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WALTER SCHIRREN
Rickerts Stellung
zum Problem der Realität

[Eine Kritik ihrer Grundlagen]
[ 2 / 2 ]

"Wir sehen keinen anderen Weg, als den, daß wir versuchen, uns diejenigen Formen der Seins-Erfassung unmittelbar zu vergegenwärtigen, deren Form-Charakter über jeden Zweifel erhaben ist."

"Wo Erkenntnis gesucht wird, da wird sie als Antwort auf eine Frage gesucht. Der Urteilsakt leistet nur dann etwas für die Erkenntnis, wenn er auf eine Frage antwortet. Folglich ist das Urteil seinem Wesen nach die Antwort auf eine Frage."

"Eine Frage kann über einen Gegenstand nicht gestellt werden, solange sein Gegebensein selbst irgendwie fraglich ist. Denn damit über einen Gegenstand etwas gefragt werden kann, muß er gemeint, d. h. irgendwie als Gegenstand gegeben sein. Die Frage Ist dies irgendwie gegeben? ist absolut sinnlos. Eine elementare Frage kann sich immer nur auf eine Beschaffenheit des Gegenstandes, auf sein Verhältnis zu anderen Gegenständen oder auf die Art seiner Gegebenheit beziehen."

"Es ist richtig, daß Tatsachenfeststellungen unbezweifelbar sind. Das sind sie, weil sie jenseits von wahr und falsch gewiß sind. Ihre Gewißheit liegt diesseits allen Glaubens und Zweifelns. Sie sagen nur, was unmittelbar gegeben ist."

"Die empirischen Tatsachen sind gar nicht denknotwendig. Die Unbezweifelbarkeit der empirischen Tatsachen beruth vielmehr auf der Tatsächlichkeit der ihnen zugrunde liegenden Sachverhalte, auf der empirischen Gewißheit der in ihnen festgestellten Tatsachen."

"Daß es absolut unmöglich ist, das Gegenteil von dem festzustellen, was nun einmal gegeben ist, beruth auf dem Wesen der Gegebenheitsart der rationalen und empirischen Tatsachen, die jenseits von wahr und falsch gewiß sind, weil sie auf einer Ebene liegen, in welcher der Zweifel gar keine Angriffsmöglichkeit hat."

"In Zukunft sollte es in der Erkenntnistheorie keine ismen mehr geben, sondern nur noch Theorien der verschiedenen Erkenntnisarten. Aus den Richtungen der Erkenntnistheorie sollten Disziplinen werden, aus dem Kampf aller gegen alle eine friedliche Arbeitsteilung."

Zweiter Teil
Rickerts Stellung zum Problem
der empirischen Wirklichkeit.


I. Die Beziehungen des Problems der empirischen
Wirklichkeit zum Problem der
transzendenten Realität.

Wenn der naive Mensch von einem wirklichen Baum im Gegensatz zu einem vorgestellten oder zu einem bloß gedachten Baum spricht, so meint er damit einen Baum als Träger unmittelbar erlebter oder unmittelbar erlebbarer Eigenschaften: einen sichtbaren Körper von bestimmter Gestalt und Farbe. Wenn der Wind hindurchstreicht, sieht er, wie sich der Baum bewegt, und er hört zugleich diese sichtbaren Bewegungen als Rauschen. Er atmet im Frühling den Duft seiner Blüten, er erlebt im Herbst unmittelbar den Geschmack der Frucht, er fühlt mit den Händen die rauhe Beschaffenheit der Rinde. Der naive Mensch ist zugleich auch überzeugt, daß, wenn er sich aus dem Gesichtskreis des Baumes entfernt, und ihn also nicht mehr unmittelbar erlebt, dieser Baum deshalb doch existiert, ja, daß der Baum mit seinem braunen Stamm, seinen grünen Blättern, seinen duftenden Blüten und seiner rauhen Rind auch dann existieren würde, wenn er von keinem Menschen oder sonst mit Bewußtsein begabten Wesen erlebt würde. Der Baum, als unmittelbar im Bewußtsein erlebter Gegenstand und der Baum als Wesen, das existiert, unabhängig davon, ob irgendein Bewußtsein auf ihn gerichtet ist - das ist für den naiven Menschen eine untrennbare Einheit, die er den wirklichen Baum nennt, im Gegensatz zu einem Baum, den man sich bloß vorstellt oder denkt, der aber nicht existiert. Der naive Mensch unterscheidet also nicht zwischen dem Ding-ansich und seiner Erscheinung.

Nun kommt die Wissenschaft und klärt uns darüber auf, daß das Sinnenbild des Baumes, wie wir es unmittelbar im Bewußtsein erleben, gar nicht identische ist mit dem Baum, wie er ansich existiert. Sie lehrt uns die Sinneseindrücke, die wir von dem ansich existierenden Ding haben, als bloße Erscheinung begreifen, die dadurch zustande kommt, daß das Ding unsere Sinne reizt.

Und nun kommt die moderne Erkenntnistheorie und fragt: Haben wir überhaupt ein Recht, den Dingen noch einen anderen Charakter zuzuschreiben als den, welchen sie in ihrer unmittelbar erlebbaren Bewußtheit haben? Haben wir ein Recht, den Dingen einen Charakter zuzuschreiben, der sich jeder Möglichkeit des unmittelbaren Erlebtwerdens grundsätzlich entzieht? Haben wir das Recht, den Dingen noch ein anderes Dasein zuzuschreiben als von der Art wie wir es unmittelbar jederzeit erleben können?

Darauf antwortet RICKERT mit einem glatten Nein. Ob dieses "Nein" genügend begründet ist, das zu untersuchen war unsere Aufgabe. Wir haben zu zeigen versucht, daß es RICKERT nicht gelungen ist, zu beweisen, daß den Dingen eine Existenz abgesprochen werden darf, die sie unabhängig von den Denkformen haben, in denen wir sie meinen. Er identifiziert ihr Dasein mit ihrer Gegebenheit, ohne diese Identifizierung hinreichend zu rechtfertigen.

Auch der naive Mensch unterscheidet nicht explizit das Dasein der Dinge, das sie haben, sofern sie im Bewußtsein gegeben sind, und ihre von jeder Form der Bewußtheit unabhängige Existenz. Er unterscheidet nicht zwischen der unmittelbaren Gegebenheit der Dinge im Bewußtsein, die wir empirische Wirklichkeit nennen wollen und der problematischen, von jeder Form der Gegebenheit unabhängigen Existenz der Dinge, die wir transzendente Realität nennen.

Die Sprache ist älter als die erkenntnistheoretischen Probleme. Und was das Volk in dem einen Begrif der Wirklichkeit zusammenfaßte, sind für den erkenntnistheoretisch reflektierenden Menschen Begriffe von Seinsarten, die sich schärfer unterscheiden als Tag und Nacht. Weil der naive Mensch die Probleme, die sich uns auftun, nicht sah, warf er die heterogensten [ungleichartigsten - wp] Dinge in einen Topf. Und die Erkenntnistheoretiker, die, wenn sie verstanden werden wollen, die überliefert Sprache als einziges Ausdrucksmittel haben, geraten in bittere Not. Sie laufen beständig Gefahr, sich gegenseitig mißzuverstehen und aneinander vorbeizureden.

Wenn bisher im Begriff der Wirklichkeit zwei ganz heterogene Größen gemeint und vermischt wurden (was nach den bisherigen Ausführungen als zumindest möglich zugegeben werden muß, weil es RICKERT nicht gelungen ist, das transzendente Reale als problematische Größe auszumerzen): - wenn also, wie gesagt, zwei unter sich gänzlich verschiedene Gegenstände im Begriff der "Wirklichkeit" zusammengeschmolzen, zusammengefälscht wurden; nämlich die unmittelbare Gegebenheit und die Unabhängigkeit von ihr - wie soll man sich da verständlich ausdrücken, wenn man zur Erläuterung des Gemeinten den alten Wirklichkeitsbegriff nicht irgendwie mit heranzieht?

KÜLPE hat sich geholfen, indem er die unmittelbare Gegebenheit als Wirklichkeit bezeichnete, die Unabhängigkeit von ihr mit dem Fremdwort Realität. Die Folge davon ist, daß seine Ausführungen klar und unzweideutig sind. Seinem Vorgang haben wir uns angeschlossen und sprechen, um endgültig jedes Mißverständnis auszuschließen, von empirischer Wirklichkeit und transzendenter Realität. Daß es bei so absolut heterogenen Begriffen unmöglich ist, das, was man versucht hat für den einen nachzuweisen (etwa daß er nur der Begriff einer Denkform ist) nach Analogie auf den andern einfach zu übertragen - daß das unmöglich ist, bedarf wohl keines Kommentars.

Wenn RICKERT den Analogieschluß von der Wirklichkeit auf die Realität, der nach unseren Ausführungen unmöglich ist, trotzdem unternimmt, so ist das darauf zurückzuführen, daß er den Begriff der transzendenten Realität im Grunde schon von vornherein als Problem abgelehnt hat. Dieser Begriff erschien RICKERT offenbar schon von vornherein als unsinnig.

Wir würdigen durchaus den Ernst und das Pathos, mit dem RICKERT gegen den Begriff der transzendenten Realität vorgeht. Aber objektiv betrachtet, scheint er mit diesem Begriff Fußball zu spielen. Er lehnt ihn ab, wie man etwa den Begriff eines hölzernen Eisens oder eines weißen Rappens ablehnen würde, wenn er von ihm als von einem "Bewußtseinsjenseitigen in einer Bewußtseinsform" spricht (64/Anm.)

Wir begreifen wohl, daß RICKERT von seinem Standpunkt aus diesen Begriff unsinnig findet. Aber diesen Standpunkt selbst wollen wir jetzt in seinem Fundament kennenlernen. Wir wollen im Folgenden RICKERTs Stellung zum Problem der empirischen Wirklichkeit darstellen und würdigen.

Es gibt also nicht, wie RICKERT meint, eine "Realität", von der die empirische Wirklichkeit und die transzendente Realität Spezialfälle wären. Der einzige gemeinsame Begriff, unter den sie sich beide bringen lassen, ist der der Seinsart, unter welchen Wirklichkeit, Idealität und Realität gleichmäßig fallen. Diese drei unterscheiden sich alle wesentlich voneinander. Der Unterschied zwischen "Wirklichkeit" und "Realität" ist nicht geringer als der zwischen "Wirklichkeit" und "Idealität". So unmöglich es ist, vom Wesen der Idealität auf das Wesen der Wirklichkeit oder Realität zu schließen, so unmöglich ist es, vom Wesen der Wirklichkeit auf das der Realität zu schließen. Von allen dreien zusammen gilt nur, was von der Seinsart überhaupt gilt. Allenfalls lassen sich noch Wirklichkeit und Idealität unter einen Begriff bringen, nämlich unter den Begriff der Gegebenheit, zu welcher kein Begriff in einem stärkeren Gegensatz steht, als der Begriff der Realität. (Realität und Wirklichkeit schließen einander aus. Was wirklich ist, ist nicht real. Und was real ist, ist nicht wirklich. Die realen Objekte sind nicht gegeben in Gestalt des durch sie ausgelösten Empfindungskomplexes, den wir das wirkliche Objekt nennen; denn von diesem sind sie ja wesensverschieden. Die Gegebenheitsart der realen Objekte, sofern sie überhaupt gegeben sein können, ist nicht Wirklichkeit, sondern Geglaubtheit.)

Für Rickert ist das Problem der transzendenten Realität ein Spezialproblem vom Problem der Wirklichkeit überhaupt.

Für uns handelt es sich nach dem Gesagten um zwei gänzlich gesonderte Probleme. Um aber RICKERT vollkommen gerecht zu werden, müssen wir, obgleich wir diese logische Unterordnung der Probleme entschieden zurückweisen, auf das Problem der Wirklichkeit eingehen und fragen.

Ist das Bestehen eines wirkliche Sachverhalts identisch mit seinem Gegebensein im Urteilssinn?

Ist die Wirklichkeit eine Urteilsform, oder besteht das Wirkliche unabhängig davon, daß seine Wirklichkeit als Prädikat im Urteilssinn eines urteilenden Bewußtseins überhaupt gegeben ist? Gelingt es uns, nachzuweisen, daß das Wirkliche und seine Seinsart, die Wirklichkeit, unabhängig von einem Urteilssinn und urteilenden Bewußtsein überhaupt bestehen, so wird dem Standpunkt, von dem aus RICKERT die Annahme und den Begriff der transzendenten Realität ablehnen zu müssen glaubte, vollständig der Boden unter den Füßen weggezogen. Denn das stärkste Argument RICKERTs war ja dieses, daß die Wirklichkeit eine Urteils- oder Denkform ist.

Es hätte sich vielleicht empfohlen, die Abschnitte des ersten Teils, die von RICKERTs Kritik des Begriffs der transzendenten Realität und von der "Unbegründbarkeit" der Realurteile handeln, erst nach der Erörterung des Problems der empirischen Wirklichkeit zu bringen. Aber ich glaubte doch, das über das Problem der transzendenten Realität Gesagte zusammenstellen zu sollen, wenn auch die ausführliche Begründung mancher dort aufgestellter Behauptungen erst im zweiten Teil zu suchen ist. Es dürfte genügen, an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinzuweisen.


II. Das Problem der empirischen
Wirklichkeit als Problem einer Form.

Die voraussetzungslose theoretische Erfassung des wahrgenommenen Wirklichen heißt Konstatierung einer Tatsache. In der Feststellung, daß etwas Tatsache ist, steckt nach RICKERT das Problem der Tatsächlichkeit oder der empirischen Wirklichkeit. Was ist das Kriterium dieser Wirklichkeit?

Wonach richtet sich das Konstatieren bei der Feststellung, daß etwas wirklich ist? Was bildet das Kriterium der Feststellung, daß etwas als wirklich gegeben ist? Oder, da Konstatieren Urteilen ist, kann man auch so fragen: Wonach richtet sich das Urteil, das einen Inhalt als wirklich feststellt?

RICKERT scheidet streng die Wirklichkeit vom Wirklichen, also von dem, was Wirklichkeit hat. Das Wirkliche selbst als Material der Wissenschaft kann nach RICKERT nicht das Kriterium der Feststellung bilden, daß der Inhalt wirklich ist. Die Wirklichkeit gehört nicht zum Inhalt des Wirklichen. Dem wirklichen Inhalt kommt nach RICKERT die Form der Wirklichkeit zu.

Die "Form" der Tatsächlichkeit oder Gegebenheit, die der als gegeben festgestellte Inhalt hat, ist nach RICKERT das Problem der Tatsachenfeststellung. Ein Inhalt, der für die Tatsachenfeststellung als Material in Betracht kommen soll, muß die "Form" der Gegebenheit oder Tatsächlichkeit haben. Darum weist die voraussetzungslose Seinserfassung auf eine Form hin. (Form der Tatsächlichkeit oder Gegebenheit ist für RICKERT gleichbedeutend mit Form der Wirklichkeit. Ich werde weiter unten im Gegensatz zu RICKERT verschiedene Formen der Gegebenheit unterscheiden und es ablehnen müssen, die Wirklichkeit überhaupt als eine Form zu begreifen.)

Demgemäß faßt RICKERT das Problem der empirischen Wirklichkeit als das Problem einer Erkenntnis-Form auf. RICKERTs Unterscheidung zwischen der Wirklichkeit und dem Wirklichen, das diese Wirklichkeit hat, ist durchaus beherzigenswert. Es ist eine Nachlässigkeit des Sprachgebrauchs, diese beiden Begriffe zu vermengen. Ob es sich dagegen empfiehlt, die Wirklichkeit als Form des Wirklichen zu bezeichnen, ob es richtig ist, die Wirklichkeit als eine Form des Erkennens aufzufassen, das ist eine andere Frage, die wir im Folgenden zu entscheiden versuchen wollen.

Wir sehen keinen anderen Weg, der zu diesem Ziel führen kann, als den, daß wir versuchen, uns diejenigen Formen der "Seins-Erfassung" unmittelbar zu vergegenwärtigen, deren Form-Charakter über jeden Zweifel erhaben ist. Es ist ja wohl auch RICKERTs eigene Meinung, daß die Formen der "Seins-Erfassung" identisch sind mit den Formen, in welchen Seiendes gegeben ist. Wir können sie objektiv bezeichnen als "Formen der Gegebenheit", subjektiv als die Formen, in welchen Gegebenes erfaßt wird.

Das Gegebene kann in drei verschiedenen Formen der Gegebenheit gegeben sein. (Wenn man nach dem Vorbild der Mathematiker die "Formlosigkeit" als negative Größe mit aufzählen will unter den Formen, in welchen Gegebenes gegeben sein kann. Andernfalls mag man sich darauf beschränken, von zwei Formen zu reden.)

Etwas kann gegeben sein:
    1. als selbständiger Bestand, d. h. als Gegenstand oder als Sachverhalt.

    2. als zu einem selbständigen Bestand gehörig (Wesensbeschaffenheiten und Wesensverhalte, die nicht selbständig gegeben sind, oder das Bestehen analytisch einsichtiger Beziehungen zwischen Gegenständen).

    3. formlos; d. h. als etwas, das weder als selbständiger Bestand, noch als zu einem selbständigen Bestand gehörig gegeben ist.
Ich will versuchen, den Unterschied der beiden ersten Gegebenheitsformen an Beispielen klarzumachen. Als selbständiger Gegenstand kann gegeben sein ein blumiges Tapetenmuster, ohne daß deshalb irgendeine Blume des Tapetenmusters als selbständiger Gegenstand gegeben zu sein braucht. Zum Bestand eines blumigen Tapetenmusters gehört aber als Wesensverhältnis, daß sich das Muster aus Blumen zusammensetzt. Die Blumen des Tapetenmusters sind demnach als zu einem selbständigen Bestand gehörig gegeben, auch wenn keine von ihnen als selbständiger Bestand gegeben ist.

