ra-1LockeF. MauthnerH. J. StörigK. VorländerG. StörringE. Bernauer    
 
HUGO SPITZER
Nominalismus und Realismus
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"Kaum ein Philosoph hat auf die Entscheidung der Frage nach dem Verhältnis des Allgemeinen oder den Begriffs zum Einzelnen, der Gattung zu den Individuen größeres Gewicht gelegt als Feuerbach, der erklärte, daß die ganze Geschichte der Philosophie sich eigentlich um diese Frage dreht, daß der Streit der Stoiker und Epikuräer, der Platoniker und Aristoteliker, der Skeptiker und Dogmatiker in der alten Philosophie, der Nominalisten und Realisten im Mittelalter, der Idealisten und Realisten oder Empiristen in neuerer Zeit nur auf diese Frage hinausläuft."

"Kein Hauch des Platonismus darf die eigentliche Naturforschung anwehen; diese beruth unwandelbar auf den Begriffen der Substanz, der Kraft und der Bewegung; nicht auf einer Verbindung von Ideen und formloser Materie."

Man hat HEGELs Philosophie in letzter Zeit wiederholt mit den biologischen Entwicklungslehren in Zusammenhang gebracht, so daß HEGEL gewissermaßen auch als ein Vertreter der Deszendenztheorie [Abstammungslehre - wp] figuriert. Es verlohnt nun wohl der Mühe, etwas näher auf diesen Punkt einzugehen, weil die Stellung dieses Philosophen zur Deszendenzlehre für eine Weltauffassung bezeichnend ist und die Unvereinbarkeit seiner realistischen Grundansicht mit der Anerkennung der Wirklichkeit von Naturtatsachen sich darin offenbart. Während nämlich HEGEL eine Evolution der Begriffe, welche in der organischen Natur zur Darstellung kommen, der Konsequenz des Systems ausdrücklich lehrt, verwahrt er sich doch auf das Bestimmteste gegen die Anschauung, als ob diese Evolution, dieses Hervorgehen eines Begriffs oder Typus aus dem andern, Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung werden könnte. Denn
    "der Begriff ist in der Natur teils nur ein inneres, teils existierend nur als lebendiges Individuum; auf dieses allein ist daher die existierende Metamorphose beschränkt."

    "Es ist", so erläutert Hegel weiter, "eine ungeschickte Vorstellung älterer, auch neuerer Naturphilosophie gewesen, die Fortbildung und den Übergang einer Naturform und Sphäre in eine höhere für eine äußerlich-wirkliche Produktion anzusehen, die man jedoch, um sie deutlicher zu machen, in das Dunkel der Vergangenheit zurückgelegt hat. Der Natur ist gerade die Äußerlichkeit eigentümlich, die Unterschiede auseinanderfallen und sie als gleichgültige Existenzen auftreten zu lassen: der dialektische Begriff, der die Stufen fortleitet, ist das Innere derselben. Solcher nebulöser, im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z. B. der Pflanzen und Tiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickelteren Tierorganisationen aus den niedrigeren usw. ist, muß sich die denkende Betrachtung einschlagen."
So findet nach HEGEL eine Entwicklung der Lebensformen auseinander zwar im Reich des Begriffs, aber nicht in der äußeren, sichtbaren Natur statt, daher kann die Phylogenie [stammesgeschichtliche Entwicklung der Lebewesen - wp] niemals Gegenstand der Naturwissenschaft, wie etwa die Ontogenese [Entwicklung des Individuums von der Eizelle zum geschlechtsreifen Zustand - wp] werden. Man hat dies wohl im Auge zu behalten, wenn man von einer Entwicklungstheorie bei HEGEL spricht, und muß sich hüten, seine Auffassung auch nur mit derjenigen SCHELLINGs und OKENs ohne weiteres zu identifizieren.

