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Die Ursachen des Verfalls
der Philosophie

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"Die rationalistische Metaphysik beruth auf dem Glauben, daß unsere Denkfunktionen auch für eine außerhalb von Raum und Zeit befindliche Welt Gültigkeit haben. Ihr Axiom lautet: was wir uns als notwendig existierend denken, muß sich auch objektiv real so verhalten; Denken und Sein sind identisch. Gegen dieses Grunddogma des Rationalismus richtete sich die kantische Kritik, indem sie nachwies, daß unsere Denkformen nur dann Gültigkeit haben, wenn sie sich auf einen gegebenen Inhalt beziehen."

"Für die Philosophie ist die Richtigkeit des Wahrnehmens und Denkens keine einfache Tatsache, die sie schlechthin voraussetzen darf, sondern das erste und wichtigste Objekt ihrer Untersuchung."

"Wie weit reicht unser Denken? Wodurch unterscheidet es sich von der sinnlichen Wahrnehmung und den übrigen Kräften des Bewußtseins? Spiegelt sich in unserer Sinnlichkeit die Natur genau so, wie sie ansich ist? Von der Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen hängt es ab, ob es für sie noch ein anderes Objekt, ein absolutes Sein gibt oder nicht."

"Da selbst Religion und Moral ohne Vorstellungen und Begriffe nicht möglich sind, so liegt immer die Versuchung nahe, Inhalt und Form miteinander zu verwechseln oder zu identifizieren. Man vergißt, daß wir uns durch Urteile und Begriffe den Inhalt bloß vorstellen, daß das Wissen nicht die Bedingung des Seins ist bzw. dasselbe erst hervorbringt, daß es existieren muß, ehe die Reflexion hinzukommt und auch existieren würde, wenn es gar keine Wissenschaft gäbe. Deshalb ist es nicht gestattet, Form und Inhalt, Denken und Sein zu identifizieren."


V o r w o r t

Die folgenden Abhandlungen waren ursprünglich nur als negativer Teil eines größeren Werkes gedacht, dem ein positiver zur Ergänzung und als Grundlage einer selbständigen Weltauffassung folgen sollte. Bald aber stellte sich heraus, daß Gegensätze, wie Licht und Schatten, Wahrheit und Irrtum der einzelnen Systeme und Epochen sich wohl nicht getrennt behandeln und gehörig darstellen lassen. Insofern beides zugleich berücksichtigt werden mußte, deckt sich der Titel der vorstehenden Abhandlungen nicht völlig mit deren Inhalt. Das Ganze soll ebensowohl ein Versuch sein, die Gründe zur Wiederbelebung wie auch die Ursachen des Verfalls der Philosophie in ihren Hauptmomenten anzudeuten. Da aber die Mängel und Einseitigkeiten, wie auch das Wahre und Bleibende einer bestimmten Denkrichtung am deutlichsten in den großen geschichtlichen Perioden zum Vorschein kommen, so war es notwendig, diese besonders ins Auge zu fasse, sie miteinander zu vergleichen und die Quellen, aus welchen der jeweilige Aufschwung oder Niedergang erfolgte, genauer nachzuweisen. Bei der Größe des Umfangs und der Mannigfaltigkeit des Inhalts besteht nun das Schwierige eines solchen Unternehmens vor allem darin, daß man sich weder ins Allgemeine noch ins Besondere verliert, vielmehr zwischen beiden eine gewisse Mitte einhält. Denn um der Aufgabe vollkommen gerecht zu werden, müßte man neben den gründlichsten Einzelkenntnissen zugleich die Fähigkeit besitzen, das Ganze mit sicherem Blick zu überschauen; man müßte das Wesentliche in allen Epochen, so sehr es durch Irrtümer verhüllt und entstellt sein mag, intuitiv erfassen, um das Gesetz, nach welchem sich das geistige Leben vollzieht, auf diese Weise zu entdecken. Solange dies nicht gelingt, kann die Philosophie, selbst wenn sie sich im Endlichen bewegt, keinen Anspruch erheben, als wirkliche Wissenschaft anerkannt zu werden. Und es wird solange nicht gelingen, als man nicht den Mut hat, statt auf einzelne Systeme und Standpunkte, auf die ursprünglichen Seelenvermögen, wie sie sich im Laufe der Geschichte kundgaben, allseitig zurückzugreifen und aus den ewig frischen Quellen der schaffenden Natur eine lebendige Überzeugung zu schöpfen. Treffen nun die beiden erwähnten Bedingungen selten und heute weniger denn je in einem Menschen zusammen, so muß man sich schon begnügen, wenigstens einen kleinen Beitrag zur Lösung des schwierigen Problems geliefert zu haben, eingedenk der ermunternden Worte des alten Weisen von Stagira [Aristoteles - wp]:
    "Niemand kann die Wahrheit auf eine ihrer vollkommen würdige Weise treffen, ebensowenig aber sie gänzlich verfehlen; vielmehr behauptet jeder Philosophüber die Natur der Dinge etwas Richtiges, und wenn auch ein Einzelner für sich allein nichts oder wenig zur Ermittlung der Wahrheit beiträgt, so wird daraus doch, wenn man zusammennimmt, was alle gefunden haben, eine ansehnliche Größe."


