p-4W. WundtF. HillebrandK. LamprechtK. MarbeJ. Eisenmeier    
 
OSWALD KÜLPE
Psychologie und Medizin
[2/4]

"Eine solche Formel aber, als eine Methode gewissermaßen, kann nichts darüber bestimmen, was im einzelnen als Untervorstellung hervortritt. Sie hat dann nur eine formale oder ordnende Bedeutung für sie, sie reproduziert sie aber nicht. Ein Vorstellungszusammenhang besteht dann überhaupt nicht zwischen ihr und den ihr zugeordneten Untervorstellungen. Es läßt sich somit von dieser Bestimmung aus das Auftreten der α₁, α₂ ... nicht hinreichend erklären."

"Sobald man sich überlegt, daß so verschiedene Vorgänge wie das Bemerken, das Aufmerken, das Beachten, das Hervorheben, das Betonen, Apperzipieren, das Interessiertsein, das Konzentriert- oder Eingeengtsein, sämtlich mit dem einen Namen Aufmerksamkeit bezeichnet werden, daß sie als Ausdruck für einen besonderen Akt, ebenso wie für einen Zustand, für eine Fähigkeit oder Disposition und für eine Inhaltsbeschaffenheit (Klarheit) benutzt wird, so wird man sich mit so wenigen Bemerkungen über das in einem speziellen Fall Gemeinte nicht begnügen dürfen."


II. Zur psychologischen Analyse
und Erklärung

Methoden und Ergebnisse sind in der Wissenschaft nur in abstracto voneinander trennbar. Die Güte der ersteren verbürgt die Zuverlässigkeit der letzteren. Fehlerhafte Methoden werfen auch ein schlechtes Licht auf die durch sie erhaltenen Resultate. Andererseits richten sich die Methoden nach den Zwecken, die man mit ihrer Anwendung erreichen will. Für die Untersuchung der Empfindungen braucht man andere, als für die der Vorstellungen und Gefühle. Wir werden daher in diesem Abschnitt so wenig das methodologische, wie im Vorigen das sachliche Interesse, aus dem Auge verlieren können. Es wird sich nur der Schwerpunkt der Betrachtung etwas verschieben. Die Aufgaben und Ziele der pathopsychologischen Forschung, die Tatsachen und ihre Erklärung werden in den Vordergrund rücken und zur Hauptsache werden, während die Mittel und Wege, die zur Erkenntnis eingeschlagen und angewandt werden, eine untergeordnete Bedeutung fr unsere Erörterungen erhalten sollen.

Zweifellos dient die Pathopsychologie als Psychologie der pathologischen Erscheinungen der psychologischen Wissenschaft, insofern sie eine Fülle von Tatsachen aufdeckt und erforscht, die uns im normalen Seelenleben nicht begegnen, und damit zu einer Revision der auf dieses aufgebauten psychologischen Grundbegriffe und Theorien Veranlassung gibt (13). Die Farbentheorien haben bekanntlich eine wichtige Unterstützung durch die Erscheinungen der Farbenblindheit erhalten, die Psychophysik des Gedächtnisses hat ihre bestimmtere Gestalt erst durch die Berücksichtigung der Sprachstörungen annehmen können, und die Gefühlsanomalien beginnen eine entscheidende Rolle für die Psychologie der Gefühle zu spielen. Aber man darf dabei nicht übersehen, daß alle diese Abweichungen von der psychischen Verfassung eines geistig gesunden Subjekts selbst zunächst einmal einwandfrei festgestellt und analysiert werden müssen. Die reine Tatsächlichkeit ihrer Erscheinung ist nicht ohne weiteres erkennbar. Es handelt sich hier um die Psychologie des fremden Seelenlebens, und diese hat überall dort mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen, wo wir die Zustände des andern nicht unmittelbar nacherleben, durch äußeres oder inneres Experiment nicht in uns selbst hervorrufen können. Die Unvollkommenheiten der Kinderpsychologie, der Tierpsychologie, der Psychologie der Naturvölker beruhen wesentlich auf diesem Umstand. Dasselbe gilt für die tiefergehenden pathologischen Veränderungen der psychischen Inhalte und Funktionen.

Nur allzu leicht mischen sich in solchen Fällen in unsere Feststellungen und Analysen Züge hinein, die wir unwillkürlich hineintragen, die wir aus unserem Bewußtsein hinzu ergänzen. Ebenso machen sich bei den Erklärungen derartiger Tatbestände Annahmen geltend, die der Normalpsychologie entstammen und nicht ohne weiteres auf die so verschieden davon gearteten fremden Bewußtseinsformen angewandt werden dürfen. Dazu kommt der Mangel eines entsprechenden Ausdrucks als eine weitere Schwierigkeit hinzu. Ein Kranker, der sich nicht selbst unbefangen beobachten und über seinen Zustand eingehende und zuverlässige Mitteilungen machen kann, ist psychologisch fast nur aus seinen unwillkürlichen Äußerungen zu konstruieren und zu verstehen.

Wir wollen nun im Folgenden versuchen, an einigen ausgewählten Beispielen zu zeigen, daß eine psychologische Schulung mancherlei Lücken und Mängel in der Analyse und Erklärung pathopsychologischer Erscheinungen aufzufinden vermag und darum auch dem Psychiater nur von Nutzen sein kann. Wir vermeiden dabei auch hier die krassen Beispiele, zu denen etwa GRASHEYs Erklärung des Falles Voit gehört, und halten uns mit voller Absicht an besonders wertvolle und förderliche Untersuchungen.