Der Gegensatz, in welchem die realistische Betrachtungsweise HEGELs zur heutigen Naturwissenschaft steht, tritt nirgends schroffer hervor, als da er
    "den unendlichen Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Formen und vollends die Zufälligkeit, die sich in die äußerliche Anordnung der Naturgebilde einmischt",
der "Ohnmacht der Natur" zuschreibt, welche die Begriffsbestimmungen nur abstrakt zu erhalten vermag und die Ausführung des Besonderen einer äußeren Bestimmbarkeit aussetzt: denn
    "Spuren der Begriffsbestimmung werden sich allerdings bis in das Partikulärste hinein verfolgen, aber dieses sich nicht durch sie erschöpfen lassen".
Was also heutzutage gerade als die höchste Macht und Vollkommenheit der Natur angesehen werden muß, nämlich die Fähigkeit, in verschwenderischster Fülle Individuen zu produzieren und unzählige Verschiedenheiten an denselben hervorzurufen, wodurch allein bei dem steten, wenn auch langsamen Wechsel der Existenzbedingungen, bei der stets ändernden Form des Kampfes ums Dasein der Fortbestand des organischen Lebens ermöglicht wird, - dies gilt auf dem Standpunkt von HEGELs Idealismus als "die Ohnmacht der Natur, den Begriff in seiner Ausführung festzuhalten" und wird auf den "Widerspruch der Idee, indem sie als Natur sich selbst äußerlich ist", zurückgeführt. Die Natur als die Idee in ihrem Anderssein ist nämlich wohl ansich, in der Idee göttlich, aber wie sie ist, entspricht ihr Sein nicht ihrem Begriff; sie ist vielmehr "der unaufgelöste Widerspruch". Ihre einzelnen Bildungen sind daher nicht so vom Begriff durchdrungen und durchgeistigt, daß sie ganz als dessen Manifestation erscheinen würden; sie bleiben vielmehr zum Teil als Äußerliches, Zufälliges dem Begriff als Innerlichem gegenüber bestehen, und so stellt sich die natürliche Welt, weil nur die unmittelbar gewordene Einheit des Wesens und der Existenz, des Inneren und des Äußeren Wirklichkeit ist, als eine Welt des Scheins dar, die in der bestimmten Gestalt, in welcher sie existiert, ebenso gut nicht existieren könnte: denn nur das Dasein, welches eins mit dem Begriff ist, hat eine innere Notwendigkeit, Wahrheit und Wirklichkeit. - In HEGELs Philosophie ist der Klimax [Höhepunkt - wp] der realistischen Betrachtungsweise erreicht. Der Satz, daß den Begriffen als solchen wirkliche Existenz zukommt, hat sich in ihr zur Lehre gesteigert, daß allein das Begriffliche in in einem höheren Sinn wirklich ist.

Eine Philosophie, welche das einzelne Naturobjekt für wirklich erklärt und den Begriffen nur insofern Realität zuerkennt, als sie Attribute oder Prädikate von einzelnen Naturobjekten sind, darf sicherlich nicht als Konsequenz, sondern muß als völlige Negation des Prinzips von HEGELs Philosophie angesehen werden. Dieses nun ist bezüglich jener naturalistischen und sensualistischen Existenzialphilosophie der Fall, welche FEUERBACH unter dem Namen der Anthropologie der bisherigen Metaphysik gegenüberstellte und welche zunächst als Reaktion gegen den absoluten Idealismus zu begreifen ist. FEUERBACH war ursprünglich Anhänger HEGELs und verteidigte die allgemeine Vernunft, an welcher der Mensch, das Individuum "Anteil hat", welche sich aber nicht in die Schranken des einzelnen Gehirnes bannen läßt, daher "zwischen dem Menschen als Individuum und dem Geist ein himmelweiter Unterschied ist". Bald jedoch fand er diesen Unterschied illusorisch, machte den Menschen, in specie [im Einzelnen - wp] das Gehirn zum Denkenden selbst und trat nun in einen entschiedenen Gegensatz zu HEGELs Philosophie, deren Unvermögen, aus dem Denken oder abstrakten Sein die Fülle des konkreten Seins, die Natur, zu erzeugen, ihm schon früher klar geworden war. Nur in der Form, zumal im Gebrauch gewisser Termini blieb FEUERBACH Hegelianer, und wenn er daher gelegentlich seine Philosophie als die "Wahrheit" der HEGEL'schen bezeichnet, so hat man sich bloß an die "Wahrheit" der Natur bei HEGEL zu erinnern, welche darin besteht, daß die Natur ansich keine Wahrheit ist.

Die Anthropologie ist ebenso wesentlich nominalistisch, wie HEGELs Philosophie realistisch: indem sie die Sinnlichkeit zum Kriterium der Wahrheit erhebt, der Unterschied des Sinnlichen vom Gedanken jedoch - um noch in HEGELs Worten zu sprechen - gerade darin liegt, "daß die Bestimmung von jenem die Einzelheit ist", kann ihr nur das einzelne, individuelle, "unsagbare" Sein als real gelten; das auf die Anschauung, und zwar auf die sensuelle, nicht auf eine vorgeblich intellektuelle Anschauung sich stützende Denken setzt die Individualität geradezu als "das Wesen der Wirklichkeit". Der Begriff, welcher den Charakter der Allgemeinheit ansich trägt, wird dadurch, im Unterschied von den Einzeldingen gefaßt, zu einer bloßen Abstraktion, die nur in einem denkenden Subjekt Bestand hat.

