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Über die dialektische Methode [2/5]
5. Übergang zur Neuzeit Wie das schnell zerfallene Weltreich KARLs des Großen in der Staatengeschichte, so taucht das System des JOHANNES SCOTUS ERIGENA als eine blendend großartige, aber unreife und folgenlose Erscheinung in der Geschichte der Philosophie auf. Genährt von den Überlieferungen der griechischen Kirchenväter und vielfach in wunderbarer Übereinstimmung mit der Sankhya-Philosophie, steht er in seiner pantheistischen Gesamtanschauung wie in vielen bewundernswerten Einzelheiten als verfrühter SPINOZA da. Was er über alles hervorhebt, ist die Unendlichkeit Gottes, welche nicht duldet, daß er von seinen Geschöpfen verschieden ist, weil er sonst durch diese beschränkt wäre, und welche bewirkt, daß wir ihm alle Prädikate nur in uneigentlicher und symbolischer Redeweise beilegen dürfen, weil jedes Prädikat ihn bestimmen, also verendlichen würde. Aber auch die Negationen gelten nur uneigentlich von ihm, da sie ihn ebenfalls beschränken würden (z. B. Ruhe). Ja nicht einmal solche Ausdrücke darf man als eigentliche gelten lassen, welche seine Erhabenheit über endliche Bestimmungen oder über Ausdrücke von entgegengesetzter Natur bezeichnen sollenm, z. B. wenn DIONYSIUS AREOPAGITA sagt, daß er "über dem Sein" sei; denn auch so würde man ihn nochnicht als unaussprechlich anerkennen. Aber gleichwohl, wenn auch kein Prädikat auf ihn anwendbar ist,sind sie doch alle in ihm enthalten; denn was könnte sein, das nicht in ihm enthalten wäre? Da nichts als Gott ist, so ist alles in ihm zu einer unaussprechlichen Einheit verbunden. - Man sieht hier wie aus denselben Ursachen dieselben Wirkungen hervorgehen, wie in der Geschichte der neuesten Philosophie, nämlich aus dem Bestreben, die als selbstverständlich angenommene Absolutheit Gottes nicht zu stören, das Aufhören jeder Erkenntnis und den Mischmasch aller Gegensätze und Widersprüche im Absoluten. Wenn die Lehre des JOHANNES SCOTUS vom Absoluten sich wie das Lallen eines Kindes mit dem Aussprechen des Unaussprechlichen vergebilch abmüht, und sich gar bald mit der Erkenntnis Gottes in seinen Erscheinungen (Theophanien genügen läßt, so macht dagegen der hochstrebedes Geist des NICOLAUS CUSANUS den Versuch, das Unfassbar wirklich, wenn auch nur in einer unendlichen Annäherung, zu fassen, und nähert sich HEGEL in seiner Theorie des Erkennens in der Tat auf erstaunliche Weise. NICOLAUS kennt den JOHANNES SCOTUS sehr wohl, er ist aber von der Mystik des Mittelalters durchdrungen, und die griechische Philosophie, speziell PLATO und PARMENIDES, sind ihm wohl bekannt. Außer den sonst üblichen Ableitungen und Einführungsweisen des Absoluten finden sich eine ihm eigentümliche, welche an SCHELLING erinnert:
NICOLAUS unterscheidet im Menschen drei Stufen: sensus, ratio (was HEGEL Verstand nennt) und intellectus (was HEGEL Vernunft nennt), wozu als vierte hinzukommt: veritas ipsa, quae deus est. [Die Wahrheit selbst, das ist Gott. - wp] Der Weg des Erkennens, der diese Stufenreihe aufwärts führt, ist der umgekehrte wie der Weg der Erzeugung der Dinge, da von Gott zuerst die Intelligenzen hervorgebracht werden, welche das vernünftige Denken erzeugen, welches sich dann in das Sinnlich und Körperliche versenkt. Alle vier Stufen gehen durch eine gradweise Steigerung ineinander über, jede nächsthöhere ist die Genauigkeit (praecisio) der nächstniederne. Der Sinn kann nichts als Empfinden; er ist keiner Negation, also