p-4von Heydebreckvon HartmannTh. LippsJ. VolkeltWindelband    
 
ARTHUR DREWS
Die Psychologie des Unbewußten

"Die physiologische Erklärungsweise führt konsequenterweise in den reinen Materialismus hinein. Sie setzt die psychischen Phänomene zu passiven Nebenfunktionen des materiellen Prozesses herab, ohne darum Bestandteile desselben zu sein oder ihn rückwärts irgendwie beeinflussen zu können, und erklärt die Seele für eine bloße Summe materieller Teilchen, nämlich der am Zustandekommen der psychischen Phänomene beteiligten Hirnzellen."

"Es sind in der Hauptsache diesselben unbewußten Kategorialfunktionen, die draußen den Gang der Natur und drinnen den Gang der psychischen Phänomene regulieren, dort die Dinge und hier die Vorstellungsobjekte aufbauen, dort den Weltlauf und hier das Verständnis des Weltlaufs bewirken. In dieser Annahme erblicke ich einen der genialsten Einfälle von Hartmanns, denn sie ermöglicht es ihm, die Gebiete der Erkenntnistheorie, der Naturphilosophie und der Psychologie als Momente eines einzigen Ganzen aufzufassen, das sich darin nur unter verschiedenen Gesichtspunkten darstellt."

Es gibt gegenwärtig keine philosophische Disziplin, die sich mehr auf ihre Wichtigkeit und Bedeutung für das Gesamtgebiet nicht bloß der Philosophie, sondern der Wissenschaften überhaupt zu gute tut, als die moderne Psychologie, und es gibt keine, in welcher ein solcher Wirrwarr entgegengesetzter Meinungen, eine solche Unklarheit, Zerfahrenheit und Hilflosigkeit den tieferen Problemen gegenüber herrscht. Die moderne Psychologie hat es verstanden, sich durch die großartigen Erwartungen, welche sie erweckt hat, die emsige Betriebsamkeit ihrer Vertreter und ihren formalen wissenschaftlichen Apparat in weiten Kreisen der Gebildeten ein Ansehen zu verschaffen, wie wenige andere Wissenschaften, und ihre positiven Leistungen sind doch bis jetzt hinter all jenen Erwartungen so zurückgeblieben, der Zwiespalt der Meinungen über die allgemeinsten und grundlegendsten Fragen und ihre Lösungsversuche ist so groß, daß jemand, der an sie mit der Absicht herantritt, sich aus ihr über die Beschaffenheit und das Spiel der seelischen Faktoren zu orientieren, schon ein sehr gutgläubiger Mensch sein muß, um sich nicht sehr bald geärgert und enttäuscht von ihr abzuwenden.

In seiner "Modernen Psychologie" (1901), in welcher er die entgegengesetzten Ansichten dargestellt hatte, die seit 1850 auf psychologischem Gebiet hervorgetreten sind, hatte EDUARD von HARTMANN dies im einzelnen an den Standpunkten der Hauptvertreter nachgewiesen. Es war eine Kritik der gesamten modernen Psychologie, wie sie vernichtender nicht gedacht werden kann, und es war vorauszusehen, daß deren Vertreter diesen Angriff in jener Weise beantworten würden, die man gewöhnlich in solchen Fällen anzuwenden pflegt, und die sich noch immer als das beste Mittel erwiesen hat, mit einem unbequemen Gegner fertig zu werden, nämlich durch - Totschweigen. Wenigstens hat man bis jetzt nichts davon gehört, daß die Angegriffenen sich öffentlich zur Wehr gesetzt und ihren Standpunkt energisch gegen die Einwände, die HARTMANN gegen sie erhoben hat, verteidigt hätten. Im Gegenteil haben sie zum Teil ihre betreffenden Werke in neuen Auflagen erscheinen lassen, ohne von jenen Einwänden Notiz zu nehmen, ja, auch nur die Literaturverzeichnisse ihrer Werke durch die Anführung der "Modernen Psychologie" zu ergänzen. Wo man aber doch die Bezugnahme auf HARTMANNs Werk nicht gänzlich hatte vermeiden können, da hatte man sich, wie es den Anschein hatte, lediglich an der äußerlichen Form der "Modernen Psychologie" gestoßen, bedauert, daß diese fortlaufende Kritik psychologischer Ansichten kein eigentliches "Buch" geworden ist und sich im übrigen auf den Inhalt des Werkes so wenig wie möglich eingelassen.