Um die Anthropologie richtig zu verstehen, ist es notwendig, stets ihren tatsächlichen Ursprung aus der Philosophie HEGELs im Auge zu behalten und sie als Opposition gegen den eigentümlichen Idealismus der letzteren aufzufassen. Diese Sinnlichkeitsphilosophie hatte den Begriffsabsolutismus HEGELs zu ihrer notwendigen Voraussetzung; sie wäre unmöglich gewesen, wenn HEGELs Philosophie die Stelle der kantischen Philosophie eingenommen hätte. Daher, wie dies von WEIGELT sehr gut auseinandergesetzt wurde, ihr Sensualismus wohl der absoluten Idee und den sich selbst bewegenden Begriffen gegenüber siegreich ist, aber nicht Stich hält, wenn ihm die Erörterungen der "Kritik der reinen Vernunft" entgegengesetzt werden. Im Vergleich mit HEGELs Konfusion [Verwirrung - wp] von Denken und Sein, Begriff und Wirklichkeit muß die Anthropologie zweifelsohne als eine kritische Reform gelten, obschon sie im Hinblick auf die viel weitergehende Trennung der subjektiven Erkenntnisfaktoren von dem ansich existierenden Gegenstand, welche KANT vorgenommen hatte, selber objektivistisch erscheint. Ihre Thesen können zumeist erst dadurch ins richtige Licht gestellt und nach Verdienst gewürdigt werden, daß man sie mit den entsprechenden Grundsätzen von HEGELs Philosophie zusammenhält. So hat z. B. FEUERBACHs Lehre, daß Raum und Zeit "keine bloßen Erscheinungsformen", sondern "Wesensbestimmungen, Vernunftformen, Gesetze des Seins wie des Denkens sind", vorzugsweise nur Bedeutung als ein Protest gegen die Auffassung HEGELs, welchem diese Formen der Sinnlichkeit gar nichts galten und welcher den Physikern geradewegs zumutete, Raum und Zeit zu ein paar "imponderablen [unwägbaren - wp] Stoffen" (?) neben Wärme, Licht usw. herabzusetzen. So erklärt sich auch historisch, aus den Voraussetzungen der Anthropologie, warum sie gerade das nominalistische Moment so sehr in den Vordergrund treten ließ. In der hat kaum ein Philosoph neuerer Zeit auf die Entscheidung der Frage nach dem Verhältnis des Allgemeinen oder den Begriffs zum Einzelnen, der Gattung zu den Individuen größeres Gewicht gelegt als FEUERBACH, welcher kein Bedenken trug, zu erklären,
    "daß die ganze Geschichte der Philosophie sich eigentlich um diese Frage dreht, daß der Streit der Stoiker und Epikuräer, der Platoniker und Aristoteliker, der Skeptiker und Dogmatiker in der alten Philosophie, der Nominalisten und Realisten im Mittelalter, der Idealisten und Realisten oder Empiristen in neuerer Zeit nur auf diese Frage hinausläuft."
Ja sogar die Theologie sollte, je nach der Entscheidung der Frage im einen oder anderen Sinn, stehen und fallen, da sich nach FEUERBACH auch "das Verhältnis Gottes zur Welt nur auf das Verhältnis des Gattungsbegriffs zum Individuum reduziert".