auch einer Unterscheidung des Empfundenen fähig, welche schon der Vernunft zufällt. Zwischen sensus und ratio schiebt sich als Zwischenstufe die imaginatio ein, deren sinnliche Bilder alles Denken der ratio begleiten, während der intellectus über jedes Bild der Einbildungskraft hinaus, ja sogar über Zeit und Welt erhaben ist (De docta ignorantia III. 1 und 6). Da erst die ratio unterscheidet, so beginnt auch mit ihr erst die Erkenntnis der Gegensätze, die ihr eigentliches Geschäft ist. Sie kennt diese nur als Verschiedene, und schreitet bei ihrer Begründung nach dem Satz vom Widerspruch vor. Die Begriffe, welche die ratio bildet, haben für sich kein wahres Sein, da das Allgemeine nur in den Individuen ist, sondern sie sind "notionalia a ratione nostra elicita, sine quibus non posset in suum opus procedere" [Fiktionen, aus unserer Vernunft hervorgerufen, ohne die sie nicht in der Lage wäre, mit ihrer Arbeit fortzufahren - wp] Sie haben also wie bei HEGEL nur subjektive Existenz. Weil die ratio am Endlichen haftet und nie zum Unendlichen kommen kann, nach welchem sie gleichwohl (z. B. in der Mathematik) streben muß, weil aber doch das Endliche nicht ohne das Unendliche, sondern nur von diesem aus erkannt werden kann, darum besteht die Nötigung über die ratio fort zum intellectus zu gehen. Wo die ratio in der Mathematik sich mit dem Unendlichen beschäftigt, da berührt sie den intellectus, indem ihr die Gegensätze (z. B. Kreisbogen und gerade Linie) anfangen, zusammezufallen. Diese vom höchsten Grad der ratio an gestrebte Einheit der Gegensätze wird nun vom intellectus wirklich vollzogen. CUSANUS vergleicht diese Einheit mit der der spezifischen Differenzen in der höheren Allgemeinheit, der Wurzel der Spezien. So steht der intellectus am Horizont der Ewigkeit, wo Gegenwärtiges und Nichtgegenwärtiges, Sein und Nichtsein usw. umfaßt werden. Aber bald kommt der hinkende Bote nach. Man wird auf einen trostlosen unendlichen Prozeß der Annäherung vertröstet, und erst dann, wenn man diesen unendlich ferne Ziel, die höchste Stufe des Verstandes, erreicht hätte, dann würde man erst an die Wahrheit selbst, welche Gott ist, rühren. So kommt man schließlich dahinter, daß man doch eigentlich um seine ganze Mühe des Aufsteigens betrogen wäre, wenn einen die dabei erlangte endliche Erkenntnis der weltlichen Dinge nicht schadlos hielte, und so bleibt das Beste an dieser Lehre der Hinweis auf den von unten aufsteigenden Weg und die Erkenntnis des Weltlichen. NICOLAUS muß dies selbst gefühlt haben, da er eine Ergänzung unserer docta ignorantia in einem mystischen unmittelbaren Gottesbewußtsein, im Glauben, sucht. So hoch stellt er den Glauben, daß er die Glaubensfestigkeit des armen und rohen Volkes der Wissenschaft der Gelehrten vorzieht. Er vertraut der göttlichen Gnade, die er mit dem höchsten Grad der Natur für eins hält, daß sie uns gewähren kann, was die Natur uns versagt zu haben scheint, und wonach wir dennoch dürsten. Vom Glauben müßten wir das unmittelbare Schauen Gottes erwarten, das uns nur in einem raptus (Ekstase) zuteil werden kann, der uns von der Welt loslöst. Wenn diese Lehre in ihrer Unterscheidung von ratio und intellectus und dem Prinzip der coincidentia contrariorum [Zusammenfall der Gegensätze - wp] für letzteren die größte Ähnlichkeit mit HEGEL hat, so unterscheidet sie sich doch wesentlich sowohl durch die selbständige Bedeutung, die dem sensus beigelegt wird, als durch die über den intellectus gesetzte höchste Stufe, als auch