Dieser Einwand ist nun fortgefallen, nachdem soeben der "Grundriß der Psychologie" von HARTMANN als dritter Band des "Systems der Philosophie im Grundriß" erschienen ist, dem die Erkenntnistheorie und Naturphilosophie vorangingen. Denn hier ist das Gesamtergebnis der "Modernen Psychologie" zu einem einheitlichen Ganzen verarbeitet und eine Darstellung der Psychologie geliefert, die den Vergleich mit anderen ähnlichen Werken in formaler Hinsicht nicht zu scheuen braucht. Natürlich will dieser Grundriß mit keinem der vielen Grundrisse in einen Wettbewerb treten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das reiche Tatsachenmaterial, das die letzten Jahrzehnte auf psychologischem Gebiet zutage gefördert haben, zu sichten, zu ordnen und in möglichst gedrängter Übersicht vorzuführen. Diese Arbeit konnte HARTMANN den Fachgelehrten überlassen.
    "Etwas anderes", sagt er, "scheint mir noch wichtiger als dies, nämlich einen Standpunkt zu gewinnen, von dem aus man das jedem zugängliche Material auffassen und beurteilen kann. Ein Schüler, der sich an einen bestimmten Lehrer hält, mag den gegenwärtigen Stand der Dinge recht fortgeschritten finden; wer dagegen den ganzen Chor der verschiedenen Meinungen hat an sich vorüberziehen lassen, der wird nach nichts ein so dringendes Bedürfnis empfinden als nach einem Wegweiser, der ihm zeigt, wie der zu den Tatsachen Stellung zu nehmen hat, und unter welchen Gesichtspunkten er sie betrachten muß. Eben dieser Aufgabe soll der nachfolgende Grundriß dienen, wobei dann neben den verschiedenen Theorien doch unvermeidlich auch die wichtigsten Tatsachen zur Erörterung gelangen."
Den Grund dafür, weshalb die moderne Psychologie in ihren positiven Ergebnissen so unfruchtbar, in ihrer Stellungnahme zu den Problemen so widerspruchsvoll und in der Gesamtheit ihrer Leistungen so widerspruchsvoll und in der Gesamtheit ihrer Leistungen so unerfreulich ist, daß auf wenigen Gebieten mit einem größeren Aufwand von Worten weniger Substantielles zutage gefördert zu werden pflegt, habe ich bereits in meiner Besprechung des früheren psychologischen Werkes von HARTMANNs in den "Preußischen Jahrbüchern" (Novemberheft 1901) auseinanderzusetzen versucht. Er liegt wesentlich auf methodologischem Gebiet, nämlich darin, daß jene Psychologie, in berechtigter Gegnerschaft gegen die frühere spekulative Psychologie, es den Naturwissenschaften gleichzutun, die Erfahrung nicht bloß als Ausgangspunkt, sondern auch als Grenzpunkt ihrer Untersuchungen festzuhalten und demgemäß die Psychologie, als "Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung" dadurch ein für alle Mal gegen alle metaphysischen Velleitäten [Willensäußerungen - wp] sicherzustellen sucht, daß sie die Identität des seelischen Seins und des Bewußtseins behauptet. Denn hiernach erschöpft sich die Psychologie in der Beschreibung und Zergliederung der "psychischen Phänomene", deren Erklärung sie nur entweder in ihrem wechselseitigen Zusammenhang selbst oder in der leeren Form des an und für sich real gedachten Bewußtseins als des Subjekts der psychischen Funktionen suchen kann. Greift sie aber über das Bewußtsein selbst hinaus und versucht sie den Bewußtseinsinhalt aus unbewußten Faktoren abzuleiten, so bleiben ihr als solche nur die außerbewußten Vorgänge der materiellen Wirklichkeit des Organismus übrig, und die Psychologie gerät mit ihren Erklärungen in den Materialismus, ohne daß sie imstande ist, in diesem Fall auch nur die Existenz eines von der Materie verschiedenen Bewußtseins zu begreifen.