Dem Denkpsychologen wird die Arbeit von HUGO LIEPMANN über die Ideenflucht von besonderem Interesse sein (14). Sie ist ein sehr beachtenswerter Versuch, über die Grenzen der Assoziationspsychologie hinauszukommen. Daß keine abnorme Geschwindigkeit in der Sukzession der Vorstellungen, ebensowenig ein abnormer Rededrang das Wesen der Ideenflucht ausmacht, wir hier überzeugend dargelegt. Die Idennflucht ist vielmehr, wie schon WERNICKE und KRAEPELIN in der Hauptsache angenommen hatten, ein ungeordnetes, der beharrlichen Zielvorstellungen entbehrendes Denken. Umd daher diese abnorme Erscheinung verstehen und erklären zu können, muß zunächst einmal die Konstitution des geordneten Denkens begriffen werden, und so versucht dann LIEPMANN im weiteren Verlauf seiner überaus anregenden Erörterungen, über dieses Problem eine größere Klarheit zu gewinnen. Wir heben daraus nur die wichtigsten Punkte hervor. Es gibt nach ihm einen Gedankenverlauf mit Richtung aber ohne Ziel, d. h. ohne Antizipation des zu denkenden Gegenstandes. Daß eine Vorstellungsbewegung gewollt ist, sagt uns noch nichts über das Gesetz ihrer Bewegung. Daß das geordnete Denken ein einfaches Spiel der Assoziationsgesetze ist, ist eine vollkommene Fabel. Charakteristisch ist vielmehr dafür das Gegebensein einer Gesamtvorstellung, die zerlegt wird und dadurch das Auftreten und die Reihenfolge einzelner Gedanken bestimmt. Eine solche Gesamtvorstellung wird auch Obervorstellung genannt, und deren Inhalt ist für die Verknüpfungen der gedanklichen Elemente maßgebend. Das geordnete Denken enthält ein ganzes System von Obervorstellungen verschiedener Wertigkeit, die die Regel der Verknüpfung einer ganzen Reihe einzelner Vorstellungen enthalten. Ob solche Obervorstellungen im Bewußtsein sind oder nicht, ist dabei gleichgültig. Indem die Herrschaft der Obervorstellungen ausgeschaltet wird und zufällige Beziehungen von Einzelvorstellung zu Einzelvorstellung den ganzen Verlauf bestimmen, entsteht das ungeordnete Denken, die Anarchie der Ideenflucht. Aus der Aufmerksamkeit versucht LIEPMANN die höhere Valenz der Obervorstellung zu erklären. Ihre Unbeständigkeit ist die Ursache der Ideenflucht.

Nach diesen Ausführungen fragt man sich unwillkürlich, worin den eigentlich die Beziehungen zwischen den Obervorstellungen untereinander und den Untervorstellungen bestehen. Wir können uns LIEPMANNs Auffassung des geordneten Denkens etwa durch folgendes Schema vergegenwärtigen:


Hier bedeuten α₁, α₂ ... die sich tatsächlich im Bewußtsein ablösender Einzelglieder eines Gedankenverlaufs, dessen Richtung durch den Pfeil angedeutet wird, α₁, α₂ ... sind untergeordnete Obervorstellungen, A₁, A₂ stehen eine Stufe höher und A ist die letzte und höchste Obervorstellung, welche die Regel der Verknüpfung für alle anderen in sich enthält. Als eine solche Formel aber, als eine Methode gewissermaßen, kann sie doch nichts darüber bestimmen, was im einzelnen als Untervorstellung hervortritt. Sie hat dann nur eine formale oder ordnende Bedeutung für sie, sie reproduziert sie aber nicht. Ein Vorstellungszusammenhang besteht dann überhaupt nicht zwischen ihr und den ihr zugeordneten Untervorstellungen. Es läßt sich somit von dieser Bestimmung aus das Auftreten der α₁, α₂ ... nicht hinreichend erklären.

Wesentlich verschieden davon ist die Behauptung, daß die A₁, A₂ usw. Gesamtvorstellungen sind, die im tatsächlichen Denken zerlegt werden. Hiernach können die Einzelvorstellungen in jener enthalten gedacht werden, so daß sie nur explizit hervortreten, wenn wir aktuell denken. Wie aber geht diese Zerlegung vor sich? Wenn sie automatisch erfolgen soll, könnte jedes beliebige Glied an jeder beliebigen Stelle auftreten. Es bedürfte dann noch eines ordnenden Prinzips für die Zerlegung, damit nicht trotz der Gesamtvorstellung eine Ideenflucht eintritt. Wir wollen davon absehen, daß die hier gemeinten Tatbestände durch den Ausdruck Vorstellung überhaupt keine glückliche Bezeichnung gefunden haben. Ich kann wohl die Gesamtvorstellung eines Hauses, Baumes, Akkords und dgl. haben, aber das Thema einer Rede, die Dispositionsglieder eines Vortrags sind keine Gesamtvorstellungen.

Nimmt man nun beide Angaben von LIEPMANN als einander wechselseitig bestimmende Momente, so scheint dadurch die Schwierigkeit geringer zu werden. Wir erhalten dann die Einzelvorstellung als Bestandteile der Gesamtvorstellung und in der Regel ihrer Verknüpfung ein Prinzip für die Sukzession dieser Bestandteile. Aber wie kann eine Gesamtvorstellung die Regel der Verknüpfung von Teilen für ihre eigene Zerlegung enthalten? Es sei z. B. die blühende Baum als eine Gesamtvorstellung gegeben. Aus ihr sollen nacheinander hervortreten: die Einzelvorstellungen des Stammes über dem Boden, der unteren Äste, der oberen Zweige und der blühenden Krone. Hier haben wir eine Gesamtvorstellung, die zerlegt wird. Hier haben wir sogar in einem Raumzusammenhang der einzelnen Teile eine Regel der Verknüpfung. Trotzdem wird niemand in diesem Fall von einem geordneten Denken sprechen. Was also in LIEPMANNs Erklärung fehlt, das ist die Berücksichtigung des Unterschieds zwischen Gedanken und Vorstellungen. Gewiß können letztere das geordnete Denken begleiten, aber eine bloße Folge von Vorstellungen ist auch mit obligaten Gesamtvorstellungen und Verknüpfungsgesetzen noch kein Denken. Erst wenn wir für die Einzelvorstellungen Einzelgedanken einsetzen, können die spezifisch gedanklichen Beziehungen der Über- und Unterordnung, der Begründung und Folge, der Identität und des Widerspruchs und anderes mehr zur Geltung kommen. Dann erhält auch die Regel der Verknüpfung und die Annahme eines determinierenden Grundgedankens ihren guten Sinn. Im Allgemeinen ist zugleich das Besondere nicht einfach enthalten und es bleibt darum auch ein gewisser Spielraum für die Erfüllung des Grundgedankens übrig. Außerdem aber fehlt eine genügende Berücksichtigung der Aktivität bei LIEPMANN. Die unter der Herrschaft einer materialistischen Metaphysik entstandene Formel "es denkt", die einen vom Gehirnmechanismus abhängigen Zufall im Kommen und Gehen von Bewußtseinsinhalten voraussetzt, entspricht, wie man nachgerade wieder einsieht, nicht den Tatsachen. Das planvolle Denken, in dem bestimmte Ziele gesetzt und erreicht werden, ist so offenkundig ein aktives Verhalten, daß es durch bloße Beziehungen zwischen den einzelnen Gliedern des Gedankenverlaufs nicht genügend charakterisiert wird. Auch der von LIEPMANN gegenbene Hinweis auf die Aufmerksamkeit und deren Beständigkeit und Unbeständigkeit reicht hierfür nicht aus.