durch den ohnmächtigen unendlichen Prozeß des Aufsteigens. Am wichtigsten aber für uns ist das, daß NICOLAUS die dialektischen Grundsätze zu keiner Methode verwertet, sondern mit ihnen höchstens einige ausgeführte Beispiele von dialektischer Behandlung zustande bringt, und im übrigen bei einer aufsteigenden Methode stehen bleibt, die man wesentlich Induktion nennen muß. Gleichwohl dürfte man vergeblich in der Geschichte der Philosophie eine den Grundsätzen der HEGELschen Dialektik so verwandte Erscheinung suchen, welche HEGEL in seiner "Geschichte der Philosophie" wunderbarerweise ebensowenig als den JOHANNES SCOTUS berücksichtigt hat.- GIORDANO BRUNO fügte der Lehre des NICOLAUS, was die Dialektik betrifft, wenig Neues hinzu. Er hob besonders hervor, daß nur in Gott selbst alle Gegensätze zugleich und ohne Unterschied der Zeit geeinigt sind, daß dagegen in allen weltlichen Dingen die Vollkommenheit nur darin besteht, daß alles und jedes mit der Zeit zu allem und jedem Andern werden kann und muß. Er stützt sich auf den schon von ARISTOTELES ausgesprochenen Satz, daß die Wissenschaft der Entgegengesetzten eine ist (weil sie beide derselben Gattung angehören). In begrifflicher Beziehung sucht er nach dem Punkt der Vereinigung für die Gegensätze, nach den vermittelnden Begriffen, durch welche sich die scheinbaren Widersprüche der Welt lösen.
HEGEL behauptet, daß SPINOZAs Gott sich dialektisch verhält und den Widerspruch in sicht trägt, Ursache seiner selbst zu sein. Hätte SPINOZA dies so gemeint, wie SCHOPENHAUER es versteht, wenn er es mit Münchhausen vergleicht, der sich an seinem eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht, dann hätte HEGEL recht. SPINOZA meint es aber so, daß Gott in einer anderen Beziehung Ursache, in einer anderen Beziehung Wirkung ist; er ist nämlich als natura naturans [Schöpferkraft als Urgrund der Dinge - wp] Ursache von sich als natura naturata [Inbegriff der geschaffenen Dinge - wp], oder, um es in moderne SCHELLINGsche Ausdrücke zu übersetzen, er als Wille oder Potenz ist Ursache von sich als Wollen oder Aktus. Hieran aber ist weder etwas Dialektisches noch ein Widerspruch. Im übrigen widerspricht die mathematisch deduzierende Methode des SPINOZA vollständig der HEGELschen Dialektik. Einen Wendepunkt auch in Bezug auf den Gang des Philosophierens bildet KANT. Bisher war alle Philosophie auf die Dinge gegangen, von nun an geht sie auf das Denken. Die Grundfrage KANTs ist: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" Er fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit einer apodiktisch gewissen und doch inhaltvollen Erkenntnis, vorausgesetzt, daß es eine solche Erkenntnis gibt, worüber ihm kein Zweifel entsteht. Jene Bedingungen bilden die neue Philosophie. Gleichwohl ist die Methode im engeren Sinn für die theoretische Philosophie eine empirisch-psychologische, sie stellt nur eine andere als die bisher übliche Erklärung der zu erklärenden Tatsachen auf. (Vgl. Hegels Werke VI, Seite 85-86) Das Resultat, was er erhielt, war das, daß Raum, Zeit, Kausalität und die anderen Kategorien nur Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes ohne transzendente Realität sind, d. h. ohne als Bestimmung zur Erkenntnis einer das subjektive Gebiet überschreitenden Wahrheit dienen zu können. Wenn also KANT behauptet hat, daß das in den Verstandesbestimmungen sich bewegende Denken nicht zur transzendenten Wahrheit, zur Erkenntnis des Intelligiblen kommen kann, so ist es nicht deshalb, wie