Zwischen einem einseitigen Bewußtseinsspiritualismus und einem ebenso einseitigen Materialismus schwankt daher auch diese moderne Psychologie in allen ihren Erklärungsversuchen des seelischen Daseins hin und her, und wo ihr etwa die Empfindung der Genierlichkeit einer materialistischen Erklärungsweise aufblitzt, da weiß sie sich nicht anders als durch den Rückfall in den Bewußtseinsspiritualismus zu helfen, indem sie die Bewußtseinserscheinungen auf die materiellen Vorgänge im Organismus, diese wieder auf Erscheinungen im Bewußtsein zurückführt. Diese moderne Psychologie ist  Voluntarismus  noch in einem ganz anderen Sinn, als ihre Vertreter das wahrhaben wollen: sie beruth auf dem nicht logisch, sondern bloß psychologisch und historisch begründeten Willen, mit ihren Erklärungsversuchen das Gebiet der Erfahrung oder vielmehr desjenigen, was vom "gesunden Menschenverstand" und der Naturwissenschaft dafür gehalten wird, nicht zu überschreiten. Jene Psychologen  wollen,  daß die Psychologie eine sogenannte  reine  Erfahrungswissenschaft sein soll, und deshalb  muß  der Gegenstand ihrer Erkenntnis ein solcher sein, daß Bewußtsein und Sein bei ihm unmittelbar zusammenfallen. Sie haben, um die Psychologie der Naturwissenschaft als eine gleichberechtigte Schwesterwissenschaft an die Seite stellen zu können, ein  Interesse  daran, daß die Psychologie alle Erklärung der Bewußtseinserscheinungen rein innerhalb der Erfahrung findet, und also  darf  es kein anderes Unbewußtes als die außerbewußte Wirklichkeit der materiellen Vorgänge im Organismus geben. Diese moderne Psychologie fragt nicht, ob und wieweit sich das seelische Dasein auch noch hinter die Sphäre des Bewußtseins zurückerstreckt, ob dieses schon selbst eine letzte geistige Wirklichkeit oder vielleicht bloß die akzidentielle Erscheinung einer solchen ist, sondern sie dekretiert einfach aus der Machtvollkommenheit des Zeitgeistes heraus, daß die Seele das Bewußtsein ist, weil sie andernfalls zu metaphysischen Konsequenzen fortgetrieben würde, die sie aus mancherlei Gründen gern vermeiden möchte. Sie pocht auf ihre "Wissenschaftlichkeit" und bemerkt nicht, daß sie mit ihrer Grundvoraussetzung, der Gleichsetzung von Seele und Bewußtsein, einem methodologischen Vorurteil zuliebe sich die Freiheit ihrer Bewegungen von vornherein in einer Weise unterbunden hat, die sie notwendig in ein Gewirr von Schwierigkeiten und Widersprüchen verstricken muß, aus dem sie außerstande ist, sich wieder herauszufinden. Sie nennt es "Kritizismus", wenn sie dem Zeitgeist schmeichelt, der nur die positive erfahrbare Wirklichkeit, die Welt des Bewußtseins und der Materie, als eine solche gelten läßt, und glaubt sich berechtigt, über alle diejenigen als "unwissenschaftliche Dilettanten" die Achseln zucken und ihre Einwände einfach ignorieren zu können, die ihre Auffassung des seelischen Daseins einseitig und unzulänglich, ihre Erklärung der Tatsachen ungenügend und ihr ganzes wichtiges Getue im Hinblick auf ihre wirklichen Leistungen etwas komisch finden. Sie überhört geflissentlich jeden Einwurf, der ihr von Gegnern ihrer Grundauffassung entgegengehalten wird und hat, soviel mir davon zu Gesicht gekommen ist, auch die Schrift über "Die Hoffnungslosigkeit aller Psychologie" eines so nüchternen Beobachters, wie des verstorbenen PAUl JULIUS MÖBIUS, in einer Weise beantwortet, die nur zu deutlich erkennen ließ, daß man den nur allzu berechtigten Kern seiner Ausführungen ganz einfach nicht verstehen  wollte.  Es bestätigt aber gerade jene Ausführungen, wie sehr ihre Vertreter über die wichtigsten Punkte untereinander uneins zu sein pflegen, daß sie schon beinahe darauf verzichtet zu haben scheinen, eine gegenseitige Verständigung anzubahnen, und jeder seine eigenen Ansichten mit einer Selbstverständlichkeit vorzutragen pflegt, als könnte darüber überhaupt keine Meinungsverschiedenheit bestehen.

Diesem ganzen Zustand der modernen Psychologie tritt nun HARTMANN in einem bewußten Gegensatz gegenüber. Er hat seinen "Grundriß der Psychologie" so angelegt, daß er zunächst die psychischen Phänomene oder das Bewußtsein selbst, und zwar als Oberbewußtsein (Zentral- oder Großhirnrindenbewußtsein), als Gesamtheit aller derjenigen Erscheinungen ins Auge faßt, die der denkende Mensch unmittelbar an sich selbst beobachten kann. Er untersucht, inwieweit ein Verständnis der vorhandenen seelischen Tatsachen innerhalb dieser Sphäre selbst erlangt werden kann, und schöpft den reinen Bewußtseinsstandpunkt in der Psychologie nach allen seinen verschiedenen Richtungen und Erklärungsmöglichkeiten aus, um alsdann auch die Unterbewußtseine der niederen Zentren unseres Organismus oder das relativ Unbewußte, wie es sich im Traum, bei Halluzinationen, im Somnambulismus, Mediumismus und bei den unterschwelligen psychischen Phänomenen offenbart, unter den gleichen Gesichtspunkten zu durchforschen. Von hier aus wendet sich alsdann die Untersuchung zu den materiellen Grundlagen der psychischen Phänomene oder dem physiologisch Unbewußten. Sie stellt fest, welche Bedeutung diesem letzteren für die Entstehung und die Beschaffenheit der im Bewußtsein uns gegebenen seelischen Wirklichkeit zukommt, und betrachtet schließlich die psychische Tätigkeit oder das absolut Unbewußte als den überall vorauszusetzenden Grund des natürlichen Daseins und Bewußtseins, der zwischen diesen beiden nicht bloß die Vermittlung herstellt, sondern auch allein imstande ist, eine erschöpfende Erklärung für die Tatsachen des Bewußtseins zu liefern.

