Organismus ist. Bedenken, Zweifel, ein Zurückgehen auf Vernunftgründe bei sozialen Fragen konnten sich damals nur als Negation vorhandener Ideale, völlig abgeschlossener und vollendeter den damaligen Begriffen entsprechender Schöpfungen geltend machen. Die verstandesmäßige Auffassung mußte solchen sozialen, ästhetisch-idealen Anschauungen gegenüber damals ganz in derselben Weise wirken, wie sie noch jetzt auf die ästhetisch-ideale Auffassung der Natur auf dem Gebiet der Kunst wirkt - negierend, zersetzend. Im alten Griechenland konnte daher ein soziales Ideal durch ein anderes vollkommen ersetzt werden, aber, je nachdem die Mängel zum Vorschein kamen, die früheren Ideale umformen, stufenweise aus einer Phase der Entwicklung in die andere, höhere übergehen - das widersprach allen Neigungen und Überzeugungen des Griechen. Auf ein solches Verfahren würde er mit derselben Verachtung, mit demselben Abscheu herabgeblickt haben, wie auf den Umbau der Propyläen, die Umformung der Statue des PHIDIAS, die Umarbeitung der Iliade oder der Odyssee. Der Grieche war Dichter und Künstler in Allem: mit kindlichem Vertrauen glaubte er entweder an die Vollkommenheit seines sozialen Ideals, und dann war jede Veränderung in seinen Augen ein Angriff auf die heiligsten Gefühle des Bürgers, ein Fall von der Höhe in den Abgrund, oder er hielt das Staatsgebäude, dem er angehörte, nicht für vollkommen, und dann zertrümmerte er dasselbe und errichtete an seiner Statt einen neuen Bau. Die künstlerische Weltanschauung der alten Griechen von der sie umgebenden Natur brachte die Kunst zu einer für uns unerreichbaren Schönheit und Harmonie. Wir, belehrt durch Erfahrung, aufgeklärt durch die Wissenschaft, sind nicht imstande die Natuerscheinngen so zu erfassen, wie die Alten, mit halbbewußtem, kindlichen Verständnis. So galten auch auf sozialem Gebiet bei den Alten Gesetzgebung, Rechtskunde, Staatswirtschaft vorzugsweise als Künste. Daher erscheinen uns das gesellige und staatliche Leben der alten Griechen und zum Teil der Römer, ihre großen Männer, ihre Heroen des Gedankens und der Tat, umgeben von einem Glanz der Poesie und Größe, wie solches weder in den vorausgegangenen noch in den nachfolgenden Zeiten in Erscheinung tritt. Aber sowohl hierin, wie in vielen anderen Dingen ist wiederum ein wesentlicher Unterschied zwischen den Griechen und Römern zu machen. Bei letzteren machte sich überall, in der Religion, in der Poesie und so auch im sozialen Leben vorwiegend die Reflexion geltend, und die Frucht davon auf sozialem Gebiet war die römische Rechtswissenschaft. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet bilden die Römer den Übergang von der griechischen zu der neueren Weltanschauung, mit welcher letzteren die römische Welt auch in vielen anderen Beziehungen bedeutend mehr gemein hat, als die griechische. Dem Römer was deshalb auch der Begriff einer fortschreitenden Entwicklung des staatlichen und geselligen Lebens bereits zugänglicher, als dem Griechen. Der Römer stand zu seiner Staatseinrichtung zum Teil schon in demselben Verhältnis, wie gegenwärtig der Engländer zu seiner Konstitution: er achtete sie hoch, aber unterwarf sie fortgehenden Umänderungen, entsprechend den Anforderungen der Zeit und den Verhältnissen des Lebens. Deshalb war auch die römische Welt, sowohl dem Mittelalter wie auch der neueren Zeit leichter verständlich, als die der alten Griechen. Die ästhetisch-ideale Weltanschauung dieser ist erst in der letzten Zeit teilweise gewürdigt worden und selbst bis heute nur von Wenigen genügend ergründet. Das Mittelalter bildet die Periode des Dogmatisierens und spekulativen Philosophierens nicht nur in der religiösen Sphäre, sondern auch in Bezug auf die Naturforschung und die sozialen Fragen. Für die Menschheit verlief diese Periode in gewissen Beziehungen, sozusagen, in Selbstübung des Denkens und Wollens. Aber nach dieser spekulativen religiös-asketischen Periode wandte sich der menschliche Geist, in frischer Kraft aufsprießend, zur Erforschung der Natur als der ihm am nächsten liegenden und am leichtesten zugänglichen Wirklichkeit. In diesem belebenden Quell bemühte er sich seine in den leblosen Formen falsch verstandener aristotelischer Logik erstarrten, von religiösem Aberglauben und religiöser Verfolgung ertöteten Kräfte von Neuem zu wecken und zu beleben. Am deutlichsten prägte sich dieser Wechsel in der Richtung des menschlichen Geistes am Ende des 16. Jahrhunderts in der Person des großen englischen Philosophen FRANCIS BACON aus. Er zuerst wies allseitig und folgerecht auf die Natur als auf die einzig reale Grundlage allen Wissens hin, und von dieser Zeit an nahm die Naturforschung einen Aufschwung, der unzweifelhaft BACON selbst in Erstaunen versetzt haben würde, wenn er ihn und seine Erfolge hätte voraussehen können. - Die menschliche Gesellschaft und ihre Offenbarungen aber wurden Gegenstände der Wissenschaft, in der weitesten Bedeutung des Wortes, allererst in neuester Zeit. Die Gesetzgebung der Inder, Persr, Ägypter, Juden basierte auf Glaubenslehren; die Politik der Griechen war eine Kunst; die Römer verhielten sich wissenschaftlich reflektierend nur zur juridischen Seite des sozialen Lebens. Das Mittelalter spekulierte auf scholastischer Grundlage. Die Aufgabe der gegenwärtigen Generation besteht offenbar