Als selbständiger Bestand kann gegeben sein ein rechtwinkliges Dreieck, ohne daß deshalb die Summe der beiden spitzen Winkel dieses Dreiecks als selbständiger Bestand gegeben zu sein braucht. Zum Bestand eines rechtwinkligen Dreiecks gehört aber als Wesensverhältnis, daß die Summe seiner spitzen Winkel 90° beträgt, vorausgesetzt, daß das Dreieck in einer Ebene liegt. Die Summe der beiden spitzen Winkel eines ebenen rechtwinkligen Dreiecks ist also als zum Bestand dieses Dreiecks gehörig gegeben, auch wenn sie nicht als selbständiger Bestand gegeben ist.

Ein Kieselstein kann als selbständiger Bestand gegeben sein, ohne daß deshalb die Tatsache, daß der Kieselstein einen Raum ausfüllt, als selbständiger Bestand gegeben zu sein braucht. Zum Wesen eines Körpers gehört es aber, daß er einen Raum ausfüllt. Daß der Kieselstein nach drei Dimensionen ausgedehnt ist, das ist eine Tatsache, die als zum Wesen des Kieselsteins gehörig gegeben ist, auch wenn diese Tatsache nicht als selbständiger Bestand gegeben ist.

Es dürfte hiernach klar sein, daß Gegebenes in zwei verschiedenen Formen der Gegebenheit gegeben sein kann: als selbständiger Bestand und als zu einem selbständig gegebenen Bestand gehörig.

Es kann aber auch etwas ohne Bestandscharakter und ohne Bestandszugehörigkeit gegeben sein. Nehmen wir einmal an, es sei ein Kleefeld als selbständiger Gegenstand gegeben, ohne daß deshalb ein einzelnes Kleeblatt in diesem Kleefeld als selbständiger Gegenstand gegeben ist. Zum Bestand des Kleefeldes gehört aber als Wesensverhältnis, daß es sich aus einzelnen Kleeblättern zusammensetzt. Die Kleeblätter sind also als zum Bestand des Kleefeldes gehörig mit-gegeben. Nehmen wir nun an, es sei unter den im Kleefeld tatsächlich gegebenen Kleeblättern (von denen keins als selbständiger Gegenstand gegeben ist) ein Kleeblatt vierblättrig, ohne daß dieses Kleeblatt oder seine Vierblättrigkeit als selbständiger Bestand gegeben ist. Dann ist klar: Dieses vierblättrige Kleeblatt ist (in seiner Eigenschaft als vierblättrig) weder als selbständiger Gegenstand noch als zu einem selbständigen Bestand gehörig gegeben; denn zum Bestand eines Kleefeldes gehört nicht, daß eins von seinen Kleeblättern vierblättrig ist. Dieses vierblättrige Kleeblatt ist aber doch tatsächlich gegeben und trägt durch seine Gegebenheit dazu bei, die grüne Fläche des Kleefeldes vollzumachen. Dieses vierblättrige Kleeblatt ist also gegeben, ohne irgendeine Form der Gegebenheit zu haben. Es gehört, wie RICKERT etwa sagen würde, in die Kategorie des nicht rationierten Gegebenen.

Es gibt also drei Formen der Gegebenheit, oder wenn man lieber will, drei Stufen der Gegebenheit, von der die ersten beiden Formen sind, die dritte aber eine gänzliche Formlosigkeit des Gegebenseins ist.

Wir unterscheiden also:
    1. die Form des Bestandes
    (Gegenstandscharakter, Sachverhaltscharakter).
    2. die Form der Bestandszugehörigkeit
    3. die Formlosigkeit des Gegebenseins.
Nun ist es einleuchtend, daß ein und dieselbe Sache in verschiedener Form gegeben sein kann: als bestandszugehörig, als Bestand oder auch ganz formlos, je nachdem auf welcher Stufe des Gegebenseins sie sich befindet. Man kann sich nach einiger phänomenologischer Übung jederzeit leicht davon überzeugen. Daraus lernen wir:

Die Gegebenheitsform einer Sache ist eine Anordnung ihrer Bestandteile, die diesen nicht notwendig zukommt, derart, daß sie auch ohne diese Anordnung bestehen können. Was einer Sache zukommt, derart, daß sie ohne die ihr zuzuerkennende Bestimmung nicht möglich ist, gehört nicht zum formalen Charakter, sondern zum Wesen der Sache.

Gehört nun die Wirklichkeit zum formalen Charakter oder gehört sie zum Wesen des Wirklichen?

Diese Fragen können wir in zwei Fragen zerlegen:
    1. Können wir die Wirklichkeit losgelöst denken von dem, was zweifellos zum formalen Charakter des Wirklichen gehört?

    2. Können wir die Wirklichkeit losgelöst denken vom Wesen des Wirklichen?
Diese beiden Fragen können wir jedoch erst beantworten, wenn wir uns auseinandergesetzt haben mit der Auffassung, die RICKERT vom Wesen des Wirklichen und vom Wesen der Wirklichkeit hat. Um aber diese Auffassung RICKERTs verstehen und würdigen zu können, müssen wir seine Theorie vom Wesen des Urteils kennenlernen, die ihrerseits auf die Urteilslehre WINDELBANDs Bezug nimmt. Mit dieser werden wir also unsere Auseinandersetzung zu beginnen haben.

Bevor wir aber in diese Auseinandersetzung eintreten, werden wir uns noch eine Tatsache zu vergegenwärtigen haben, die für die Beantwortung der eben von uns formulierten Fragen und für das Verständnis der folgenden Auseinandersetzung von entscheidender Bedeutung sein dürfte.

Wenn ich etwas wirklich nenne, so weise ich damit auf die Art seiner Gegebenheit hin und unterscheide es durch diese Bezeichnung von einem Idealen und vom bloß Geglaubten, das nicht wirklich ist, also eine ganz andere Art der Gegebenheit hat. Wir haben also außer den drei Formen oder Stufen der Gegebenheit noch drei Arten der Gegebenheit zu unterscheiden:
    1. die Wirklichkeit oder empirische Gegebenheit,

    2. die Idealität oder ideale Gegebenheit (die Gegebenheitsart der mathematischen Objekte),

    3. die Geglaubtheit oder hypothetische Gegebenheit (die Gegebenheitsart der Objekte des Glaubens).
Das Wirkliche kann nun, wie alles Gegebene überhaupt (d. h. wie auch das Ideale und das Geglaubte) in verschiedenen Gegebenheits- oder Bestandsformen gegeben sein, die wir oben kennengelernt haben. Die Art seiner Gegebenheit, also die Wirklichkeit, hat es aber unabhängig davon, in welcher Bestandsform es gegeben ist. Die Wirklichkeit ist demnach nicht die Form des Wirklichen, sondern die Art seiner Gegebenheit.

Dies ist das Ergebnis, zu dem wir gelangen, wenn wir RICKERTs von vornherein aufgestellte Behauptung, die Wirklichkeit sei die Form des Wirklichen, einer unbefangenen Prüfung unterziehen.

Dieses vorläufige Ergebnis entbindet uns aber nicht von einer eingehenden Untersuchung des gesamten Materials, mit dem RICKERT diese seine Behauptung zu stützen versucht. In diese Untersuchung wollen wir nun sofort eintreten.


III. Rickerts Lehre vom Urteil.
1. Windelbands Lehre vom Urteil

WINDELBAND lehrt: Die Urteile werden durch eine Beurteilung für wahr oder falsch erklärt. Sind Urteile das, was wahr oder falsch ist, so muß jedes Urteil eine Beurteilung sein; d. h. jedes ureil muß den Charakter einer Anerkennung oder Verwerfung, einer Bejahung oder Verneinung haben. Alle auf Wahrheit gerichteten Urteile unterliegen einer Bejahung oder Verneinung und sind somit Kombinationen von Urteil und Beurteilung. Sie sind Vorstellungsverbindungen, über deren Wahrheitswert durch Bejahung und Verneinung entschieden wird.

Hierzu haben wir Folgendes zu bemerken:

Daraus, daß Urteile durch eine Beurteilung für wahr oder falsch erklärt werden, folgt nicht, daß jedes Urteil eine Beurteilung ist. Es mag richtig sein, daß alle Urteile unseres auf Wahrheit gerichteten Denkens entweder wahr oder falsch sind, folglich auch als wahr oder falsch beurteilt werden können. Daraus folgt aber nicht, daß jedes Erkenntnisurteil schon eine Beurteilung des Wahrheitswertes seines eigenen Urteilsgehalts notwendig einschließt. Mit anderen Worten es ist nicht bewiesen, daß jedes Erkenntnisurteil schon eine Kombination von Urteil und Beurteilung ist.


2. Urteil und Antwort.

RICKERT geht bei seiner Begründung der Urteilslehre davon aus, daß jedes Urteil seinem Sinn nach eine Antwort ist. RICKERT sagt: Wo Erkenntnis gesucht wird, da wird sie als Antwort auf eine Frage gesucht. Der Urteilsakt leistet nur dann etwas für die Erkenntnis, wenn er auf eine Frage antwortet. Folglich ist das Urteil seinem Wesen nach die Antwort auf eine Frage.

Hierzu habe ich Folgendes zu bemerken:

Es mag richtig sein, daß jede gesuchte Erkenntnis als Antwort auf eine Frage gesucht wird. Aber daraus folgt nicht, daß jede Erkenntnis (einschließlich der Konstatierung) gesucht ist.

Es ist nicht richtig, daß der Urteilsakt nur dann für die Erkenntnis etwas leistet, wenn er auf eine Frage antwortet. Damit überhaupt gefragt werden kann, muß zuvor zumindest eine Feststellung gemacht sein, auf welche die Frage irgendwie Bezug nimmt, an die sie irgendwie anknüpft. Damit überhaupt Erkenntnis gesucht werden kann, müssen vorher Feststellungen gemacht sein, die niemals gesucht waren. Was sollte uns denn den Anlaß und die Anregung geben zum Suchen und Fragen, wenn nicht irgendwelche Tatsachen, die sich vor allem Suchen und Fragen uns von selbst aufdrängen? Ist das nicht eine Leistung für die Erkenntnis, wenn ich in einem Urteil eine Feststellung mache, die mir die Anregung gibt, überhaupt nach Erkenntnis zu suchen?

Daß es Feststellungen geben muß, die allem Fragen vorhergehen, kann man sich folgendermaßen klarmachen. Eine elementare Frage ist darauf gerichtet, zu ergründen, ob einem gemeinten Gegenstand, eine bestimmte Beschaffenheit, eine bestimmte Beziehung oder eine bestimmte Seinsart zukommt. Um überhaupt fragen zu können, ob dem gemeinten Gegenstand eine bestimmte Beschaffenheit, Beziehung, oder Seinsart zukommt, muß dieser Gegenstand zumindest im allergemeinsten Sinn gegeben sein (wobei über die Art seiner Gegebenheit zunächst noch keine Klarheit zu herrschen braucht). Oder wie könnte sonst über ihn etwas gefragt werden?

Die denkbar elementarste und einfachste Frage der Wirklichkeitserkenntnis muß nach RICKERT 186/ lauten: "Ist dies wirklich?" d. h.: Hat dies die Gegebenheitsart der Wirklichkeit? Ist dies hinsichtlich der Art seiner Gegebenheit vom Idealen oder bloß Geglaubten unterschieden?

Damit ich überhaupt so fragen kann, muß "dies" in einem allgemeinen Sinn vorher gegeben sein. Oder wie könnte ich es sonst als einen Gegenstand erfassen, über welchen ich eine Frage stelle?

Bevor ich also fragen kann, ob dies wirklich ist, muß ich die Feststellung gemacht haben, daß dies überhaupt irgendwie gegeben ist. Der Frage "Ist dies wirklich?" muß also die Feststellung vorhergehen: "Dies ist irgendwie gegeben."

Zusammenfassend können wir also sagen:

Jede Frage muß die Erfassung eines Sachverhalts logisch vorhergehen, zumindest die Erfassung des Irgendwie-Gegebensein des Gegenstandes, auf den sich die Frage bezieht. Eine Frage kann über einen Gegenstand nicht gestellt werden, solange sein Gegebensein selbst irgendwie fraglich ist. Denn damit über einen Gegenstand etwas gefragt werden kann, muß er gemeint, d. h. irgendwie als Gegenstand gegeben sein. Die Frage "Ist dies irgendwie gegeben?" ist absolut sinnlos. Eine elementare Frage kann sich immer nur auf eine Beschaffenheit des Gegenstandes, auf sein Verhältnis zu anderen Gegenständen oder auf die Art seiner Gegebenheit beziehen, ob er nämlich wirklich, ideal oder bloß geglaubt ist.

Es gibt also Tatsachen, deren Konstatierung jeder Fragestellung vorhergehen muß. Die Leistung einer solchen elementaren Konstatierung für die Erkenntnis beruth darauf, daß sie ein Frage, also ein Suchen nach Erkenntnis allererst möglich macht.


3. Urteil und Beurteilung

Nachdem RICKERT zu begründen versucht hat, daß jedes Urteil seinem Sinn nach eine Antwort ist, sucht er zu beweisen, daß jede Antwort eine Beurteilung, folglich auch jedes Urteil eine Beurteilung ist.

RICKERT sagt: jede Frage läßt sich so formulieren, daß sie bereits alle inhaltlichen Bestandteile der Antwort enthält. Die Antwort muß dann stets ja oder nein lauten.

Jedes positive Urteil kann man, ohne seinen Sinn dadurch zu verändern, so darstellen, daß eine Bejahung sichtbar wird. Versucht man ein positives Urteil zu verneinen, z. B. am hellen Mittag zu fragen "Scheint wirklich die Sonne?" so wird jeder Zweifel energisch abgewehrt werden. Die beiden Urteile "Die Sonne scheint" und "Ja, die Sonne scheint", sind logisch identisch.

Da jedes Urteil eine Antwort, und jede Antwort eine Bejahrung oder Verneinung ist, muß der Urteilsakt eine Bejahung oder Verneinung bedeuten.

Würde die Bejahung nicht im Sinn der Urteile stecken, so könnte die Frage, ob die Sonne scheint, vom Urteil, daß sie scheint, nicht unterschieden werden.

Hiergegen habe ich Folgendes einzuwenden:

Nicht jede Frage läßt sich so formulieren, daß sie schon alle inhaltlichen Bestandteile des auf sie antwortenden Urteils enthält. Streng genommen trifft dies nur für die Entscheidungsfragen zu. Es gibt Fragen, auf die sinngemäß nicht mit ja oder nein geantwortet werden kann. Ergänzungsfragen müssen in Entscheidungsfragen umgewandelt werden, wenn auf sie mit ja oder nein geantwortet werden soll. Dabei erleiden sie aber bereits eine Änderung ihres Sinnes. Am wenigsten passen in das RICKERTsche Schema Fragen, die eine Erklärung erstaunlicher Vorgänge fordern. Auf die Frage "Wie ist der Wechsel der Jahreszeiten zu erklären?" kann beispielsweise nicht sinnvoll mit ja oder nein geantwortet werden. Wandeln wir diese Frage um in die Frage "Ist der Wechsel der Jahreszeiten durch die schiefe Stellung der Erdachse zur Erdbahn zu erklären?", so muß nun allerdings mit ja oder nein geantwortet werden. Aber diese Umwandlung der ersten Frage ist offenbar weit davon entfernt, eine bloße "Umformulierung" zu sein. Der Sinn der ersten Frage ist vollkommen verändert. Von Erdachse, Erdbahn und schiefer Stellung ist in dem Sinn jener Frage nichts enthalten. Keine Frage, die durch ein Fragewort eingeleitet ist, läßt sich ohne ihren Sinn zu ändern, umwandeln in eine Frage, auf die mit ja oder nein geantwortet werden muß.

Da es also Fragen gibt, auf die sinngemäß nicht mit ja oder nein geantwortet werden kann, so muß es Antworten geben, die keine Bejahung oder Verneinung bedeuten. Wenn wir also RICKERT zugeben, daß jedes Urteil eine Antwort ist - was wir schon nicht zugeben konnten - so dürfen wir ihm deshalb doch nicht zugeben, daß jedes Urteil eine Bejahung oder Verneinung ist, weil nicht jede Antwort eine Bejahung oder Verneinung ist.

Die beiden Urteile "Die Sonne scheint" und "Ja, die Sonne scheint", sind nicht logisch identisch. "Ja, die Sonne scheint" heißt soviel wie "Es ist wahr, daß die Sonne scheint". In diesem Urteil ist das Scheinen der Sonne als wahr beurteilt. Im Sinn des Urteils "Die Sonne scheint" ist über die Wahrheit des Scheinens der Sonne nichts enthalten. Der Wert des Urteils, daß die Sonne scheint, ist in diesem einfachen Urteil keiner Beurteilung unterzogen. Es mag wohl sein, daß jeder, der das Urteil "Die Sonne scheint" mit Bestimmtheit ausspricht, psychologisch betrachtet, diesen Sachverhalt für wahr hält. RICKERT begeht hier offenbar eine Verwechslung. Er hält das Für-wahr-halten des ausgesagten Sachverhalts, das die Bedingung der Möglichkeit des Urteils sein mag, für einen Bestandteil des Urteilssinnes, für eine zum Bestand des Urteilssinnes gehörige Beurteilung des Wahrheitswertes des ausgesagten Sachverhalts. Wer ein positives Urteil mit Bestimmtheit ausspricht, wird, wenn er nicht lügt, stets bereit sein, den in einem Urteil ausgesprochenen Sachverhalt als wahr zu beurteilen. Aber die psychologische Bereitschaft zur Bejahung des Urteils darf nicht verwechselt werden mit einer im Sinne der Beurteilung gemeinten Bejahung. Jene mag jedem positiven Urteil über reale Sachverhalte zugrunde liegen; diese ist nicht in jedem positiven Urteil enthalten. Die psychologische Bereitschaft zur Beurteilung ist noch keine Beurteilung. Der Verdacht, daß RICKERT diesen Tatbestand verkennt, wird bestärkt durch die Anführung eines psychologischen Gedankenexperiments: "Scheint die Sonne wirklich?"