Die Untersuchung des reinen Bewußtseinsstandpunktes in der Psychologie hat den völligen Bankrott des Versuches zum Ergebnis, gestützt auf das Esse gleich Percipi, das Psychische mit dem Bewußten und die materielle Welt mit der Summe der wirklichen und möglichen äußeren Wahrnehmungen gleichzusetzen. Dieser Standpunkt verwirft jede Hypothese, die die Grenzen des Bewußtseins, sei es nach außen, sei es nach innen, überschreitet. Er hofft, durch die Selbstbeschränkung, die er sich hiermit auferlegt, das bescheidenere Maß an Erkenntnis, das er zu bieten hat, in Gestalt unmittelbarer oder apodiktischer [logisch zwingender, demonstrierbarer - wp] Gewißheit zu bieten. Aber dieser Anspruch beruth auf einer Selbsttäuschung. Denn weder liefert die Selbstbeobachtung denjenigen Grad von Gewißheit, den jener Standpunkt erstrebt, noch kann das Bewußtsein sich auf bloße Beschreibung einschränken. Es muß auch seinerseits, um von der bloßen Seelen kunde  zur Seelen wissenschaft,  von der Beschreibung und Ordnung zur Erklärung fortzuschreiten, hypothetische Strukturzusammenhänge in seinem Inhalt supponieren [unterstellen - wp], deren Regelmäßigkeit fragmentarisch, von vielen Ausnahmen durchbrochen und deshalb auch bloß scheinbar ist.
    "Wahrscheinlichkeit  gibt also der Bewußtseinsstandpunkt auch bloß, gleichviel ob er sich auf die Selbstbeobachtung beschränkt oder ob er die Beobachtung anderer und ihre Aussagen über sich selbst mit zu Hilfe nimmt;  hypothetisch  ist die Psychologie ebenso gut, wenn sie sich  innerhalb  der Bewußtseinsgrenzen hält, als wenn sie dieselben  überschreitet,  nur daß sie im ersteren Fall sich selbst zur Unfruchtbarkeit verurteilt und überall mit dem Kopf gegen die Bretter stößt, mit denen sie sich selbst die Welt vernagelt hat."
Es macht in der Sache keinen Unterschied, ob man bei der näheren Durchführung des reinen Bewußtseinsstandpunktes von der Vielheit der bewußten Elemente, wie der Neuhumismus, oder von einer einzigen, für alle Bewußtseinsinhalte identischen Bewußtseinsform ausgeht, wie der Neufichteanismus: in beiden Fällen verwickelt man sich in derartige Schwierigkeiten und Widersprüche, daß überhaupt kein einziges der wichtigeren psychologischen Probleme unter jenen Voraussetzungen eine Lösung findet. So ist, um nur einiges anzuführen, aus dem Bewußtsein die aktive Energie der Aufmerksamkeit nicht zu erklären, weil Form und Inhalt des Bewußtseins gleich passiv und energielos sind. Aus demselben Grund versagt dieser Standpunkt auch, sowie er sich dem Problem des Willens zuwendet. Denn dasjenige, was beim Wollen im Bewußtsein anzutreffen ist, ist nur ein völlig passiver Komplex von Vorstellungen, Gefühlen und Empfindungen, der in keiner ursächlichen Beziehung zur Ausführung der vorgestellten Bewegung steht. Entweder ist also das Wollen Bewußtseinsinhalt, dann ist es eine Illusioin, daß es Ursache einer Handlung ist. Oder es ist Ursache einer Handlung, dann liegt es hinter dem Bewußtsein, was jedoch der hier in Frage kommende Standpunkt nicht zugeben kan. Aber auch dem Problem des Gefühls und der Empfindung gegenüber versagt jener Standpunkt vollständig, während schon die bloße Tatsache des Gedächtnisses, d. h. eines Fortdauerns von irgendetwas, was doch nicht im Bewußtsein ist, im Widerspruch mit seiner Grundvoraussetzung steht. Seinen Haupttrumpf pflegt der reine Bewußtseinsstandpunkt auf dem Gebiet der Vorstellungen mittels der Assoziationstheorie auszuspielen. Allein die Unzulänglichkeit dieser Theorie, die von den heutigen Psychologen zum größten Teil selbst nicht geleugnet wird, widerlegt zugleich den reinen Bewußtseinsstandpunkt, da dieser keinen anderen Einfluß von einem psychischen Phänomen auf ein anderes zugestehen kann, als eben auf assoziativem Weg. Die Seele muß der reine Bewußtseinssstandpunkt entweder für ein phänomenales Kollektivum ansehen, nämlich für die bloße Summe der psychischen Phänomene des Lebens, oder er muß sie leugnen. Versucht er aber sich dieser Konsequenz, wie der Neufichteanismus, durch einen Hinweis auf das Ich zu entziehen und dieses, d. h. das empirische oder ein absolutes Ich, für den Träger und das Subjekt der psychischen Phänomene anzugeben, so vergißt er, daß auch das Ich, als Bewußtseinsform, etwas rein Phänomenales ist, also auch nicht Quelle und Ursprung der Phänomene sein kann und daß die Hypothese (!) eines absoluten Ich sich durch ihre eigenen inneren Widersprüche selber aufhebt. Es wäre zu wünschen, daß die Neukartesianer und -Fichteaner wenigstens die hierauf bezüglichen Partien des HARTMANNschen Werkes lesen möchten, damit endlich einmal dem unwürdigen Gaukelspiel mit dem  Cogito ergo sum  ein Ende gemacht wird. In meinem Werk über "Das Ich als Grundproblem der Metaphysik" (1897) habe ich selbst in einer eingehenden, historischen, erkenntnistheoretischen, psychologischen und metaphysischen Kritik die Verkehrtheit jenes Ausgangspunkte der neueren Philosophie nachzuweisen und eine richtigere Auffassung des Ich aus den Prinzipien der HARTMANNschen Philosophie heraus zu begründen versucht, jedoch ohne damit irgendeinen Widerhall in der akademischen Philosophie zu wecken. Es gereicht mir zu besonderen Freude, und ich rechne es mir zur Ehre an, daß HARTMANN in seinem "Grundriß der Psychologie" sich in der Hauptsache meiner Beweisführung angeschlossen und sie damit auch öffentlich als berechtigt anerkannt hat. Ob wohl jetzt die bewußten und unbewußten Kartesianer sich endlich einmal auf die grundlegende Bedeutung der Kritik des  Cogito ergo sum  besinnen und die Grundvoraussetzung ihrer eigenen Denkweise einer erneuten Revision unterziehen werden?