in der wissenschaftlichen Erforschung des gesamten sozialen Gebietes. Die soziale Bewegung der Neuzeit ergreift die Geister bedeutend in- und extensiver, als es im Altertum und im Mittelalter der Fall war. Sie durchdringt das gesellige Leben bis in seine verborgensten Winkel; sie verlangt Antwort auf Fragen, die früher gar nicht aufgeworfen wurden, sie drängt zur Entscheidung über Widersprüche im Leben, die bisher für unauflösbar gehalten wurden. Zwischen der sozialen Bewegung des Altertums und der heutigen Gesellschaft ist deshalb ein eben solcher Unterschied, wie zwischen den religiösen Anschauungen der Alten und der Jetztzeit, wie überhaupt zwischen der gesamten alten und neuen Zivilisation. Was im Altertum unfolgerecht, fragmentarisch, gleichsam zufällig erscheint, wird durch die neuere Zivilisation ungleich tiefer, folgerechter, bewußter hingestellt, was im Altertum halbbewußt, von der ästhetisch-idealen Seite empfunden wurde, wird jetzt vom Verstand analytisch-bewußt zergliedert und an seinen Platz gestellt. Zur Entscheidung der sozialen Fragen schlug die heutige Gesellschaft, entsprechend der menschlichen Doppelnatur, zwei Wege ein: auf der einen Seite verfolgt sie den Weg der Erfahrung und des Lebens, auf der anderen den der Spekulation und Theorie. Im sozialen Leben rief, wie schon gesagt, diese Richtung nicht nur soziale und politische Umgestaltungen und Umwälzungen hervor, sondern führte auch gleichzeitig zum Aufschwung der Industrie und zur Verbesserung des materiellen und sittlichen Lebens der Volksmassen. Auf geistigem Gebiet erzeugte diese Bewegung eine Menge verschiedener sozialer, politischer und ökonomischer Schulen, Sekten und Parteien, und legte den Grund zur Lehre vom Volkswohlstand, der politischen Ökonomie. Die wissenschaftliche Betrachtung der Gesellschaft ist die Frucht der gegenwärtigen sozialen Bewegung, eben so wie das Erwachen der Naturwissenschaften als Frucht der geistigen Bewegung zu Ende des 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts erscheint. Und um wieviel die spekulativen Naturtheorien des DEMOKRIT, PYTHAGORAS und ARISTOTELES niedriger stehen, als die Naturphilosophie BACONs, um so viel sind auch auf ökonomischem und politischen Gebiet die schriftstellerischen Versuche und Abhandlungen des ARISTOTELES und PLATO unvollkommener, als die Erzeugnisse eines ADAM SMITH, RICARDO und MALTHUS. Schon in den Chroniken der alten persischen Herrscher finden sich die Vorteile und Nachteile, die Vorzüge und Mängel der beiden Hauptformen des Staates auseinandergesetzt, zwischen denen auch heute noch das Staatsrecht der verschiedenen Völker hin- und herschwankt, d. h. eine selbst erwählte oder erblich-monarchische Regierung. Doch von einer derartigen oberflächlichen Betrachtung des Gegenstandes bis zur wissenschaftlichen Begründung ist es ebenso weit, wie von der zufälligen Beobachtung der Naturerscheinungen bis zu dem mit aller wissenschaftlichen Genauigkeit zu einem wissenschaftlichen Zweck angestellten Experiment des Physikers oder Chemikers. Fortgerissen von einem zweifachen Strom ins geistige Gebiet und in das reale Leben hinein, stößt das jetzt lebende Geschlecht bei jedem Schritt auf soziale Fragen, auch welche es oft genug keine Antwort findet, oder welche Theorie und Praxis, Wissenschaft und Leben entgegengesetzt beantworten; bei jedem Schritt stößt der Denker auf Zweifel und Widersprüche, die weder von der Wissenschaft noch vom Leben bestimmt und befriedigend gelöst werden. Daß das soziale Leben überhaupt solche Widersprüche enthält, an denen die Bemühungen noch vieler Generationen scheitern können, das bezeugt die ganze geschichtliche Entwicklung der Menschheit. Ist doch das ganze Leben des einzelnen Menschen wie der Gesamtheit ein beständiges Ringen mit diesen Widersprüchen. Die menschliche Gesellschaft birgt, gleich der ganz großen Natur, in ihrem Schoß so viele unbezwingbare Kräfte, welche der menschliche Wille zur überwältigen nicht imstande ist. Etwas ganz anderes bilden Widersprüche auf dem Gebiet der Wissenschaft selbst, deren Aufgabe doch speziell in der Lösung jener Widersprüche, im Suchen nach einer Antwort auf die aufgeworfenen Fragen besteht. Verwickelt sie sich selbst in Widersprüche, dann liegt alle Schuld an der Wissenschaft, dann irrt die Wissenschaft entweder durch die Zugrundelegung und Anwendung einer falschen Methode, oder durch die Einseitigkeit des Gesichtspunktes, oder durch die Unvollständigkeit und Unrichtigkeit der Beobachtung und durch fehlerhafte Schlußfolgerungen. Die sozialen Erscheinungen, wie die der Natur, sind freilich aus so viel unendlich kleinen Faktoren zusammengesetzt, daß die Ursache in der Ohnmacht des Menschen ihnen gegenüber, in ihrer Unerkennbarkeit und in der Unmöglichkeit sie einer genauen Beobachtung und gründlichen Prüfung zu unterziehen liegen kann. Der menschliche Verstand kann bei der unendlichen Kompliziertheit der Erscheinungen, auf die er in der Gesellschaft wie in der Natur stößt, sich leicht verirren und verwickeln. Doch daraus würden nur Schwierigkeiten und Hindernisse entspringen, welche die Wissenschaft nach Maßgabe ihrer Entwicklung zu überwinden haben wird. Hat doch die Naturwissenschaft schon die Gesetze der Wirkungen von Kräften ergründet, deren Beobachtung noch bis vor Kurzem für unzugänglich und unmöglich