Einleitung

Wie in einem sich wandelnden Jahr auf die Phasen des Wachsens und Blühens sich die des Verwelkens und Absterbens regelmäßig folgen, so sehen wir auch in der Philosophie einen beständigen Wechsel zwischen den Epochen des mächtigsten Aufschwungs und des unaufhaltsamen Niedergangs. Aber jedes geistige Jahr hat, wie jedes physische, eine Menge Früchte gezeitigt, die nicht bloß zur Nahrung dienen, sondern zugleich den Samen einer künftigen Entwicklung in sich tragen. Wenn die Zeichen der Zeit uns nicht täuschen, zeigen sich bereits nach dem langen Winter von einem halben Jahrhundert die ersehnten Vorboten eines neuen Frühlings der Philosophie. Welche Ursachen haben diesen Umschwung bewirkt? Wie kam es, daß auf den Höhenflug der deutschen Spekulation die Geisteswissenschaften so sehr in Verachtung gerieten und von den empirischen fast gänzlich verdrängt wurden? Wie ist es überhaupt möglich, daß die Philosophie einem solchen periodischen Wandel des Aufblühens und Absterbens unterworfen ist und auf die kurzen hellleuechtenden Tage so lange Nächte folgen?

Sowohl das klassische Altertum, das sich auf Vernunft und Phantasie, als auch die Scholastik, welche auf Religion und Offenbarung stützte, verfielen offen oder versteckt in einen Skeptizismus. Den Grund hierfür glaubte man bei jenem in einer allgemeinen Ermattung des Denkens (1), bei diesem in der Erschöpfung des Inhalts, Mangel an Freiheit und positivem Wissen zu finden. Beide Erklärungsarten reichen nicht aus, diese eigentümliche Erscheinung zu begreifen. Noch weniger treffen sie zu auf die neuere, insbesonders auf die gegenwärtige Zeit, die dem Transzendentalismus gegenüber sich ebenso skeptisch verhält, wie nur je eine frühere. Nie hat es einen mannigfaltigeren Inhalt oder eine größere Freiheit im Denken und Forschen gegeben; nie war der Wissenstrieb stärker, allgemeiner und erfolgreicher. Dennoch genießt die Philosophie kein Ansehen und kein Vertrauen. Träfe dies bloß die alte metaphysische Spekulation, die vielfach nur mit leeren Begriffen operierte, so ließe sich diese allgemeine Abneigung bei dem Verlangen nach positiven Erkenntnissen, leicht erklären. Aber außer jener luftigen Region existiert ja noch eine andere uns zugänglichere, das sogenannte geistige Leben, das wirklich einen Inhalt bietet, der uns offenbar näher berührt, als die äußere Natur oder die Geschichte längst vergangener Zeiten. Daß aber dieser Inhalt, welcher unser eigenstes Sein und Wesen ausmacht, dasselbe Interesse erregt, wie jene physischen und historischen Tatsachen, kann niemand behaupten. Selbst wenn sich die Forschung auf Menschen bezieht, wie in der Völkerkunde, Sprachwissenschaft, Anthropologie, so ist es hauptsächlich der äußere Mensch, der in Betracht kommt; es sind Tatsachen kulturhistorischer, literarischer und empirischer Art, die uns mitgeteilt werden, aber nicht das innere, geistige Leben, aus welchem sie hervorgingen. Denn um dies zu begreifen, müßte man das Wesen der Seele in ihren sinnlichen und geistigen, sittlichen und religiösen, sozialen und politischen Trieben und Motiven erkennen, man müßte mit einem Wort Philosophie studieren oder zumindest das Bewußtsein haben, daß all diese Erscheinungen sie voraussetzen und auf sie hinweisen. Wo sind aber die Historiker und Naturforscher, die Philologen und Anthropologen, welche dieses Bedürfnis empfinden oder solche Kenntnisse als notwendig erachten? Wäre diese Selbstgenügsamkeit der empirischen Forschung denkbar, wenn man in einem Menschen noch etwas Anderes und Höheres erblickt, als nur das leibliche und materielle Dasein, oder wenn man glaubt, dieses Höhere erkennen zu können? Ein Zweifel an der Erkennbarkeit oder der Glaube an die Materialität der Seele sind zwei der wichtigsten Gründe, aus welchen die Verachtung und Vernachlässigung der Philosophie zu erklären ist. Wäre das nicht der Fall, so würde dies von einem höchst oberflächlichen Sinn, was mit dem Ernst und der Gründlichkeit zeugen, mit welchem heutzutage die Wissenschaften betrieben werden, sich nicht vereinigen läßt. Wahrscheinlich ist die Zahl selbst unter Naturforschern, die wirklich mit Überzeugung und aus wissenschaftlichen Gründen dem Materialismus huldigen, nicht sehr groß; vielmehr werden sich die meisten aus Mangel an hinreichenden Beweisen und sicheren Tatsachen im Zustand der Ungewißheit befinden, ob sie eine höhere, geistige Ursache in und über uns anerkennen sollen oder nicht. Sie sind also unsicher, schwankend, zweifelnd und das ist, was man Skeptizismus nennt.

Hier stehen wir vor einem großen psychologischen Rätsel. Zweifel können niemals aus einem exakten, positiven Wissen entspringen; was sich aber nicht sicher erkennen läßt, kann ebensowohl geglaubt wie bezweifelt werden. Beweise, welche für die eine oder andere Richtung ausschlaggebend wären, sind nicht zu erbringen. Denn wenn es wirklich Beweise sind, so heben sie den Glauben wie den Zweifel auf; somit ist der Ausgangspunkt beider Richtungen seinem Wesen nach grundlos und daraus erklärt sich das eigentümliche Rätsel. Wie es einzelne Individuen gibt, die von Natur aus mehr zum Glauben und andere, die mehr zum Zweifeln geneigt sind, so gibt es auch ganze Epochen, welche von einer dieser Denkrichtungen vorwiegend beherrscht werden. Die Geschichte schwankt beständig zwischen beiden Extremen. Und so können wir GOETHE wohl beistimmen, wenn er sagt:
    "Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Glaubens und Unglaubens." (2)
Obgleich nun die Wurzel, aus welcher dieser Konflikt entspringt, nicht zu ergründen ist, so wird sich doch kein Forscher mit der bloßen Behauptung der Unerkennbarkeit dieser merkwürdigen Tatsachen begnügen. Er wird zumindest versuchen, äußere, geschichtliche oder psychologische Momente aufzuweisen, welche ein dogmatisches oder skeptisches Zeitalter zur Folge haben. Die Frage ist immerhin berechtigt, weshalb die griechische, scholastische und neuere Philosophie, sowie namentlich die Gegenwart dem transzendentalen Unglauben verfiel.