Es ergibt sich zugleich aus diesen kritischen Bemerkungen, daß das von LIEPMANN angegebene konstitutive Merkmal des geordneten Denkens auch nicht als eine notwendige Bestimmung anerkannt werden kann. Wenn die gedanklichen Beziehungen für den Gedankenverlauf unentbehrlich sind, läßt sich dann nicht vielleicht auch ein gesetzmäßiger Zusammenhang erleben, ohne daß eine Obervorstellung nachweisbar wäre? Man kann sie freilich immer hineininterpretieren, indem man jedem besonderen Gedankenverlauf einen allgemeinen, ihn umfassenden Grundgedanken überordnet. Aber die Tatsache, daß ein solcher nicht immer vorausgeht, wird sich kaum bestreiten lassen. Es wäre in dieser Hinsicht lehrreich gewesen, solche Fälle zu analysieren, in denen neue Sinneseindrücke einen geordneten Gedankenverlauf einleiten. Hier würde sich wohl gezeigt haben, daß die Ober- oder Gesamtvorstellungen nicht absolut erforderlich sind, um ein geordnetes Denken möglich zu machen. Dagegen müßten die Ideenflüchtigen darauf untersucht werden, wie es mit den Gedanken bei ihnen bestellt ist. Vielleicht läßt sich bei solchen, die über ihren Zustand einige Angaben machen können, die etwa nachher über ihn zu berichten imstande sind, etwas Genaueres darüber erfahren, was sie sich bei den zusammenhangslosen Worten, die sie sprachen, eigentlich gedacht haben. Überhaupt dürfte es sich empfehlen, die einzelnen Fälle von Ideenflucht genauer als bisher zu analysieren. Sie lassen sich kaum auf die allgemeine Formel eines Zurücktretens von Obervorstellungen und einer Unbeständigkeit der Aufmerksamkeit zurückführen. KRAEPELIN unterscheidet eine innere und eine sprachliche Ideenflucht. Jene zeigt einen Mangel an innerem Zusammenhang, diese das Vorherrschen sprachlicher Beziehungen, z. b. Klangassoziationen. Aber diese Formen schließen sich logisch nicht aus. Eine sprachliche Ideenflucht ist natürlich zugleich eine innere, wenn nicht der Mangel eines Bedeutungsbewußtseins ausdrücklich festgestellt ist. Außerdem ist für die von uns geforderte genauere Analyse nicht sowohl die Auffindung einzelner Symptome, als vielmehr die Erkenntnis der wesentlichen Züge des Gesamtbildes von Wert.

Besondere Schwierigkeiten bereitet die Anwendung des LIEPMANNschen Kriteriums. Woran erkennt man das Vorhandensein oder den Mangel an Obervorstellungen? Da sie ganz unbewußt bleiben können, sind sie nur durch eine Interpretation gewisser Tatbestände als wirksam oder unwirksam zu bestimmen. Man läuft dabei immer Gefahr, einer Theorie zuliebe das in der Erfahrung Gegebene durch einen nicht gegebenen Faktor zu ergänzen. Außerdem wird die Theorie der Aufmerksamkeit es schwerlich gestatten, ein nicht im Bewußtsein Gegebenes zu ihrem Gegenstand zu machen. Kann ferner der Mangel einer Obervorstellung diagnostiziert werden, ohne daß man die Absicht des Redenden kennt? Vielleicht hat der Ideenflüchtige den besten Willen, sinnvolle Zusammenhänge zu stiften und auszudrücken, aber es gelingt ihm nicht seinen Willen zu realisieren. Dann würde es an einer Obervorstellung nicht fehlen und dennoch Ideenflucht bestehen. Wie wären schließlich Fälle zu interpretieren, in denen die Obervorstellung gerade darauf ausgerichtet ist, Gedanken bzw. Wörter sinnlos aneinanderzureihen? MESSER hat bei gewissen Reaktionen einen solche Aufgabe gestellt und bei geistig Gesunden konstatiert, daß sie sehr schwer zu erfüllen war. (15) Kommt es dann nicht auch auf den Inhalt der Obervorstellung an, die eine Reihe von Einzelvorstellungen aus sich hervorgehen läßt oder die Regel der Verknüpfung für sie enthält? Mit der unausweichlichen Bejahung dieser Frage aber sind wie wieder bei der Eigentümlichkeit der Gedanken angelangt, die wir bereits oben in den Vordergrund haben treten lassen.

Als ein großes Verdienst von LIEPMANN hat man anzuerkennen, daß er auf die Bedeutung der Aufgaben für unser Denken zu einer Zeit hingewiesen hat, wo die Psychologie der Aufgabe erst im Werden war. Das Selbstverständliche wird ja in der Regel erst spät in seiner besonderen Gestalt und Leistung gewürdigt. Jede experimentell-psychologische Untersuchung von FECHNER bis in das neue Jahrhundert hinein hatte Instruktionen gegeben oder als bekannt vorausgesetzt, den Versuchspersonen vor allem gesagt, was sie sollten, ob vergleichen oder auswendig lernen, ob reagieren oder assoziieren, ob direkt oder indirekt beobachten und dgl. mehr. Aber erst seit dem neuen Jahrhundert wurde man sich der grundlegenden und selbständigen Bedeutung dieser Aufgaben bewußt (16). Es ist nun sicherlich die "Obervorstellung" LIEPMANNs nichts anderes als eine unklare Bezeichnung für diese Tatsache. Damit gewinnt sie erst die Funktion, die sie befähigt als Regel oder Methode zu wirken, damit wird ihr eine determinierende Tendenz zugesprochen, deren Dauer und Kraft weit über die gewöhnlichen Reproduktionstendenzen hinausgeht. Von Aufgaben ist in der Tat unser Denken geleitet; der Titel einer Abhandlung, die Dispositionsglieder eines Vortrags üben in diesem Sinne den Einfluß aus, den LIEPMANN ihnen zuschreibt, die Ordnung in unserem Gedankenverlauf stammt vornehmlich aus dieser Quelle. Sie bilden unter sich eine Skala von allgemeineren und spezielleren Determinationen, sie lassen die Lehre vom assoziativen Spiel, der bloßen Konstellation der Reproduktionstendenzen als eine Fabel erscheinen, wenn sie angewandt werden soll, um das geordnete Denken zu erklären.