RICKERT meint, die Frage kann vom Urteil nicht unterschieden werden, wenn das Urteil keine Bejahung oder Verneinung enthält. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß die Frage ihrem Sinn nach eine Aufforderung zu einer Antwort ist, während im Sinn des aussagenden Urteils von einer solchen Aufforderung nichts enthalten ist. Andererseits enthält die Frage keine Aussage. (Daß die Prädikation als solche nichts von der Bejahung eines Sollens enthält, werden wir weiter unten deutlich zu machen versuchen.)

Da also weder jedes Urteil seinem Sinn nach eine Antwort noch jede Antwort eine Bejahung oder Verneinung ist, so ist es falsch, daß jedes Urteil eine Bejahung oder Verneinung bedeutet.

Und der logische Unterschied zwischen dem aussagenden Urteil und der Frage ist hinreichend sichergestellt, auch ohne daß man sich zu ihrer Unterscheidung auf eine Bejahung zu berufen braucht, die angeblich im Sinn des Urteils steckt.

RICKERT wird vielleicht einwenden, die "psychologische Bereitschaft zur Bejahung" sei eben das, was dem Urteil überhaupt erst eine subjektive Geltung verleiht un in Anbetracht seiner subjektiven Geltungsgrundlagen möglich macht, folglich ein konstituierender Bestandteil des wirklichen Urteilssinns ist.

Ich selbst bin überzeugt, daß in RICKERTs Lehre von der im Urteilssinn steckenden Bejahung ein Kern tiefer Wahrheit enthalten ist. Ich bin nur der Ansicht, daß RICKERT das Richtige, was er im Auge hat, von seinem philosophischen Pathos fortgetrieben, nicht genügend differenziert und überdies in unzutreffender Weise verallgemeinert.

Wir müssen nämlich zwei Arten von Wertungen unterscheiden, die zu einem Urteil in Beziehung stehen können. Es gibt elementare und kritische Wertungen.

Die elementare Wertung ist eine subjektive Willensentscheidung, durch die eine sich anbietende Hypothese positiv gewertet, bejaht, angenommen wird. Kein Forscher würde eine Hypothese bilden, die Existenz einer hypothetischen Größe annehmen, sich für eine Annahme entscheiden können, wenn er nicht zunächst instinktiv fühlt: diese Annahme hat theoretischen Wert. Die elementare Wertung macht das Urteil überhaupt erst möglich und geht ihm also logisch vorher.

Die kritische Wertung dagegen tritt erst aufgrund der nachträglichen Prüfung einer zunächst schon einmal gemachten Annahme an den angenommenen Sachverhalt, bzw. an das Urteil, in dem er erfaßt wurde, heran, und bestätigt oder verwirft den Wert der aufgrund einer elementaren Wertung, die logisch später ist als das Urteil, ist das, was wir eine Urteilsbeurteilung nennen; sie ist demgemäß eine Bejahung, die, da sie notwendig logisch später ist als das Urteil, unmöglich schon im Sinn des Urteils enthalten sein kann.

Die dem Urteil vorausgehende elementare Wertung bringt notwendig zunächst eine psychologische Bereitschaft mit sich zu einer positiven Urteilsbeurteilung. Die elementare Wertung liegt aber ihrer Struktur nach, wie ich in einer späteren Abhandlung zeigen zu können hoffe, tief, tief im Reich der Ahnungen, in der Tiefebene des noch ohne Sachverhaltscharakter als geglaubt Gegebenen. Die elementare Wertung, die ein Urteil möglich macht, lebt schon lange, bevor das Geglaubte die Gestalt des in einem Urteilssinn gemeinten Sachverhalts gewinnt.

Eine weitere Ausführung dieser Gedanken, fürchte ich, würde über den Rahmen dieser Abhandlung hinausgehen, zumal wir es hier lediglich mit dem Problem der empirischen Wirklichkeit zu tun haben und mit dem Problem der Konstatierung empirischer Tatsachen, nicht aber mit dem Problem der Erfassung geglaubter Sachverhalte. Von theoretischen Wertungen zu reden, werden wir nicht umhin können, wenn wir uns erst einmal überzeugt überhaupt haben werden, daß die Wahrheit ein Wert ist, der im Reich des Glaubens gilt. Ob aber theoretische Werte auch ins Reich der empirischen Wirklichkeit und ihrer Erfassung hineinragen, diese Frage steht auf einem anderen Blatt.


4. Konstatierung und Beurteilung.

Nach den bisherigen Ausführungen RICKERTs und nach seiner eigenen ausdrücklichen Aussage kommen Urteilsakte für ihn nur als Bejahungen und Verneinungen in Betracht.

RICKERT sagt ferner: Jede Konstatierung ist ein bejahendes Urteil. Die bloße Wahrnehmung ist weder wahr noch falsch. Die unmittelbare theoretische Erfassung gehörter Töne besteht in dem Urteil, daß wir sie hören.

Hierzu ist Folgendes zu bemerken: Wenn RICKERT unter Urteilsakten Beurteilungen der Wahrheit oder Falschheit versteht, so fallen die Konstatierungen nicht unter RICKERTs Urteilsbegriff. Gewiß ist das Hören von Tönen als bloße Wahrnehmung noch kein Urteil. Die unmittelbare Feststellung gehörter Töne besteht in dem Urteil, daß Töne erklingen. Die Tatsache erklingender Töne ist weder wahr noch falsch. Ebensowenig kann das konstatierende Urteil "Es erklingen Töne" als bloßes Meinen dieser gegebenen Tatsache wahr oder falsch sein. Wahr oder falsch hingegen kann das Urteil "Ich höre Töne" sein; (1) denn mit diesem Urteil wird keine unmittelbar gegebene Tatsache gemeint, sondern ein geglaubter Sachverhalt. Es wäre nämlich auch möglich, daß ich mir nur einbilde, Töne zu hören. Daß aber überhaupt Töne erklingen, mögen diese nun eingebildet oder durch eine von außen herrührende Erschütterung meines Trommelfells erzeugt sein - daß Töne erklingen, ist eine Tatsache, die jenseits von wahr und falsch liegt, wie alle unmittelbar gegebenen Tatsachen. Die Sphäre, in der die Begriffe wahr und falsch eine sinnvolle Anwendung finden, wird erst beschritten, indem über den unmittelbar gegebenen Tatbestand deutend hinausgegangen wird. Eine Deutung oder ein zur Deutung angenommener Sachverhalt kann wahr oder falsch sein. Das Konstatieren einer unmittelbar gegebenen Tatsache aber, sofern es nichts anderes ist als das Meinen dieser unmittelbar gegebenen Tatsache oder ihr als-Sachverhalt-gegeben-sein ist etwas, das sich jeder Anwendungsmöglichkeit der Begriffe "wahr" und "falsch" ebenso entzieht, wie irgendeine akustische oder sonstige Sinnesempfindung. Liegt aber das bloße Konstatieren, Meinen oder Als-Sachverhalt-gegeben-sein jenseits von wahr und falsch, so kann das Konstatieren ganz und gar nicht, wie RICKERT es auffaßt, eine Entscheidung über wahr und falsch sein.

Wir müssen uns vielmehr nachdrücklich zu Bewußtsein bringen, daß es zwischen der bloßen Sinneswahrnehmung und dem theoretisch wertdifferenten Urteil noch etwas Drittes gibt, das dem Wertgesetz von wahr und falsch entrückt ist: das Konstatieren oder Als-Sachverhalt-gegeben-sein einer Tatsache.

Will nun RICKERT unter Urteilen nur die Beurteilungen der Wahrheit oder Falschheit verstehen, so steht ihm dies natürlich frei. Dies ist eine Frage der Terminologie, die unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit eine Prüfung verdient. Es genügt hier festzustellen, daß RICKERTs Lehre vom Urteil mit allen ihren Konsequenzen auf die Konstatierung als bloße Feststellung einer unmittelbar gegebenen Tatsache jedenfalls nicht anwendbar ist.

RICKERT wird vielleicht hierzu bemerken, daß er mit der Konstatierung wirklicher Tatsachen (also mit der Feststellung des Gegebenseins wirklicher Objekte sowie ihrer Eigenschaften und Beziehungen) nicht die Objekts- und Sachverhaltserfassung als solche meint (also nicht die Erhebung des gegebenen Materials auf die Stufe des Als-Objekt-Gegebenseins oder des Als-Sachverhalt-Gegebenseins), wobei noch gänzlich unentschieden bliebe, ob das erfaßte Material die Gegebenheitsart der Wirklichkeit, der Idealität oder der Geglaubtheit hat, sondern daß er unter Konstatierung eben gerade die Entscheidung darüber versteht, ob ein gegebenes Material wirklich ist. Sein Problem sei gerade die Frage, worauf eine solche Entscheidung beruth.

Hierzu hätte ich Folgendes zu bemerken: Auch ich rechne die Entscheidung darüber, ob ein gegebenes Material wirklich ist, zu den Konstatierungen empirischer Tatsachen. In dem Satz "Diese weiße Fläche ist wirklich" wird von der weißen Fläche behauptet, daß sie die Gegebenheitsart der Wirklichkeit hat. In einer solchen Konstatierung wird das empirische Gegebensein der weißen Fläche als Sachverhalt erfaßt.

Die Frage, von deren Entscheidung nun alles abhängt, ist die: Worauf gründet sich die Feststellung, daß ein gegebenes Material wirklich ist?

Wir werden im Folgenden sehen, wie RICKERT diese Frage entscheidet, und wollen dann versuchen zu seiner Entscheidung Stellung zu nehmen.


5. Konstatierung und Denknotwendigkeit

Jede Konstatierung ist nach RICKERT die Anerkennung einer Denknotwendigkeit. RICKERT sagt: Wir bejahen nur, wenn Gewißheit vorliegt. Der Wert, von dem mir der Zustand der Gewißheit Kunde gibt, verleiht meinem Urteil Denknotwendigkeit. Will ich über gehörte Töne urteilen, so bin ich genötigt zu bejahen, daß ich Töne höre. Da Tatsachenurteile inhaltlich unbezweifelbar sind, so ist ihre "Notwendigkeit" vor jedem Zweifel geschützt. Die Konstatierung einer Tatsache ist die Anerkennung der Notwendigkeit, so und nicht anders zu urteilen.

Hierzu haben wir Folgendes zu bemerken:

Es ist richtig, daß Tatsachenfeststellungen unbezweifelbar sind. Das sind sie, weil sie jenseits von wahr und falsch gewiß sind. Ihre Gewißheit liegt diesseits allen Glaubens und Zweifelns. Sie sagen nur, was unmittelbar gegeben ist. Folgt aber aus dieser Unbezweifelbarkeit der Tatsachenfeststellungen, daß sie denknotwendig sind? Alle denknotwendigen Urteile sind unbezweifelbar. Sind aber alle unbezweifelbaren Urteile auch denknotwendig? Will ich über gehörte Töne urteilen, so bin ich genötigt zu urteilen, daß Töne erklingen. Ist aber das Gegenteil denkunmöglich? Der Sachverhalt "Es erklingen keine Töne" ist sehr wohl denkbar, auch in dem Augenblick, wo ich Töne höre. Es ist nur, wenn ich Töne höre, unmöglich festzustellen, daß keine Töne erklingen. Das Gegenteil einer konstatierten Tatsache kann also sehr wohl denkbar sein. Aber es ist nicht wirklich.

Die von KANT als rationale Urteile angeführten Feststellungen "Alle Körper sind ausgedehnt", "Die gerade Linie ist die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkte" und "7 + 5 = 12" sind denknotwendig. Ihr Gegenteil zu denken ist unmöglich.

Vergleicht man diese Urteile mit empirischen Feststellungen, wie "Es erklingen Töne", "Diese Fläche ist weiß" oder "Es ist kalt", so springt sofort in die Augen, daß die Unbezweifelbarkeit dieser und jener Urteile auf ganz verschiedenem Grund ruht.

Jene sind unbezweifelbar gewiß, weil ihr Gegenteil denkunmöglich ist. Diese sind auch unbezweifelbar gewiß, vorausgesetzt, daß die in ihnen behaupteten Tatsachen unmittelbar gegeben sind. Aber ihr Gegenteil ist zumindest denkbar.

Die Urteile "Es erklingen keine Töne", "Diese Fläche ist nicht weiß", "Es ist nicht kalt" sind gedanklich vollziehbar. es ist nur im gegebenen Fall unmöglich, diese negativen Feststellungen zu machen, weil die positiven Tatsachen unmittelbar gegeben sind.

Die Unbezweifelbarkeit der empirischen Feststellungen beruth also nicht auf einer Denknotwendigkeit der empirischen Tatsachen; denn die empirischen Tatsachen sind gar nicht denknotwendig. Die Unbezweifelbarkeit der empirischen Tatsachen beruth vielmehr auf der Tatsächlichkeit der ihnen zugrunde liegenden Sachverhalte, auf der empirischen Gewißheit der in ihnen festgestellten Tatsachen.

Nun wird RICKERT freilich dies alles bis zu einem gewissen Grad zugeben. RICKERT leugnet keineswegs den Wesensunterschied der rationalen und der empirischen Feststellungen. Aber er behauptet, daß ihnen eine gemeinsame "Urteilsnotwendigkeit" zugrunde liegt. Die Urteilsnotwendigkeit charakterisiert RICKERT als ein Sollen. Ich werde im Folgenden zu zeigen versuchen, daß die empirischen Feststellungen, die uns hier ausschließlich angehen, nicht auf einem Sollen beruhen.


6. Das Sollen als Grundlage der
Tatsachenfeststellung.

RICKERT sagt: Die "Urteilsnotwendigkeit", welche die Grundlage der Tatsachenfeststellung bildet, ist ein Sollen, das vom Subjekt Anerkennung fordert. Jedes bejahende Urteil erkennt ein Sollen an. Die Urteile, die Tatsachen konstatieren, bejahen also ein Sollen. Das Urteil, in welchem ich ein Blatt als wirklich beurteile, bedeutet die Zustimmung zu der Forderung, das Blatt als wirklich zu bejahen. Das Sollen wird von jeder Konstatierung implizit anerkannt, sobald sie wahr zu sein beansprucht.

Ein Sollen, das vom Subjekt Anerkennung fordert, bildet also nach Rickert die Grundlage der Tatsachenfeststellung. Da jedes bejahende Urteil ein Sollen anerkennt und Konstatierungen bejahende Urteile sind, bejahen die Urteile, die Tatsachen konstatieren, ein Sollen.

Hierzu bemerke ich Folgendes:

Haben wir uns überzeugt, daß die Konstatierung jeder Frage, folglich auch jeder Antwort, mithin auch jeder bejahenden oder verneinenden Beurteilung vorhergehen muß, so kann die Konstatierung kein bejahendes Urteil sein.

Theoretische Bejahungen und Verneinungen haben den theoretischen Wert eines Urteils zum Gegenstand. Theoretische Bejahungen und Verneinungen haben demnach gar keinen Sinn in einer Sphäre von Sachverhalten, die jenseits allen theoretischen Wertes, jenseits von wahr und falsch gewiß sind; d. h. theoretische Bejahungen und Verneinungen haben keinen Sinn im Reich der Tatsachen.

Tatsachenfeststellungen können demnach unmöglich den Sinn von Bejahungen oder Verneinungen im Sinne theoretischer Wertungen haben. Das gilt sowohl von den rationalen, wie von den empirischen Tatsachenfeststellungen.

Die "Urteilsnotwendigkeit", welche die Grundlage der rationalen Tatsachenfeststellung bildet, beruth auf keinem Sollen, sondern wie wir gesehen haben, auf der absoluten Denkunmöglichkeit des kontradiktorischen Gegenteils.

Was für eine Art von Forderung sollte es sein, der ich zustimme, wenn ich empirisch feststelle, daß diese Fläche weiß ist? Was für eine Art Sollen kann möglicherweise diesem Urteil zugrunde liegen?

Soviel ich sehe, könnte dieses Sollen auf dreierlei Art gedacht werden:

1. Ich soll konstatieren, daß diese Fläche weiß ist. Eine solche Forderung mag der Konstatierung zugrunde liegen. Welcher Art ist sie? Kann eine logische Norm fordern, daß ich etwas konstatieren soll? Ist es unlogisch, etwas nicht zu konstatieren? Kann eine logische Norm fordern, daß ich die Aufmerksamkeit von meiner Lektüre, meinen Gedanken, einem Geräusch auf der Straße abwende und dieser weißen Fläche zuwende, um die Feststellung zu machen, daß sie weiß ist? Der allgemeine Sprachgebrauch versteht unter logisch etwas anderes. Das Sollen, das hier vorliegen könnte, darf nicht ein logisches genannt werden.

2. Man könnte entgegnen: Wenn es auch keine logische Norm gibt, die das Nicht-Konstatieren einer Tatsache verbietet, so gibt es doch sicher eine Norm, die verbietet, das Gegenteil von dem, was konstatiert ist, zu behaupten. - Eine solche Norm mag es geben. Das Gegenteil des Konstatierten behaupten, heißt nach dem allgemeinen Sprachgebrauch lügen. Die Forderung wahrhaftig zu sein, mag eine ethische Norm sein, ist aber jedenfalls keine logische.

3. Wenn nun weder die Aufmerksamkeit noch die Wahrhaftigkeit von einer logischen Norm gefordert werden kann, so bleibt nur noch eins übrig. Man könnte sagen: Die Norm verbietet, das Gegenteil zu konstatieren. Das wäre aber eine drollige Norm, die verbietet, was absolut unmöglich ist. Das Gegenteil einer Tatsache kann ja gar nicht konstatiert werden. Hier von einer Norm zu reden, entbehrt also jeden Sinnes.

Tatsachenfeststellungen beruhen nicht auf logischen Normen, sondern auf der bloßen Tatsächlichkeit der in ihnen behaupteten Sachverhalte.

In einem Punkt freilich hat RICKERT vollkommen recht: Wir können nur konstatieren, wo Gewißheit vorliegt. Es fragt sich eben nun - und das ist das Entscheidende - welcher Art diese Gewißheit ist, die Konstatierungen ermöglicht.