HEGEL ihm unterschiebt (Werke VI, Seite 123), weil die Verstandesbestimmungen endlich sind, - denn Raum und Zeit, die Formen der Sinnlichkeit, sind ja unendlich und doch bloß immanent -, sondern weil es immanente Formen der subjektiven Erkenntnisvermögen sind, welche nicht fähig sind, über das Transzendente etwas auszusagen, weil sie gar nicht ihm, sondern bloß dem Subjekt zukommen und inhärieren. Daß KANT die Inkonsequenz begeht, die eben ausgeschlossenen Kategorien hernach doch zur Erkenntnis des Intelligiblen zu gebrauchen, tut nichts zu Sache. Was die Kategorien selbst betrifft, so stellt er deren zwölf auf, mit der naiven Bemerkung, daß er zwar im Besitz einer Deduktion derselben ist, sie aber aus Privatgründen für sich behalten will. Von den zwölfen, welche KANT angibt, gehören, wie auch HEGEL bemerkt (Werke I, Seite 162), die drei der Modalität gar nicht unter die Kategorien, weil sie nur verschiedene Auffassungsweisen des Subjekts sind, die das empirische Objekt nicht alterieren [verändern - wp]. In Bezug auf die neun übrigbleibenden verweise ich auf SCHOPENHAUERs Kritik in "Welt als Wille und Vorstellung" (dritte Auflage, Bd. I, Seite 539-559). HEGEL legt auf die kantische Dreiteilung der Kategorien einen besonderen Wert, und in der Tat haben sie auf FICHTE einen großen Einfluß gehabt; doch ist es nicht schwer zu sehen nach wie äußerlichen Gründen und mit wie zwangsweiser Einschachtelung diese Einteilung vollzogen ist, selbst abgesehen vom geradezu Falschen, das darin ist (wie der Begriff der "Wechselwirkung"). Nachdem KANT einmal die Scheidung des Immanenten vom Transzendenten zu seinem Prinzip gemacht hatte, mußte es ihm natürlich darum zu tun sein, diese neue Lehre auf alle Weise zu stützen, und womöglich zu zeigen, daß durch sie eine Menge Schwierigkeiten des früheren Standpunkts gehoben werden. Aus diesem Bestreben entspringen die Paralogismen und Antinomien, welche aber wohl unbestritten in Bezug auf das, was sie zu beweisen bestimmt sind, sämtlich als verfehlt angesehen werden dürfen. So sagt HEGEL von den Paralogismen (Werke VI, Seite 101):
Betrachten wir aber noch einen Augenblick, was die Antinomien in Kants eigenen Augen waren. Er erklärt sie für Täuschungen des Verstandes und allerdings insofern für unzerstörbare (notwendige) Täuschungen, als dieser nicht imstande ist, sich auf direktem Weg von ihnen zu befreien, sondern nur indirekt durch die Erkenntnis von der transzendentalen Idealität von Raum, Zeit und Kausalität. Der Verstand befindet sich also, insofern er sich dem instinktiven Schein der Objektivität hingibt, in einem Widerspruch, der darin besteht, daß beide Seiten eines als kontradiktorisch erscheinenden Gegensatzes als falsch behauptet werden (nur durch indirekte Beweise als richtig). Indem aber der Verstand die transzendentale Idealität der Welt entdeckt, gewinnt er den neuen Gattungsbegriff, welcher den vorher allgemein scheinenden Gegensatz der Thesis und Antithesis zu einem parikulären herabsetzt. Sowie der Gegensatz partikulär wird, hört er auf, kontradiktorisch zu sein; der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (daß die Welt nur entweder endlich oder unendlich sein muß) hört mithin auf, auf ihn anwendbar zu sein, weil das nun eintretende allo genos [andere Gattung - wp] gefunden ist, und der Widerspruch hat sich als ein nur scheinbarer, nicht vorhandener, ausgewiesen. Hierin ist nichts von den dialektischen Prinzipien HEGELs zu finden. Weit entfernt, daß die Vernunft an den