Von diesen Gesichtspunkten aus werden wir auch die von LIEPMANN für den Unterschied des geordneten und des ideenflüchtigen Denkens vorgeschlagene Erklärung, auf die schon in den bisherigen Erörterungen ein paar Streiflichter gefallen sind, zu würdigen haben. Das Verhalten der Aufmerksamkeit wird von ihm als die Ursache der eigentümlichen Wirksamkeit von Obervorstellungen angesehen. Der Name Aufmerksamkeit ist nun keineswegs der Träger eines exakten Begriffs in der Psychologie. Wenn LIEPMANN sie für eine nicht weiter zu beschreibende Bevorzugung gewisser Inhalte vor anderen erklärt, so ist damit zunächst schon deshalb keine eindeutige Bestimmung psychischer Tatbestände geboten, weil eine solche Bevorzugung auch in ganz anderer Form, wie das Bewerten oder das Wählen zeigt, vorkommen können. Sodann ist das nicht die übliche Definition dieses psychologischen Begriffs, in die man eine Verdeutlichung von Bewußtseinsinhalten, eine Klarheit des Bewußtseins vor allem aufzunehmen pflegt (17). Sobald man sich überlegt, daß so verschiedene Vorgänge wie das Bemerken, das Aufmerken, das Beachten, das Hervorheben, das Betonen, Apperzipieren, das Interessiertsein, das Konzentriert- oder Eingeengtsein, sämtlich mit dem einen Namen Aufmerksamkeit bezeichnet werden, daß sie als Ausdruck für einen besonderen Akt, ebenso wie für einen Zustand, für eine Fähigkeit oder Disposition und für eine Inhaltsbeschaffenheit (Klarheit) benutzt wird, so wird man sich mit so wenigen Bemerkungen über das in einem speziellen Fall Gemeinte nicht begnügen dürfen. Zur Obervorstellung soll nun nach LIEPMANN ein Inhalt dadurch werden, daß die Aufmerksamkeit ihn ergreift und festhält. Aber gerade dieses Festhalten einer Vorstellung kann nicht wohl. auch nach LIEPMANN nicht, als eine Leistung der Aufmerksamkeit betrachtet werden, denn ie kann ja auch unbeständig sein und soll in diesem Fall die Störungen des Denkens beim Ideenflüchtigen verständlich machen.

Wir sehen davon ab, daß ein von LIEPMANN zugestandenes Sinken der Obervorstellung unter die Schwelle des Bewußtseins sie nach allgemeiner Ansicht einer Bevorzugung durch die Aufmerksamkeit berauben muß. Aber wenn es nicht im Wesen der Aufmerksamkeit liegt, mit andauernder Konzentration einem Gegenstand treu zu bleiben, dann kann der Hinweis auf sie auch keine Erklärung für die eigentümliche Bedeutung von Obervorstellungen abgeben. Es ist vielmehr die Frage zu stellen, warum die Aufmerksamkeit, die auch dem Ideenflüchtigen nicht abgesprochen werden kann, in einem Fall beständig ist und im anderen nicht. Die Aufmerksamkeit wird eben hier, wie so oft, zu einem bloßen Typus der psychischen Aktivität überhaupt, weil man die große qualitative Mannigfaltigkeit der letzteren noch nicht erkannt hat. So konnte WUNDT den Willen und die Aufmerksamkeit zur Einheit der Apperzeption zusammenfassen, so wird auch sonst alle subjektive Stellungnahme zu Inhalten und Gegenständen des Bewußtseins schlechthin als Aufmerksamkeit gekennzeichnet. Die namentlich von STUMPF in Gang gebrachte Funktionspsychologie wird in dieser Richtung einen Wandel zu schaffen haben.

Wie wenig der Hinweis auf eine beständige Aufmerksamkeit den Tatbestand des geordneten Denkens zu erklären vermag,zeigt uns die Konsequenz, die sich aus dieser Theorie ergäbe. Das unverwandte Starren und Glarren auf einen Gegenstand macht diesen noch nicht zu einer Regel der Verknüpfung für ein geordnetes Denken, und man wird das Ideal desselben auch nicht in der unausgesetzten Beschäftigung eines Paranoiers mit seiner fixen Idee erblicken können. Es ist nicht einzusehen, wie die Aufmerksamkeit es zustande bringen soll, einen beliebigen Inhalt zur Obervorstellung zu machen, wenn er nicht bereits durch seine gedankliche Natur eine Eignung dafür aufweist. Die Aufmerksamkeit selbst aber ist in ihrer Beständigkeit und Unbeständigkeit keine spontane Leiterin ihres Verhaltens, sondern steht selbst im Dienst von Aufgaben, determinierenden Gesichtspunkten. Wir müssen etwas annehmen, was die Aufmerksamkeit dirigiert und fixiert, und dessen Mangel sie jedem beliebigen andrändgenden Inhalt preisgibt. Auf dieses Etwas würde es ankommen, wenn man Ablenkbarkeit und Konzentrationsfähigkeit erklären will. In LIEPMANNs Terminologie müßte man das so ausdrücken, daß man die Aufmerksamkeit unter die Herrschaft von Obervorstellungen bringt. Dann würde sich gerade die umgekehrte Theorie empfehlen. Obervorstellungen entstehen nicht durch eine auf einen beliebigen Inhalt gerichtete Aufmerksamkeit, sondern die Richtung und die Konstanz der Aufmerksamkeit sind von einer sie leitenden Obervorstellung abhängig. Auch hier wieder ist es die Bedeutung der Aufgaben, der für alle Funktionen und Verhaltensweisen eines psychophysischen Subjekts bestehende Einfluß von determinierenden Gesichtspunkten, der uns allein zu einem richtigen Verständnis der vorliegenden Tatbestände hinzuleiten vermag. Eine wählende, einzelne Inhalte bevorzugende Tendenz würde hiernach der Aufmerksamkeit als solcher nicht zugesprochen werden können.