gehalten wurde. - Von dieser Unvollkommenheit und Machtlosigkeit des menschlichen Geistes einzelnen Erscheinungen gegenüber ist es noch weit bis zum inneren Widerspruch auf dem Gebiet der Wissenschaft selbst und zum Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenschaft und Leben. Daß ein Zwiespalt zwischen der Wissenschaft und dem Leben auf sozialem Gebiet und in der sozialen Wissenschaft selbst bis zum heutigen Tag herrscht, unterliegt keinem Zweifel. Das Unpraktische, die Unanwendbarkeit der von verschiedenen Wortführern der sozialen Wissenschaft verkündigten Prinzipien für Leben und Wirklichkeit, endlose Streitigkeiten und Debatten, die bis heute selbst unter den Wortführenden in Bezug auf viele wissenschaftliche Grundprinzipien fortdauern, die beständig von Neuem auftauchenden Systeme und Theorien zeugen von diesem inneren Zwiespalt, sie bezeugen auf wie schwankendem Boden die soziale Wissenschaft steht. Auf welche Weise sie nun aber aus dieser Lage herausgebracht, auf welche Weise sie auf einen festen Boden, der ihr als unerschütterliche Grundlage zu dienen imstande ist, verpflanzt werden kann, das ist die Aufgabe, die wir uns gestellt haben und die wir in den folgenden Kapiteln zu beantworten versuchen werden. Für den menschlichen Geist gibt es überhaupt nur zwei Gegenstände der Erkenntnis. Er kann sich in sich selbst versenken, sein eigenes Ich zum Gegenstand seiner Betrachtungen und Forschungen machen, und dann verharrt er im Gebiet der Spekulation, zu dem alle sogenannten spekulativen Wisesnschaften, wie die Mathematik, Logik, Psychologie, Metaphysik etc. gehören - oder er wendet seine Forschungen der ihn umgebenden Natur zu, deren Erscheinungen er durch die Vermittlung der Sinne wahrnimmt, und hieraus entspringt die Naturforschung mit all ihren Unterabteilungen: Naturgeschichte, Chemie, Physik, Medizin, Astronomie, Geologie usw. Ich bin nicht gesonnen mich hier in metaphysische Untersuchungen und Diskussionen darüber einzulassen, ob der menschliche Geist, vollständig unabhängig von äußeren Wahrnehmungen, als selbständige Quelle der Erkenntnis aufzufassen ist, oder nur als Spiegel, auf dem sich die Naturerscheinungen in anderer Gestalt und Anordnung abprägen, d. h. mit anderen Worten: ob dem menschlichen Geist angeborene Vorstellungen und Anschauungen innewohnen, oder ob es unzweifelhaft feststeht, daß eine jede Vorstellung mit Notwendigkeit in irgendeiner sinnlichen Wahrnehmung von Naturerscheinungen ihren Ursprung hat. Eins ist klar: ohne geistige Anschauung und Vernunftschluß ist keine Erkenntnis der Natur für uns möglich. Von der anderen Seite aber stützt sich jede geistige Anschauung, selbst in den höchsten Sphären, auf irgendetwas zugrunde liegendes Reales. Beim einfachsten physikalischen Experiment sind wir genötigt die Ursache mit der Wirkung in Verbindung zu bringen, den Unterschied oder die Analogie zwischen dem, was der beobachteten Erscheinung und was anderen Naturkörpern eigentümlich ist, festzustellen, d. h. geistig anzuschauen, vernunftgemäß zu schließen. Andererseits gibt es keinen allgemeinen Begriff von Zeit, Raum, Dasei, dem nicht irgendetwas Reales entspräche. Daher gibt es auch weder reine Vernunftwissenschaften, noch keine rein realen Wissenschaften. Wir geben der Wissenschaft diesen oder jenen Namen, je nach dem Verhältnis, in dem das eine oder andere Element in ihr enthalten ist oder vorwaltet. Gibt es doch eine theoretische Physik und eine angewandte Mathematik. Mag diese unlösbare Verknüpfung, diese harmonische Wechselwirkung zwischen Geist und Materie hervorgehen aus angeborenen Ideen, wie DESCARTES annimmt, oder aus der uranfänglich prästabilierten Harmonie des Weltalls, wie LEIBNIZ lehrt, oder endlich der Geist als Zentrum der Materie, und diese als Peripherie des Geistes angesehen werden analog der Gravitationsbewegung im Kosmos, wie neuer dings PLANCK ausführt; die Betrachtung dieser Fragen liegt außerhalb meiner Aufgabe. Mir gilt es hier vor allem nur die Frage zu entscheiden: in welches Gebiet des menschlichen Wissens gehört die Sozialwissenschaft; ist sie eine vorzugsweise spekulative oder reale Wissenschaft? Ist es notwendig, daß zur Erforschung der sozialen Erscheinungen und Gesetze wir uns in uns selbst versenken, in den logischen Folgerungen der eigenen Vernunft die Entscheidung sozialer Fragen suchen, oder sollen wir zu diesem Zweck uns zur Betrachtung dessen wenden, was außerhalb unserer selbst vorgeht, so wie wir es in Bezug auf die Natur tun? - Diese Frage - schon an und für sich wichtig - wird noch wichtiger dadurch, daß von ihrer Entscheidung in einem wie im anderen Fall auch die Methode der Forschung abhängt. In der Naturwissenschaft herrscht vorzugsweise die empirische induktive Methode, die, von Tatsachen in der Natur ausgehend, sich ihren Ursachen zuwendet, die, indem sie vom Besonderen zum Allgemeinen emporsteigt, aus speziellen Fällen allgemeine Gesetze entwickelt; in den spekulativen Wissenschaften dagegen herrscht die deduktive, die synthetische Methode, die vom Allgemeinen zum Speziellen herabsteigt. Gehörte die menschliche Gesellschaft zum Bereich der uns umgebenden Natur, so bildete die Sozialwissenschaft einen Teil der Naturkunde und müßte in ihr die induktiv-empirische Methode zur Anwendung kommen; zeigt sich dagegen die Gesellschaftskunde