Widerspruch herantritt, mit dem der Verstand fertig werden kann, und die spekulative Vereinigung desselben vollzieht, geht vielmehr die ganze Lösung der Verlegenheit vom Verstand aus, wird rein nach den Regeln der formalen Verstandeslogik vollzogen, und endet damit, die Einheit der Widersprechenden als vollzogen zu setzen, sondern damit, den Widerspruch als einen bloß scheinbaren, aus Unvollständigkeit des Wissens hervorgegangenen und durch eine Vervollständigung der Erkenntnis aufgehobenen darzustellen. Wenn gleichwohl KANT die Antinomien als einen direkter weise unzerstörbaren Schein hinstellt, so liegt dies nur daran, daß der praktische Instinkt eo ipso [schlechthin - wp] die Welt als Realität zu fassen genötigt ist, und durch alle Korrektion von Seiten des Verstandes dieser praktische instinktive Glaube nicht zerstört werden kann. Dieser Instinkt aber ist praktisch notwendig, weil wir ohne ihn verhungern würden. Was schließlich an KANT wichtig ist für die spätere Benutzung, ist der Begriff der Vernunft. KANT hatte in seiner kritisch sichtenden Methode die Eigentümlichkeit, für jede besondere Tätigkeit des Geistes ein besonderes Vermögen hinzustellen. Wenn die andern Dutzende von Vermögen bald dem gerechten Schicksal der Vergessenheit anheimfielen, so hatte leider sein Vermögen der Vernunft das Unglück, zunächst noch viel Unheil anrichten zu sollen durch das böse Beispiel eines Organs für ein unmittelbares, durch keine Verstandestätigkeit vermitteltes Wissen, wenn dasselbe sich auch bei KANT selbst noch in praktischen Postulaten erschöpfte. Wenn es erlaubt ist, einen Blick auf die unbewußte psychologische Entstehung jener Aufnahme in KANTs Kopf zu werden, so ist dieselbe wohl so zu denken, daß der kühne Denker, schaudernd vor dem gähnenden, alles verschlingenden Abgrund des Nichts, den seine ursprüngliche Kritik der reinen Vernunft aufgerissen hatte (vgl. Kant, Werke II, Seite 477 unten), beeinflußt von der pietistischen Erziehung seiner Jugend und in den Tiefen seines Herzens sich zurücksehnend nach der imposanten Positivität des noch keineswegs überwundenen Christentums, den letzten Ausweg zur Umkehr ergriff und durch das einfache Postulat: "Ich wünsche, ich hoffe, ich glaube" die vom Verstand soeben ausgekehrten Götzen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, zur Hintertür wieder einschmuggelt, mit frommem Gemüt feierlich restituierte. Wenn er sich gleichwohl bisweilen in der Weise zu täuschen sucht, als ob das Sittengesetz mit seinem ganzen Inhalt aus einem reinen Formal prinzip abzuleiten wäre, und aus diesem nun wieder die anderen Postulate folgen, so ist dieser verfehlte Selbsttäuschungsversuch, wenn er auch an FICHTE einen eifrigen Nachahmer und Übertrager ins theoretische Gebiet fand, doch nur ein Beweis, wie sehr KANT sich danach sehnte, den unmittelbaren kategorischen Charakter der praktischen Vernunft wenn möglich durch einen aus formellen Verstandesprinzipien vermittelten zu ersetzen. Ist ihm dies für das praktische Gebiet nicht gelungen, so hat er es für das theoretische Gebiet niemals versucht. Allerdings kennt KANT den Unterschied von Vernunft und Verstand auch dort; wie unklar aber diese Begriffe, namentlich der der Vernunft, von ihm bestimmt und abgegrenzt sind, hat schon SCHOPENHAUER in seiner Kritik (W. a. W. u. V., a. a. O., Seite 511-513, 521-523) gezeigt. Für uns ist hier nur das eigene Eingeständnis HEGELs von Wichtigkeit, daß KANTs Vernunft in theoretischer Beziehung nichts Positives gibt, also in der Tat über die anerkannte Leistungsfähigkeit des Verstandes gar nicht hinauskommt (Werke VI, Seite 114:
Indem sich bei FICHTE das Ding-ansich in das abstrakte vom Ich gesetzte Nicht-Ich verwandelt und somit ausdrücklich aller Inhalt des Bewußtseins als ein vom Ich produzierter ausgesprochen wird, tritt ihm der Vorwurf nahe, vom Standpunkt des subjektiven Idealismus den Versuch zu wiederholen, den SPINOZA vom Standpunkt der naiven Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gemacht hatte, nämlich ein System der Philosophie auf rein deduktivem Weg zu gewinnen, nun nicht mehr wie SPINOZA von der Definition der absoluten Substanz ausgehend, sondern von den formalen Voraussetzungen allen Denkens, dem Satz der Identität und des Widerspruchs. SPINOZA hatte gut deduzieren aus seiner Substanz, weil er von vornherein allen Inhalt in sie hineingeworfen hatte, aber FICHTE konnte seine "Wissenschaftslehre" nur in dem großen Irrtum unternehmen, allen Inhalt aus einem rein formalen, allen Inhalt entbehrenden Prinzip deduzieren zu wollen, wohingegen HEGEL sehr wohl weiß, "daß aus einer absoluten Formalität zu keiner Materialität zu kommen ist" (Werke I, Seite 281). So weit war also FICHTE davon entfernt, an den Sätzen der Identität und des Widerspruchs zu rüttlen, daß er sie vielmehr als die formalen Prinzipien hinstellt, von denen er sein gesamtes System ableitet. Die Ziele, welche FICHTE zunächst im Auge hatte, waren einerseits die Deduktion der kantischen Kategorien, andererseits die der kantischen Ethik. Betrachten wir die Art und Weise seiner Ableitung, so sagt er ("Wissenschaftslehre", erste Ausgabe, Seite 25f) etwa folgendes:
Niemals deduziert er, wie HEGEL, die Antithesis aus der Thesis, sondern beide sind ihm auf gleiche Weise entweder als Prinzipien gegeben oder aus einem Dritten entwickelt. Thesis wie Antithesis sind stets in einer Satzform ausgesprochen, nicht bloße Begriffe; sie sind aufzufassen als ein und dasselbe Urteil, das eine Mal mit positiver, das andere Mal mit negativer Kopula; sie stellen also den Widerspruch in reinster Form dar. Sofort ergibt sich aber, daß dieser Widerspruch nur durch die Ungenauigkeit des Verbalausdrucks in die Sache hineingebracht worden ist; denn die Synthesis widerruft die Allgemeinheit, in welcher Thesis wie Antithesis sich ausdrückten, und schränkt ihre Bedeutung und Geltung auf solche Weise ein, daß nunmehr jeder der Sätze etwas anderes sagt, und sie sich nicht mehr widersprechen. Die Synthesis hat demnach auch noch die Form eines Doppelsatzes, dessen beiden Seiten die nunmehr berichtigte Thesis und Antithesis darstellen. Dieser synthetische Doppelsatz als solcher enthält keinen Widerspruch mehr, wohl aber ist es möglich, daß sich aus jedem der beiden Teile dieses Doppelsatzes neue Widersprüche zu ergeben scheinen, wobei dieser Schein in derselben Weise durch eine gegenseitige Beschränkung gelöst wird. Hierin liegt die Möglichkeit des Fortgangs der Deduktion. So wird z. B. bei der ersten Synthesis: "Das Ich setzt sich als beschränkt durch das Nicht-Ich und setzt das Nicht-Ich als beschränkt durch sich" aus dem ersten Teil die theoretische, aus dem zweiten die praktische Philosophie abgeleitet. Vollständig und lückenlos durchgeführt würde also das Schema der FICHTEschen Dialektik [...] ins Unendliche gehen. Nur der willkürlich eintretende Machtspruch der praktischen Vernunft vermag die theoretische Entwicklung abzubrechen, aber die praktische Entwicklung ihrerseits bleibt auch in