Einen Versuch dieser Art bietet die vorstehende Abhandlung. Zu diesem Zweck war es notwendig, auf die Grundkräfte der Seele: Wahrnehmen und Denken, Fühlen und Wollen zurückzugehen und sie in ihrer jeweils prävalierenden [überwiegenden - wp] und darum einseitigen Betätigung und Anwendung in den verschiedenen Epochen zu verfolgen. Es konnten aber nur die Hauptfaktoren, welche diese großen Perioden beherrschten und dem Zeitalter einen bestimmten Charakter aufdrückten, näher ins Auge gefaßt werden. Nun wird Niemand in Abrede stellen, daß in neuerer Zeit die Naturwissenschaften im Vordergrund stehen, im Mittelalter Glaube und Religion die prädominierenden [vorherrschenden - wp] Mächte waren und in Griechenland außer der Kunst die spekulative Philosophie die Hauptrolle spielte. Nach diesen allgemeinen Gesichtspunkten richtet sich, mehr in systematischer, als chronologischer Ordnung, die Behandlung des Themas, indem zunächst die Sinnlichkeit als erste und ursprünglichste Erkenntnisquelle, sodann die Vernunft als Inbegriff aller logischen Denktätigkeit, schließlich die Religion als transzendentales Hauptvermögen in Betracht kommt. Bei dem sonderbar extremen, teils skeptischen, teils orthodoxen Zug unserer Zeit wird gerade letzteres, die Auffassung der Religion und deren Stellung innerhalb der Philosophie, auf verschiedenen Seiten am meisten Widerspruch hervorrufen. Sind diese Einsprüche nicht schlechthin dogmatischer, sondern wissenschaftlicher Art, so können sie dem Fortschritt nur förderlich und jedem Wahrheitsfreund willkommen sein. Der Schwerpunkt der ganzen Abhandlung liegt in der Beantwortung der Frage: ob die Relition (die übrigen geistigen Kräfte mit eingeschlossen) nur ein historisches Objekt der Untersuchung, oder aber ein wesentlicher Bestandteil der Philosophie ist. Damit hängt eine Reihe anderer Fragen zusammen, worunter als die wichtigsten zu betrachten sind:
    1) ob eine transzendentale Überzeugung bloß aufgrund des logischen Denkens möglich ist;

    2) ob es überhaupt eine transzendentale Philosophie gibt und welche Kräfte, falls der Verstand hierfür nicht ausreicht, zugrunde gelegt werden müssen, oder ob die Philosophie künftig auf Empirie und Erkenntnistheorie beschränkt bleiben soll.
Die erste Frage trifft mitten ins Herz der rationalistischen Metaphysik, die auf dem Glauben beruth, daß unsere Denkfunktionen auch für eine außerhalb von Raum und Zeit befindliche Welt Gültigkeit haben. Ihr Axiom lautet: was wir uns als notwendig existierend denken, muß sich auch objektiv real so verhalten; Denken und Sein sind identisch. Gegen dieses Grunddogma des Rationalismus richtete sich die kantische Kritik, indem sie nachwies, daß unsere Denkformen nur dann Gültigkeit haben, wenn sie sich auf einen gegebenen Inhalt beziehen. Da einen solchen nur das Endliche bietet, kann von einer übersinnlichen, transzendenten Erkenntnis, von einer Metaphysik als Wissenschaft nicht die Rede sein. Hält man diese Beweisführung für richtig, so besteht die Philosophie nur noch in Erkenntnistheorie als Grundlage eines rationalen Empirismus. Die ganze innere Seite des Menschen, wie Recht, Moral, Religion, Kunst sind zwar Gegenstand der Wissenschaft, sofern sie als Tatsachen in Erscheinung treten und auf allgemeine Gesetze zurückgeführt werden können; ob ihnen aber eine geistige Substanz zugrunde liegt, oder ihren Postulaten eine objektive Realität außerhalb der Erscheinungen entspricht, ist wissenschaftlich nicht auszumachen und gehört deshalb in das Gebiet des Glaubens.

Diese scharfe Trennung von Glauben und Wissen erinnert unwillkürlich an die Scholastik, nur daß man dort den Schwerpunkt in den Glauben, hier in das Wissen, dort in das credo, ut intelligam [ich glaube, damit ich erkennen kann - wp] hier in das cogito, ergo sum [ich denke, also bin ich - wp] verlegte. Es kommt nun alles darauf an, was man unter diesen beiden Funktionen versteht und ob man imstande ist, genau die Grenze zu bestimmen, wo das Eine aufhört und das Andere anfängt. Wir haben zu beweisen versucht, daß es nicht bloß einen religiösen, sondern auch einen wissenschaftlichen Glauben gibt, daß alle objektive Wahrheit auf dieser Grundkraft beruth und daß man direkt dem Skeptizismus verfällt, wenn mann sie nicht absolut voraussetzt.