vorzugsweise auf übernatürlichen, ideellen Prinzipien begründet, so müßte die Sozialwissenschaft den spekulativen Wissenschaften zugezählt und die deduktiv-synthetische Methode in ihr angewandt werden. Es lautet also die erste sich auf diesem Weg entgegenstellende Frage: kann die menschliche Gesellschaft so, wie sie sich gegenwärtig uns darstellt und in der bisherigen stufenweisen Entwicklung in der Weltgeschichte uns vorgeführt wird, überhaupt einen Gegenstand des Studiums, ein Objekt für die Wissenschaft, in derselben Weise abgeben wie die materielle Welt, die Erscheinungen der uns umgebenden Natur uns als reales Objekt dienen? Dazu wäre aber erforderlich, daß den Erscheinungen der Natur und den Tätigkeitsäußerungen der Gesellschaft dieselben allgemeinen Gesetze zugrunde liegen, daß zwischen Ursache und Wirkung in den Kundgebungen der Materie wie der menschlichen Gesellschaft ein konstanter, der menschlichen Beobachtung und Erkenntnis zugänglicher Zusammenhang herrscht. Die Wissenschaft ist nichts Anderes, als die Kenntnis des Zusammenhangs der Erscheinungen, also: Erkenntnis; und umgekehrt muß jede Erkenntnis als Wissenschaft gelten. Die Wissenschaft des Tieres beschränkt sich auf das Verständnis der Beziehungen zwischen der sehr geringen Zahl der seinen notwendigsten Bedürfnissen am nächsten liegenden Erscheinungen; sie bewegt sich beständig in demselben engen Kreis der Beobachtung und vergleichenden Zusammenstellung. Die Wissenschaft des Menschen dagegen ist unendlicher Vervollkommnung fähig und hat für ihre Entwicklung keine Grenzen. Als der Mensch noch in seiner Kindheit umherschaute in der ihn umgebenden Natur und, überrascht durch die Mannigfaltigkeit, in Staunen gestzt durch die Herrlichkeit, überwältigt und in Schrecken gesetzt durch die Großartigkeit der Erscheinungen, eine Erklärung suchte für ihren Zusammenhang, da, unwiderstehlich getrieben von einem inneren Drang nach Erkenntnis, drängte ihn das Gefühl der Abhängigkeit zur Ahnung und dann allmähilich zur Erkenntnis einer Alles bewirkenden Macht, eines Alles umfassenden Zusammenhangs, einer letzten und unmittelbaren Ursache - der Gottheit. Jegliche Vernunfttätigkeit beruth auf dem Vergleichen der von außen empfangenen Eindrücke und dem Aufsuchen des zwischen ihnen stattfindenden Zusammenhangs, entweder des positiven Zusammenhangs - in der Analogie - oder des negativen Zusammenhangs - im Kontrast. Die von außen aufgenommenen Eindrücke lenkt der menschliche Geist in Gedanken, wenn es erlaubt ist sich so auszudrücken, Radien gleich zu einem Punkt hin, in dem sie sich alle vereinigen, dem gemeinsamen hellen Fokus - der Erkenntnis. Der letzte, am entferntesten gelegene Fokus der menschlichen Erkenntnis wird stets die Gottheit sein, d. h. der unsichtbare Punkt, zu welchem der Geist des Menschen alle Radien des Daseins hinzulenken und von dem er alle herzuleiten gezwungen ist. Bei den ersten Menschen lag dieser Punkt unmittelbar hinter den ersten Eindrücken, welche die umgebende Natur auf sie gemacht hat. Je mehr das Gebiet des menschlichen Wissens sich erweitert hat, desto weiter entfernte sich dieser Punkt, in dem sich der Zusammenhang all seiner Wissenschaft konzentrierte, anfangs vereinzelten vergleichenden Zusammenstellungen, später ganze wissenschaftlichen Systemen Platz machend. So drängten in letzter Zeit die Fortschritte der Geologie den ursprünglichen Schöpfungsakt der sichtbaren Welt in unserer Erkenntnis in eine unendlich ferne Vergangenheit, ohne dadurch das Dasein des Schöpfers umzustoßen. So wurde auch in den Geschicken der menschlichen Gesellschaft früher Vieles der unmittelbaren Tätigkeit der Gottheit zugeschrieben, das sich jetzt aus natürlichen Ursachen, als allgemein anerkannten Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft selbst erklärt und somit nur mittelbar Gott entstammt. Und nach Maßgabe der Entwicklung der sozialen Wissenschaft wird sich beständig der Wirkungskreis dieser natürlichen Gesetze erweitern. Selbst der Gott des Krieges, dieser höchste Repräsentant des blinden Fatums und des Zufalls, hat gegenwärtig schon von der nebelhaften Höhe, auf welcher er thronte, herabsteigen müssen und ist gezwungen der menschlichen Vernunft von seinen Taten Rechenschaft abzulegen. Wir leben bewußter, als unsere Vorgänger, weil der Zusammenhang der uns ringsum umgebenden Erscheinungen uns klarer und vielseitiger geworden ist. Vieles jedoch, das uns noch dunkel und rätselhaft erscheint, wird für die nachfolgenden Generationen in den Bereich der klaren Erkenntnis, in den Bereich der Wissenschaften fallen. Die menschliche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit wurde, wie wir gesehen haben, später, als die Natur, Gegenstand der Wissenschaft, wovon die Ursache darin liegt, daß die gesellschaftlichen Erscheinungen, weit verschiedenartiger gestaltet sind, scheinbar unregelmäßiger aufeinander folgen, als die Erscheinungen in der Natur und daher die Aufsuchung des unter ihnen stattfindenden konstanten Zusammenhangs, die Unterbringung unter den gemeinschaftlichen Nenner festbestimmter unabänderlicher Gesetze größere Schwierigkeiten verursachen. Bei jeder Erscheingung des geselligen Lebens tritt das ideelle Element, der geistige Faktor in der Gestalt des menschlichen freien Willens verhältnismäßig sehr viel mehr hervor als ein in