Wenn endlich LIEPMANN anzunehmen scheint, daß die Bedeutung der Sinneseindrücke und der Reproduktionsvorgänge ansich dieselbe ist, beim Gesunden wie beim Ideenflüchtigen, aber nicht zur Geltung kommt, weil die Aufmerksamkeit sich ihnen nicht zuwendet, so wird man auch dieser Annahme nicht völlig zustimmen können. Die Sinneseindrücke spielen für die Aufmerksamkeit eine individuell sehr verschiedene Rolle. Ich habe einen hervorragenden Physiologen gekannt, dessen sonst sehr geordneter Vortrag durch ein gleichzeitiges Experimentieren oder Demonstrieren auffallend desorganisiert wurde, während andere durch die Beschäftigung der Sinne beim Reden gar nicht gestört werden. Manche haben die Neigung den ästhesiogenen [nennt Charcot die Mittel, die die hysterische Anästhesie beseitigen - wp] Faktor dadurch unwirksam zu machen, daß sie einen bestimmten Gegenstand fixieren und durch die konstante Richtung des Blickes auf ihn sich einerseits für ihn abstumpfen, andererseits ihn zu einem symbolischen Träger für die Einheitlichkeit ihres Gedankengangs erheben. Daß andererseits die Reproduktionen und Assoziationen beim Gesunden überhaupt eine so große Rolle spielen, daß man sich förmlich in jedem Moment von einer unendlichen Fülle von Ideations-, Perseverations- [Tendenz seelischer Inhalte im Bewußtsein zu verharren - wp] Reproduktionstendenzen bestürmt fühlen müßte, wenn sie sich nicht glücklicherweise hemmten und durch Obervorstellungen im Zaum gehalten würden, wird wohl billig bezweifelt werden können. Dann aber genügt es nicht, eine Unbeständigkeit der Aufmerksamkeit für die Erklärung der Ideenflucht verantwortlich zu machen, vielmehr muß man noch eine Überproduktion des Vorstellungslebens annehmen, wie sie ja auch zur Deutung bekannter Traumerscheinungen herangezogen wird (18). Es ist doch wohl einfacher anzunehmen, daß die Aufgaben, die im gesunden Wachbewußtsein unser ganzes Tun und Treiben zu beherrschen pflegen, nur die ihnen entsprechenden Vorstellungstendenzen und -dispositionen wirksam werden lassen, als daß wir durch sie alle übrigen, nicht zu ihnen gehörenden hemmen und ausschalten lassen. Dann kann aber die Ideenflucht nicht durch einen Mangel an Obervorstellungen erklärt werden. Vielleicht wird der Vergleich zwischen Traum und Ideenflucht, den auch HACKER bereits angestellt hat, und der auch ihn zu einer ablehnenden Kritik von LIEPMANNs Theorie geführt hat, eine nähere Aufklärung, insbesondere auch über den plötzlichen Wechsel in der Richtung des Bewußtseins, bringen.

Eine zweite bedeutende Arbeit desselben Verfassers "Über Störungen des Handelns bei Gehirnkranken" (1905) hat die apraktischen Erscheinungen zum Gegenstand. Es ist LIEPMANN aufgrund einer interessanten Beobachtung gelungen, dieses schwierige Gebiet der psychologischen Analyse zu erschließen und durch eine Vereinigung der von ihm und von anderen, namentlich von PICK untersuchten Fälle eine größere Mannigfaltigkeit wohlgesonderter Krankheitsbilder ans Licht zu stellen. So wird die motorische Apraxie [Unfähigkeit richtige Bewegungen auszuführen infolge krankhaft geschädigter Nervenbahnen - wp] als eine Unfähigkeit zu subjektiv zweckmäßiger Bewegung der Glieder bei erhaltender Beweglichkeit bestimmt und von einer ideatorischen Apraxie geschieden, bei der nicht der Übergang der Zielvorstellungen in die motorischen Innervationen [Nervenimpulse - wp] gestört ist, sondern die eine Handlung eindeutig bestimmende Bewegungsformel, das System der Zielvorstellungen alteriert ist. Ebenso werden die Unterschiede in den von PICK mitgeteilten und sorgfältig analysierten Fällen, das einfache Versagen der Zielvorstellungen im Laufe der Handlung, die assoziative Fehlreaktion, die Verdrängung der Zielvorstellung durch eine andere Vorstellung u. a. mit glücklichem Scharfsinn herausgearbeitet. Schematische Darstellungen erleichtern das Verständnis für die getroffenen Distinktionen. Wenn wir auch dieser hervorragenden Leistung gegenüber unsere psychologische Kritik walten lassen, so geschieht es wiederum nur der allgemeinen Tendenz zuliebe, auf die Vorteile hinzuweisen, welche die Anwendung rein psychologischer Gesichtspunkte für die Analyse und Erklärung solcher Phänomene in sich schließt.

Störungen des Erkennens und Störungen des Handelns hängen eng miteinander zusammen. Zwar kann es eine Erkenntnis geben, die sich nicht in einer Handlung, auch nicht einer Mitteilung oder Aussage fortsetzt. Aber das Handeln ist in weitem Umfang vom Erkennen abhängig. Darum bereitete es besondere Schwierigkeiten, die rein apraktischen von den durch Agnosie [Unvermögen Sinneswahrnehmungen als solche zu erkennen - wp] veranlaßten Störungen des Handelns zu trennen. Man kann ja wegen des kausalen Zusammenhangs zwischen Erkenntnis und Handlung ein Kriterium der Agnosie auf die Unfähigkeit stützen, einen wahrnehmbaren Gegenstand sinngemäß zu benutzen oder seine sinngemäße Verwendung anzugeben. Aus dem Vorkommen der Apraxie ergibt sich, daß die sinngemäße Benutzung eines Gegenstandes auch dann ausgeschlossen sein kann, wenn keine agnostische aber eine apraktische Störung vorliegt, wenn richtige Intentionen sich nicht in eine entsprechende Wirklichkeit umsetzen. Aus diesem Fall wie aus vielen anderen ist die Regel abzuleiten, daß man sich bei der Diagnose einer geistigen Erkrankung nicht auf ein Kriterium allein stützen darf, sondern mehrere einander ergänzende anwenden muß, und daß jedes Kriterium auf seine Beziehung zu den nachzuweisenden Phänomenen genau zu untersuchen ist. Ein und derselbe Erfolg und - Mißerfolg kann in einem psychophysischen Organismus auf verschiedenen Wegen erreicht werden.