Wir sehen hier von der bloß subjektiven oder naiven Gewißheit ab. Sie ist der psychische Zustand des Subjekts gegenüber einem Sachverhalt, in welchem dieser faktisch nicht bezweifelt, ja überhaupt nicht hinsichtlich seiner Gegebenheitsart untersucht wird. Diese Gewißheit des vulgären "Erlebens" ist ohne wissenschaftliche Bedeutung, weil sie jeder Kritik ermangelt. Wir haben es hier nicht mit der Gewißheit eines Urteilsaktes zu tun (diese ist Gegenstand der Psychologie), sondern mit der Gewißheit des Urteilsgehaltes, d. h. mit dem Gewißheit des im Urteil gemeinten Sachverhaltes.

Unterziehen wir die Gewißheit, soweit sie als Grundlage wissenschaftlicher Aussagen in Frage kommt, einer Betrachtung, so haben wir zunächst festzustellen:

Gewißheit haftet an Sachverhalten. Ein Sachverhalt kann gewiß oder ungewiß sein. Die Gewißheit ist eine Beziehung des Sachverhalts zum Zweifel. Das Gegenteil der Gewißheit ist die Zweifelhaftigkeit. Gewißheit ist die Zweifellosigkeit, d. h. das Freisein eines Sachverhaltes vom Zweifel. Dieses kann von zweierlei Art sein:
    1. Der Sachverhalt ist notwendig vom Zweifel frei; er kann seiner ganzen Struktur nach nicht bezweifelt werden.

    2. Der Sachverhalt könnte zwar seiner Struktur nach bezweifelt, soll aber geglaubt werden. Das logische Sollen macht ihn erst zweifelsfrei.
Unbezweifelbar sind Sachverhalte, sofern sie unmittelbar gegeben sind. Bezweifelt werdern können Sachverhalte, sofern sie nicht unmittelbar gegeben, sondern bloß angenommen sind.

Ein Zweifel richtet sich gegen eine Annahme. Er ist seinem Wesen nach nichts anderes als das Irrewerden daran, ob eine Annahme gemacht werden soll oder nicht.

Da also der Zweifel das Irrewerden an einer Annahme ist, kann er sich seinem Wesen nach nur gegen Annahmen richten.

Ein Sachverhalt, sofern er nicht angenommen, sondern unmittelbar gegeben ist, entzieht sich somit jeder Möglichkeit des Zweifels, ist also absolut gewiß.

Wir haben demnach zwei Arten der Gewißheit zu unterscheiden, die von wissenschaftlichem Belang sind:
    1. Die absolute Gewißheit oder Unbezweifelbarkeit.
    2. Die normative Gewißheit oder das Glaubensollen.
Absolute Gewißheit haben die unmittelbar gegebenen Sachverhalte oder Tatsachen. Normative Gewißheit haben die aufgrund eines logischen Sollens angenommenen Sachverhalte oder gültigen Annahmen.

Die unmittelbar gegebenen Sachverhalte sind entweder empirische Tatsachen oder rationale Tatsachen, d. h. Wesensverhältnisse.

Die absolute Gewißheit kann also rational oder empirisch sein. Wir haben demnach im Ganzen drei Arten der Gewißheit zu unterscheiden: rationale, empirische und normative Gewißheit.

Rationale und empirische Feststellungen gründen auf der absoluten Gewißheit der rationalen und empirischen Tatsachen.

Annahmen basieren auf einem Sollen.

Es ist im Rahmen dieser Schrift leider unmöglich, auf die tiefen Wesensverschiedenheiten der Gewißheitsarten näher einzugehen. Das soll später in einem umfassenderen Zusammenhang nachgeholt werden. Ich möchte hier nur noch auf eins hinweisen, das geeignet sein dürfte, mehr Licht in die Sache zu bringen.

Es kommt oft genug vor, daß Aussagen als Konstatierungen angesehen werden, die in der Tat gar keine echten Konstatierungen, sondern bloße Annahmen sind, daß also vermeintliche empirische Tatsachen als bloß angenommene Sachverhalte entlarvt werden.

Daraus könnte leicht der Schluß gezogen werden, daß Tatsachen sich überhaupt nicht unmittelbar feststellen lassen, sondern vielmehr erst durch eine vom logischen Sollen geforderte intellektuelle Arbeit den Charakter von Tatsachen erhalten. Aber wer diesen Schluß zieht, hat weder das Wesen der empirischen Gewißheit noch das Wesen des logischen Sollens erfaßt.

Wenn es vorkommt, daß angenommene Sachverhalte als empirische Tatsachen angesprochen werden, so ist dies darauf zurückzuführen, daß infolge mangelhafter phänomenologischer Schulung der Geglaubtheitscharakter angenommener Sachverhalte übersehen wird.

Könnten Tatsachen als solche nicht unmittelbar festgestellt werden, so gäbe es überhaupt keine Tatsachen, sondern bestenfalls nur gültige Annahmen. Nein! Auch gültige Annahmen könnte es dann nicht geben! Denn woraus sollten die angenommenen Sachverhalte erschlossen sein? Ohne unmittelbar gegebene Tatsachen wäre unsere Forschung ohne Grundlage, ohne Ausgangspunkt. Hierauf habe ich bereits hingewiesen im Abschnitt über "Urteil und Antwort".

Fassen wir das Gesagte kurz zusammen: Von der Notwendigkeit einer Feststellung zu reden hat nur Sinn, wo es unmöglich ist, das Gegenteil festzustellen. Ist eine weiße Fläche gegeben, so kann ich nicht konstatieren, daß sie schwarz ist. Wenn 2 x 2 = 4 ist, so kann ich nicht feststellen, daß 2 x 2 = 5 ist.

Von einem Urteilen-Sollen zu reden hat nur Sinn, wo es grundsätzlich zumindest möglich ist, über das Bestehen des in einem Urteil gemeinten Sachverhalts auch anderer Ansicht zu sein. Überall, wo es sich um Annahmen handelt, ist es grundsätzlich möglich, auch das Gegenteil anzunehmen; hier setzt sinnvoll das Sollen ein und gibt meinem Glauben Wert und Gültigkeit.

Wir haben also zwei Reiche der Wissenschaft zu unterscheiden:
    1. Das Reich der Feststellungen, der Tatsachen, d. h. das Reich der absoluten Gewißheit.

    2. Das Reich der gültigen Annahmen, der gültig geglaubten Sachverhalte, d. h. das Reich der Wahrheit (2).
Das Reich der absoluten Gewißheit liegt jenseits von wahr und falsch. Wahre und falsche Feststellungen gibt es so wenig, wie es wahre und falsche Tatsachen gibt. Folglich gibt es auch keine Entscheidung über die Wahrheit oder Falschheit einer Tatsache. Folglich kann die Konstatierung nicht die Stellungnahme zum Wahrheitswert einer Tatsache enthalten. Es gibt wohl den Unterschied zwischen echten und bloß vermeintlichen Feststellungen und Tatsachen. Aber eine unechte Tatsachenfeststellung ist keine falsche, sondern ist überhaupt keine Tatsachenfeststellung.


7. Rickerts Beispiele von
Tatsachenfeststellungen

Zur Erläuterung des Gesagten wird es zweckdienlich sein, einmal zu untersuchen, inwieweit die von RICKERT als Konstatierungen empirischer Tatsachen angeführten Beispiele in der Tat Konstatierungen sind. RICKERT sagt, er habe als Beispiele zur Erläuterung vom Wesen des Urteils nur unbezweifelbare Tatsachenurteile herangezogen, die sich auf das unmittelbar Gegebene als ihr Material beschränken 246f/. Solche Urteile sind: "Die Sonne scheint", "Ja, die Sonne scheint", "Ich höre Töne", "Dies ist (ja) wirklich", "Dieses Blatt Papier ist wirklich".

Die ursprünglichste Wirklichkeitserkenntnis lautet nach RICKERT: "Dies ist (ja) wirklich".

Bei der einfachen Feststellung, daß ein gegebenes Material wirklich ist, handelt es sich in der Tat um eine Konstatierung. Der Hinweis darauf, daß etwas wirklich ist, geht über den Bestand des Gegebenen nicht hinaus. In der Behauptung wird nur gesagt, daß das Gegebene die Gegebenheitsart der Wirklichkeit ist.

"Dies ist ja wirklich" heißt: "Dies ist in der Tat wirklich." Das ja ist in diesem Fall nicht die Anerkennung des Sollens, sondern die Berufung auf die Tatsächlichkeit, d. h. auf die Unbezweifelbarkeit des in der Aussage behaupteten Sachverhalts.

Bei dem Beispiel "Dieses Blatt ist wirklich" ist es nicht ganz zweifelsfrei, ob es sich um eine empirische Tatsache handelt. Das hängt nämlich davon ab, ob unter Blatt Papier die unmittelbar gegebene weiße Fläche verstanden wird oder ein Gegenstand, der auch existiert, wenn ich ihn nicht sehe. Im letzten Fall wäre das Stück Papier ein unwirklicher, nur begrifflich gegebener Gegenstand; ein realer Gegenstand nach unserem Sprachgebrauch, nach RICKERT ein bloßer Begriff: sofern nämlich an seine molekulare Struktur gedacht wird.

Ob der Satz "Ich höre Töne" eine unmittelbar gegebene Tatsache ausdrückt, ist zumindest zweifelhaft. Zweifellos unmittelbar gegeben sind nur die erklingenden Töne. Daß sie von "mir" gehört werden, scheint mir eine Deutung zu sein, die die Grenzen des unmittelbar Gegebenen bereits überschreitet.

Ebenso dürfte es sich bei dem Satz "Die Sonne scheint" um einen erschlossenen Sachverhalt handeln; unmittelbar ist die glänzende Scheibe und die Helligkeit. Bei dem Satz "Die Sonne scheint" kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, daß an eine Wirkung gedacht ist, die von einem Gegenstand ausgeht, der auch existiert, wenn ich ihn nicht sehe, mit anderen Worten: daß hier in unmittelbar gegebene empirische Tatsachen bereits etwas hineininterpretiert ist, was nicht unmittelbar gegeben ist. Der Satz "Ja, die Sonne scheint", dürfte demnach den Sinn haben: "Es ist wahr, daß die Sonne scheint." Hier ist offenbar ein Sollen anerkannt. Aber die Aussage, in der dies geschieht, ist eine Interpretation und keine Konstatierung.

Überschauen wir also die von RICKERT zur Erläuterung vom Wesen des Urteils herangezogenen Beispiele, so ergibt sich, daß sich erst da ein Sollen aufweisen läßt, wo die Grenzen des Empirischen bereits überschritten sind.


8. Das Wesen der Prädikation

RICKERT sagt: Prädizieren bedeutet "Stellungnehmen zu einem theoretischen Wert" "Die prädikative Verbindung gibt keinen logischen Sinn, ohne da sie das Sollen anerkennt." 217/

Demgegenüber habe ich auf Folgendes hinzuweisen: Prädizieren heißt zunächst ganz allgemein: einen Sachverhalt so erfassen, daß er ausgesagt werden kann, d. h. einen Sachverhalt als prädikative Verbindung erfassen, d. h. eine Beschaffenheit, eine Beziehung, eine Seinsart oder eine Gegebenheitsart als Prädikat auf einen Gegenstand als Subjekt beziehen. Wird bei der prädikativen Erfassung gegebener Tatsachen eine Beschaffenheit, Beziehung, eine Seins- oder Gegebenheitsart als Prädikat auf einen Gegenstand als Subjekt bezogen, so geschieht dies nicht, weil sie gemäß einer logischen Norm darauf bezogen werden soll. Die prädikative Beziehung ist nur ein Schema des Sachverhalts, der bereits als solcher erfaßt sein muß, um überhaupt schematisiert werden zu können. Die prädikative Verbindung ist nur die ihrem Ausdruck in Worten zugrunde liegende Gegebenheitsform eines Sachverhalts, der als solcher bereits vorher gewiß sein muß, um überhaupt auf diese Form gebracht werden zu können. (die schematische Gegebenheit eines Sachverhalts ist gewissermaßen eine Gegebenheitsstufe, die sich noch über der Stufe erhebt in welcher ein Sachverhalt als solcher gegeben ist.) Wir können uns das an einem Beispiel leicht klarmachen. Sagen wir "Diese weiße Fläche ist rechteckig" oder sagen wir "diese rechteckige Fläche ist weiß", so weisen wir beide Male auf ein und denselben Sachverhalt hin, der nur in jedem der beiden Fälle anders prädikativ erfaßt, also auf ein anderes prädikatives Schema gebracht ist. Damit dies geschehen kann, muß der Sachverhalt vorher bereits als solcher erfaßt sein.

Der prädikativen Erfassung eines Sachverhalts liegt nur dann das Stellungnehmen zu einem theoretischen Wert oder die Anerkennung eines Sollens zugrunde, wenn die Gewißheit des gemeinten Sachverhalts selbst darauf beruth, daß er geglaubt werden soll. Und dies ist, wie wir bereits gesehen haben, nur bei angenommenen Sachverhalten der Fall, nicht aber bei unmittelbar gegebenen Tatsachen, die jenseits allen Glaubens und Zweifelns gewiß sind.


IV. Die Konsequenzen der Urteilslehre für das
Problem der empirischen Wirklichkeit.


1. Das Kriterium der Wirklichkeit.

RICKERT sagt: Beim Konstatieren der Wirklichkeit hat sich das urteilende Subjekt nicht nach dem Wirklichen oder nach der Wirklichkeit zu richten, sondern nach dem Sollen. Die Wahrheit des Urteils, der Wert des Urteilsakts beruth auf der Geltung des Sollens, das wir anerkennen, indem wir dem Inhalt Wirklichkeit zusprechen. Wir konstatieren Wirkliches dadurch, daß wir einem Inhalt aufgrund des anerkannten Sollens Wirklichkeit zusprechen. Das Kriterium der Tatsachenfeststellung ist also das im Urteil anerkannte Sollen. Das Kriterium der Wirklichkeit ist das Sollen der Zusammengehörigkeit von Form und Inhalt.

Dieser Folgerung, die RICKERT aus seiner Urteilslehre zieht, stellen wir die Folgerung entgegen, die wir aus unserer Kritik seiner Urteilslehre ziehen:

Das Konstatieren der Wirklichkeit eines Gegenstandes beruth nicht auf einer logischen Norm, die fordert, daß der Gegenstand für wirklich gehalten werden soll, sondern auf der absoluten Unbezweifelbarkeit der Tatsache, daß der Gegenstand unmittelbar gegeben ist. Denn es ist sinnlos, eine Norm anzunehmen, die verbietet, etwas zu bezweifeln, was der Natur seines Gegenstandes nach gar nicht bezweifelt werden kann. Indem wir einem Gegenstand Wirklichkeit zusprechen, erkennen wir nicht ein logisches System an, sondern sagen nur etwas aus, was unbezweifelbar gewiß ist. Die Feststellung einer Tatsache kann nicht wahr oder falsch sein. Sondern eine Aussage ist eine echte Tatsachenfeststellung oder sie ist es nicht. Es gibt keine falschen Tatsachenfeststellungen.

Es gibt wohl vermeintliche Tatsachenfeststellungen, die in Wahrheit Annahmen sind. Solche liegen in der Sphäre des logischen Wertes und Unwertes. Aber der Begriff einer falschen Tatsachenfeststellung ist streng genommen ebenso unsinnig wie der einer falschen Tatsache.

Wenn man unter Tatsachen ausschließlich diejenigen Sachverhalte versteht, die mit unbezweifelbarer Gewißheit bestehen, so ergibt sich aus dem Wesen dessen, was wir unter Tatsachen verstehen, in analytischer Einsicht, daß wenn es überhaupt Tatsachen gibt, die Unbezweifelbarkeit ihr Kriterium sein muß.

Wir haben eine deutliche Vorstellung davon zu geben versucht, wie sinnlos es ist, da von einem Urteilen-Sollen zu reden, wo es schlechterdings unmöglich ist, das Gegenteil festzustellen, wie etwa von einer weißen Fläche festzustellen, daß sie schwarz ist; ich habe zugegeben, daß das emotionale Leben als aufmerkende Kraft, zwar nicht auf das empirische Gegebensein des Tatsächlichen, wohl aber auf die Entstehung ihres Als-Sachverhalt-Gegeben-Seins wesentlichen Einfluß hat. Das Willensleben mag große gestaltbildende Kraft entfalten für das Zustandekommen einer Gegebenheitsform, für die Erhebung eines gegebenen Materials auf eine höhere Gegebenheitsstufe. Auf die Gegebenheitsart der Tatsachen, d. h. auf ihren empirischen oder rationalen Charakter, hat weder das Wollen noch das Sollen einen Einfluß.

Das Kriterium der echten Tatsachenfeststellung ist also nicht ein logisches Sollen. Das Kriterium der Wirklichkeit ist nicht eine logische Norm, nach welcher die Wirklichkeit einem Gegenstand zugesprochen werden soll. Das Kriterium der Wirklichkeit ist die absolute Unbezweifelbarkeit der Tatsache, daß der Gegenstand unmittelbar gegeben ist.

Was als Tatsache hingenommen wird, ist nicht immer eine Tatsache. Daraus folgt nicht, daß es unwahre Tatsachen gibt, oder daß Tatsachenfeststellungen auf der Ebene liegen, wo der Gegensatz von wahr und falsch, also das logische Sollen herrscht. Aber Aussagen, die als Tatsachenfeststellungen gemeint sind, sind manchmal gar nicht Tatsachenfeststellungen. Es kommt vor, daß bei angenommenen Sachverhalten ihr Angenommenheitscharakter nicht beachtet wird. Es gibt Sachverhalte von absoluter Gewißheit: nämlich die Aussagen, in denen Tatsachen festgestellt werden. Es gibt also ein Wissen. Aber wissen wir jemals sicher, daß wir wissen?