Glaube oder Unglaube, Dogmatismus oder Skeptizismus: das sind die zwei großen Kardinalfragen, um deren Beantwortung sich der lange und heftige Streit hauptsächlich dreht. Das beweisbare Erkennen muß von unbewiesenen Voraussetzungen ausgehen; insofern basiert alles Wissen auf einem dunklen, unerforschlichen Grund, auf den Bedingungen unserer sinnlichen und geistigen Funktionen, deren Ursachen wir nicht erkennen. Unter diesen Umständen könnte es ja sein, daß unser ganzes Weltbild nur ein menschliches, d. h. allgemein subjektives, aber kein objektiv reales wäre, und folglich auf einer Jllusion beruhen würde, die erst mit dem letzten Atemzug des letzten Menschen verschwindet, so daß wir nicht einmal erfahren, ob wir uns in einer solchen Jllusion während der ganzen Dauer unseres Erdenlebens befunden haben oder nicht. Millionen Tatsachen, die sich in derselben konstanten Weise wiederholen und zum Schluß auf ein allgemeines Gesetz berechtigen, können gegen diese Möglichkeit nicht aufkommen. Jener Schluß ist eine Denkfunktion und die Richtigkeit dieser Funktion kann im letzten Grund durch keine Tatsache bestätigt, sondern nur unbedingt vorausgesetzt, d. h. geglaubt werden. Wollte jemand diese Richtigkeit im obigen Sinn bezweifeln, so wäre ihm nichts entgegenzusetzen. Jeder Beweis würde nur zu einem circulus vitiosus [Teufelskreis - wp] führen. Freilich wäre auch der Skeptiker nicht imstande, seinen Zweifel zu begründen, und deshalb ist dieser Zweifel selbst nichts anderes, als ein negativer Glaube, der sich seinem Ursprung nach vom positiven in nichts unterscheidet. So liegt der Glaube dem Wissen wie dem Zweifel, dem Dogmatismus wie dem Skeptizismus zugrunde; er ist der letzte Punkt, auf den wir zurückkommen und von dem wir ausgehen müssen.

Wie verhält sich die Philosophie dieser Tatsache gegenüber? Will sie bloß eine empirische Wissenschaft sein, so bleibt sie auf halbem Weg stehen; denn sie müßte von gegebenen Tatsachen ausgehen, wie alle anderen empirischen Wissenschaften und daraus ihre Schlüsse ziehen. Aber diesen Tatsachen liegt der Glaube zugrunde, der selbst keine Tatsache, sondern ein Zustand des Gemütes ist, der ununterbrochen hervorgebracht werden muß und selbst dann noch positiv oder negativ sein kann. Sogar die Richtigkeit des Wahrnehmens und Denkens ist für sie keine einfache Tatsache, die sie schlechthin voraussetzen darf, sondern das erste und wichtigste Objekt ihrer Untersuchung. Wie weit reicht unser Denken? Wodurch unterscheidet es sich von der sinnlichen Wahrnehmung und den übrigen Kräften des Bewußtseins? Spiegelt sich in unserer Sinnlichkeit die Natur genau so, wie sie ansich ist? Von der Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen hängt es ab, ob es für sie noch ein anderes Objekt, ein absolutes Sein gibt oder nicht. Wenn nun das Erkennen, der Ausgangspunkt, und ein letzter Grund, der Zielpunkt in Frage stehen, so kann man nicht sagen, daß die Philosophie von gegebenen Tatsachen ausgeht, eher wird man behaupten dürfen, daß sie ihren Inhalt sozusagen erst schaffen muß.

Doch angenommen, sie geht von gegebenen Tatsachen aus, so kommen für sie in erster Linie die geistigen Gebiete, wie Recht, Moral, Religion usw. in Betracht. Hier nun erhebt sich die bereits erwähnte schwierige Frage: ob sich die Philosophie diesen Funktionen gegenüber bloß theoretisch oder zugleich praktisch verhalten, ob sie dieselben nur für Untersuchungsobjekt oder für Erkenntnisorgane halten soll. Im ersteren Fall kann sie nur Tatsachen konstatieren, z. B. daß es eine Religion und eine Moral gibt, die auf ein göttliches Wesen und eine sittliche Weltordnung hinweisen, wobei es aber ganz dahingestellt bleibt, ob diesen subjektiven Bedürfnissen eine objektive Realität entspricht oder nicht. Ist diese Alternative mit wissenschaftlichen Gründen nicht zu entscheiden, so hat man nur das Vorhandensein von Religion und Moral und die verschiedenen Arten ihrer Funktionen festgestellt. Genau so verhält sich der Physiker und Historiker den natürlichen und geschichtlichen Tatsachen gegenüber und darum bezeichnet man diese Wissenschaften mit dem allgemeinen Ausdruck: "empirisch". Will die Philosophie, um Wissenschaft zu sein, diesen Charakter bewahren, so verzichtet sie auf den Anspruch eine Weltanschauung und transzendentale Überzeugung zu gewähren. Denn die Konsequenz verlangt, daß sie auch die Denkfunktion bloß analysiert, aber nichts darüber bestimmt, ob sie über die empirisch erkanntern Tatsachen hinausreichen. Das Streben nach Erkenntnis eines absoluten Prinzips ist nicht mehr ihre Aufgabe, sie muß jede Art von Transzendentalismus von sich weisen; sie ist weder materialistisch noch spiritualistisch, sondern einfach skeptisch. Der negative Glaube ist ihr Anfang und Ende. Zwischen beiden stehen die Tatsachen, diese kann sie weder begründen noch etwas daraus folgern.

Dieses Sammeln und ordnen von Tatsachen mag sehr wissenschaftlich und verdienstlich sein, aber praktische Bedeutung kommt ihm nicht zu. Was liegt am Ende daran zu wissen, daß es eine Religion und Moral gibt, wenn ich mich von deren höherer Wahrheit nicht überzeugen kann? Die erhabenste Begeisterung und der blödsinnigste Aberglaube, die größte Selbstverleugnung und das abscheulichste Verbrechen sind eben bloß Tatsachen, die gewisse Anlagen vorausetzen und bestimmte Folgen haben. Ob aber diese Vorgänge ein Produkt der Freiheit oder Notwendigkeit sind; ob ihnen eine geistige oder materielle Ursache zugrunde liegt; ob ihnen eine Bedeutung über dieses Leben hinaus zukommt, oder ob sie auf dieses und die Dauer der Menschheit beschränkt bleiben; ob überhaupt das Gute und Vernünftige der Urgrund und Endzweck des ganzen Weltprozesses ist: von all dem ist uns nichts bekannt. Wir wissen nur um die Funktionen und die Art und Weise, wie sie sich offenbaren. Alles übrige ist und bleibt ein unauflösliches Rätsel.