Daß unter so verschiedenen dianoiologischen [denkvermögenshaften - wp] Voraussetzungen die Auffassung des Systems der Dinge sich für die Anthropologie ganz anders als für HEGEL gestalten mußte, liegt auf der Hand. Die Natur, welche in HEGELs Philosophie eine traurige Scheinexistenz gestiftet hatte, kam jetzt wieder zu Ehren; sie war nicht mehr ein von der Idee getragenes, sondern autonomes, selbständiges Wesen; sie bewegte sich aus eigenen Kräften und nicht aufgrund einer Gnade des Begriffs, dessen dialektische Selbstbewegung sie etwa mitmachte. Der Fortgang von der Natur zum Geist war nicht mehr als das Insichzurücktreten der Idee aus ihrer Entäußerung, sondern als das Hervorgehen des Geistes aus der Natur zu betrachten. Und innerhalb der Natur selbst mußte sich jede Entwicklung, falls eine solche vorhanden war, als eine Wirkung der den Naturwesen inhärierenden Kräfte ergeben. Es unterliegt daher keinem Zweifel, daß die Lösung, welche das Problem von der Entstehung der Lebensformen durch DARWIN erhalten hat, dem Geist der Anthropologie völlig gemäß ist, wenngleich diese selbst nicht näher auf jenes Problem eingegangen war. Ja, es ließe sich vielleicht aufgrund einzelner Äußerungen FEUERBACHs sogar darlegen, daß er schein eine Ahnung jener Wahrheiten besaß, welche nun, durch DARWINs eingehende Entwicklung und Begründung, zum unverlierbaren Besitz der Wissenschaft geworden sind. So sagt er mit Bezugnahme auf die äußere Zweckmäßigkeit, die Waffen und Schutzmittel der Organismen:
    "Jedes Wesen, jedes Organ ist nur gegen bestimmte Gefahren, bestimmte Einwirkungen geschützt, und dieser Schutz ist eins mit der Bestimmtheit dieses Wesens, dieses Organs, eins mit seiner Existenz, so daß es ohne diesen Schutz gar nicht existieren könnte. Was einmal existieren soll, muß auch die Mittel der Existenz haben, was einmal leben soll und leben will, muß auch imstande sein, sein Leben zu behaupten, zu verteidigen, also gegen feindliche Angriffe. Das Leben ist ein Kampf, ein Krieg; unmittelbar mit dem Leben ist daher zugleich die Waffe als Lebenserhaltungsmittel gegeben."
Was hier FEUERBACH ganz allgemein und als bloße Behauptung hingeworfen hat, welche daher auch wertlos für die wissenschaftliche Naturerklärung bleibt, das ist von DARWIN an einer Menge einzelner Fälle bewiesen und dadurch zur wirklichen Erkenntnis erhoben worden, der Gedanke nämlich, daß das sogenannte Zweckmäßige nicht Produkt einer intelligenten, die Hervorbringung und Erhaltung gewisser Naturbildungen sich als Ziel setzenden Tätigkeit, sondern Wirkung der allgemeinen, physischen Kausalität, daß die Waffen und Schutzmittel nicht durch die prämeditierte [vorher überlegte - wp] Existenz des Organismus, sondern umgekehrt dessen Existenz durch die aus mechanischen Ursachen entstandenen Schutzmittel bedingt ist. Durch Zuhilfenahme der Idee der "Entwicklung" gelang es dem britischen Naturforscher, die zuvor willkürlich angenommene Möglichkeit einer mechanischen Erklärung des Zweckmäßigen zu erweisen und sowohl das Zusammenstimmen der Lebensfunktionen des Organismus untereinander wie auch dessen Adaption [Anpassung - wp] an äußere Existenzbedingungen nicht mehr als das Werk eines unbegreiflichen Zufalls, sondern als das notwendige Endergebnis eines langandauernden, die nützlichen Eigenschaften allmählich kumulierenden [ansammelnden - wp] Naturprozesses erscheinen zu lassen.