Mit der absoluten Gewißheit ist es ebenso wie mit der absoluten Wahrheit. Sie ist prinzipiell möglich; aber es gibt kein absolut zuverlässiges Kriterium für sie. Das einzige Kriterium für den empirischen Charakter eines Sachverhalts, das einzige Kennzeichen dafür, daß wir es mit einem wirklichen Sachverhalt (und nicht mit einem bloß geglaubten Sachverhalt) zu tun haben, ist dies, daß dem Sachverhalt der Angenommenheitscharakter fehlt. (Die rationalen Sachverhalte haben noch ein besonderes Kriterium, das sie auch von den empirischen scheidet, das uns aber hier nicht interessiert.)

Daraus nun, daß an einem Sachverhalt der Charakter der Angenommenheit oder der Geglaubtheit nicht sogleich in die Augen springt, ist noch nicht mit Sicherheit zu entnehmen, daß dieser Sachverhalt eine empirische Tatsache ist, denn ihm könnte versteckterweise ein hypothetischer oder pseudo-empirischer Charakter anhaften. Was als empirische Tatsache hingenommen wird, ist nicht immer eine empirische Tatsache. Daraus folgt aber nicht, daß es keine empirischen Tatsachen gibt.

Es gibt empirische Tatsachen. Die Erforschung der Welt der wahren Sachverhalte kann uns den Blick dafür schärfen, vermeintliche Tatsachen als angenommene Sachverhalte zu entlarven. Aber die Wahrheitsforschung und das logische Sollen, von dem sie beherrscht wird, ist nicht die Instanz, von deren Anerkennung oder Bestätigung die Gewißheit empirischer Tatsachen abhängt. Es besteht keine Veranlassung, auf die Tatsachen als letzte Grundlage zu verzichten, und die Zukunft zu einem dogmatischen erkenntnistheoretischen Idealismus zu nehmen, wie RICKERT es tun, indem er vor aller erkenntnistheoretischer Untersuchung durch eine bewußte und von ihm selbst als notwendiges (?) Übel empfundene petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] ein transzendentes Sollen als Kriterium aller Gewißheit voraussetzt.

Wir dürfen es ruhig wagen, von Tatsachen als letzter Grundlage auszugehen, weil die Welt der wahren Sachverhalte aus ihnen erschlossen werden kann, und weil die Forschung stets von selbst wieder zu einer Revision der Tatsachen führen wird, auf denen sie im letzten Grund beruth. Die Tatsachen sind die letzte Grundlage der Wissenschaft, wie die absolute Wahrheit ihr letztes gesuchtes Ziel ist.


2. Das Wesen der Wirklichkeit

Die Folgerungen, die RICKERT aus seiner Urteilslehre für das Wesen der Wirklichkeit zieht, können wir in folgende vier Punkte zusammenfassen:

1. Wir wissen nichts von einem Wirklichen, das ist, ohne daß es als seiend beurteilt wird. Erst durch das Urteil, das einem Inhalt aufgrund des Sollens Wirklichkeit beilegt, wird dieser Inhalt für uns zum Wirklichen.

2. Die Urteile über das Wirkliche sind nicht deshalb wahr, weil sie sagen, was wirklich ist. Nicht so soll geurteilt werden, wie es wirklich ist; sondern wir nennen das allein mit Recht "wirklich", nur das ist wirklich, was als wirklich seiend beurteilt werden soll. Das Wirkliche bedarf des Wertes als Stütze seines theoretischen Bestandes.

3. Der Wert und seine Anerkennung läßt sich vom Wirklichen nicht trennen; die Forderung, als wirklich seiend beurteilt zu werden, haftet allen Tatsachen an. Da etwas als seiend nur zu denken ist, wo geurteilt, also ein Sollen anerkannt wird, so muß das Sollen und der Sinn seiner Anerkennung zu den logischen Voraussetzungen des wirklichen Seins gehören, also begrifflich früher sein als die Wirklichkeit. Also das Sollen und nicht das Seiende ist das logisch Ursprünglich.

4. Wirklich sein heißt: als wirklich beurteilt sein. Wirkliches Sein gibt es nicht außerhalb eines Urteils. Das wirkliche Sein wird einem "Subjekt" erst als Prädikat beigelegt. "Das Sein der Objekte ist daher überhaupt nichts, wenn es nicht Bestandteil eines bejahenden Urteils ist" 213/. "Wirkliche Gegenstände gibt es nur, insofern wir sie als wirklich bejaht denken" 327/. Die Welt der wirklichen Objekte existiert nur insofern, als ein vollzogen gedachtes Existentialurteil, welches ihre Wirklichkeit bejaht, ein Sollen anerkennt. Das wirkliche Sein ist ein gültiges Zusammengehören von Wirklichkeitsform und Inhalt.

Kurz zusammengefaßt:
    1. Wir wissen nichts von einem Wirklichen, das ist, ohne daß es als seiend beurteilt ist.

    2. Nur das ist wirklich, was als wirklich seiend beurteilt werden soll.

    3. Das Sollen ist eine logische Voraussetzung des wirklichen Seins.

    4. Wirklich sein heißt: als wirklich beurteilt sein.
Aufgrund meiner Kritik der RICKERTschen Urteilslehre habe ich demgegenüber auf Folgendes hinzuweisen:

1. Es mag richtig sein, daß wir von einem Wirklichen nichts wissen, ohne daß wir es als wirklich seiend konstatiert haben. Denn erst durch den Akt, den wir Konstatierung nennen, tritt die Tatsache, daß etwas wirklich ist, als solche in die unmittelbare Gegebenheit. Erst durch die Konstatierung springt sie aus einem verworrenen, mannigfaltigen Gegebenen heraus. Erst durch eine Konstatierung tritt sie in diejenige Stufe der Gegebenheit, in der sie als Sachverhalt gegeben ist.

Es ist aber falsch, daß wir von einem Wirklichen nichts wissen, das ist, ohne daß es als seiend beurteilt ist, wenn man unter Beurteilung die Anerkennung eines Sollens versteht. Denn die Konstatierung enthält nicht die Anerkennung eines Sollens. Eine Tatsache ist nicht etwas, das gemäß einer logischen Norm erfaßt werden soll und durch ihre Anerkennung eines Sollens erst konstruiert würde. Es hat keinen Sinn, eine logische Norm anzunehmen, die verbietet, etwas zu bezweifeln, was der Natur seines Gegenstandes nach gar nicht bezweifelt werden kann.

Nicht aufgrund eines logischen Sollens wird einem Gegenstand die Wirklichkeit erst beigelegt. Sondern die Wirklichkeit eines Gegenstandes ist seine unmittelbare Gegebenheit. Die Wirklichkeit ist die auf der Natur des Gegenstandes selbst beruhende absolute Unbezweifelbarkeit seines Daseins.

Nicht aufgrund eines logischen Sollens wird der Gegenstand für uns erst zum Wirklichen, sondern durch sein Eingehen in die höhere Gegebenheitsstufe, in der er als Sachverhalt erfaßt wird.

2. Tatsachenfeststellungen sind überhaupt nicht wahr, weil sie weder wahr noch falsch sein können; sondern sie sind jenseits von wahr und falsch gewiß. Nicht so soll gemäß einer logischen Norm konstatiert werden, wie etwas wirklich ist; sondern nur so kann den in der gegenständlichen Sphäre obwaltenden Bedingungen nach konstatiert werden, wie es wirklich ist. Als wirklich seiend soll nichts (gemäß einer logischen Norm) festgestellt werden; sondern nur, was wirklich ist, kann als wirklich festgestellt werden, kann in einer feststellenden Aussage wirklich genannt werden. Das Wirkliche bedarf nicht des Wertes als Stütze seines theoretischen Bestandes. Um einen theoretischen Bestand zu haben, bedarf das Wirkliche nur des Gegenstandscharakters. Diesen hat es, sobald es nur gemeint wird. So wenig es logisch verwerflich sein kann, etwas einfach nicht zu meinen; so wenig demnach eine logische Norm fordern kann, daß etwas gemeint wird und dadurch Gegenstandscharakter erhält, so wenig kann ein logischer Wert am Aufbau des theoretischen Bestandes des Wirklichen beteiligt sein.

Die Entstehung eines Beachtungsreliefs, das in Gegenstandsform und Sachverhaltsformen gipfelt, mag unter den Bedingungen einer Ethik der Aufmerksamkeit stehen und insofern auch einer Ethik des theoretischen Verhaltens überhaupt. Aber die Logik mit ihren Werten wahr und falsch hat hier jedenfalls nichts zu schaffen.

3. Tatsachen haftet keine Forderung an. Die Konstatierung von Tatsachen ist keine Beurteilung. Da Tatsachen erfaßt werden, ohne daß ein logisches Sollen anerkannt wird, und da eine Erfassung von Tatsachen jedem logischen Sollen und der Sinn seiner Anerkennung nicht zu den logischen Voraussetzungen es wirklichen Seins gehören.

Das logische Sollen kann demnach nicht begrifflich früher sein als die Wirklichkeit. Also nicht das logische Sollen, sondern das wirklich Seiende ist das logisch Ursprüngliche.

4. Nicht das Bestehen der Tatsachen ansich, sondern nur ihr Gegebensein als Sachverhalt ist identisch mit ihrem Erfaßtwerden. Das Wirklichsein ist nicht identisch mit dem Als-wirklich-erfaßt-werden. Die Konstatierung, in der etwas als wirklich erfaßt wird, ist keine Beurteilung. Das Wirklichsein eines Gegenstandes besteht unabhängig von seinem Als-wirklich-erfaßt-werden. Wir haben aus Beispielen gesehen, daß das wirkliche Material da sein kann, ohne in die Formen des Gegenstandes oder Sachverhalts einzugehen. Auch nach RICKERTs eigener, in den "Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" dargelegten Meinung ist die Totalität des Wirklichen unendlich viel zu reich, als daß wir sie restlos theoretisch erfassen könnten. (RICKERT führt dort aus, daß die empirische Wirklichkeit, weil sie ein "heterogenes Kontinuum" ist, "so, wie sie ist" nicht in Begriffe aufgenommen werden kann, daß sie nur "rational" werden, d. h. begrifflich erfaßt werden kann durch "Umformung", nämlich durch eine begriffliche Trennung von Andersartigkeit und Stetigkeit, also durch eine Vereinfachung, wozu Auswahlprinzipien nötig sind.) Also, selbst angenommen, die Konstatierung wäre ein Urteil im Sinne RICKERTs, so würde daraus doch nicht folgen, daß es wirkliches Sein außerhalb eines Urteils nicht gäbe.

Daraus, daß das Wirklichsein einem "Subjekt" als "Prädikat" beigelegt wird, folgt noch nicht, daß das Wirklichsein nur Prädikat ist. Was im Prädikat gemeint ist, könnte dem Subjekt auch zukommen, ohne daß es in einem Prädikat gemeint ist. Denn das Sein des Gemeinten braucht nicht mit seinem Gemeintsein identisch zu sein. Nur der Prädikatscharakter des Gemeinten, aber nicht das Sein des Gemeinten ist mit seinem Gemeintsein als Prädikat identisch. Das Sein der Objekte kann daher auch etwas anderes sein als Bestandteil einer Prädikation. Und eine Prädikation braucht kein bejahendes Urteil zu sein. Wirkliche Gegenstände kann es geben, auch ohne daß wir sie meinen. Die Welt der wirklichen Objekte kann bestehen, auch ohne daß ihr Bestehen als Sachverhalt erfaßt wird.

Das Wirklichsein ist kein "gültiges Zusammengehören von Wirklichkeitsform und Inhalt". Denn erstens ist die Wirklichkeit keine Form, sondern eine Art der Gegebenheit. Und zweitens ist das Wirklichsein nicht etwas, das geglaubt werden soll, geschweige denn etwas, das aufgrund einer logischen Norm bestehen soll. Sonn, auch ohne daß wir sie meinen. Die Welt der wirklichen Objekte kann bestehen, auch ohne daß ihr Bestehen als Sachverhalt erfaßt wird.

Das Wirklichsein ist kein "gültiges Zusammengehören von Wirklichkeitsform und Inhalt". Denn erstens ist die Wirklichkeit keine Form, sondern eine Art der Gegebenheit. Und zweitens ist das Wirklichsein nicht etwas, das geglaubt werden soll, geschweige denn etwas, das aufgrund einer logischen Norm bestehen soll. Sondern das Wirklichsein ist die Seinsart, die ein Gegenstand, der wirklich ist, schlechterdings hat. Das Wirklichsein von Gegenständen ist eine Bedingung der Möglichkeit, daß Tatsachen konstatiert werden. Und das ist wieder eine Bedingung der Möglichkeit dafür, daß logische Normen fordern, über die unmittelbar gegebenen Tatsachen hinausgehend etwas zu denken.


3. Das "urteilende Bewußtsein
überhaupt".

RICKERT wird freilich einwenden, er behaupte gar nicht, daß es Wirkliches nur insofern gibt, als sein Dasein in einem aktuellen Urteil erfaßt wird, sondern die Welt der wirklichen Objekte besteht nur insofern, als ihr Dasein in einem als vollzogen gedachten Urteil erfaßt wird. Das ist der Sinn und die erkenntnistheoretische Mission der Lehre vom urteilenden Bewußtsein überhaupt. Durch diesen Begriff soll der Positivismus überwunden werden, während zur Überwindung des erkenntnistheoretischen Realismus zunächst der Begriff des "Bewußtseins überhaupt" in seiner allgemeinen Fassung zu genügen schien.

Wir fragten in der Einleitung zum zweiten Teil dieser Schrift: Ist das Bestehen eines wirklichen Sachverhalts identisch mit seinem Gegebensein im Urteilssinn? oder besteht das Wirkliche unabhängig davon, daß seine Wirklichkeit als Prädikat im Urteilssinn eines urteilenden Bewußtseins überhaupt gegeben ist?

Um diese Frage zu entscheiden, müssen wir uns klar machen, was wir unter einem "urteilenden Bewußtsein überhaupt" zu verstehen haben. Dieser Begriff ist schwierig und nicht ganz frei von einem gewissen psychologischen Beigeschmack, wenn ihn auch RICKERT gewiß nicht psychologisch aufgefaßt wissen will. Wir müssen ihn von seinem psychologischen Beigeschmack befreien und unter Vermeidung des allemal psychologisch anmutenden Bewußtseinsbegriff mit unseren Worten klar zum Ausdruck bringen versuchen, was RICKERT eigentlich damit meint, bzw. was er in genialer Einstellung eigentlich damit meinen muß, wenn er nämlich, ungetrübt durch bloß individuelle Vormeinungen und die aus ihnen stammenden Schemen, welche das Denken mechanisieren und sterilisieren, die Dinge rein auf sich wirken läßt.

Wir haben aus RICKERTs eigenen Worten den Nachweis erbracht, daß unter "Bewußtsein überhaupt" der Gegebenheitscharakter der Gegenstände zu verstehen ist. Daran müssen wir anknüpfen. Denn das "urteilende Bewußtsein überhaupt" ist offenbar ein Spezialfall des "Bewußtseins überhaupt". Dem "urteilenden Bewußtsein überhaupt" gegeben sein kann eigentlich nur heißen: in einem überindividuellen Urteilssinn gegeben sein.

Nun ist zweierlei möglich: Entweder wir fassen "Urteil" im Sinn der RICKERTschen Urteilslehre auf, derart, daß das Urteil eine Beurteilung des Wahrheitswertes des im Urteil gemeinten Sachverhalts enthält. Dann sind empirische Tatsachen überhaupt nicht in einem überindividuellen Urteilssinn gegeben.

Dann wird das Dasein wirklicher Objekte weder in einem aktuellen noch in einem bloß gedachten, überindividuellen Urteil gedacht.

Denn wir haben den Nachweis erbracht, daß die empirischen Feststellungen von einer Beurteilung des Wahrheitswertes des in ihnen gemeinten Sachverhalts nicht enthalten können, da die empirischen Tatsachen selbst jenseits von wahr und falsch gewiß sind. Dann kann also von einer Identität des Daseins der wirklichen Objekte mit ihrer Gedachtheit in einem überindividuellen [allgemeinen - wp] Urteilssinn nicht die Rede sein.

(Ebensowenig kann von der Identität des Bestehens geglaubter Sachverhalte mit ihrem Gedachtsein in einem überindividuellen Urteilssinn die Rede sein. Für die geglaubten Sachverhalte gilt hier die Lehre von der Transzendenz des Glaubens. Aus dem Wesen des Glaubens folgt, daß im Urteilssinn geglaubt wird, daß die geglaubten Sachverhalte unabhängig von der Geglaubtheit existieren.)

Oder wir verstehen unter "Urteil" ganz allgemein die Sachverhaltserfassung. Dann ist das Gegebensein im Urteilssinn gleichbedeutend mit dem Gegebensein als Sachverhalt. Dann ist das Gegebensein in einem überindividuellen Urteilssinn gleichbedeutend mit der Gegebenheit als Sachverhalt. Dann bedeutet das Gegebensein im "urteilenden Bewußtsein überhaupt" nichts anderes als den Sachverhaltscharakter. Es bedeutet insofern freilich eine Form der Gegebenheit, deren Formcharakter über jeden Zweifel erhaben ist. Wir haben aber an Beispielen den Nachweis zu erbringen gesucht, daß das Bestehen wirklicher Sachverhalte nicht mir ihrer Sachverhaltsform oder mit ihrer Gegebenheit als Sachverhalt steht und fällt, daß vielmehr das Dasein wirklicher Sachverhalte von ihrem Sachverhaltscharakter toto genere [absolut völlig - wp] verschieden und unabhängig ist. Das Gegebensein eines empirischen Sachverhalts ist nicht identisch mit seiner Sachverhaltsform.

(Derselbe Nachweis läßt sich für die idealen und geglaubten Sachverhalte erbringen, was später in einem anderen Zusammenhang geschehen soll.)

In keinem Fall also kann von einer Identität des Daseins der wirklichen Objekte mit ihrer Gedachtheit in einem überindividuellen Urteilssinn die Rede sein.