Gerade über das Erkennen und Nichterkennen hat nun LIEPMANN psychologisch unzureichende Ansichten in dieser Schrift vertreten. Daß ein gesehenes Ding, z. B. eine Lampe, nicht erkannt wird, beruth nach ihm darauf oder besteht darin, daß der Gesichtseindruck nicht die Vorstellungen reproduziert, die assoziative mit ihm verknüpft sind, das Wort Lampe, die "Vorstellung": das leuchtet abends usw. Das bloße Reproduzieren von Vorstellungen ist aber noch kein Erkennen und daher der Ausfall derselben auch kein Nichterkennen. Sehr oft fällt uns bei erkannten Dingen ihr Name und ihre Funktion nicht ein, ohne daß damit die Erkenntnis aufgehoben wäre. Daß die reproduzierte Vorstellung mit dem wahrgenommenen Gegenstand etwas zu tun hat, muß selbst erst gewußt werden, ehe sie für die Erkenntnis desselben in Betracht kommen kann. Die Bedeutung eines Gegenstandes kennen und Vorstellungen durch ihn im Bewußtsein anregen lassen sind zwei verschiedene Tatbestände.

Wie eng die Apraxie mit der Agnosie zusammenhängt, zeigt sich namentlich bei der Analyse von den Fällen PICKs. Wenn z. B. ein Kranker eine Pistole wie eine Flinte ans Auge hält, so kann das darauf beruhen, daß er die Pistole für eine Flinte hält, oder daß er die besondere Gewohnheit hat, eine Pistole ebenso wie eine Flinte zu behandeln, oder daß er nur mit der Flinte umzugehen weiß und die Pistole entsprechend verwendet. Die erste von diesen leicht zu vermehrenden Möglichkeiten wäre Agnosie. Auch in den anderen Typen kann es nur durch eine genaue Analyse und Variation gelingen, die Krankheitsformen eindeutig voneinander zu scheiden. Je reicher dabei die Analogien mit normalpsychologischen Erscheinungen zur Verfügung stehen, umso leichter und sicherer wird die Erkenntnis und Abgrenzung der einzelnen Tatbestände gelingen. So sind Störungen der Perseveration auch der Normalpsychologie geläufig, ebenso Ablenkungen der Aufmerksamkeit, die bei der Verdrängung der Zielvorstellung durch eine andere Vorstellung eine Rolle spielen. In anderen Fällen bieten Zerstreutheitssymptome ähnliche Störungen des Handelns dar. Auch eine Beeinträchtigung der uns geläufigen kollektiven Auffassung, wie sie GEORG ELIAS MÜLLER genannt hat, kann vorliegen. Man kann in diesem Sinne LIEPMANN die ideatorische Apraxie auf bekannte Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Auffassungsveränderungen zurückführen.

Nicht zu übersehen ist ein wesentliches Symptom bei dieser Analyse, nämlich daß die Fehlhandlung von den Patienten nicht als solche erkannt oder bemerkt wird. Daß ein Zerstreuter nicht weiß, daß er eine Fehlhandlung begeht, ist aus der konzentrierten Beschäftigung mit anderen Dingen verständlich. Wir begreifen, daß ein NEWTON seine Uhr statt des Eies zum Kochen ins Wasser werfen konnte und daß er es erst bemerkte, als es bereits geschehen war. Ebenso läßt sich bei einem Mangel von Perseveration der Zielvorstellung begreifen, daß der Kranke nicht mehr weiß, was er eigentlich tun sollte. Erleben wir doch häufig genug in unserer eigenen Praxis, daß die begonnene Handlung aussetzt, weil wir das Ziel vergessen haben, das sie erreichen sollte. Aber daß der Patient, der eine Streichholzschachtel raucht oder einen Pantoffel mit einem Schuh wichst oder seinen Schnurrbart mit einer Zahnbürste putzt, obwohl er nichts anderes zu tun hat, die Fehlhandlung nicht als solche erkennt, das ist ein punctum saliens [springender Punkt - wp] in diesem Krankheitsbild. Das Unbemerktbleiben der Inkongruenz zwischen der Intention und der Handlung ist ein so wesentliches Moment, daß wir die ideatorische Apraxie wenigstens in solchen Fällen noch mit einem Einschluß von Agnosie in Bezug auf die ganze Handlung (nicht einzelne dabei benutzte Gegenstände) uns behaftet denken müssen.

LIEPMANNs Analyse der Willenshandlung ist auf gewisse, nicht allgemein zutreffene oder unzureichende Voraussetzungen aufgebaut. Zunächst ist dabei nur an diejenigen Fälle gedacht, in denen ein bestimmter abgeschlossener Erfolg, eine letzte Betätigung als Ziel zu gelten hat, wie etwa das Anzünden einer Kerze oder das Schießen mit einer Pistole oder das Eingießen von Wasser in ein Glas und dgl. Es gibt nun aber auch Verlaufsziele, bei denen eine ganze, über eine gewisse Zeit sich hinerstreckende Tätigkeit, nicht ihr Abschluß gewollt wird, wie z. B. bei der Absicht spazieren zu gehen oder zu arbeiten. Das Schema von LIEPMANN würde hier nur bis zum Beginn der Tätigkeit reichen, für eine Darstellung ihres Verlaufs ist es nicht eingerichtet.

Wie von Ober- und Gesamtvorstellungen, redet LIEPMANN auch von Zielvorstellungen, die dann noch in Haupt-, Teil- und Zwischenzielvorstellungen eingeteilt werden. Auch hier ist der Ausdruck Vorstellung nur in den Fällen anstandlos zu gebrauchen, wo es sich um optische, akustische oder andere Sinnesvorstellungen handelt. Ein Ziel braucht aber in dieser Form gar nicht gegeben zu sein. Man kann davon wissen, daran denken, eine Bewußtheit davon haben, wie z. B. bei der Absicht eine mathematische Formel zu verstehen oder eine Unterhaltung über philosophische Probleme zu führen. Da nun das Gegebensein eines Sinneseindrucks nur in den seltensten Fällen als ein Ziel vorschweben wird, so kann man für die Anwendung des Namens Vorstellung nicht einmal die Regel ins Feld führen: Denominatio fit a potiori [Die Benennung richtet sich nach der Hauptsache. - wp]. Es wäre an der Zeit in Bezug auf solche Tatbestände eine differenziertere Terminologie anzuwenden.