Mit der Anthropologie pflegt man meist die Richtung der sogenannten Junghegelianer zu identifizieren, welche die Jenseitigkeit der Idee aufhob und die Kategorien der Logik esoterisch faßte, so daß der Entwicklung des Naturdaseins die Evolutionen des Begriffs nicht wirklich vorhergehen, wodurch die von HEGEL so geringschätzig behandelte Welt, dieses "Aggregat von Endlichkeit", offenbar eine Aseität [aus sich sein - wp] erhalten mußte; und wird nicht auch FEUERBACH nicht selten als der Junghegelianer par excellence [beispielhaft - wp] betrachtet. Daß er sich in den vor das Jahr 1842 fallenden Publikationen diesem Standpunkt genähert, wenn nicht denselben von Anbeginn vertreten hat, ist keinem Zweifel unterworfen; aber es hieße den Unterschied der späteren sensualistischen von der noch unter HEGELs Einfluß stehenden Periode in FEUERBACHs Denken verkennen, wenn man auch die Anthropologie noch als eine Repräsentation jener Richtung ansehen wollte. Es wurde ja bereits auseinandergesetzt, daß FEUERBACHs spätere Lehre vielmehr als der durch die Unzulänglichkeiten der Begriffsdialektik selbst hervorgerufene Gegensatz derselben, als die totale Negation und Umkehrung von HEGELs Philosophie zu begreifen ist und mit dieser nur insofern zusammenhäng als sie unmittelbar daran anknüpfte und ihre positiven Resultate durch die Kritik von HEGELs Prinzipien gewann; daher sie freilich Probleme, welche jener unkritischen Metaphysik völlig abseits lagen, ebenfalls unerörter ließ; ein ganz Anderes aber muß in Bezug auf die Richtung der Junghegelianer, welche mit Recht diesen Namen führt, gesagt werden. Wenn die Anthropologie die Wirklichkeit der Begriffe oder Ideen nur innerhalb des subjektiven Geistes gelten läßt, so räumt ihnen dagegen der Junghegelianismus allerdings eine objektive Realität ein, bestimmt sie jedoch als Kategorien der Natur, selbstverständlich auch des der Natur sich entringenden oder mit ihr gleich ewigen Bewußtseins, verweltlicht sie also und nimmt ihnen das Recht einer gesonderten Existenz, das ihnen bei HEGEL, wenn man überhaupt dem Wortlaut seiner Lehre vertrauen darf, unzweifelhaft zukommt. Hiernach hat der dialektische Prozeß innerhalb der Logik, wie billig, nur eine logische, formale Bedeutung und gewinnt der Begriff erst als Prinzip des Naturdaseins Realität oder objektive Wesentlichkeit. Der Entschluß der Idee,
    "das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten Bestimmens und Andersseins, die unmittelbare Idee als ihre Wiederschein, sich als Natur frei aus sich zu entlassen",
diese Selbstentäußerung des Begriffs verwandelt sich aus einem wirklichen Akt in den metaphorischen Ausdruck eines rein logischen Verhältnisses; die reale Präexistenz der Idee ist aufgehoben, wenn auch ihre begriffliche bestehen bleibt, und der Vermittlungsprozeß des Absoluten auf allen seinen Stufen ein kosmischer geworden ist. Die strenge und durchgängige Koinzidenz [Zusammentreffen - wp] der Begriffsbewegung mit Erscheinungen des Naturlebens charakterisiert die junghegelsche Auffassung. So ist ihr eine förmlich Erschaffung der Organismen, wie sie HEGEL annimmt, ein Unding: sie verteidigt die Urzeugung, oder die physische Entstehung überhaupt, falls sie nicht jede archebiotische [biologischer Ursprung - wp] Ansicht verschmäht und an der Sempernität [Stetigkeit - wp] des Lebens festhält. Allerdings bestimmt der Begriff die natürlichen Vorgänge, "ist der Geist die Macht über die Natur, doch nur der Geist, welcher still in der Natur als ihr Gesetz und Bildungstrieb wirkt" (STRAUSS). Die "reale Existenz" des Begriffs ist die Natur, daher gehen seine Entwicklungen mit dem Vorhandensein der Welt und den materiell-kosmischen Prozessen Hand in Hand.