Stellen wir den entscheidenden Gegensatz unserer Auffassung zu der HEINRICH RICKERTs noch einmal kurz heraus:

Es entbehrt meines Erachtens jedes Sinnes, ein logisches Sollen anzunehmen, welches verbietet, das Gegenteil von dem festzustellen, was unmittelbar gegeben ist. Daß es absolut unmöglich ist, das Gegenteil von dem festzustellen, was nun einmal gegeben ist, beruth auf dem Wesen der Gegebenheitsart der rationalen und empirischen Tatsachen, die jenseits von wahr und falsch gewiß sind, weil sie auf einer Ebene liegen, in welcher der Zweifel gar keine Angriffsmöglichkeit hat.

In einer späteren Arbeit hoffe ich den Nachweis erbringen zu können, daß die von RICKERT selbst als notwendiges Übel empfundene "petitio principii" nicht notwendig ist, daß das transzendente Sollen nicht am Anfang der Erkenntnistheorie vorausgesetzt zu werden braucht, daß es sich vielmehr aus empirischen Tatsachen ableiten läßt, deren Feststellung nicht selbst wieder auf einem logischen Sollen beruth.

Soviel dürfte jedenfalls feststehen, daß RICKERT der Nachweis nicht gelungen ist, daß die empirischen Feststellungen auf einem logischen Sollen beruhen.


V. Die Wirklichkeit als "Form".

Im Abschnitt "Das Problem der empirischen Wirklichkeit als Problem einer Form" haben wir zwei Fragen gestellt:
    1. Können wir die Wirklichkeit losgelöst denken von dem, was zweifellos zum formalen Charakter des Wirklichen gehört?

    2. Können wir die Wirklichkeit losgelöst denken vom Wesen des Wirklichen?
Diese beiden Fragen können wir jetzt beantworten. Zweifellos zum formalen Charakter des Wirklichen gehört nur das, was zum formalen Charakter des Gegebenen überhaupt gehört, mag es nun als ideal, als geglaubt oder als wirklich gegeben sein. Gegebenes kann, wie wir gesehen haben, in der Form eines Bestandes (als Gegenstand oder als Sachverhalt) oder aber in der Form der Zugehörigkeit zu einem Bestand (als Wesensbeschaffenheit usw.) oder auch endlich ganz formlos gegeben sein als ungeformtes Mannigfaltiges.

Wie wir an Beispielen deutlich zu machen versucht haben, kann nun Wirkliches auf allen drei Stufen der Gegebenheit gegeben sein. Es ist zwar unmöglich das Dasein wirklicher Sachverhalte festzustellen, solange sie keine Sachverhaltsform haben. Aber das Dasein dessen, was die Form des Sachverhalts gewinnt, besteht schon vor aller Form. Wir werden, wie sich im weiteren Verlauf unserer Untersuchung gezeigt hat, dem Wesen des Wirklichen vollkommen gerecht, und es erheben sich keinerlei Schwierigkeiten und Bedenken, wenn wir die Wirklichkeit als die Gegebenheitsart des Wirklichen begreifen. Das Wirkliche hat die Gegebenheitsart der Wirklichkeit auch ohne daß es irgendeiner Form gegeben ist. Wir können uns also sehr wohl die Wirklichkeit losgelöst denken von dem, was zweifellos zum formalen Charakter des Wirklichen gehört.

Hingegen ein Wirkliches zu denken, das nicht (um ganz allgemein zu sprechen) den Charakter der Wirklichkeit hätte, ist schlechterdings unmöglich. Daß das Wirklich den Charakter der Wirklichkeit hat, ist eine analytisch einsichtige Tatsache. Das wird auch RICKERT nicht bestreiten wollen. Welchen Sinn soll es nun haben, einen Charakter, der dem Wirklichen unter allen Umständen zukommt, auch wenn es formlos gegeben ist, als seine Form zu bezeichnen?

Aber das ist eine terminologische Frage. Das Entscheidende ist dieses:

Damit RICKERTs Haltung gegebenüber dem Problem der empirischen Wirklichkeit mit seinen ganzen Konsequenzen für das Problem der transzendenten Realität (die wir übrigens aus anderen Gründen schon ablehnen mußten) zu Recht besteht, genügt es nicht, daß RICKERT zeigt, man könne die Wirklichkeit als Form begreifen. RICKERT müßte vielmehr zeigen, daß wir dem Wesen der Wirklichkeit überhaupt nicht gerecht werden können, wenn wir sie nicht als Form begreifen. Daß dieser Nachweis RICKERT nicht gelungen ist, glauben wir mit genügender Deutlichkeit dargelegt zu haben.

RICKERT spricht auch von der "Form der Gegebenheit", die jeder als gegeben erkannte Gegenstand haben soll, und nennt die Gegebenheit eine Erkenntnisform.

Nun ist allerdings zuzugeben, daß alles, was als gegeben festgestellt wird, eine der drei genannten Arten der Gegebenheit haben muß. Es muß als wirklich, als ideal oder als geglaubt gegeben sein. Ja, man kann sogar genauer sagen, daß es in der Form eines selbständigen Bestandes gegeben sein muß, damit seine Gegebenheit überhaupt festgestellt werden kann. Aber die Gegebenheit von etwas Gebenem ist nicht identisch mit seiner Bestandsform; denn das Gegebene kann in verschiedenen Bestandsformen gegeben sein. Wenn ich etwas gegeben nenne, so weise ich damit auf die Seinsart des Gegebenen hin und unterscheide es dadurch von einem Nichtgegebenen. Die Gegebenheit gehört nicht zur Bestandsform des Gegebenen. Gewiß muß das Gegebene eine Bestandsform haben, damit es als gegeben erkannt werden kann. Die Bestandsform könnte auch "Erkenntnisform" heißen, wenn man, wie es RICKERT tut, den Begriff der Erkenntnis in so weitem Sinne nehmen will, daß darunter eine Konstatierung mitbegriffen wird. Aber gerade dann kann die Gegebenheit nicht als die "Erkenntnisform" bezeichnet werden, weil sie ja mit der Bestandsform nicht identisch ist, weil etwas gegeben sein kann, ohne in einer Bestandsform gegeben zu sein.

Zusammenfassend können wir daher sagen: Wir geben zu, daß das Wirkliche oder Gegebene die Form des Bestandes oder der Tatsächlichkeit haben muß, damit es als gegeben "erkannt" werden kann, wenn man unter Tatsächlichkeit nicht die Unbezweifelbarkeit, sondern den Sachverhaltscharakter empirischer Sachverhalte verstehen will. Die Form des Bestandes oder der Tatsächlichkeit in diesem Sinn ist zugleich eine "Erkenntnisform", wenn man wie RICKERT unter "Erkennen" das Konstatieren mitbegreift. Die Wirklichkeit ist aber nicht identisch mit der Bestandsform des Wirklichen; denn das Wirkliche kann in verschiedenen Bestandsformen gegeben sein. Ebensowenig ist die Gegebenheit die Bestandsform des Gegebenen; denn das Gegebene kann in verschiedenen Bestandsformen gegeben sein. So kann z. B. in der deskriptiven Psychologie der Empfindungen die Qualität eines Empfindungsinhalts "erkannt", d. h. als selbständiger Gegenstand gegeben sein, ohne daß deshalb auch die Intensität dieses Empfindungsinhalts als selbständiger Gegenstand gegeben ist. Trotzdem läßt sich mit analytischer Gewißheit behaupten, daß der gegebene Empfindungsinhalt eine wirkliche Intensität haben muß, weil es zum Wesen, d. h. zum Bestand jedes Empfindungsinhaltes gehört, daß er eine Intensität hat. Und es läßt sich, wie psychologische Erfahrungen lehren, oft in rückschauender Beobachtung noch nachträglich die wirkliche Intensität dieses gegebenen Empfindungsinhaltes als selbständiger Gegenstand erfassen.

Es ist also geradezu falsch, die "Wirklichkeit" oder die "Gegebenheit" als "Erkenntnisform" zu bezeichnen.

Auf die "Tatsächlichkeit" allein läßt sich die Bezeichnung "Erkenntnisform" allenfalls sinnvoll anwenden, wenn man nämlich darunter nicht die empirische Gegebenheit, sondern den Sachverhaltscharakter versteht.

Wir haben ausführlich zu zeigen versucht, daß die Wirklichkeit, unter welcher wir die empirische Gegebenheit im Unterschied von der Idealität und von der Geglaubtheit verstehen, weder, wie RICKERT will, notwendig als Form begriffen werden muß, noch am Bestand dessen, was ohne Zweifel als Form der Gegebenheit angesprochen werden muß, in irgendeiner Beziehung Teil hat. Wir haben vielmehr zu zeigen versucht, daß die Gegebenheitsart des gegebenen Materials diesem zukommt, auch ohne daß es in irgendeiner Form gegeben ist.


VI. Schlußbemerkung: Die psychologische
Wurzel der Wirklichkeitslehre Rickerts.

Wir begreifen die Haltung, die RICKERT gegenüber dem Problem der empirischen Wirklichkeit einnimmt, aus seiner Vermischung der in ihrem Wesen tief verschiedenen Arten der Gewißheit. Was wir bei RICKERT erleben, ist ein typischer Fehler, den wir wohl bei allen großen bahnbrechenden originalen Denkern finden. Die Entdeckung, die sie gemacht, das große Neue, das sie uns zu sagen haben, drängt sie in einen Gegensatz zu dem, was bisher gelehrt worden ist. Diese gegensätzliche Einstellung, in welcher sie sich zur Überlieferung befinden, wird für sie zum Anlaß, ihren Bogen zu straff zu spannen und über das Ziel hinauszuschießen. Das große Neue, was RICKERT, im Einklang mit WINDELBAND, mit einer Schärfe wie sonst kaum jemand zuvor betont hat, ausgenommen vielleicht THEODOR LIPPS, ist die Lehre vom Wertcharakter der Wahrheit. RICKERT sagt:
    "Dies also ist die Hauptsache: wir sind gewöhnt, nur im außertheoretischen Leben Wertungen zu finden. Das müssen wir uns abgewöhnen und Wertungen auch innerhalb des rein theoretischen Gebietes als unentbehrlich und zum Wesen der Sache gehörig konstatieren." 194/.
Ich kann diese Worte RICKERTs nicht lesen, ohne im Innersten von ihnen ergriffen zu sein. Als ich sie zum erstenmal las, habe ich RICKERT beinahe wie einen Gott verehrt und habe ihm im Allerheiligsten meines Innenlebens ein Denkmal errichtet. Aber "Hütet Euche, daß Euch nicht eine Bildsäule erschlage!" sprach Zarathustra.

Wir müssen die Wahrheit als einen Wert begreifen, welcher von einem Sollen getragen ist, das als der höchste Richter über unserem bloß individuellen Glauben, Meinen, Vermuten, Deuten und Ahnen steht, auch über unserem landläufigen "Erleben" und "Erfahren", soweit es sich dabei nämlich um gänzlich undifferenzierte Komplexe aus empirischen Feststellungen und den unbewußt an sie herangetragenen Deutungen handelt.

Aus der Erkenntnis heraus, daß die Wahrheit als ein Wert begriffen werden muß, und daß unser Denken auf Schritt und Tritt mit Deutungen durchsetzt ist, die selbst wieder gültige oder ungültige Erfüllungen des intellektuellen Sollens sind, kommt RICKERT zu der Auffassung, daß alle unsere Urteile oder Aussagen Anerkennungen eines Sollens sind.

Dies trifft in der Tat auch fast in vollem Umfang zu. (Denn wie eng begrenzt ist der Kreis der absoluten Gewißheit!) Aber doch eben nur fast. Und deshalb muß die Sehne des überspannten Bogens allmählich reißen.

Bis auf WINDELBAND und RICKERT hat das Wesen der Wahrheit groteskerweise zu den bestverkannten Gegenständen unserer Wahrheitsforschung gehört. Man hatte von DESCARTES bis auf KANT die empirische und die rationale Gewißheit gegeneinander ausgespielt, die dann KANT in jener verunglückten Synthese vereinigen wollte, an der wir uns noch heute die Köpfe zerbrechen.

Die Sucht, alles möglichst zu vereinheitlichen und zu verallgemeinern, ist uns wohl angeboren. Die einen wollen das ganze Reich der theoretischen Gewißheit rationalisieren, die andern wollen es empirisieren.

KANT kam auf den Gedanken -, alles beides auf einmal zu tun. WINDELBAND und RICKERT kommen der Entdeckung der dritten Gewißheitsart nahe, indem sie den Wertcharakter der Wahrheit entdecken, und wollen nun alle Gewißheit mit dem Wertcharakter durchsetzt wissen. Sie reihen so an den Rationalismus und Empirismus mit einer Art historischer Notwendigkeit den Axiotismus, d. h. die Hypertrophie [Übersteigerung - wp] des Wertes in der Erkenntnistheorie.

RICKERT erliegt damit, wie gesagt, dem Schicksal, dem wohl bisher alle großen Denker erlegen sind. Eine interessante Parallele zu ihm ist NIETZSCHE, der den interpretativen oder Deutungscharakter unserer Urteile, die auf der dritten, bisher noch nirgends genügend klargelegten Art der Gewißheit beruhen, auf alle Aussagen überträgt und sagt: "Alles, was uns bewußt wird, ist durch und durch ... ausgelegt."

Auch bei KÜLPE, der wieder in ganz anderer Weise einen entscheidenden Vorstoß zur Aufdeckung der dritten Gewißheitsart unternimmt, läßt sich hin und wieder die Tendenz aufweisen, Aussagen, denen wir den Charakter empirischer Feststellungen zusprechen müssen, unter das Schema der von ihm großzügig angelegten Theorie der Realerkenntnis zu bringen, wenn er auch die fundamentale Bedeutung der empirischen Gewißheit als einer besonderen Gewißheitsart nicht verkennt.

Wir kommenden, die wir am Aufbau einer Philosophie als Wissenschaft schöpferisch mitarbeiten wollen, dürfen an den großen Denkern, die vor uns geschaffen haben, nicht vorbeigehen, wollen wir nicht von vornherein dem Fluch hoffnungsloser Eigenbrödelei verfallen. Wir müssen durch sie hindurch!

Unsere Aufgabe wird es sein, die großen Denker, die vor uns geschaffen haben, zu überwinden, indem wir ihre bloß individuellen Meinungen zertrümmern und den wahren Kern ihrer Lehren so ausbauen, wie die eigene Geistesart es gebietet, wie das Sollen oder die rein menschliche Stimme des intellektuellen Gewissens es von uns fordert.

Wir Kommenden, die wir die geistige Not der Gegenwart und das Bedürfnis nach innerer Wiedergeburt durch die Schaffung einer neuen Kultur tief im Innersten erlebt und erlitten haben - wir Menschen der großen Sehnsucht und der großen Hoffnung - wir lieben RICKERT um der Ehrfurcht gebietenden rein menschlichen Kraft willen, die in ihm nach Wahrheit ringt - und eben deshalb lieben wir mehr als ihn: die Wahrheit.


Nachwort
Rickerts Stellung zu den Methoden
der Realwissenschaften.

1. Nachdem diese Dissertation bereits eingereicht und gebilligt worden war, erschien die 4. und 5. Auflage von RICKERTs "Gegenstand der Erkenntnis". Da diese Auflage keine wesentlichen Änderungen enthält, bestand auch kein Anlaß, die Ausführungen der Dissertation in irgendeiner Richtung abzuändern. Wenn ich in diesem Nachwort RICKERTs Stellung zu den Methoden der Realwissenschaften, die ja im ersten Teil der Dissertation schon berührt wurde, noch einer besonderen Würdigung unterziehe, so tue ich das, weil RICKERT im Vorwort zur neuen Auflage mit besonderem Nachdruck betont, daß erst aus dem 5. Kapitel des "Gegenstandes der Erkenntnis" ganz klar werden kaann, daß seine Erkenntnistheorie den Methoden der Realwissenschaften gerecht wird. Die Ausführungen dieses Kapitels, namentlich die von der "Kategorie der Gegebenheit", stehen und fallen freilich im Wesentlichen mit der von mir bestrittenen Voraussetzung, daß die Wirklichkeit eine "Wertform" ist. Immerhin gibt uns der Abschnitt, der vom "Problem der objektiven Wirklichkeit" handelt, Gelegenheit, uns die Schwierigkeiten, mit denen RICKERTs Theorie zu ringen hat, noch deutlicher vor Augen zu führen. Es wird aber gut sein, wenn wir uns vorher kurz vergegenwärtigen, wie RICKERT in den "Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" die empirischen Wissenschaften auffaßt.

2. Unter empirischer Wissenschaft versteht RICKERT: Umformung der empirischen Wirklichkeit nach generalisierender oder nach individualisierender wertbeziehender Methode. Naturwissenschaft, Psychologie und Geschichtswissenschaft sind also nach RICKERT nichts weiter als Umformungen der empirischen Wirklichkeit. Die empirische Wirklichkeit, durch deren Umformungen die empirischen Wissenschaften entstehen, faßt RICKERT in seinem "Gegenstand der Erkenntnis" bekanntlich auf als Inhalt eines Bewußtseins überhaupt, das im Laufe der Untersuchung immer präziser bestimmt wird. Das Ganze der realwissenschaftlichen Darstellung bekommt durch den Begriff des "Bewußtseins überhaupt" gleichsam einen erkenntnistheoretischen Korrelatbegriff. Das empirische Wirklichkeitsganz kann ja als solches niemals Inhalt eines individuellen Bewußtseins werden. Als Korrelatbegriff des dargestellten Wirklichkeitsganzen mag also der Begriff des Bewußtseins überhaupt ein gewisses wissenschaftstheoretisches Bedürfnis befriedigen. Man kann auf diese Art wohl die empirische Darstellung als generalisierende oder individualisierende wertbeziehende Formung der empirischen Wirklichkeit verstehen. Wir haben nun zu prüfen, ob das Verfahren der Realwissenschaften sich als Umformung der empirischen Wirklichkeit erschöpfend charakterisieren läßt, und ob RICKERTs Begriff eines kontinuierlichen empirischen Wirklichkeitsganzen sich als haltbar und für das Verständnis der realwissenschaftlichen Methoden als fruchtbar erweist. Wir untersuchen zunächst die Frage, ob der Begriff einer die Grenzen des individuellen Bewußtseins überragenden empirischen Wirklichkeit einer unbefangenen Prüfung standhält.