Das hätte auch noch den Vorteil, daß die Annahme erschüttert würde, wonach das bloße Haben einer Vorstellung und etwa noch dazu ein aufmerksames Gerichtetsein auf sie diese zu einer Zielvorstellung macht. Aber einen Erfolg wollen und einen Erfolg vorstellen ist durchaus zweierlei. Das Wollen des Kerzenanzündens ist nicht identisch mit der Vorstellung desselben. Darum kann keine Vorstellung als solche den Charakter einer Zielvorstellung haben, auch wenn sie sich auf einen Sinneseindruck beziehen läßt, ihn gewissermaßen antizipiert [vorwegnimmt - wp]. In der bloßen Vorstellung ist mit anderen Worten keine Aufgabe enthalten, die ich zu erfüllen habe. Nur von dieser geht die determinierende Tendenz aus, eine bestimmte Handlung auszuführen. Die Vorstellungen oder Gedanken, in denen solche Aufgaben vergegenwärtigt werden, sind nur Hilfsmittel für die Repräsentation derselben im Bewußtsein (19).

Wenn dann LIEPMANN zu sagen scheint, daß die Erfolgs- oder Zielvorstellung gewollt wird, so ist das nur als eine uneigentliche Ausdrucksweise anzusehen. Nicht die Art der Vergegenwärtigung eines Zieles, eines Zweckes oder Erfolges kann hier gewollt sein, sondern das Ziel, der Erfolg, der Zweck selbst. Darum ist es relativ gleichgültig, wie ich mir ein Ziel vergegenwärtige und ob ich es mir überhaupt explizit zu Bewußtsein bringe, wenn nur die Intention darauf besteht. Und so kann die Angabe der sogenannten Zielvorstellung auch mit Zuhilfenahme der "Ausgangsvorstellung" nicht genügen, um eine Willenshandlung zu charakterisieren. Es muß immer noch hinzugefügt werden, ob eine Intention auf sie in der Erfolgsrichtung bestand. Vom psychologischen Gesichtspunkt aus betrachtet ist somit das Schema von LIEPMANN ungenügend. Es berücksichtigt zu wenig das innere Gefüge der Handlung und die Aktivität des Subjekts bei der Einleitung einer solchen. Es steht trotz allem noch zu sehr unter dem Zeichen der Assoziationspsychologie.

Wenden wir uns nun der Bewegungsformel selbst zu, welche die Übertragung der Zielvorstellung auf den handelnden Organismus veranschaulichen soll. Diese Formel kann eine Geltung zunächst nur beanspruchen für die eingeübten Handlungen. Wenn LIEPMANN der Ansicht ist, daß der Prozeß bei uneingeübten und eingeübten Handlungen ganz derselbe ist, so ist das sicherlich unrichtig. Es ist doch etwas anderes, ob man die Teilzielvorstellungen erst finden und in Bereitschaft setzen muß, oder ob man sie einfach abschnurren lassen kann. Damit soll nicht bestritten werden, daß die Abkürzung eines Handlungsverlaufes durch Übung ihre Grenzen hat. Gewisse sensorisch-motorische Stationen werden auch bei den eingeübten Handlungen durchlaufen werden müssen. Aber daß sie von denselben psychischen Vorgängen begleitet zu sein brauchen, wird man aufgrund der Beobachtung gewiß nicht annehmen dürfen. Es spielt hier die schwierige Frage des Unbewußten hinein, die durch eine bloße Berufung auf die fehlende Aufmerksamkeit nicht befriedigend beantwortet werden kann. Denn ganz abgesehen davon, daß dieser Begriff, wie wir schon oben zeigten, nicht eindeutig genug ist, um zu Erklärungszwecken einfach herangezogen werden zu können, weist schon eine Tatsache darauf hin, daß das bloße Fehlen oder Zurücktreten der Aufmerksamkeit nicht bloß ein Herabsinken auf die Schwelle des Bewußtseins zur Folge haben kann. Bekanntlich stört nämlich das Eingreifen der Aufmerksamkeit, das "Bestrahlen" der Teilinhalte durch sie den automatischen Verlauf einer eingeübten Handlung. Man denke nur an das gedankenlose Hersagen von auswendiggelernten und mit mechanischer Sicherheit miteinander verbundenen Worten oder an den automatischen Verlauf des An- und Auskleidens. Sobald wir unsere Aufmerksamkeit einem Glied dieser Kette zuwenden und es damit in den Lichtkreis des Bewußtseins rücken, wird die Handlung gehemmt oder unterbrochen. Diese Wirkung kann durch LIEPMANNs Auffassung nicht erklärt werden. Sie macht es wahrscheinlich, daß die psychologische Beschaffenheit eines eingeübten Verlaufes sich nicht bloß durch die Ausschaltung der Aufmerksamkeit von derjenigen eines uneingeübten Verlaufs unterscheiden läßt.

Nach unserer Ansicht spielen Wahrnehmungsinhalte bei äußeren Handlungen dieser Art eine größere Rolle als Vorstellungen. Das zu einer gewohnheitsmäßigen Handlung gewordene Anzünden einer Zigarre wird z. B. in allen seinen Teilakten durch optische und taktile Empfindungen reguliert. Es muß durchaus zweifelhaft genannt werden, ob und inwiefern Vorstellungen sich dabei einfinden. Wir müssen endlich einmal die Hypertrophie [Übersteigerung - wp] der Vorstellungspsychologie eindämmen und beschneiden, die den Anschein erweckt, als wenn ohne Vorstellungen überhaupt nichts geschehen könnte. So führt man das Erkennen und Wiedererkennen ebenso auf sie zurück wie das Handeln und hat sich in beiden Fällen von einer dogmatischen Voraussetzung nicht aber von einer unbefangenen Würdigung der Tatsachen leiten lassen. Auch das Ziel kann, um hier der Bedeutung der Wahrnehmung noch besonders Rechnung zu tragen, in dieser repräsentiert sein, wie z. B. beim Eingreifen eines sichtbaren Gegenstandes, beim Töten einer Fliege oder beim Losgehen auf einen Bekannten. Selbstverständlich ist auch hier hinzuzufügen, was wir bereits bei der Vorstellung oder dem Gedanken eines Zieles unentbehrlich fanden. Aber die Vorstellung wird hiernach weder als eine conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] der Handlung, noch als eine hinreichende Bedingung derselben aufgefaßt werden dürfen. Mit der Überschätzung der Vorstellungen für unser psychophysisches Verhalten sollte in der psychiatrischen Literatur endlich einmal aufgeräumt werden.