Betreff aller anderen Naturerscheinungen der Fall ist. - Eben weil der Wille des Menschen von allen in Raum und Zeit wirksamen Kräften sich am allerwenigsten durch bestimmte materielle Regeln und Gesetze beschränken läßt, eben deshalb, weil er frei ist, so hatten alle gesellschaftlichen Erscheinungen, sogar in den Augen scharfsinniger Beobachter, lange Zeit den Charakter vollständiger Zufälligkeit. Der Auf- und Niedergang der Sonne, die Abwechslung von Licht und Finsternis, die Zeiten des Jahreswechsels folgen einander auf der Erde stets in bekannter fester Ordnung, während in der Geschichte der Menschheit Krieg und Frieden, Barbarei und Aufklärung, Gewalt und Recht miteinander wechseln, dem Anschein nach nur abhängig vom Willen und von der Wirksamkeit einzelner Persönlichkeiten oder von Richtungen, in die ganze Stämme und Völkerschaften, oft ganz unbewußt, eingeschlagen sind. - Die organischen Wesen entwickeln sich auf der Erde nur unter bekannten Bedingungen, in bestimmten Zeiträumen, innerhalb fester Grenzen, über diei sie nie hinausgehen, und einander erzeugend, geben sie scheinbar ganz dieselben Früchte und Samen, aus denen sie selbst entstanden sind. - Etwas völlig Anderes zeigt uns anscheinend die Geschichte der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Die Perioden des Entstehens und Untergehens von Staaten und Völkern, die Grenzen ihres Umfangs und ihrer Entwicklung, die einzelnen Erscheinungen ihres Lebens und Wirkens, all das zeigt anscheinend nichts Geregeltes, nichts vernünftig-Gesetzmäßiges. Daher war anfänglich auch nur eine mehr oder weniger systematische Aufzählung von historischen Tatsachen möglich, ohne daß sich irgendein wesentlicher Zusammenhang zwischen ihnen auffinden läßt, oder sie allgemein unwandelbaren Gesetzen untergeordnet werden konnten. Doch es fragt sich: betrachtete anfänglich der Mensch nicht auch die ihn umgebende materielle Welt ebenso? Trugen nicht anfänglich auch die um ihn her statthabenden Naturerscheinungen in seinen Augen den Stempel der Zufälligkeit und völligen Zusammenhanglosigkeit? Die Kürze der Wintertage im Vergleich zu denen des Sommers erklärten die Griechen dadurch, daß Helios, voll Verlangen sich in den Armen seiner Geliebten zu erwärmen, seine Rosse schneller in den Ozean treibt. Die Winde wurden Aeolus oder Boreas zugeschrieben, je nachdem es dem einen oder dem anderen von ihnen eingefallen ist seine Lungen in Bewegung zu setzen. Die Ursache und der Zusammenhang dieser und vieler anderer Erscheinungen, die vormals den menschlichen Geist in abergläubische Furcht verstetzt oder ihn zu falschen Voraussetzungen veranlaßt haben, sind jetzt aufgedeckt und erklärt durch die Wissenschaft. So erklärte DARWIN, indem er das Gesetz der natürlichen und geschlechtlichen Zuchtwahl entdeckte, auf naturgemäßem Weg eine Menge Erscheinungen der organischen Natur, die bisher für unmittelbare Kundgebungen übernatürlicher Kräfte gegolten haben. Und die Naturwissenschaft hat auch jetzt noch lange nicht ihr letztes Wort gesprochen. Auch jetzt bietet die Natur eine Menge derartiger Erscheinungen dar, deren volles und allseitiges Verständnis für den Menschen ein noch nicht zu enträtselndes Geheimnis ist, oder die sich als Folge so komplizierter Ursachen erweisen, daß es dem Menschen unmöglich wird, deren verwirrtes Gewebe zu verfolgen oder zu entwirren. - Wenn gegenwärtig der Astronom auf viele tausend Jahre voraus berechnen kann, zu welcher Zeit und an welchem Punkt der Himmelsgegend sich dieser oder jener Planet unseres Sonnensystems befinden wird, so ist andererseits kein einziger Metereologe imstande mit unbedingter Glaubwürdigkeit nicht nur nicht für einige Tage, sondern nicht einmal für wenige Augenblicke das Erscheinen und die Stärke des Windes, eines Gewitters oder Nordlichtes vorher zu bestimmen. Der erfahrenste Landwirt ist nicht fähig mit Sicherheit die Quantität und Qualität der zukünftigen Ernte vorherzusagen. Aber dessen ungeachtet hängt das Auftreten und die Stärke eines Windes, Gewitters oder Nordlichts wie die Entwicklung des organischen Lebens auf der Erdoberfläche von eben so festen Gesetzen ab, wie die Bewegung der Himmelskörper. Der Unterschied liegt nur darin, daß die Bewegung der letzten durch eine einfache Ursache - die allgemeine Schwerkraft bedingt wird, während eine Störung des Gleichgewichts unserer Atmosphäre, die Verteilung der Elektrizität in derselben und das Entwickeln der Pflanzen von einer so großen Menge von Bedingungen abhängig sind, daß der Mensch bis jetzt außerstande ist sie zu fassen und vorherzusehen. Dasselbe gilt auch in Bezug auf die Erscheinungen in der menschlichen Gesellschaft. In ihr, wie in der Natur, gibt es, in der weitesten und strengsten Bedeutung des Wortes, keinen absoluten Zufall, und kann es in Wirklichkeit keinen geben. Wie in der materiellen Welt, so auch in Bezug auf die menschliche Gesellschaft nennen wir zufällig nur die Erscheinungen, welche, obgleich sie sich in einem unzertrennlichen notwendigen Zusammenhang mit den ihnen vorhergehenden befinden, doch in diesem oder jenem vorkommenden Fall nicht von uns vorhergesehen oder erkannt werden. Doch, so sagt man, wenn es auch als unbestreitbares Axiom anzuerkennen ist, daß sowohl in der materiellen Welt, als auch in der Gesellschaft es in Wirklichkeit keine absolut