Wenn nun also die Erklärung des Bewußtseinsinhaltes nicht innerhalb des letzteren selbst zu finden ist, so bleibt nur übrig, sie außerhalb des Bewußtseins zu suchen. Eine Überschreitung der Grenzen des Bewußtseins aber ist nur in drei Richtungen denkbar, nämlich nach Seiten des Unterbewußten, Außerbewußten und Hinterbewußten. Das Nächstliegende ist offenbar, sich an die Menge der Unterbewußtseine in demselben Organismus zu wenden, die, obwohl an und für sich bewußt, doch für das Oberbewußtsein unbewußt sind, aber mit ihm in einer Wechselwirkung stehen. Allein dadurch, daß man von den psychischen Phänomenen des Oberbewußtseins zu denen des Unterbewußtseins hinabsteigt, kommt man der psychischen Tätigkeit und ihrem Subjekt um kein Haar breit näher; man bleibt dabei ganz auf einem phänomenalen Boden und gelangt nur von reicheren und komplizierteren Betätigungen des psychischen Subjekts zu ärmeren und einfacheren, aus denen weniger über seine Leistungsfähigkeit zu entnehmen ist. Die Unterbewußtseine liefern das Empfindungsmaterial und damit eine wesentliche und unentbehrliche Bedingung für die Entstehung der psychischen Phänomene des Oberbewußtseins. Die synthetische Tätigkeit jedoch, durch welche die Empfindungen zu den höheren Gebilden des Oberbewußtseins untereinander verschmolzen werden, und worauf im letzten Grund die Einheit des Bewußtseins beruth, ist auch in ihnen nicht zu finden. Und wenn schon die einheitliche Intelligenz des Oberbewußtseins nicht entfernt der Aufgabe gewachsen ist, den Aufbau und die Erhaltung des Organismus und seiner zweckmäßigen Dispositionen überschreitenden Weise an veränderte Umstände anzupassen, so ist in dieser Hinsicht von den so viel schwächeren Intelligenzen der vielen Unterbewußtseine erst recht nichts zu erwarten. Wohl aber bereitet die Überschreitung der Grenzen des Oberbewußtseins nach der Richtung eines relativ Unbewußten den Boden vor, um durch eine Überschreitung der Bewußtseinsgrenzen auch nach anderen Richtungen Hypothesen zu gewinnen, die für die Erklärung noch wertvoller sind. Der nächste Versuch in dieser Beziehung aber richtet sich darauf, die Veränderungen im Bewußtseinsinhalt aus leiblichen Veränderungen zu erklären.

Betrachtet man das physiologische Unbewußte in seiner Bedeutung für den Bewußtseinsinhalt, so ist diese keineswegs zu unterschätzen. Das physiologische Unbewußte macht verständlich, unter welchen energetischen Bedingungen Lust und Unlust entsteht, wann eine Schmerzempfindung zustande kommt, wie motorische Reaktionen aus Reizen entspringen können und was unter charakterologischen Triebfedern und unter ihrer Summe, dem Charakter, zu verstehen ist. Es belehrt uns, woher das mit der Empfindung verbundene Zwangsgefühl stammt, daß die Empfindungsintensität zur Reizintensität in einem logarithmischen Verhältnis steht, wie Klänge aus Tönen entstehen usw. Es zeigt ferner die Umstände, von denen die Zeit der motorischen Reaktion auf zugeführte Reize abhängt, und worauf der Zustand der Aufmerksamkeit beruth. Es erklärt den Unterschied von Wahrnehmung, Halluzination und reproduzierter Vorstellung, eröffnet das Verständnis für die Möglichkeit der Reproduktion, liefert die äußeren Bedingungen für die Assoziation, die Assoziationsabkürzung und die Bewußtseinseinheit und gewährt einer Mehrheit von Bewußtseinen in demselben Organismus erst die erforderliche materielle Unterlage. Nur dazu ist es außerstande, wie viele Psychologen wollen, eine Erklärung für das Dasein, den Träger und das aktive Subjekt der psychischen Zustände selbst zu liefern. Die physiologische Erklärungsweise führt konsequenterweise in den reinen Materialismus hinein. Sie setzt die psychischen Phänomene zu passiven Nebenfunktionen des materiellen Prozesses herab, ohne darum Bestandteile desselben zu sein oder ihn rückwärts irgendwie beeinflussen zu können, und erklärt die Seele für eine bloße Summe materieller Teilchen, nämlich der am Zustandekommen der psychischen Phänomene beteiligten Hirnzellen. Vor dieser Konsequenz suchen sich nun freilich die meisten Philosophen durch einen Seitensprung auf den Boden des Idealismus hinüber zu retten, indem sie die mechanischen Prozesse selbst wieder in psychische Phänomene umdeuten. Indessen hier verlegt ihnen HARTMANN den Weg durch die Aufzeigung der völligen Absurdität einer solchen Ausflucht.
    "Daß", sagt er, "ein solches Schaukelspiel zwischen materialistischer Psychologie und idealistischer Erkenntnistheorie einem großen Teil der lebenden Naturforschergeneration imponiert hat, ist kein Wunder, da Naturforscher nicht auf philosophsiches Denken geübt zu sein pflegen. Daß aber auch ein großer Teil der lebenden Philosophen, Erkenntnistheoretiker und Psychologen mit solchen  gedanklichen Gaukeleien  sich selbst verblenden konnte, so daß sie die Widersprüche derselben nicht bemerkten, das wird einem späteren Geschlecht dereinst als interessantes kulturgeschichtliches Problem erscheinen, dessen Lösung nicht leicht sein dürfte."
Es wird aber, möchte ich hinzufügen, diese Lösung umso schwieriger sein, als die Gekennzeichneten auch meist gerade diejenigen zu sein pflegen, die sich auf ihren "Kritizismus" besonders viel zu gute halten und nur allzuschnell mit dem Vorwurf der "Unwissenschaftlichkeit" bei der Hand sind, wenn sich jemand weigert, das Schaukelspiel zwischen Materialismus und erkenntnistheoretischem Idealismus mitzumachen.