Wir wollen die Ausführungen über die Raumanschauungen, in denen sich LIEPMANN an die sehr anfechtbaren Lehren von STORCH anschließt, übergehen, ebenso die Frage nach dem Verhältnis einer allgemein-kinästhetischen [-bewegungs...- wp] Vorstellung zu den besonderen glied-kinästhetischen Vorstellungen, wobei die Schwierigkeiten der Vorstellungslehre wiederkehren, und nur noch mit einigen Worten auf die wichtigen diagnostischen Kriterien eingehen, die für die motorische und die ideatorische Apraxie (zum Teil im Anschluß an PICK) aufgestellt werden. Nach dem ersten Kriterium betrifft die motorische Apraxie einzelne Glieder, während es bei der ideatorischen keinen wesentlichen Unterschied machen kann, welche Glieder in Aktion treten. Hier erhebt sich die Frage, ob sich die Bewegungsformel nicht auch auf einzelne Glieder beziehen kann. Es gibt auch Handlungen, die mit bestimmten Gliedern vollzogen werden; das Schneiden, Löffeln, Schreiben, Handreichen werden beim Rechtshänder normalerweise bloß mit der rechten Hand ausgeführt. Sollte da die Bewegungsformel nicht auch schon eine spezielle Beziehung auf die rechte Hand haben? Dann würde dieses diagnostische Kriterium nicht ohne weiteres eine reinliche Scheidung zwischen jenen Krankheitsbildern gestatten. Das zweite und dritte Kriterium besagt, daß sich die motorische Apraxie schon bei ganz einfachen Akten (z. B. die Zunge zeigen) und bei Nachahmungsbewegungen verraten wird, während die ideatorische Apraxie in solchen Fällen nicht hervorzutreten braucht. Diese Annahme ist in dem von LIEPMANN aufgestellten Schema selbst nicht hinreichend begründet. Ob die Teilzielvorstellungen kompliziert oder einfach sind, ob sie primär auftreten oder eine Nachahmung intendieren, kann für LIEPMANNs Auffassung der ideatorischen Apraxie schwerlich in Betracht kommen und höchstens nicht leicht faßbare graduelle Unterschiede begründen. Dagegen wären diese Kriterien viel verständlicher, wenn keine Vorstellungen erforderlich wären, um die einfachen Akte und die Nachahmungshandlungen zustande zubringen, oder wenn keine Spezialisierung auf einzelne Glieder bei der ideatorischen Apraxie stattfände. Da das letztere in den genannten Fällen kaum anzunehmen ist, so werden wir auch hier wieder auf die Mangelhaftigkeit der psychologischen Voraussetzung hingewiesen, daß die Ziele durchaus in Vorstellungen repräsentiert sein müssen.

Besonderes Interesse erweckt das vierte Kriterium, nach dem sich die motorische Apraxie nicht psychologisch, d. h. durch die Annahme von Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und Auffassungsstörungen verstehen läßt. Wenn z. B. LIEPMANNs Patient auf die Aufforderung die Zunge zu zeigen das Tintenfaß emporhebt, so ist diese Fehlhandlung au seiner Alteration jener allgemeinen, psychologischen Faktoren schwerlich zu erklären. Aber dieses Kriterium dürfte nur zutreffen, wenn man die ideatorische Apraxie auf eine allgemeine Störung der bezeichneten Art zurückführt. Tut man dies nicht, gibt man zu, daß auch hier speziellere Läsionen [Verletzung oder Störung eines Organs - wp] möglich sind, wie sie durch bekannte Störungen auf dem Gebiet des Gedächtnisses nahe gelegt sind, so versagt das sogenannte psychologische Verständnis auch hier. Könnte z. B. jemand aufgrund ideatorischer Apraxie die Feder nicht mehr richtig gebrauchen, wohl aber die Zahnbürste, oder die Kerze nicht mehr anzünden, wohl aber eine Zigarre, so lägen hier ebenso unverständliche, d. h. nur physiologisch oder psychophysisch zu erklärende Tatbestände vor. In seiner Bemühung, die ideatorische und die motorische Apraxie möglichst scharf voneinander zu sondern, scheint uns LIEPMANN etwas zu weit gegangen zu sein. Die ideatorische Apraxie ist ihm zu einer Allgemeinerkrankung geworden, die motorische zu einer Spezialerkrankung. Darin spiegelt sich abermals die Unzweckmäßigkeit seines Begriffs der Vorstellung wider. Er ist zu einem Ausdruck von unbrauchbarer Weite geworden. Wenn DESCARTES und LOCKE mit dem Namen idea alle intellektuellen Bewußtseinsinhalte bezeichneten, so hatte schon HUME es für notwendig gefunden, ihn auf die Gedächtnis- und Phantasiebilder einzuschränken. Seitdem sind noch Bewußtseinslagen und Gedanken entdeckt worden, seitdem ist vor allem die große Gruppe der psychischen Funktionen für die Psychologie zugänglich geworden. Wer die Unzulänglichkeit der Assoziationspsychologie so deutlich erkennt wie LIEPMANN, sollte auch mit dem alten Vorurteil brechen, als wenn es neben den Empfindungen und Gefühlen nur noch Vorstellungen in unserer Seele gäbe.
LITERATUR Oswald Külpe, Psychologie und Medizin, Zeitschrift für Pathopsychologie, Bd. 1, Leipzig 1912
    Anmerkungen
    13) Vgl. dazu die lehrreichen und lichtvollen Ausführungen von WILHELM SPECHTE, Zeitschrift für Pathopsychologie, Bd. I, Seite 4f.
    14) Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiet der Nerven- und Geisteskrankheiten, hg. von A. HOCHE, Bd. 4, neuntes Heft, 1904
    15) Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 8, Seite 24f.
    16) Vgl. WATT im "Archiv für die gesamte Psychologie", Bd. IV, Seite 289f. NARZISS ACH, Über die Willenstätigkeit und das Denken, 1905 und meine Besprechung in den "Göttinger Gelehrten Anzeigen", 1907, Seite 595f.
    17) Vgl. ERNST DÜRR, Die Lehre von der Aufmerksamkeit, 1907 und E. B. TITCHENER, The Psychology of Feeling and Attention, 1908.
    18) Vgl. HACKER, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 21, Seite 56f.
    19) Vgl. dazu namentlich ACH, Der Wille und das Temperament, 1910.