Die Philosophie ist wirklich in einer verzweifelten Lage. Ihrer Bestimmung nach ist sie auf die Lösung der höchsten Probleme angewiesen und am Ende eines 3500-jährigen Prozesses kommt sie schließlich zu der Einsicht, daß dies ihre Aufgabe gar nicht ist, daß es eine Philosophie als Wissenschaft bis jetzt noch gar nicht gegeben hat. Wenn aber in diesem langen Zeitraum ihre Natur und Beschaffenheit noch nicht zum Ausdruck gekommen ist, wenn die größten Geister bei der größten Anstrengung und den verschiedensten Versuchen in Bezug auf den Standpunkt, Richtung und Methode nicht einmal den Anfang zur Philosophie gemacht haben, dann steht wenig Hoffnung in Aussicht, das neuvorgesteckte Ziel, die Philosophie zur Wissenschaft zu erheben, jemals zu erreichen. Lieber nehmen wir vorläufig an, daß die Aufgabe, welche man ihr jetzt stellt, ebensogut ein Irrtum ist, wie es früher ein Irrtum war, wenn man sie als Wissenschaft des Absoluten oder als absolute Wissenschaft definierte. Der gemeinsame Irrtum besteht aber darin, daß alles in das Prokrustesbett des Intellekts gezwängt, alles apodiktisch [unwiderlegbar - wp] bewiesen und erklärt werden soll, wenn es auf Wahrheit und Gewißheit Anspruch erheben will. Der "zureichende Grund" ist ein logisches Gesetz und wo dieses nicht mehr hinreicht, hört das apodiktische Wissen auf. Wo ist aber beispielsweise der zureichende Grund für die Freiheit des Willens oder für die Existenz Gottes? Sind etwa beide deshalb nicht wahr, weil sie sich nicht beweisen lassen? Könnten nicht das sittliche und religiöse Gefühl die Bürgschaft für die objektive Wahrheit und Richtigkeit dieser Funktionen in sich enthalten? Worauf beruth letztenendes das Kriterium für eine logische Wahrheit? Offenbar einzig und allein in der Notwendigkeit des Denkens. Diese Notwendigkeit ist aber doch nur eine von den spezifisch verschiedenen Funktionen des Bewußtseins. Wenn nun das sittliche und religiöse Gefühl mit derselben unwiderstehlichen Macht sich uns aufdrängt, wenn wir dem Gefühl der Reue oder des Beifalls, der Ehre oder Schande schlechterdings nicht entrinnen können: wodurch unterscheidet sich dann die eine Notwendigkeit von der anderen? Ist die moralische Notwendigkeit weniger wahr, als die logische? Muß ihr diese erst den Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit verleihen? Wenn das nicht möglich ist, so muß die moralische Notwendigkeit eine autonome, selbständige, ansich wahre und richtige Funktion sein, die ihre Evidenz und Gewißheit in sich selbst trägt. Nun sind allerdings Vorstellungen und Begriffe zu einem moralischen Urteil notwendig; allein diese Begriffe setzen den Inhalt voraus und bilden bloß dessen Form. Auf solche Begriffe stützen sich alle Beweise und Erklärungen; da sie aber die unmittelbare Tatsache des sittlichen Gefühls und dessen Betätigungen voraussetzen müssen, so ist die Funktion des Intellekts etwas Sekundäres; sie dringt nur bis zur Erkenntnis der Tatsache und deren Offenbarungsweise vor, und somit besteht der wahrhaft zureichende d. h. letzte erkennbare Grund nicht in einem logischen, sondern in einem sittlichen Vermögen. Ebenso verhält es sich auf allen anderen Gebieten, wie Recht, Religion, Kunst usw.

Was heißt demnach: die Philosophie als Wissenschaft kann nur theoretisch sein? Es heißt: nur was der Verstand begreifen und erklären kann, fällt in ihr Gebiet, nämlich die Feststellung der Tatsachen und Gesetze, worauf sie beruhen. Tatsachen sind aber nur Resultate, die gewisse Funktionen und Kräfte voraussetzen. Diese Kräfte sind die Ursachen jener Resultate, folglich muß die Philosophie auf diese zurückgehen und sie ihren Begriffen zugrunde legen, sonst gebricht es ihn an jeglichem Inhalt. Ist dieser Inhalt das Produkt der Tätigkeit jener unmittelbaren sittlichen und religiösen Kräfte, so geht die Praxis im eigentlichen und wahren Sinn der Theorie voraus, schafft ihr den Inhalt, ist ihre absolute Voraussetzung. Hieraus ergibt sich klar, daß Religion, Moral usw. nicht bloß Objekte, sondern konstitutive Momente, lebendige Faktoren der Philosophie sind, aus welchen allein eine transzendentale Überzeugung hervorgehen kann.