In Wahrheit ist der Materialismus mit seiner Automatentheorie die  reductio ad absurdum  der physiologischen Erklärungsweise, soweit sie die alleinige und erschöpfende Erklärung der psychischen Phänomene sein will.
    "Die physiologische Erklärungsweise ist unschätzbar, wo sie sich darauf beschränkt,  unentbehrliche Bedingungen  für das Zustandekommen der psychischen Phänomene aufzuzeigen, aber sie führt zum Widersinn, wenn sie ihre aufgezeigten unentbehrlichen Bedingungen für die  zureichenden Ursachen  ausgibt."
Die physiologische Erklärungsweise hat mit der Jllusion gebrochen, als ob die seelische Aktivität, wie der reine Bewußtseinsstandpunkt annahm, innerhalb des Bewußtseins gefunden werden oder das Bewußtsein etwa selbst ihr Träger sein könnte. Ihr Unrecht ist, daß sie die Aktivität  bloß  auf Seiten der Materie und des materiellen Lebens sucht, anstatt sie  auch  dort zu suchen und die Frage nach einer anderweitigen Aktivität offen zu halten. Wenn nun die letztere nur außerhalb des Bewußtseins und doch nicht bloß in den materiellen Vorgängen des Leibes gefunden werden kann, so bleibt nur übrig, sie in einer unbewußt psychischen Tätigkeit zu suchen. Gibt es eine psychische Tätigkeit, trotzdem eine solche tatsächlich im Bewußtseinsinhalt nicht gegeben und vom Bewußtseins auf keine Weise zu belauschen ist?