Der Ausgangspunkt jeder empirischen Forschung ist der Inhalt des individuellen Bewußtseins. Gewiß kann und muß man unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten den Inhalt des individuellen Bewußtseins aus seiner psychologischen Verschlungenheit herauslösen. Man darf nicht in psychologistischer Kritiklosigkeit dabei beharren, das empirisch Gegebene auf ein individuelles psychisches Subjekt zu beziehen und es als dessen Bewußtseinsinhalt zu charakterisieren. Man muß aber den propädeutischen Hinweis darauf, daß die empirische Wirklichkeit Inhalt des individuellen Bewußtseins ist, machen, wenn man nicht ganz darauf verzichten will, zum Verständnis zu bringen, was man eigentlich mit empirischer Wirklichkeit meint. Man muß dann aber diesen Hinweis, um mit HUSSERL zu reden, gleichsam einklammern, und als Erkenntnistheoretiker von der Voraussetzung absehen, daß das empirisch Gegebene Bewußtseinsinhalt eines realen psychischen Subjekts ist. Betrachten wir das empirisch Gegebene ohne jede psychologische oder naturwissenschaftliche Deutung, so stehen wir auf dem granitenen Boden der empirischen Wirklichkeit, von dem jede realwissenschaftliche Forschung ausgehen muß.

RICKERT schlägt bei seiner Bestimmung des Wesens der empirischen Wirklichkeit einen anderen Weg ein. Er geht nicht vom Inhalt des Bewußtseins aus, sondern von dessen Form. Diese mußten wir in unserer Untersuchung RICKERTs Ausführungen gemäß zunächst als den Gegebenheitscharakter des Erkenntnisinhalts begreifen. Nun sagt RICKERT selbst: "Nur dem Inhalt im Zusammenhang mit der Form kommt Wirklichkeit zu. Solches Zusammen ist die immanente Wirklichkeit des realen bewußten Ich." (Gegenstand der Erkenntnis, dritte Auflage, Seite 52). Das heißt also: Nur im Bewußtsein des individuellen Subjekts können Inhalte Gegebenheitscharakter haben und Sachverhaltscharakter erlangen. Wir darf also RICKERT, wenn er nicht mit sich selbst in Widerspruch geraten will, von einer kontinuierlichen empirischen Wirklichkeit reden, die die Grenzen des individuellen Bewußtseins überragt? Nicht alles, was im (eingeklammerten) individuellen Bewußtsein gegeben ist, hat Form. Unübersehbar ist die Mannigfaltigkeit des Gegebenen. Aber wie könnte etwas Form erlangen, was nicht Inhalt des (eingeklammerten) individuellen Bewußtseins ist? Wie könnte etwas immanent sein, dessen Sein nicht mit seinem Gegebensein im (eingeklammerten) individuellen Bewußtsein identisch ist? Nur der Inhalt dieses Bewußtseins ist gegeben. Alle Dinge, deren Sein nicht mit ihrem wirklichen Gegebensein im (eingeklammerten) individuellen Bewußtsein identisch ist, liegen jenseits der Grenzen der Gegebenheit, sind transzendent. Läßt sich aber das Sein der Naturkörper und das Sein der Seele mit ihrem Gegebensein im (eingeklammerten) individuellen Bewußtsein nicht identifizieren, so folgt daraus die Transzendenz alles Physischen und Psychischen. In der Tat liegt alles Physische und Psychische jenseits der Grenzen der empirischen Wirklichkeit.

Empirisch gegeben ist weder Physisches noch Psychisches. Hier ist eine rote Fläche. Diese rote Fläche kann ich deuten als Inhalt meiner Empfindung. Ich kann sie auch deuten als Oberfläche eines Körpers, der unabhängig von meinem individuellen Bewußtsein existiert. Unmittelbar weiß ich aber weder etwas von der Existenz eines psychischen Subjekts, das unabhängig davon existiert, ob es Bewußtsein hat oder nicht. Noch weiß ich etwas von der Existenz eines Körpers, der existiert, ohne "wahrgenommen" zu sein. Seele und Körper liegen beide jenseits der Grenzen der empirischen Wirklichkeit. Sie sind Gegenstände nicht des Wissens, sondern des Glaubens. Und auch die psychologische oder naturwissenschaftliche Deutung des empirisch Gegebenen, die immer darin besteht, daß empirisch Gegebenes auf Seele und Körper bezogen wird, daß empirisch Gegebenes als seelische oder körperliche Erscheinung interpretiert wird, ist kein Wissen, sondern im besten Fall gültiger Glaube. Nun ist nur zweierlei möglich.

Entweder Seele und Körper haben eine vom Bewußtsein und allen seinen Formen unabhängige Existenz, dann sind sie transzendent.

Oder sie haben keine vom Bewußtsein und seinen Formen unabhängige Existenz. Dann sind sie bloße Begriffe.

Die erste Annahme führt zum kritischen Realismus. Die zweite Annahme führt zu einem Standpunkt, im Vergleich zu welchem sogar der psychologistische Solipsismus noch eine metaphysische Spekulation wäre. Der Anti-Realist RICKERT hat nun die Wahl. Entweder er beharrt in seiner positivistischen Verkennung des trans-empirischen Charakters alles Psychischen und Physischen. Oder er löst als ein von allen metaphysischen Schlacken gereinigter HEGEL-redivivus [Hegelwiederauferstehung - wp] die Welt in ein System von Begriffen auf. Mögen nun Seele und Körper (als metaphysische Einheit oder Zweiheit) transzendent existieren, oder mögen sie bloße Begriffe sein, denen überhaupt nichts Gegenständliches entspricht - soviel steht für jeden, der sich von einer naiv-realistischen Vermengung empirischer Daten mit den an sie herangetragenenen interpretativen Zutaten freimacht, unerschütterlich fest, daß Seele und Körper von dem was empirisch gegeben ist und als Erscheinung jener beiden gedeutet wird, toto genere verschieden sind, daß mithin die Realwissenschaften, sofern sie von Seelischem und Körperlichem reden, gar nicht als bloß "empirische" Wissenschaften begriffen werden können, wenn man unter empirischer Wissenschaft eine bloße Umformung der empirischen Wirklichkeit versteht. Oder zumindest dürften die Realwissenschaften als "emprische" Wissenschaften nur in dem Umfang bezeichnet werden, als sie sich auf eine reine Beschreibung des Vorgefundenen beschränken.

Wir können uns demnach nicht davon überzeugen, daß die empirische Wirklichkeit das Physische und Psychische umfaßt, von dem doch nach RICKERTs Meinung die empirischen Wissenschaften handeln sollen. Wir können uns ferner davon überzeugen, daß der Begriff einer die Grenzen des individuellen Bewußtseins überragenden kontinuierlichen Wirklichkeit einer unbefangenen Prüfung standhält, noch daß er mit RICKERTs eigenen Voraussetzungen im Einklang steht. Denn auch nach RICKERT können nur im individuellen Bewußtsein Inhalte eine Form erlangen. Ein weltumspannendes kontinuierlichen Wirklichkeitsganzes, das RICKERT sich als gegebenes Material aller realwissenschaftlichen Formung denkt, setzt in der Tat nicht bloß ein erkenntnistheoretisches Subjekt voraus. Denn dieses ist ja nur eine logische Abstraktion aus der wirklichen individuellen Bewußtheit oder Gegebenheit. Und es ist schlechterdings unfaßlich, wie man diese Form der Bewußtheit oder Gegebenheit dem Weltganzen zuschreiben kann, das doch in seiner Totalität keinem individuellen Bewußtsein gegeben ist, noch jemals gegeben sein kann. Das Weltganze als empirisches Wirklichkeitsganzes denken, heißt ein allumfassendes metaphysisches Weltbewußtsein voraussetzen, einen Weltgeist, dem all das, was der Forscher Hypothesen bauend mühsam erschließen muß, empirisch gegeben wäre. Ja, wenn RICKERT sein erkenntnistheoretisches Subjekt als Weltgeist etwa im Sinne HEGELs auffassen würde, dann könnte man ihn zumindest noch verstehen. Aber derartiges lehnt RICKERT grundsätzlich ab. Indem er daran festhält, auch das als gegeben zu bezeichnen, was grundsätzlich in keinem individuellen Bewußtsein gegeben sein kann, kommt er zu einer sinnlosen Phänomenologisierung der Welt, der man schon in Gedanken nicht folgen kann, geschweige daß man ihren Sinn begreift.

Können wir auch RICKERT in seiner Phänomenologisierung der Welt nicht folgen, so können wir uns doch zumindest begreiflich machen, wie er zu ihr gekommen ist.

Anstatt nämlich die Realwissenschaften von dem granitenen Boden aus zu betrachten, auf dem sie sich erheben, geht RICKERT vom dargestellten "Wirklichkeitsganzen" aus und setzt den [kantischen - wp] Begriff des "Bewußtseins überhaupt" an den Anfang der Erkenntnistheorie. Auf diese Weise stellt RICKERT in der Tat, wie VOLKELT in einem glücklichen Bild sagt, die Pyramide auf die Spitze. Man kann auf diese Art wohl, wie RICKERT, die empirische Darstellung als generalisierende oder individualisierende wertbeziehende Formung der empirischen Wirklichkeit verstehen. Und wir wollen gewiß nicht bestreiten, daß RICKERT hier zu wertvollen Aufschlüssen gelangt ist. Das wahre Wesen der Forschungsmethoden bleibt aber auf diese Art notwendig in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt. Auf die Erfassung des Wesens der Forschung kommt es aber gerade an, wenn man die Frage nach der Möglichkeit einer Metaphysik als Wissenschaft stellen will. Dieses fundamentale Problem der Philosophie kann RICKERT aus seiner ganzen Einstellung heraus gar nicht sehen. Es ist für ihn von vornherein in einem negativen Sinn gelöst.

3. Geht man dagegen von einem granitenen Boden der empirischen Wirklichkeit aus, die den Ausgangspunkt jeder realwissenschaftlichen Forschung bildet, so erwachsen der Methodenlehre neue große Aufgaben. Auf diese Aufgaben hingewiesen zu haben, ist das unvergängliche Verdienst KÜLPEs, des genialen Begründers einer umfassenden Theorie der Realwissenschaften.

Die Erkenntnistheorie hat zu zeigen, wie die Wissenschaft es anfängt, über die Grenzen der empirischen Wirklichkeit hinauszugehen, um ihren nur durch das Denken erfaßbaren, aber unabhängig von der Form der Gedachtheit existierenden realen Zusammenhang zu begreifen. Die Erkenntnistheorie hat zu zeigen, mit welchem Recht der Naturforscher Sachverhalte behauptet, die er niemals empirisch konstatiert hat (mit welchem Recht z. B. die Existenz des Neptun vor der optischen Feststellung seines Daseins behauptet wurde). Sie hat zu zeigen, was den Psychologen ermächtigt, Urteile über fremde Bewußtseinsvorgänge zu fällen, die er niemals erlebt hat. Sie hat insbesondere zu zeigen, wie der Historiker, dem als Materialsammlungen zum großen Teil nur Sammlungen von Schriftzeichen zur Verfügung stehen, zur Erkenntnis einer Vergangenheit fortschreitet, die weder seinen Sinnen, noch seinem Gedächtnis jemals gegenwärtig war.

Mit anderen Worten: Die Methodenlehre hat sich derjenigen wissenschaftlichen Arbeit zuzuwenden, die mehr ist als eine bloße Umformung der empirisch gegebenen Wirklichkeit, die durch das Wort "Begriffsbildung" vielleicht gar nicht erschöpfend charakterisiert wird. Die Methodenlehre darf nicht den Gesichtskreis ihrer Probleme künstlich verengen, indem sie die einander wesensverschiedenen Methoden der Beschreibung und Erklärung gewaltsam auf einen Leisten spannt. Deutlich müssen sich Forschung und Darstellung voneinander scheiden, die unter dem geistreichen, aber allzu bequemen Gesichtspunkt einer "Umformung der Wirklichkeit" vollständig zu verschwimmen drohen. Wie tief hätte RICKERT in das Wesen und die Geltungsgründe der wissenschaftlichen Erklärung hineinleuchten können, wenn er das logische Sollen als Norm aller wissenschaftlichen Erklärung, als hypothesenbildende Kraft begriffen hätte, als eine Erkenntniskraft, welche die Grenzen der Gegebenheit ahnend überschreitet, anstatt in gänzlicher Verkennung seines Wesens ihm die Funktioin zuzuweisen, das Formenrelief des Bewußtseins herauszustanzen; eine Aufgabe, die in Wahrheit der Aufmerksamkeit und ihren höheren kategorialen Staffelungen, nämlich der Gegenstands- und Sachverhaltserfassung zufällt. (Ich drücke mich absichtlich psychologisch aus, um verstanden zu werden. Erkenntnistheoretisch darf man hier nur von Kategorien oder Bestandsformen des Gegebenen reden, die sich unmittelbar aufweisen lassen.) Die apperzeptive Synthesis, durch welche formlos Gegebens auf eine höhere Stufe der Gegebenheit, also etwa zur Plastik des Gegenstandes oder des Sachverhaltes gebracht wird, steht nicht unter logischen Normen. Die bloße Blickrichtung der Apperzeption, die bloße Errichtung einer prädikativen Beziehung innerhalb der Sphäre dessen, was ohnehin unbezweifelbar, wenn auch noch formlos gegeben ist, kann nicht wahr oder falsch sein. Sie mag unter den allgemeinen Gesetzen einer biologischen Zweckmäßigkeit, eines transzendenten biologischen Sollens stehen. Unter dem Gesetz der Wahrheit steht sie nicht. Denn von wahr und falsch zu reden, hat erst Sinn, wo der granitene Boden der schlechterdings unbezweifelbaren Tatsachen verlassen wird. Eine wahre Tatsache wäre ein sinnloser Pleonasmus [weißer Schimmel - wp]; eine falsche Tatsache eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp]. Von wahr und falsch zu reden hat erst Sinn, wo etwas angenommen, vermutet, vorausgesetzt, geglaubt oder geahnt wird, nicht etwa wo schlechthin gegebene Tatsachen gemeint werden. Eine Annahme, Vermutung oder Ahnung dagegen kann wahr sein, ohne daß der geglaubte Sachverhalt prädikativ erfaßt ist. Transzendente Zusammenhänge können geahnt werden ohne sich aus dem dunklen Gewühl irrationaler Ahnungen zur plastischen Form klar erfaßter Sachverhalte zu erheben. Sie stehen gleichwohl unter dem Gesetz der Wahrheit.

Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß das transzendente logische Sollen, das im Reich der empirischen Wirklichkeit jedes Sinnes entbehrt, als Geltungsgrund transzendenter Setzungen aber sofort einen Sinn bekäme. Es ist darauf hingewiesen worden, daß die Annahme einer transzendenten Realität nicht auf eine "sinnlose Verdoppelung der immanenten Wirklichkeit" hinauszulaufen braucht; denn das transzendente Reale wäre ja, weil es sich (sofern es existiert) jeder Möglichkeit des Gegebenseins grundsätzlich entzieht, von dem Wirklichen in einem noch höheren Grad spezifisch verschieden als die idealen Objekte der Mathematik. Es ist darauf hingewiesen worden, daß das transzendente Reale nicht als "unerkennbar" gedacht zu werden braucht, daß es vielmehr, sofern es als gedacht gegeben ist, in die Formen der Erkenntnis eingehen würde. Dies alles kann man freilich nur einsehen, wenn man neben dem Gegebenheitscharakter der Dinge ihren Existenzialcharakter als Problem sieht. Durch die Annahme einer transzendenten Realität würde der Gegenstand dem Erkennen nur dann entrückt, wenn das transzendente Reale notwendig als unerkennbares X zu denken wäre. Nur der Phänomenalismus, der das transzendente Reale in dieser Weise charakterisiert, schlägt das Problem der Realerkenntnis tot. Aber was gegen den Phänomenalismus von RICKERT mit Recht angeführt wird, beweist noch nichts gegen die Annahme einer transzendenten Realität. Hält man mit dem kritischen Realismus das transzendente Reale für grundsätzlich erkennbar, so eröffnet sich der Wissenschaftstheorie ein weites Arbeitsfeld. Nicht eine Verdoppelung der empirischen Wirklichkeit strebt der kritische Realismus an. Was sollte die auch für einen Sinn haben? Er sucht vielmehr zu zeigen, daß die eine Wirklichkeit des naiven Bewußtseins in Wahrheit ein kompliziertes Gebilde aus Bestandteilen von ganz heterogener Art ist. Das naive Bewußtsein kennt auch keinen Gegensatz von wirklichen und idealen Objekten (z. B. zwischen der gezeichneten Figur und die Idee eines Dreiecks). Weshalb spricht RICKERT nicht hier schon von einer sinnlosen Verdoppelung des Wirklichen? Weil die idealen Objekte ihre Wesen nach nichts empirisch Wirkliches sind, weil es bloß gedachte Objekte sind. Und von dem transzendenten Realen behauptet der kritische Realismus, daß es weder empirisch wirklich noch ideal ist. Der kritische Realismus will weder alle Erkenntnis nach dem Muster der Mathematik auffassen, wie der Rationalismus, noch nach dem Muster der Tatsachenfeststellung, wie der Empirismus. Vor allem aber hütet er sich vor dem Versuch einer Vermengung beider Erkenntnisarten, wobei doch nur ein totgeborener Bastard entstehen könnte. Der kritische Realismus erkennt vielmehr die Berechtigung beider Erkenntnisarten auf ihren Gebieten an und untersucht eine dritte, die von jenen beiden wesensverschieden ist. Er versucht auch nicht, jene beiden Erkenntnisarten nach dem Muster dieser dritten umzumodeln. Er sollte deshalb überhaupt nicht als ein "ismus" bezeichnet werden, weil diese Benennung immer eine Einseitigkeit zum Ausdruck bringt und demgemäß für seine verirrten Brüder, den Positivismus und Idealismus paßt. Statt vom kritischen Realismus sollte man von einer allseitigen Erkenntnistheorie reden. In Zukunft sollte es in der Erkenntnistheorie keine "ismen" mehr geben, sondern nur noch Theorien der verschiedenen Erkenntnisarten. Aus den Richtungen der Erkenntnistheorie sollten Disziplinen werden, aus dem Kampf aller gegen alle eine friedliche Arbeitsteilung. Dies ist der Gedanke KÜLPEs. RICKERT dagegen vermengt alle drei Erkenntnisarten miteinander. Er nimmt von der rationalen Erkenntnis die Denknotwendigkeit, von der empirischen Erkenntnis die Identität von Sein und Gegebensein und von der dritten Erkenntnisart das transzendente Sollen. Kein Wunder, daß das Exempel nicht aufgeht, wenn man seine Theorien mit den einzelwissenschaftlichen Forschungsmethoden vergleicht.