Das verführerische Beispiel der Naturwissenschaft hat den richtigen Gesichtspunkt für die Philosophie verrückt. Dem Physiker steht die Natur als äußeres Objekt gegenüber; diese hat ihre eigene vom Forscher unabhängige Existenz und folgt anderen Gesetzen. Wäre die Natur in ihm oder er in ihr, wären beide identisch, so könnte er die Beobachtungen und Experimente an sich selbst machen, er könnte ihr nicht mehr bloß empirisch gegenüberstehen, sondern würde ihre schöpferische Tätigkeit in sich selbst wahrnehmen; ja er müßte diese Tätigkeit sich erst vollziehen lassen, um sie beobachten zu können. In dieser Lage ist nun der Philosoph und zwar in zweifacher Hinsicht. Außer uns gibt es keine Religion oder Moral. Den Inhalt dieser Gebiete, sowie auch die Form, in welcher sie erscheinen, muß er erst aus sich selbst erzeugen und somit ist die Philosophie mehr eine lebendige Schöpfung, als nur eine objektive Betrachtung. Indem wir uns erforscher wolen, müssen wir uns zugleich hervorbringen. Wir sagen damit nicht, daß die Philosophie um der Praxis willen da ist, obwohl auch dies sich verteidigen ließe, sondern wir behaupten, sie muß praktisch sein, um theoretisch werden zu können. Die unmittelbare Tätigkeit der sinnlichen und geistigen Kräfte ist das erste, von dem man ausgehen muß; es sind die Quellen, aus welchen wir Inhalt und Gewißheit schöpfen. Vom Denkvermögen entlehnen wir nur die logischen Formen, die ansich leer sind und eben deshalb keine Überzeugung bewirken. Den Ursprung dieser Quellen zu verfolgen gelingt uns ebensowenig, wie es dem Naturforscher gelingt, die elementaren Stoffe und Kräfte abzuleiten. Er kann diese Kräfte nur beobachten, die Art und Weise ihrer Äußerungen beschreiben, das gemeinsame Merkmal gleichartiger Erscheinungen in Begriffen festhalten und dieselben miteinander verbinden. Diese logische Tätigkeit setzt aber die physische voraus, sie ist nur eine ideale Wiederholung, aber nicht das Wesen oder reale Sein und Wirken der Sache selbst. In derselben Weise verfährt auch die Philosophie. Als Wissenschaft kann sie nur beobachten und beschreiben, wie sich die Kräfte des Bewußtseins offenbaren. Das Wissen bringt nichts hervor, als sich selbst, und sogar dieses setzt eine Kraft voraus, die nicht von uns abhängt, die wir nur betätigen können nach bestimmten Gesetzen, denen wir unterworfen sind. Weder die Kraft noch die Form, in welcher sie sich kundgibt, ist unsere Tat. Wir finden beides in uns vor, sind nur das Produkt eines unbekannten Faktors, der sich in den spezifischen Formen, sittlichen, religiösen, logischen usw. äußert. Von einem begreifen, erklären, ableiten dieses unbekannten Faktors kann keine Rede sein. Kommt dessen Natur in den genannten Funktionen nicht zum Vorschein, so ist alle Bemühung, dahinter zu kommen, verloren. Daß sie aber darin zum Ausdruck kommt, daß diesen Wirkungen eine adäquate Ursache entspricht, kann eben nicht bewiesen, sondern nur geglaubt werden. Glauben heißt in diesem Fall: unmittelbar überzeugt sein von der Richtigkeit dieser Funktionen; und richtig sind sie, wenn die Beschaffenheit der Wirkung irgendeine Ähnlichkeit hat mit der Beschaffenheit der Ursache. Ist dies nicht der Fall, so haben Logik, Moral oder Religion keine Bedeutung über das Bewußtsein hinaus; es sind subjektive Zustände, aus welchen absolut nichts folgt, nicht einmal der Solipsismus und Jllusionismus, weil beide, wenn sie wahr sein sollen, auf einem Schluß beruhen, der über das Bewußtsein hinausreichen müßte, um die Heterogenität zwischen objektivem Sein und subjektivem Denken zu erkennen.

Ein unmittelbares Bewußtsein sittlicher und religiöser Art kann nicht erst durch eine Verbindung mit der Logik transzendental werden. Der Schluß von diesen subjektiven Gefühlen auf eine ihr zugrunde liegende adäquate Ursache ist zwar berechtigt und sogar notwendig, aber die bindende Kraft des Schlusses liegt nicht in der logischen Form, sondern im betreffenden Gefühl. Dieses muß durch sich selbst evident und überzeugend, d. h. selbst gewiß sein. Von der Logik und ihren letzten Elementen gilt dasselbe. Was wir Denknotwendigkeit nennen, ist nichts anderes, als selbsteinleuchtende Gewißheit.