Das Vorurteil der modernen Bewußtseinsphilosophie beantwortet diese Frage mit  Nein,  indem sie sich darauf beruft, daß eine unbewußte psychische Tätigkeit für uns "undenkbar" ist. Allein "Tätigkeit" ist ein klarer Begriff und "psychisch" desgleichen; warum die Behauptung ihrer Unbewußtheit einen Widerspruch enthalten sollte, ist nicht einzusehen, man darf nur nicht, wie gewöhnlich, die psychische Tätigkeit mit psychischen Phänomenen verwechseln, die als solche nur bewußt sein können, oder den Begriff der unbewußten psychischen Tätigkeit mit anderen Arten des Unbewußten zusammenwerfen, wie den  petites perceptions  des LEIBNIZ, den negativen oder unbewußten Empfindungen FECHNERs den unbewußten Vorstellungsspuren oder reingeistigen Dispositionen BENEKEs usw., die mit ihm gar nichts zu schaffen haben.
    "Der Begriff  unbewußt  ist zunächst negativ, alteriert aber nicht die Positivität der Begriffe  psychisch  und  Tätigkeit,  sondern wehrt nur die Verbindung der Bewußtseinsform mit diesen Begriffen ab und läßt weiteren positiven Bestimmungen der unbewußten psychischen Tätigkeit (wie übersinnlich, konkret, intuitiv, in eins schauend, überbewußt) das Feld offen. Es ist unrichtig, daß das Bewußtsein das Negative seiner selbst nicht zu denken vermöchte; seine Grenze wissen, heißt auch schon über seine Grenzen hinaus zu sein."
Bekanntlich pflegen gerade die Psychologen die schärfsten Gegner des Unbewußten zu sein. Wenn man aber in den Lehrbüchern der Psychologie ihre Ausführungen über das Unbewußte liest, so bemerkt man alsbald, daß auch nicht einer von ihnen, der gegen die HARTMANNsche Anwendung jenes Begriffes polemisiert, sich dessen Sinn wirklich klar gemacht hat und daß zumindest dieser Abschnitt in den betreffenden Werken wissenschaftlich absolut wertlos ist, weil es sich dabei in der Regel nur um einen Kampf gegen Windmühlen handelt. Aber mit Recht sagt HARTMANN:
    "Wer an der Entstehung des Bewußten aus dem physiologischen Unbewußten allein keinen Anstoß genommen hat, der sollte doch an der Entstehung des Bewußten aus dem Zusammenwirken des physiologischen Unbewußten mit einer unbewußten psychischen Tätigkeit erst recht keinen Anstoß nehmen."
Wie sich nun das seelische Dasein unter dem Gesichtspunkt des absolut Unbewußten darstellt, und wie erst unter diesem Gesichtspunkt all diejenigen Probleme eine widerspruchslose Erledigung finden, an denen sich der reine Bewußtseinsstandpunkt und die psychologische Physiologie vergeblich abmühen, das möge man bei HARTMANN selbst nachlesen. HARTMANN unterscheidet an der unbewußt psychischen Tätigkeit das Wollen, die Tendenz und die Fähigkeit zur Realisierung eines bestimmten Inhalts, und die unbewußt ideale Determination dieses Wollens, die unbewußte Vorstellung oder Antizipation dessen, was noch nicht ist, aber vom Willen realisiert werden soll. Er widerspricht also hiermit ebenso dem Intellektualismus eines HEGEL oder HERBART, der die psychischen Phänomene aus der bloßen Vorstellung glaubt erklären zu können, wie dem Voluntarismus eines WUNDT und PAULSEN, die im Willen als solchen das tätige Prinzip des seelischen Lebens erblicken, diesen aber als einen an sich selbst empfindungsmäßig bestimmten auffassen und dadurch der Konsequenz des Unbewußten meinen, entgehen zu können. Denn die Empfindungen sind erst die Folge der bestimmten Willensakte, können also nicht zugleich deren Prius sein, ihnen folglich auch den Vorstellungsinhalt nicht verleihen, aufgrund dessen die unbestimmten unwirklichen Willensakte erst zu bestimmten, wirklichen und aufeinander wirkungsfähigen werden. Über den Widerspruch, die Empfindungen durch die Konflikte der Wollungen untereinander erst entstehen zu lassen und doch die einzelnen Willensakte vor allem Konflikt schon als empfindungsmäßig bestimmte aufzufassen, ist der moderne Voluntarismus bisher noch nicht hinausgekommen, und es ist auch nicht abzusehen, wie er diesen Widerspruch überwinden will, ohne sich zur Annahme eines unbewußten Willens zu bekehren, der durch eine unbewußte Vorstellung bestimmt ist.

Die unbewußte psychische Tätigkeit, die der Träger der Empfindungen und damit der psychischen Phänomene ist, äußert sich in der Weise, daß sie aus den Elementarphänomenen der Unterbewußtseine durch schöpferische Synthesen die psychischen Phänomene immer höherer Bewußtseinsstufen formiert und diese Leistung innerhalb des höchsten Bewußtseins fortsetzt. So aber fällt sie mit den Kategorialfunktionen zusammen, deren Wirksamkeit die Erkenntnistheorie als die Bedingungen der Möglichkeit einer wirklichen Erkenntnis, einer Erkenntnis des Wirklichen nachgewiesen hat, zugleich aber auch erweist sie sich als identisch mit den organisierenden Funktionen (Dominanten), welche die Naturphilosophie als unumgänglich zur Erklärung des Organismus und der Lebenserscheinungen erschlossen hatte. Es sind in der Hauptsache diesselben unbewußten Kategorialfunktionen, die draußen den Gang der Natur und drinnen den Gang der psychischen Phänomene regulieren, dort die Dinge und hier die Vorstellungsobjekte aufbauen, dort den Weltlauf und hier das Verständnis des Weltlaufs bewirken. In dieser Annahme erblicke ich einen der genialsten Einfälle HARTMANNs, denn sie ermöglicht es ihm, die Gebiete der Erkenntnistheorie, der Naturphilosophie und der Psychologie als Momente eines einzigen Ganzen aufzufassen, das sich darin nur unter verschiedenen Gesichtspunkten darstellt; sie setzt Natur und Seele in ein innerliches Verhältnis zueinander und liefert damit auch zugleich den Punkt der Lösung für das heute wieder so viel umstrittene Problem der Beziehung zwischen Leib und Seele, das sowohl unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung von Bewußtsein und Leib wie auch unter demjenigen des psycho-physischen Parallelismus gleich widerspruchsvoll und ungelöst bleibt.