4. RICKERT sagt:
    "Aller Inhalt der Wirklichkeitserkenntnis kann in seiner Besonderheit ausschließlich dem tatsächlich Gegebenen entstammen. Woher sollten wir sonst etwas wissen? ... Inhalte, die weder direkt als Tatsachen gegeben noch nach der Art des tatsächlich Gegebenen zu bestimmen sind, entziehen sich jeder Erkenntnis durch Erfahrungswissenschaften." 394/
Was RICKERT hier vom Inhalt der "Wirklichkeitserkenntnis" sagt, ist zuzugeben, sofern man unter Wirklichkeitserkenntnis nur den Aufweis des Wirklichen versteht. Damit ist aber nicht gesagt, daß die Erkenntnis der Erfahrungswissenschaften sich in "Wirklichkeitserkenntnis" erschöpft. Es ist vielmehr denkbar, daß die Erfahrungswissenschaften, um den Zusammenhang des Wirklichen zu begreifen, genötigt sind, auf eine reale Welt zu schließen, deren Existenz mit ihrem Gegebensein in einem überindividuell gültigen Urteilssinn nicht identisch ist. Ich kann nicht finden, daß die im ersten Teil dieser Dissertation erwähnten Schwierigkeiten, in die man gerät, wenn man RICKERTs Erkenntnistheorie mit dem Sinn der Realwissenschaften in Einklang bringen will, durch die Ausführungen des fünften Kapitels des "Gegenstandes der Erkenntnis" irgendwie behoben werden. Durch die Einschaltung von noch so viel Formelementen, durch die RICKERT sich aus diesen Schwierigkeiten zu retten sucht, wird an der Tatsache prinzipiell nichts geändert, daß durch die Setzung unerfahrbarer Objekte der Zusammenhang des Wirklichen nur dann begreiflich werden kann, wenn diese Objekte mehr sind als bloße Begriffsgespinste, wenn ihnen eine von jeder Form der Gedachtheit unabhängige Existenz zukommt. Durch die Annahme und den Aufweis einer schier unendlichen Zahl von Formelementen löst man die hier entstehenden Schwierigkeiten nicht.

5. Auch die Beispiele, durch die RICKERT den Einklang seiner Theorie mit den Methoden der Realwissenschaften zu erläutern sucht, sind nicht überzeugend.

Die Kausalerkenntnis will nicht etwa bloß, wie RICKERT meint, einen empirisch wirklichen Zusammenhang zweier aufeinanderfolgender Bewußtseinstatsachen behaupten. Wie HUME bereits mit aller Schärfe nachgewiesen hat, ist empirisch gegeben, also wirklich gegeben nur die zeitliche Aufeinanderfolge, nicht aber die kausale Verknüpfung. Und auch RICKERT müßte seiner eigenen Theorie zufolge die kausale Verknüpfung, die, wie er selbst zugibt, sich jeder Wahrnehmung entzieht, als etwas bloß begrifflich Gegebenes, Unwirkliches charakterisieren. Durch einen "Überschuß an Formgehalt", den die Kausalurteile gegenüber den bloß empirischen Feststellungen haben sollen, kann die Unwirklichkeit der kausalen Verknüpfung prinzipiell nicht beseitigt werden. Durch eine bloß begriffliche Verknüpfung von Blitz und Donner kann aber die regelmäßige Aufeinanderfolge dieser beiden wirklichen Vorgänge nicht erklärt werden. Die Tatsache, daß Blitz und Donner begrifflich verknüpft werden sollen, kann die Regelmäßigkeit ihrer Aufeinanderfolge ebensowenig begreiflich machen wie diese begriffliche Verknüpfung selbst, solange in dieser begrifflichen Verknüpfung selbst, solange in dieser begrifflichen Verknüpfung nicht etwas gedacht ist, was unabhängig von ihr existiert, solange nicht Faktoren als wirksam gesetzt sind, die unabhängig von den Formen existieren, in denen sie gedacht sind. Eine Erklärung kann hier nur auf dem Weg gesucht werden, daß man zunächst eine Verknüpfung annimmt, die unabhängig von ihrer Gedachtheit besteht, und die dann durch weitere Forschung noch näher zu bestimmen ist. Durch die Annahme einer kausalen Verknüpfung wird nicht, wie RICKERT meint, lediglich einem Inhalt eine Form zuerkannt. Es wird vielmehr durch diese Annahme eine von jeder Form der Gedachtheit unabhängige, noch näher zu untersuchende reale (nicht "wirkliche") Verknüpfung von Donner und Blitz gesetzt. Der zu formende Inhalt der Erkenntnis wird hier durch die Setzung völlig neu geschaffen, nicht nur die Form (auch nicht bloß das "Material" der Einzelforschung, sofern RICKERT dies als ein Produkt aus Formelementen und gegebenen Inhalten betrachtet). Und das Urteil, in welchem diese (ahnende, formlose) Setzung Form wird, würde jedes Sinnes entbehren, wenn es nicht der Überzeugung Ausdruck gäbe, daß das, was in ihm gemeint ist, unabhängig von jeder Form der Gedachtheit existiert. Die Frage nach dem theoretischen Recht, etwas für real zu halten, ist also hier wie stets nicht die Frage nach dem Recht der Bejahung, die einem Inhalt eine Form zuerkennt, sondern vielmehr die Frage nach Gültigkeit einer Setzung. Die Kausalität kann folglich vom Boden der Realwissenschaft aus nicht als eine Form, sondern muß als eine reale Beziehung begriffen werden. Sie gehört nicht notwendig zu zwei wahrgenommenen Inhalten, sondern sie wird zur Erklärung ihrer regelmäßigen Aufeinanderfolge gültig gesetzt, gemäß einem transzendenten Sollen, das für die Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge eine Erklärung verlangt. Auf diese Art verstehen wir auch den Sinn des transzendenten Sollens. Es ist die schöpferische Norm aller wissenschaftlichen Erklärung für die wunderbaren Zusammenhänge des Wirklichen, die ohne eine Hinausgehen über die bloße Formung, Ordnung oder Gliederung des Gegebenen, ohne eine die Grenzen der Gegebenheit transzendierende Erkenntnis gar nicht begriffen werden können. Vom Boden der RICKERTschen Erkenntnistheorie, die sich uns von hier aus als ein Formalismus kennzeichnet, bleibt es unverständlich, wie man die realwissenschaftliche Erkenntnis als bloße Formung oder Begriffsbildung charakterisieren können soll, ohne dem Sinn und den Forschungsmethoden der Realwissenschaften Gewalt anzutun. Das wird aber auch durch die Tatsache nicht geändert, daß RICKERT nicht müde wird zu wiederholen, er wisse sich mit den Realwissenschaften im besten Einklang und teile ihren ("empirischen") Realismus. Von einem "empirischen" Realismus der Einzelwissenschaften dürfte man eigentlich gar nicht reden. (Streng genommen bedeutet empirischer Realismus entweder Empirismus oder er ist eine controdictio in adjecto.) RICKERT teilt ihn, wie er ihn auffaßt. Aber eben diese Auffassung bekämpfen wir. Solange man an der Behauptung der Immanenz allen Erkenntnisinhalts festhält, kann man dem Verfahren der wissenschaftlichen Erklärung nicht gerecht werden, deren Wesen darin besteht, ahnend (d. h. hypothesenbildend) neue, zunächst formlose Inhalte zu schaffen. Und, wie gesagt, die Ironie des Schicksals will es, daß gerade hier erst RICKERTs Gedanke vom transzendenten logischen Sollen, der sich im Reich der empirischen Gewißheit wie ein Kuckucksei ausnimmt, seine sinnvolle Anwendung finden könnte. Wird die Idee des transzendenten Sollens nicht angewendet, um in die Geltungsgründe der wissenschaftlichen Erklärung hineinzuleuchten, so entbehrt sie in Wahrheit jedes Sinnes. Darauf wurde bereits hingewiesen in dem Zusammenhang, in welchem vom Wesen der Tatsachenfeststellung die Rede war. Aber auch hier, wo RICKERT seine Theorie mit der realwissenschaftlichen Erkenntnis in Einklang zu bringen sucht, wird in keiner Weise verständlich, weshalb und unter welchen Bedingungen das transzendente Sollen ein Kausalurteil verlangt, oder überhaupt die Einordnung dieses oder jenes besonderen Inhalts unter diese oder jene besondere Form verlangt. Das wäre aber unbedingt notwendig, wenn RICKERT mit seiner Theorie der Erfahrungswissenschaften Ernst machen und sich nicht auf allgemeine Andeutungen beschränken wollte. Erst wenn RICKERT sich dieser Aufgabe unterzöge, könnte klar werden, worauf im Einzelfall das erkenntnistheoretische Recht der Annahme eines zusammenhängenden wirklichen Materials beruth, was bei dem allgemeinen bequemen Hinweis auf das transzendente Sollen und auf den "Überschuß an Formgehalt" der Wirklichkeitsurteile vollkommen im Dunkeln bleibt. RICKERT sagt:
    "Weil mit einem zeitlichen Wahrnehmungskomplex die Kausalität verbunden werden soll, haben wir zu urteilen, daß sein einer Teil als Effekt mit seinem anderen Teil als dessen Ursache real verbunden ist." 397/
Ja, aber weshalb und unter welchen Bedingungen soll dies denn geschehen? Von einer Lösung dieses fundamentalen Problems, von der allein eine Aufhellung des Dunkels der RICKERTschen Theorie zu erwarten wäre, ist auch nicht mit einer leisen Andeutung die Rede.

6. Wie steht es nun mit RICKERTs Theorie von der Erkenntnis der "Dinge"? RICKERT sagt, der Begriff eines wirklichen Dings geht nur insofern über den Begriff eines als wirklich beurteilten Wahrnehmungskomplexes hinaus, "als gegebene Inhalte in einer als gesollt zu bejahenden Beziehung zu einer Form stehen, die sie in der Weise gliedert, daß sie dadurch zu Eigenschaften eines Dinges werden." 401/ Hier liegt die Sache prinzipiell anders, als bei der Kausaltheorie. Wirkliche Dinge, sofern sie Gegenstände empirischer Beschreibung sind, liegen nicht, wie die Kausalität, jenseits der Grenzen des Gegebenen. Wenn ein Pilz oder ein antikes Gefäß oder ein Vorstellungsinhalt in seiner unmittelbaren Gegebenheit beschrieben wird, so kann man verstehen und billigen, was RICKERT meint, wenn er sagt, hier seien Wahrnehmungselemente zur Einheit des wirklichen "Dings" zusammengefaßt, wir leugnen nicht, daß es solche wirkliche Dinge gibt, und daß sie Gegenstand einer äußerlichen Beschreibung werden können. Aber mit der rein äußerlichen Beschreibung hat die Erkenntnis des "wirklichen" Dings ihren Abschluß gefunden. Zerschneide ich den Pilz und lege ein Scheibchen aus seinem Inneren unter das Mikroskop, so habe ich einen ganz neuen Wahrnehmungskomplex, der mit dem Pilz, wie er mir als Ganzes unmittelbar gegeben war, keine nennenswerte Ähnlichkeit aufweisen dürfte. Gleichwohl setzt der Botaniker voraus, daß er ein Stück von jenem Pilz unter dem Mikroskop hat. Solange der Pilz als Ganzes unmittelbar gegeben war, konnte von diesem Scheibchen nichts bemerkt werden. Während der Pilz zerschnitten wurde, und sich die sonst notwendigen Manipulationen vollzogen, änderte sich das Wahrnehmungsbild vollständig. Von einer ununterbrochen gegebenen Einheit des Pilzes und seiner Teile kann während dieser Vorgänge nicht die Rede sein. Mit welchem erkenntnistheoretischen Recht nimmt der Forscher an, daß dieses Scheibchen unter dem Mikroskop ein Stück jenes Pilzes ist? Im unmittelbar gegebenen Ganzen des Pilzes war das Scheibchen nicht enthalten. Aus dem aufgeschnittenen Pilz ist es herausgenommen. Kann man einen als wirklich beurteilten Wahrnehmungskomplex, dessen Inhalte "in einer als gesollt zu bejahenden Beziehung zu einer Form stehen", mit dem Messer zerschneiden und ein Stück davon unter das Mikroskop legen? Gewußt ist während der ganzen erwähnten Manipulation immer nur das, was jeweils Wahrnehmungsinhalt ist. Ein Zusammenhang dieses unter dem Mikroskop gegebenen Scheibchens mit jenem vorher als Ganzes gegebenen Pilz ist nicht unmittelbar festzustellen. Wenn der Forscher trotzdem an einen solchen gewesenen Zusammenhang glaubt, so nimmt er etwas als existiert habend an, was jenseits der Grenzen der Gegebenheit liegt. Eine Berufung auf das erlebte Herausschneiden des Scheibchens hilft hier nicht. Denn auch von der ursprünglich gegebenen Gestalt des Scheibchens ist unter dem Mikroskop nichts zu erkennen. Man sieht: Der Gedanke, man könne in der Botanik mit dem "wirklichen Ding" als einer bloßen Einheit von Wahrnehmungselementen usw. auskommen, erleidet schon kläglich Schiffbruch, wenn man von der ganz rohen äußerlichen Morphologie zur Anatomie übergeht. Der Naturforscher kann überhaupt nur arbeiten, wenn er einen realen Zusammenhang des Wirklichen Voraussetzung, der unabhängig von all den Formen existiert, in denen etwas empirisch gegeben sein kann. Es bedarf wohl kaum eines Hinweises darauf, daß der Plan, mit "wirklichen Dingen" auszukommen, in der Physiologie noch viel undurchführbarer ist, zumal hier beständig kausale Erklärungen hineinspielen, womit schon ohnehin, wie vorher gezeigt wurde, die Grenzen der Gegebenheit überschritten werden. Bei den teleologischen Erklärungen, ohne welche die Physiologie auch nicht arbeiten kann, ist es wohl noch offensichtlicher, daß sie die Grenzen der Gegebenheit überschreiten.

Wenn ein Tongefäß zu einer längst zertrümmerten Kultur in die engste Beziehung gesetzt wird, oder wenn in der Psychologie ein Vorstellungsverlauf von einem Empfindungsverlauf unterschieden wird, so ist nicht einzusehen, wie das möglich sein sollte, ohne daß die Grenzen der Gegebenheit überschritten werden. Auf solche und zahllose ähnliche Fragen, die man hier stellen müßte, bleibt RICKERTs Theorie die Antwort schuldig. Denn gibt man erst einmal zu, daß nur im Bewußtsein des individuellen Subjekts Inhalte einen Gegebenheitscharakter haben können, so bleibt es schlechterdings unerfindlich, wie man das Sein biologischer und historischer Realitäten sowie die Existenz realer psychischer Subjekte mit ihrer Gegebenheit soll identifizieren können, ohne sie zu völlig unbegreiflichen Begriffsgespinsten herabzuwürdigen. Diese Schwierigkeit wird durch den "Überschuß an Formgehalt" verschleiert, aber nicht gelöst. -

Im Ganzen betrachtet, erscheint RICKERTs Erkenntnistheorie als ein Gebilde von höchst wunderlicher Struktur. In seiner Verkennung des Wesens der wissenschaftlichen Erklärung tut es RICKERT dem hartnäckigsten Positivsten gleich, während er mit seiner Idee des transzendenten Sollens tiefer in das Wesen der wissenschaftlichen Erklärung hätte hineinleuchten können, als irgendein Denker vor ihm. Aber gerade diese Idee, die ihn zum genialen Überwinder des Positivismus hätte machen können, verführt ihn zu einer gänzlichen Verkennung des Wesens der empirischen Gewißheit, so daß der Positivismus in diesem Punkt weitaus klarer sieht als er. Wir kommen so zum Schluß - und darin erblicken wir den positiven Ertrag unserer mühseligen Kritit -: Es ist an der Zeit, daß die Erkenntnistheorie von der Formenlehre zur Syntax [korrekte Verknüpfung sprachlicher Einheiten im Satz. - wp] übergeht.
LITERATUR - Walter Schirren, Rickerts Stellung zum Problem der Realität, Langensalza 1923
    Anmerkungen
    1) Wenn man unter "Hören" die psychophysische Sinneswahrnehmung versteht und nicht das unmittelbare Gegebensein von Tönen im Bewußtsein.
    2) Es könnte vielleicht jemand gegen diese Terminologie Einspruch erheben und daran festhalten wollen, daß Konstatierungen "wahr" (und nicht "falsch") sind. Daß hieße "Wahrheit" mit "Gewißheit" zu identifizieren. Und ob eine solche Terminologie zweckmäßig wäre, erscheint zweifelhaft. Man müßte dann von rationaler und empirischer Wahrheit reden im Gegensatz zur metaphysischen, wobei allein letzterer allein ein Wert-Charakter zugesprochen werden dürfte. Sachlich würde dadurch nichts geändert. Es bleibt dabei, daß rationale und empirische Gewißheit wertfrei sind und nicht von einem Sollen regiert werden, daß "wahre" Tatsachen ein Pleonasmus [Doppelmoppel - wp] sind und "falsche" Tatsachen eine contradictio in adiecto [Widerspruch insich - wp].