Sind die sittlichen, religiösen und überhaupt alle Gefühle unmittelbar, so kommt es nur auf den Grad der Intensität dieser Gefühe an, um mit dem Bewußtsein zugleich die Gewißheit von der Existenz dessen, was gefühlt wird, zu verbinden. Diese Auffassung ist von großer Tragweite. Sie zeigt wie man vom Dasein Gottes oder der Freiheit des Willens überzeugt sein kann ohne Beweis, ja sie zeigt sogar, warum solche Beweise überflüssig oder unmöglich sind. Was gewinnt man durch einen Schluß von der Wirkung auf die Ursache in der Absicht, die subjektive Empfindung durch eine objektive Realität zu ergänzen und wissenschaftlich zu begründen? Man legt diese ursprünglichen Kräfte bloß in zwei Momente auseinander. Wären nun die beiden real und total voneinander verschieden, so könnte das Denken die Ursache nie erreichen; sind sie aber dem Wesen nach identisch (Einheit des Bewußtseins) und nur in der Funktion verschieden, so dient die logische Operation, die sich in Urteilen, Begriffen und Schlüssen offenbart, bloß zur Verdeutlichung und begrifflichen Formulierung des Inhalts. Im ersteren Fall stelle ich die von der Wirkung verschiedenen Ursachen bloß vor, bin aber absolut nicht imstande, zu sagen, weshalb die Ursache verschieden sein soll. Denn es steht mit kein Mittel zu Gebote, diese Andersartigkeit einzusehen. Ich muß schlechthin von der Beschaffenheit der Wirkung ausgehen und mir dieser gemäß die Beschaffenheit der Ursache vorstellen. Daß zwischen Ähnlichkeit und Gleichheit noch unterschieden werden muß, ist selbstverständlich. Hier handelt es sich zunächst nur um den Ausgangspunkt, und da müssen wir darauf bestehen, daß er in der Moral, Kunst, Religion ebenso absolut ist, wie in der Logik. Wir kommen ebensowenig hinter das sittliche und religiöse Gefühl zurück, wie hinter das Denken. Dieses unmittelbare Bewußtsein in den verschiedenen Funktionen kann füglich das anapodiktische [logisch nicht beweisbar - wp] Wissen nennen. Nur wenn man von diesem ausgeht, gewinnt die Philosophie wieder eine sichere und breitere Grundlage füür eine transzendentale Überzeugung. Es war von jeher verkehrt, dem Intellekt allein aufzubürden, was nur die unmittelbaren Kräfte des Bewußtseins zu leisten vermögen. Diese einseitige Überschätzung des logischen Faktors, des beweisbaren, apodiktischen, sekundären Wissens brachte die Philosophie um allen Inhalt und hatte die rationalistische Metaphysik und den Skeptizismus zur Folge. Um nur der neueren Zeit zu gedenken, hat gleich zu Anfang derselben schon CARTESIUS den Fehler begangen, das cogitare zum Ausgangspunkt zu nehmen und die clara et distincta perceptio [klare und deutliche Wahrnehmung - wp] zum ausschließlichen Kriterium der Wahrheit zu machen. Diesen verhängnisvollen Irrtum haben seine Nachfolger, insbesondere LEIBNIZ fortgesetzt, indem er das percipere für die Grundfunktion der Monaden und den ganzen Weltprozeß für eine logische Funktion erklärte. So ging es trotz einiger Abweichungen im Großen und Ganzen weiter, bis diese einseitige Richtung in HEGELs Panlogismus ihren Abschluß fand. Eine Reihe anderer Irrtümer ließe sich leicht aus der Verkennung und Mißachtung des apodiktischen Wissens erklären. So in der Erkenntnistheorie die scharfe Trennung von Subjekt und Objekt, Denken und Sein, wodurch zwischen beiden eine Kluft entstand, die durch kein Mittel überbrückt werden konnte; in der Metaphysik das Streben eine "adäquate Idee" vom Absoluten sich bilden oder die Existenz Gottes "ontologisch" aus dem bloßen Denken beweisesn, oder irgendeine persönliche Eigenschaft: Vernunft, Phantasie, Willen zum alleinigen Prinzip der Welt erheben zu wollen. Keine einzelne Kraft ist imstande, die schwere Last eines ganzen Systems zu tragen. Eine volle lebendige Überzeugung kann nur das Ergebnis des Zusammenwirkens sämtlicher Gemütskräfte sein. An der Einseitigkeit scheiterte noch jede Philosophie, ob sie sich materialistisch, rationalistisch, sensualistisch, mystisch oder wie auch immer nennen mochte. War der einseitige Intellektualismus fast zu allen Zeiten, mit Ausnahme des Mittelalters, und auch da noch zum großen Teil, ein Hauptfehler der Philosophie, so gesellt sich in neuerer Zeit, verführt und verwirrt durch die Übermacht der Naturwissenschaft, noch ein neuer hinzu, nämlich der Empirismus. Dieser ist auf seinem Gebiet vollständig berechtigt, kann aber vermöge seines eigentümlichen, von uns ganz verschiedenen Objekts durchaus kein Vorbild für die Philosophie sein. Man wird doch mit sinnlichen Beobachtungen und materiellen Experimenten das geistige Leben nicht erklären wollen! Doch liegt in diesem Empirismus bei weitem nicht die Gefahr, wie in einem logischen Faktor. Da er eine der Grundbedingungen allen Wissens ist und selbst Religion und Moral ohne Vorstellungen und Begriffe nicht möglich sind, so liegt immer die Versuchung nahe, Inhalt und Form miteinander zu verwechseln oder zu identifizieren. Man vergißt, daß wir uns durch Urteile und Begriffe den Inhalt bloß vorstellen, daß das Wissen nicht die Bedingung des Seins ist bzw. dasselbe erst hervorbringt, daß es existieren muß, ehe die Reflexion hinzukommt und auch existieren würde, wenn es gar keine Wissenschaft gäbe. Deshalb ist es nicht gestattet, Form und Inhalt, Denken und Sein zu identifizieren. Selbst in der Wahrheit, wo beide sich decken und übereinstimmen müssen, sind sie ihrem Wesen nach nicht identisch, sondern es bleibt, was es ansich ist. Logik wird nie Ethik, Verstand nie Wille, obgleich sie aus ein und derselben Grundquelle stammen. Folglich kann das sein durch das Denken nicht verändert werden; wäre dies möglich, so gäbe es überhaupt keine Wahrheit. Um aber diese Veränderung einzusehen, müten wir das Ding-ansich, d. h. das Unvorgestellte mit dem Vorgestellten vergleichen können. Da dies unmöglich ist, so kann von einem Ding-ansich nur sehr bedingter Weise die Rede sein.