Betrahten wir jetzt die Seele, so stellt sie sich zunächst als ein Kollektivum, als eine Sammlung von psychischen Tätigkeiten dar, die sich auf den Leib einschließlich seines Bewußtseinsorgans beziehen und einerseits den Organismus, andererseits mittels seines Gehirns die psychischen Phänomene aufbauen, erhalten und verändern. So erscheint uns aber die Seele nur, wenn wir von der Betrachtung ihrer einzelnen Wirkungen ausgehen und auf deren besondere Ursachen zurückschließen. Deduktiv oder genetisch betrachtet aber ist sie in doppelter Hinsicht eine Einheit, die der Vielheit ihrer Teiltätigkeiten vorausgeht.
    "Einerseits nämlich ist der Organismus, auf den sich die Teiltätigkeiten beziehen, eine  organische Einheit,  in der das Ganze das ideelle Prius der Teile ist, so daß auch die Gesamtheit der auf ihn gerichteten Teiltätigkeiten eine  funktionelle Einheit  ist, in welcher das Ganze das ideelle Prius der Teile ist und diese als seine innere gliederhafte Mannigfaltigkeit von sich aus final bestimmt. Andererseits bindet das einheitliche Subjekt der Tätigkeit alle Teiltätigkeiten zu einer  substantiellen ontologischen Einheit,  die noch über die finale funktionelle Einheit hinausgreift, indem sie die Tätigkeiten aller Individuen umfaßt. Die finale funktionelle Einheit sichert der Individualseele ihre reale  Sonder existenz im Gegensatz zu den  anderen  Individualseelen und macht das absolute Subjekt in seiner Betätigung auf diesen Organismus zu einem  funktionell eingeschränkten  Subjekt dieser Individualität; die substantielle ontologische Einheit des Subjekts hebt die Seele über das zerflatternde Spiel in der Luft schwebender Tätigkeiten hinaus und gibt ihr den  festen Halt,  den sie freilich mit anderen Seelen teilen muß."
Nur eines ist die Seele nach dieser Auffassung nicht, nämlich das Ich, dasjenige als gerade nicht, wofür sie seit DESCARTES bei fast allen neueren Philosophen mit Ausnahme der Positivisten und Materialisten gegolten hat. Denn die Seele ist also solche unbewußt, sie ist, als substantiell einheitliches, funktionell zum Individualsubjekt ein eingeschränktes absolutes Tätigkeitssubjekt, das hinterbewußte reale Korrelat des Ich. Das Ich hingegen ist dessen Repräsentant für das Bewußtsein, der transzendental auf jenes bezogen wird.
    "Das Ich ist das wirkungsfähige, passive Spiegelbild der Seele im Bewußtsein oder ihr Bewußtseinsreflex; die unbewußte Seele allein ist das, was unmittelbar auf den Leibt Einfluß ausüben und unmittelbar von ihm Einflüsse empfangen kann. Darum sind alle Bemühungen, die Beziehungen zwischen Leib und Seele zu erkennen, mit Unfruchtbarkeit geschlagen, solange die unbewußte Seele nicht als Zwischenglied und Vermittler zwischen Bewußtsein und Leib und zwischen Leib und Bewußtsein anerkannt ist."
Was sich gegen die Anerkennung dieser HARTMANNschen Auffassung des seelischen Daseins sträubt, ist lediglich das  Vorurteil  gegen den Begriff des Unbewußten. Die neuere Philosophie ist seit DESCARTES eine Philosophie des Bewußten gewesen; und obschon die ganze Entwicklung dieser Philosophie, wie ich in meinem angeführten Werk über das Ich gezeigt habe, sich in der Durcharbeitung der im  Cogito ergo sum  enthaltenen Möglichkeiten  erschöpft  hat und ihr mißlicher Zustand während der letzten drei Menschenalter sich wesentlich daher schreibt, daß es seit HEGEL nicht mehr möglich ist, dem steril gewordenen Boden des Bewußtseins neue wertvolle Früchte abzugewinnen, versteift sie sich doch noch immer eigensinnig auf das  Cogito ergo sum  und will von einer Philosophie des Unbewußten nichts wissen. Man sollte meinen, daß sie es sich unter solchen Umständen zumindest angelegen sein läßt, den HARTMANNschen Begriff des Unbewußten als unhaltbar nachzuweisen. Allein was sie in dieser Hinischt bisher zutage gefördert hat, ist  mehr als unzulänglich  und läßt geradezu alles verständnisvolle Eingehen auf jenen Begriff vermissen (1). Es ist hier nicht der Ort, den tieferen Gründen fürü dieses Verhalten nachzugehen. Man kann auch von den älteren Vertretern der Philosophie nicht erwarten, daß sie ihre Meinung, die sie seit einem Menschenalter über das Unbewußte HARTMANNs geäußert haben, ändern. Aber das kann man erwarten, daß man in den Kreisen der Fachphilosophen endlich einmal aufhört, die Leistungen jenes Denkers auf den einzelnen Gebieten der Philosophie zu ignorieren, und man kann hoffen, daß sich beim heutigen Interesse besonders auch für die Psychologie unter den Philosophierenden noch eine Anzahl von leidlich Unbefangenen findet, die es einmal mit der unbewußten psychischen Tätigkeit zur Erklärung der seelischen Tatsachen versuchen und von der Psychologie aus dann den Weg zu einer tieferen Auffassung der philosophischen Probleme finden.
LITERATUR - Arthur Drews, Die Psychologie des Unbewußten, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 133, Leipzig 1908
    Anmerkungen
    1) Das gilt auch von der jüngst erschienenen Schrift "Bewußtsein und Unbewußtes" von  Richard Herbertz,  die es sich ausdrücklich zur Aufgabe macht, die Bedeutung des Unbewußten für die moderne Psychologie zu untersuchen, und auf welche ich an dieser Stelle noch zurückzukommen gedenke.