diesem fruchtlosen unendlichen Prozeß stecken. Fragt man sich nun, was die FICHTEsche Methode wirklich zu leisten vermag, so bleibt nichts übrig, als die alte sokratische Begriffsberichtigung, die Berichtigung der fehlerhaften Voraussetzungen durch derartige Änderungen derselben, daß die aus jenen Fehlern entspringenden Widersprüche verschwinden. Der Schein einer Entwicklung von positiven Erkenntnissen verschwindet aber schon vor der einfachen Erwägung, daß aus rein formellen Prinzipien keine materielle Erkenntnis zu schöpfen ist, er ist aber auch im einzelnen ohne Mühe durch den Nachweis zu beseitigen, wie die einzelnen Bestimmungen teils künstlich eingeschoben werden, teils aber ihnen (z. B. dem Grund) eine ganz unvollständige Bedeutung beigelegt wird. Fragen wir aber, worauf in FICHTEs eigenen Augen sein ganzes System ruht, d. h. wie er zu seinen Prinzipien kommt, so sind es ihm nichts anderes als "Tatsachen des empirischen Bewußtseins". Alles entwickelt sich bei ihm aus Verstandesprinzipien, oder vielmehr er, der Denker, entwickelt die Bestimmungen des Wissens aus jenen obersten Tatsachen des empirischen Bewußtseins nach den allgemein angenommenen Gesetzen des Verstandes. Ich will hier schließlich noch anfügen, wie HERBART über FICHTEs dialektische Tendenzen urteilte. HERBARTs Werke V, Seite 259:
In seiner vorhegelschen Periode (transzendentale Idealismus und Naturphilosophie) folgt SCHELLING in der Methode wesentlich der FICHTEs, nur daß er sie freier und gewissermaßen künstlerischer behandelt und zum Ausgangspunkt die Identität des Subjekts und Objekts nimmt, zu welcher er nur auf dem Weg der transzendentalen Vernunftanschauung gelangen zu können meint, obwohl er in Werke I. 10, Seite 147-151 die Bedeutung und das Objekt dieser transzendentalen Anschauung auf eine so vorsichtige Weise einschränkt, daß, wenn er niemals etwas anderes damit im Sinn gehabt hätte, seine Klage über das Mißverstehen dieses Begriffs ganz gerechtfertigt wäre, Er nennt die Methode, deren er sich bedient, die synthetische Methode, und skizziert das Schema derselben in unvollkommener Weise mit folgenden Worten (Werke I. 3, Seite 412:
In der Naturphilosophie wird die synthetische Methode bei SCHELLING mehr und mehr zu einem unfruchtbaren spielenden Schematismus. HEGEL sagt darüber (Werke XV, Seite 614):
Die ursprüngliche noch ungeschiedene Einheit, aus der erst alle Differenzen hervorgehen, heißt in SCHELLINGs erster Periode "absolute Identität", in der zweiten "Indifferenz"; die synthetische Verknüpfungseinheit, in welche die differenzierten Gegensätze zusammen eingehen, heißt in der ersten Periode "Indifferenz" oder schlechtweg "Identität" (ohne den Zusatz "absolute"), in der zweiten Periode nur noch "Identität" (Werke I. 6, Seite 209; I. 7, Seite 154, 406, 422, 433). Die wiederhergestellte Einheit wird auch als der Sieg der Einheit über den Gegensatz, oder als Einheit der Einheit und des Gegensatzes bezeichnet (Werke I. 4, Seite 295; I. 2, Seite 390; I. 7, Seite 445). Dabei kommt die Dreiteiligkeit in Schwierigkeiten. Anfangs bildeten Thesis, Antithesis und Synthesis die Trias, jetzt ist es eine ursprüngliche Einheit, der aus ihr entsprungende Gegensatz und die Verschmelzungseinheit. Im ersteren Fall fehlt die ursprüngliche Einheit, die Indifferenz vor der Differenzierung; im letzteren Fall sind die Thesis und Antithesis als Gegensatz in Eins gefaßt. Darum hat JOHANN JACOB WAGNER die SCHELLINGsche Philosophie zu verbessern geglaubt, indem er sie im