Sowohl in der Identifizierung wie in der Trennung von Denken und Sein liegt eine Gefahr für den Intellektualismus. Das eine führte zur aprioristischen Konstruktion der alten Metaphysik, welche die Philosophie so sehr in Mißkredit brachte. Man nahm die Form für den Inhalt; die Logik ersetzte die Physik, Ethik und Religion. Aus dem andern ging der subjektive Idealismus und Skeptizismus hervor. Und wenn noch gegenwärtig die Philosophie bloß theoretisch oder empirisch sein will, verfällt sie denselben Irrtümern. Denn sie bewegt sich dann nur in Begriffen und Abstraktionen ohne lebendigen Inhalt; oder sie hat einen Inhalt, kann ihn aber weder begründen noch für eine höhere Überzeugung verwerten. Um diese Übelstände zu beseitigen, wird man sich endlich daran gewöhnen müssen, den Menschen nicht bloß für ein intellektuelles, logisches Wesen zu halten, sondern auch die anderen Gemütskräfte für gleichwertig zu erachten. Eine Wissenschaft, die nicht überzeugen kann, enthält auch keine Wahrheit. Deshalb muß jede Philosophie, die nur zum Skeptizismus führt, im Prinzip falsch sein. Ist doch eine größere Absurdität nicht denkbar, als daß eine Wissenschaft in dem Resultat gipfelt, daß man nichts wissen kann. Mit dieser Bankrotterklärung gesteht sie selbst ein, daß sie gar keine Wissenschaft ist. Dieser unnatürliche, trostlose Zustand wird so lange dauern, als es der Philosophie an Inhalt gebricht und sie sich nicht dazu entschließen kann, den einseitigen Intellektualismus und logischen Formalismus aufzugeben und im Guten Sinn realistisch zu werden. Die Philosophie kann keinen höheren Zweck haben, als das geistige Leben, wie es ist und sein soll, auf eine theoretische Form zu bringen, und da diese Seite des Daseins mit der materiellen Welt so innig zusammenhängt, die erkannten Resultate beider auf ein absolutes Prinzip zurückzuführen. Daß die Philosophie seit langer Zeit diese Aufgabe nicht erfüllt, geht schon aus der allgemeinen Verachtung hervor, mit welcher sie von der wissenschaftlichen und gebildeten Welt behandelt wird. Alle anderen Wissenschaften haben ihren Inhalt und die Menschheit hat ihre transzendentale Überzeugung. Nur die Philosophie hat keines von beidem; sie weiß nichts und glaubt nichts; sie spielt bloß mit leeren logischen Formen oder sammelt Tatsachen, hat aber, um ja recht gründlich und wissenschaftlich zu bleiben, nicht den Mut, etwas daraus zu folgern. Darum kümmert sich auch niemand um diese der Mathematik und Naturwissenschaft abgeborgte Evidenz und Exaktheit. Wer noch das Bedürfnis nach einer transzendentalen Überzeugung fühlt, muß es in der Bibel oder Kirche zu befriedigen suchen, obschon beide an denselben Übeln, Empirismus oder Formalismus leiden. Denn der krasse Buchstabenglaube ist ebenso empirisch, wie der starre Dogmenglaube bloß intellektualistisch. In jeder Orthodoxie kommt es nicht sowohl auf das religiöse Gefühl ansich, als vielmehr auf das Gefühl in dieser bestimmten dogmatischen Form an. Also ist die Form, das logische Element, das Maßgebende, nicht das religiöse. Wenn nun diese Form für das fortgeschrittene Bewußtsein nicht mehr ausreicht, wer soll dann den Ausgleich bewirken, um Religion und Wissenschaft in Einklang zu bringen? Der Orthodoxe doch wohl nicht, er müßte ja sich selbst aufgeben; der Empiriker als Natur- oder Geschichtsforscher ebenfalls nicht; denn der eine hat es nur mit den äußeren materiellen, der andere mit geschehenen Tatsachen und Ereignissen zu tun. Folglich kann nur der Philosoph dieses Vermittleramt übernehmen. Dann aber darf er nicht kalt und teilnahmslos dieser weltbeherrschenden Macht gegenüberstehen. Sammlung von Tatsachen und Erforschung der Gesetze ist selbstverständlich notwendig zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis. Allein durch diese Tätigkeit erfahren wir doch nur, daß und wie etwas ist, nicht aber wie es sein soll. In den empirischen Wissenschaften genügt die Erkenntnis der Tatsachen und ihrer Gesetze, weil sich an der Natur und Geschichte nichts ändern läßt. Dagegen ist es unsere Aufgabe, das Leben nach einem Ideal zu gestalten. Müssen wir auf geistigem Gebiet den Inhalt erst hervorbringen, so ist die Schöpfung eines solchen Ideals der Zweck, und die Kenntnis der Vergangenheit nur ein Mittel. Daraus ergibt sich klar, daß die Philosophie nicht bloß historisch, sondern zugleich produktiv sein soll. Wie kann aber jemand produktiv sein, wenn die ursprünglichen Kräfte in ihm nicht lebendig und wirksam sind, wenn er an deren transzendentale Macht und Wahrheit nicht glaubt? Eine ungläubige, skeptische Philosophie wird deshalb stets auch unproduktiv sein. Die echte dagegen kann ihre Existenz und Berechtigung nur dadurch behaupten, daß sie sich selbst erzeugt und als fruchtbar erweist.

In dieser Einleitung haben wir einige Hauptgedanken der folgenden Abhandlung vorweggenommen und übersichtlich zusammengefaßt, um den Leser über den Standpunkt und das Ziel, welches dem Verfasser vorschwebt, einigermaßen zu orientieren. Beide Momente finden ihren allgemeinen Ausdruck in GOETHEs trefflichen Worten, die wir vorhin erwähnten und noch durch folgende ergänzen wollen:
    "Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt auch immer, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube, in welcher Form auch immer, einen kümmerlichen Sieg behauptet, und wenn sie auch einen Augenblick mit einem Scheinglanz prahlen sollten, verschwinden vor der Nachwelt, weil sie niemand gern mit der Erkenntnis des Unfruchtbaren abquälen mag."

LITERATUR - Gideon Spicker, Die Ursachen des Verfalls der Philosophie in alter und neuer Zeit, Leipzig 1892
    Anmerkungen
    1) EDUARD ZELLER, Philosophie der Griechen III, Seite 2, 43, 63, 77, 864
    2) GOETHE, West-östlicher Divan, Noten und Abhandlungen (Israel in der Wüste).