zufällige Erscheinung geben kann, so folgt daraus noch nicht, daß die menschliche Gesellschaft zum Gegenstand der Wissenschaft gemacht werden kann, gleich der organischen oder unorganischen Natur. Der Zusammenhang zwischen den Erscheinungen und ihrer gegenseitigen Wirkung in der Gesellschaft kann derartig kompliziert sein, daß namentlich aus diesem Grund die Erkenntnis desselben für den menschlichen Verstand unmöglich wird; denn im letzten Fall werden die faktisch nicht zufälligen Erscheinungen immer in den Augen des Menschen für zufällige gehalten. Wir wollen sehen auf welchem Weg es möglich ist feste Gesetze zu entdecken, die der menschlichen Gesellschaft als Grundlage dienen und die Wirkung der im gesellschaftlichen Organismus vorhandenen Kräfte bedingen. in Natur und Gesellschaft. Eine jede materielle und so auch jede gesellschaftliche Erscheinung ist die Folge, das Resultat irgendeiner vorausgegangenen wirksamen Ursache, welche wir Kraft nennen. So ist die Schwere der Körper auf der Oberfläche der Erde eine Erscheinung, die hervorgeht aus der Anziehungskraft der Erde, sie ist das Resultat der Wirkung dieser Kraft. So ist der Wert der in der Gesellschaft zirkulierenden Güter eine Erscheinung, die hervorgeht aus dem persönlichen Interesse der einzelnen Glieder der Gesellschaft, aus dem Bestreben, sich die zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse dienenden Gegenstände anzueignen. Die Wirkung einer Kraft erkennen wir nur aus ihren Folgen, aus ihren Resultaten. Ein und dieselbe Kraft bringt nicht selten die verschiedenartigsten Erscheinungen hervor und andererseits geben verschiedene Kräfte oft ein gleiches Resultat. So wird die Elektrizität bald anziehend, bald abstoßend, so kann unter Umständen, so wie die Wärme, auch die Kälte zur Ursache der Ausdehnung eines Körpers werden. In der Gesellschaft kann das auf ein und dasselbe Ziel gerichtete Streben zweier oder mehrerer Persönlichkeiten oder sozialer Gruppen in einem Fall ein gemeinsames Zusammenwirken zur Folge haben, in einem andern ein feindseliges Entgegenwirken. Der soziale Fortschritt kann bei einem Volk aus dem Vorherrschen der höheren Schichten der Gesellschaft über die niederen entspringen, bei einem anderen dieses Vorherrschen die Ursache des Verfalls und der Zerrüttung abgeben. Die Auswanderung eines Teils der Bevölkerung eines Landes kann die Folge einer ungewöhnlichen Entwicklung der Industrie sein, welche Menschenhände durch Maschinen ersetzt; unter anderen Umständen ist sie die Folge einer inneren ökonomischen Zerrüttung, welche die Masse des Volkes der Existenzmittel beraubt. Die Erhöhung des Preises der Erzeugnisse kann unter Umständen hervorgehen aus einer Verstärkung der Nachfrage, einer Erweiterung des Kredits oder einem vergrößerten Angebot, unter anderen Umständen aus einem Mangel an Vertrauen. Diese zum Vorschein kommenden Widersprüche entstehen dadurch, daß in der Natur wie in der Gesellschaft die Kräfte nur im Ausnahmefall unabhängig voneinander wirken und daß sowohl die materiellen wie auch die gesellschaftlichen Erscheinungen zum großen Teil die Resultate der Wechselwirkung von Kräften verschiedener Natur und nicht gleicher Tendenz sind. Je nach der Zusammensetzung der aus den einzelnen Kräften hervorgehenden Resultate erfolgen verschiedenartige, bisweilen entgegengesetzte Wirkungen. Daher ist es, um die Natur und Tendenz einer jeden einzelnen Kraft für sich zu ergründen, unumgänglich nötig, eine Wirkung von der Wirkung einer anderen von ihr verschiedenen Kraft zu trennen und sie aus der Gesamtwirkung auszuscheiden; dann ergibt sich das Resultat der Einzelwirkung einer jeden Kraft in ihrer vollen Reinheit; dann erst enthüllt sich das Gesetz ihrer unabhängigen Wirkung. - In einigen Zweigen der Naturwissenschaft läßt sich dieses Ziel durch physikalische und chemische Experimente erreichen: der Chemiker in seinem Laboratorium, der Physiker in seinem Kabinet, indem sie die Wirkung einer Kraft von der der andern trennen und eine jede isolieren, erhalten Resultate, aus denen sie die Gesetze der chemischen Verwandtschaft, der mechanischen Wechselwirkung usw. ableiten. Zwecks Zerlegung des Wassers in seine Bestandteile trennt der Chemiker das Waser durch die Wände eines Gefäßes von denen dasselbe umgebenden Körpern und nur unter dieser Bedingung erhält er stets das gleiche Resultat, die gleiche Menge Sauerstoff und Wasserstoff; im entgegengesetzten Fall würden sich die atmosphärischen Gase und anderen Substanzen dem Wasser beimischen und die Ergründung der chemischen Zusammensetzung desselben unmöglich machen. - Zur Feststellung des Fallgesetzes der Körper zur Oberfläche der Erde muß sich der Physiker vor Allem einen luftleeren Raum beschaffen, sonst ändert die Reibung der Atmosphäre, die nicht der Masse, sondern Oberfläche des fallenden Körpers proportional ist, die Geschwindigkeit seines Falles und gibt Resultate, die nicht zur Entdeckung eines allgemeinen Gesetzes führen. In anderen Zweigen der Naturkunde lassen sich keine Experimente anstellen, wie z. B. in der Geologie, Astronomie, Meteorologie. Hier muß sich der Mensch auf Beobachtung, Vergleiche und analytische Schlußfolgerungen beschränken. Das was der Chemiker und Physiker in seinem Laboratorium, in seinem Kabinet herbeiführt, die Trennung der zufälligen Umstände und