Sinne einer Vierteiligkeit umbildete. - Den Gegensatz faßt der reflektierende Verstand entweder als "sowohl - als auch" oder als "entweder - oder" oder als "weder - noch" auf, und verwickelt so beim Versuch, die Bestimmungen des Gegensatzes als einseitige festzuhalten, in Widersprüche, während doch das schlechthin einfache Absolute nur durch eine einfache (intellektuelle) Anschauung zu erkennen ist (Werke I. 6, Seite 23-25; I. 7, Seite 151-155). Aber hier ist doch das Sein und das wahre Erkennen widerspruchsfrei und nur die endliche diskursive Verstandesreflexion ist es, die durch ihre Unangemessenheit an die Sache Widersprüche schafft (Werke I. 7, Seite 151). Wie SCHELLING über die HEGELsche Methode dachte, hat er unumwunden ausgesprochen in seiner Kritik der hegelschen Philosophie (Werke I. 10); besonders lehrreich ist Seite 132-135, wo er den Anfang der hegelschen Logik behandelt. Über das Prinzip der Selbstfortbewegung bei HEGEL sagt er ferner (Werke I. 10, Seite 132):
In seiner späteren Zeit wandte sich SCHELLING von der deduktiven FICHTEschen Dialektik ab und der indutiven Seite der platonischen Dialektik zu, indem er sich an der HEGELschen Philosophie überzeugt hatte, daß es der apriorischen Idee unmöglich ist, von sich aus zur Wirklichkeit zu kommen, daß das rein logische Philosophieren ewig ein hypothetisches bleibt und daß ARISTOTELES recht hat, wenn er sagt, daß zu den Prinzipien nicht auf deduktivem, sondern nur auf dem alsdann allein übrigbleibenden, induktivem Weg zu gelangen ist (vgl. Werke II. 1, Seite 297). Wir lassen SCHELLING selbst reden, wie er seine nunmehrige Dialektik auffaßt. Werke II. 1, Seite 325 sagt er, daß die Dialektik ihre Bestimmungen nach reinster formaler Denknotwendigkeit setzt, über die sich niemand täuschen kann. Seite 302 bestätigt er dies mit den Worten:
Ein reeller Grund bleibt ihm freilich übrig, warum die von ihm verlangte Induktion nicht ausreicht, d. h. ihre willkürliche Beschränkung nicht nur auf eine innere, d. h. psychologische Erfahrung, sondern auf einen ganz beschränkten Teil derselben. Zur Philosophie aber kann nur eine Induktion auf "breitester Grundlage" führen, d. h. eine Induktion, die sich auf alle nur irgendwie zugängliche Erfahrung stützt, wie schon ARISTOTELES sich um eine solche "breiteste Basis bemühte. So springt SCHELLING möglichst schnell von dieser unbehaglichen Grundlegung ab, und setzt das Verhältnis des Logischen und des Dialektischen in einem engeren Sinn auseinander. Diese unterscheidet er so, daß das Logische die Bestimmungen nach einer formalen Denknotwendigkeit als Prinzipien setzt, das Dialektische aber sie als Prinzipien aufhebt und nur als Voraussetzungen, als Stufen zum Prinzip bestehen läßt (Seite 328). Immer aber hält er fest, daß dieses Aufsteigen durch platonische Voraussetzungen eine Induktion ist, und erläutert dies am Beispiel des Experimentators (Seite 329):
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1) Selbst HERMANN COHEN gesteht dies in "Kants Theorie der Erfahrung", Seite 261 zu, räumt also damit implizit ein, daß der angebliche indirekte Beweis für den transzendentalen Idealismus gar kein solcher ist, da er sich in einem circulus vitiosus [Teufelskreis - wp] dreht. 2) Vgl. meine Schrift "Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik in den vier Perioden ihrer Entwicklung", 1894 (Die transzendentale Dialektik, Seite 183-228 und 246-248). 3) Vgl. hierzu meine Schrift "Schellings philosophisches System", 1897, Seite 25-51. |