Bedingungen von den wesentlichen, die Isolierung der Einzelkräfte und die Resultate ihrer Wirkungen voneinander, das tut der Astronom, der Geologe, der Meteorologe in seinem Geist. Der Geologe, der die Ordnung beobachtet, in der an verschiedenen Orten die verschiedenen Schichten der Erdrinde aufeinander folgen, zerlegt in Gedanken unseren Planeten in die ihn zusammensetzenden Teile. Indem er diese oder jene Erscheinung der Wirkung dieser oder jener Kraft zuschreibt, bemüht er sich im Geiste teilweise und mit einer Abgrenzung der Erscheinungen das zu reproduzieren, was vor seinen Augen durcheinander in einer gemeinschaftlichen Masse daliegt, bemüht sich folgerecht das wiederaufzubauen, was auf unserem Planeten im Laufe der Zeiten vorgegangen ist. Der Meteorologe, der z. B. die Richtung und Stärke des Windes beobachtet und die Ursachen analysiert, infolge derer die Atmosphäre ihres Gleichgewichts beraubt wird, zerlegt im Geist die Kraft, welche in ihrer Gesamtwirkung die Störung des Gleichgewichts hervorbringt, in alle einzelnen Kräfte und bemüht sich ihre Natur, Tendenz und Wechselwirkung festzustellen. - Der Erforscher der menschlichen Gesellschaft befindet sich in derselben Lage des äußerlich passiven Beobachters, des geistigen Anatomen. Die Perioden der Geschichte der Menschheit erscheinen ihm als gesonderte Schichten, die, einst von Leben erfüllt, in der Folge begraben wurden unter neuen Formationen, welche zu ihrer Zeit demselben Schicksal unterlagen. Er analysiert und zergliedert in Gedanken die politischen und sozialen Stürme und Umwälzungen, um ihre Ursachen und Folgen zu ergründen. Dazu muß er Allem zuvor, gleich dem Naturforscher, das Resultat irgendeiner Kraft von ihrer Richtung, ihrem Streben oder ihrer Tendenz unterscheiden. Die Gesetze, welche der Wirkung der materiellen und gesellschaftlichen Kräfte zugrunde liegen, zeigen sich in der Wirklichkeit nirgends in ihrer ganzen Fülle und Reinheit; wie in der Natur, so auch in der Gesellschaft, erscheinen sie nur als Strebungen zu einem gewissen Ziel, zu einer gewissen Form, einem gewissen Zustand hin. Unbeeinflußt durch irgendwelche Nebenumstände zeigt sich das Gesetz der Wirkung der Anziehungskraft der Erde wohl im Kabinet des Physikers, der mit Hilfe der Luftpumpe auf künstliche Weise einen luftleeren Raum erzeugt. In der Wirklichkeit aber wird das Streben oder die Tendenz der auf der Oberfläche der Erde befindlichen Körper zum Mittelpunkt derselben durch eine Menge anderer Kräfte behindert oder modifiziert: durch den Widerstand der Luft, die Drehung der Erde um ihre Achse, bisweilen auch durch einen dem Körper zufällig mitgeteilten Stoß in einer anderen Richtung, so daß er, anstatt sich der Erde zu nähern, möglicherweise sich von ihr entfernen kann. Dem ähnlich zeigt sich das ökonomische Gesetz der Wirkung des Sonderinteresses im Menschen oder in der Gesellschaft nur als Bestreben, das bald andere Strebungen überwiegt, bald von ihnen verdrängt wird. Aus Mitgefühl, unter dem Einfluß einer Idee oder in der Hitze der Leidenschaft opfert der Mensch nicht selten selbst seine teuersten Interessen: Habe und Leben. Hier zeigen sich zwei entgegengesetzte Bestrebungen: die Selbsterhaltung und Selbstaufopferung, von denen oft die letztere über die erstere die Oberhand gewinnt. Der Mensch, allgemein ausgedrückt, strebt beständig nach physischem oder geistigem Wohlbehagen, oder nach der Verwirklichung ethischer Zwecke; aber dieses Streben kann durch andere unvernünftige, zerstörende Bestrebungen verdrängt und unterdrückt werden. Das MALTHUS'sche Bevölkerungsgesetz ist nur insofern richtig, als dasselbe das Streben der Bevölkerung nach Vermehrung über die Grenzen der Existenzmittel verhindern will. Das RICARDOsche Gesetz der Rente drückt nur das Streben nach eine steten Erhöhung des Preises der unentbehrlichsten Gegenstände aus. Das Schwanken des Preises der Güter über und unter den Produktionskosten derselben ist die Folge des Bestrebens den Kaufpreis mit den Produktionskosten in ein und dasselbe Niveau zu bringen. - Der Preis der Güter steigt und fällt im umgekehrten Verhältnis des Angebots und der Nachfrage infolge des Bestrebens der Produzenten und Konsumenten durch Austausch zu den Ihnen nötigen Gütern unter den vorteilhaftesten Bedingungen zu gelangen. - Eine Menge Bedingungen und Umstände können also in Wirklichkeit diese Bestrebungen ablenken, abändern und selbst zu einem völlig entgegengesetzten Resultat führen. - Bei einem bedeutenden Aufschwung der Landwirtschaft und einer Zunahme der industriellen Tätigkeit können die Mittel der Bevölkerung sich mehren und dennoch die Rente fallen ungeachtet der Zunahme der Bevölkerung und des Steigens des Preises der unentbehrlichsten Gegenstände. Der Tauschwert hält sich fast nie in gleicher Höhe mit den Produktionskosten und das Gesetz der Nachfrage und des Angebots ändert sich beständig durch eine Menge zufälliger Umstände. Daher geben die Schlußfolgerungen des Erforschers der menschlichen Gesellschaft, verglichen mit der Wirklichkeit, bisweilen Resultate, die den erwarteten völlig entgegengesetzt sind. Das, wovon in der Theorie abgesehen wurde, die Umstände und Bedingungen, welche im Geist beseitigt worden sind, wirken dennoch oftmals im Leben, das seinen natürlichen Entwicklungsweg fortgeht ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob diese oder jene soziale Theorie ihn als vernunftgemäß anerkennt oder nicht. - Jede Kraft ist die Ursache irgendeiner Erscheinung und diese ist wiederum das Resultat einer vorhergegangenen Kraft, - das ist im Prinzip der Kausalität sowohl in der Natur wie in der Gesellschaft. Jede Kraft strebt sich kundzugeben innerhalb festbestimmter Grenzen, nach fest bestimmten Gesetzen, - das ist das Prinzpi der Zweckmäßigkeit, das, gleich dem Prinzip der Kausalität, alle materielle nund sozialen Erscheinungen umfaßt. Es gibt keine Erscheinungen, weder auf materiellem noch sozialen Gebiet, ohne Ursache. Es gibt keine Erscheinung, die nicht der Ausfluß von Kräften wäre, die zu irgendeinem Ziel hinstreben. Der ganze Unterschied liegt nur darin, in welcher gegenseitigen Beziehung, Korrelation, diese beiden Prinzipien bei ein und derselben Erscheinung zueinander stehen. Von diesem, wie auch von allen übrigen Gesichtspunkten aus, zeigt die Natur uns nur gegenseitige Beziehungen, nirgendes etwas Absolutes. Daher haben auch alle philosophischen Theorien, die ausschließlich auf eines dieser Prinzipien gegründet sind, als absolute Theorien keine reale Basis. Eine derartige ist, ganz abgesehen von ihrem auf den ersten Blick äußerlichen Realismus, die Theorie der absoluten Kausalität SPINOZAs. Eine eben solche ist die Theorie einer das ganze Weltall umfassenden Harmonie von LEIBNIZ, der die Lehre von der absoluten Zweckmäßigkeit aufgestellt hat. Die Wirklichkeit bietet uns nur verschiedenartige Kombinationen der Prinzipien der Kausalität und der Zweckmäßigkeit. In der anorganischen Natur herrscht das Gesetz der Kausalität vor. Mittels einer Anstellung von Beobachtungen und Experimenten sind wir in den Erscheinungen der anorganischen Natur nur imstande, Ursache und Wirkung miteinander zu verknüpfen; das Prinzip der Zweckmäßigkeit zeigt sich in ihr, so weit der menschliche Verstand reicht, so schwach, daß wir die Kundgebungen anorganischer Kräfte für blind und unvernünftig halten. Je nachdem wir auf der endlosen Leiter der organischen Erscheinungen aufwärts steigen, umso mehr waltet das Prinzip der Zweckmäßigkeit vor, vom Trieb nach Nahrung und Selbsterhaltung im Pflanzenreich bis zum Instinkt der Tiere und dem vernünftig-freien Willen des Menschen. Die ununterbrochene Verknüpfung aller organischen Wesen untereinander hat DARWIN in seiner Lehre von der Entstehung der Arten gemäß Deszendenz [Abstammung - wp] unwiderlegbar gezeigt. Der Mensch erscheint in dieser Kette als Krone der Schöpfung, sein vernünftig-freier Wille als Kraft, in deren Offenbarung das Prinzip der Zweckmäßigkeit das der Kausalität in unermeßlich höherem Grad, als bei allen übrigen organischen Wesen, überwiegt. Doch auch hier liegt der ganze Unterschied nur in den gegenseitigen Beziehungen; das Wesen bleibt dasselbe. - Wenn nun die menschliche Gesellschaft Gegenstand der positiven Wissenschaft sein soll, so gibt es dazu nur einen Ausgangspunkt: sie muß notwendig in die Reihe der organischen Wesen aufgenommen, als Organismus betrachtet werden, der in seiner Entwicklung um eben so viel über dem menschlichen Organismus steht, wie dieser alle übrigen Organismen in der Natur überragt. Nur unter dieser Bedingung kann die Sozialwissenschaft eine ebenso reelle Grundlage, wie die Naturwissenschaft erhalten; nur unter dieser Bedingung kann die menschliche Gesellschaft der induktiven Betrachtung als realer Organismus anheimfallen und als ein untrennbarer Teil der Natur aufgefaßt werden; nur unter dieser Bedingung wird die Sozialwissenschaft aus einer dogmatischen zur positiven. DARWIN fand den Faden, der die ganze organische Welt zu einem gemeinsamen Ganzen verbindet und sie als Fortsetzung dder unorganischen erscheinen läßt. Ist der Mensch das letzte Glied dieser Kette? Reicht sie nicht noch weiter? Bilden die voneinander verschiedenen gesellschaftlichen organischen Gruppen nicht eben solche reale Organismen, wie der Mensch selbst? Handeln und entwickeln sich diese sozialen Organismen nicht nach denselben fundamentalen organischen Gesetzen, wie alle übrigen organischen Wesen in der Natur, nur mit dem Unterschied, daß in den gesellschaftlichen Organismen das Prinzip der Zweckmäßigkeit noch mehr das der Kausalität überwiegt als in jedem einzelnen Menschen? Steht nicht der Mensch mit seinen sowohl materiellen wie geistigen Bedürfnissen und Bestrebungen zum gesellschaftlichen Organismus in derselben Beziehung, wie jede einzelne organische Zelle im pflanzlichen und tierischen Organismus? Drückt sich in der sozialen Tätigkeit, dem gesellschaftlichen Leben, dem öffentlichen Recht und allgemeinen Interesse nicht ebenso das Prinzip der Zweckmäßigkeit, jedoch in einem höheren Grad aus, als in der Tätigkeit und im Leben des Einzelnen, im persönlichen Recht und privaten Interesse eines jeden einzelnen Menschen? Bildet endlich nicht die gesamte Menschheit uns gegenüber ein organisches Wesen, das in sich alle einzelnen Gesellschaftsgruppen, die sich zu ihm, wie Teile zum Ganzen verhalten, vereinigt? Alle diese Fragen fordern bestimmte Antworten, die sich aber nicht auf bloße Vergleiche oder Allegorien stützen, sondern auf die positive Erforschung derjenigen Gesetze gründen müssen, nach denen die Kräfte in der Natur wie in der menschlichen Gesellschaft wirken. ![]() |