Da zahlreiche Philosophen, in deren Ansichten sich mannigfache Nuancen unterscheiden lassen, als Vertreter der junghegelschen Richtung erscheinen, konnte dieselbe hier begreiflicherweise nur nach ihrer allgemeinen Tendenz, nach dem inneren, bewegenden Prinzip, welches bald vollkommener, bald weniger vollkommen zur Darstellung gelangt, charakterisiert werden. Ihr Unterschied einerseits von der Anthropologie, andererseits von der eigentlichen Lehre HEGELs, sowie ihre Mittelstellung zwischen beiden erhellt sich aus dem Gesagten wohl zur Genüge: indem sie die Realität der Ideen behauptet, steht sie im Gegensatz zum konzeptuellen Sensualismus FEUERBACHs und prinzipiell auf dem Standpunkt HEGELs; indem sie jedoch diese Realität auf die der Natur (und dem Menschen) immanenten Ideen einschränkt, die Transzendenz der Begriffe also aufhebt (d. h. in ihrem Sinne), geht sie von der strikten Observanz [Einhaltung - wp] des Systems ab und triff in der Beantwortung aller kosmologischen Fragen, soweit nur die Außenseite des Geschehens in Betracht kommt, mit der anthropologischen Ansicht zusammen. Wie HEGELs Philosophie dem extremen Realismus und die Anthropologie dem strengen Nominalismus, so entspricht die Richtung der Junghegelianer der konzeptualistischen Auffassungsweise. Übrigens darf es bei der großen Geschmeidigkeit, um nicht zu sagen Zweideutigkeit von HEGELs Lehre nicht verwundern, daß sich die Junghegelianer als deren einzig wahre und echte Vertreter gerierten [gaben - wp]. Hängt doch selbst der Materialismus der 50er Jahre teilweise noch mit HEGEL zusammen, wie das Kapitel des Physiologen und ehemaligen Hegelianers MOLESCHOTT deutlich beweist. Nicht nur die Beseitigung des Dings-ansich, die Ausfüllung der Kluft, welche KANT zwischen Sein und Denken gerissen hatte, rechnete dieser berühmte Stimmführer der "stofflichen Weltanschauung" HEGEL als Verdienst an; auch die Spuren von HEGELs Begriffsrealismus treten in MOLESCHOTTs "Kreislauf des Lebens", dem Hauptwerk des Materialismus dieser Zeit, in den häufig gebrauchten und keineswegs hylozoistisch zu deutenden Redensarten vom "Geist" oder "Gedanken", "der überall im Stoff lebt", unverkennbar zutage, und jedenfalls ist die Schuld, welche die das Heterogenste [Ungleichartigste - wp] "vermittelnde" und alle scharfen Verstandesunterschiede "aufhebende" Dialektik an der materialistischen Verwirrung der Begriffe: Kraft, Geist, Idee trägt, keine geringe. Gelegentlich sei hier noch bemerkt, daß der chemische Materialismus gar nicht zu einer streng und absolut mechanischen Weltauffassung gelangen läßt, weil ihm die den einzelnen Grundstoffen inhärierenden Kräfte ebenso viele qualitates occultae [geheime Kräfte - wp] oder Elementarformen des Naturgeschehens sind.

Noch heftiger als die Anthropologie machte ein von KANT ausgehender, durch seine charaktervolle Haltung und anti-theologische Tendenz FEUERBACH ähnelnder Denker Opposition gegen HEGEL und bekämpfte den Grundgedanken desselben als "absurd", -
    "nämlich die Allgemeinbegriffe, welche wir aus der empirischen Anschauung abstrahieren, die mithin durch ein Wegdenken von Bestimmungen entstehen, folglich je allgemeiner, desto leerer sind, zum Ersten, zum Ursprünglichen, zum Wahrhaft-Realen zu machen, infolgedessen die empirisch-reale Welt allererst ihr Dasein hat."
Aber derselben SCHOPENHAUER, welcher HEGELs Philosophie eine "Parodie des scholastischen Realismus" nannte, suchte selbst die eigentliche Quelle dieses Realismus, die platonische Ideenlehre, mittels der transzendentalen Unterscheidung zwischen der Welt als Vorstellung und der Welt als Ding-ansich, zu restaurieren.
    "Die ursprüngliche und wesentliche Einheit einer Idee", lehrt Schopenhauer, "wird durch die sinnlich zerebral bedingte Anschauung des erkennenden Individuums in die Vielheit der einzelnen Dinge zersplittert."
Es ist mithin die höchste Objektivität des Intellekts, welche aus den einzelnen Dingen die platonischen Ideen derselben wieder hervortreten läßt.
    "Was nun aber als bloß objektives Bild, bloße Gestalt, betrachtet und dadurch aus der Zeit, wie aus allen Relationen herausgehoben, die platonische Idee ist, das ist, empirisch genommen und in der Zeit, die Spezies oder Art: diese ist also das empirische Korrelat der Idee."
In der Art erblickt SCHOPENHAUER eine reale Einheit, die Wahrheit des logos spermatikos [Keim der Vernunft - wp] der Stoiker und der scholastischen forma substantialis [allegemeine Form des Einzelnen - wp], die Objektivität einer eigenen Willensstufe, und daraus allein erhellt sich schon, wie wenig aus der Deszendenzansicht, welcher er huldigte, eine tiefere Übereinstimmung seiner Denkweise mit der modernen, darwinistischen Biologie gefolgert werden darf. SCHOPENHAUER würde das absprechende Urteil, welches er schon aufgrund einer kurzen Anzeige über DARWINs Theorie fällte, bei näherer Bekanntschaft mit derselben sicherlich nicht widerrufen haben.

In seinen "Fragmenten zur Geschichte der Philosophie" hat sich SCHOPENHAUER des Näheren über sein Verhältnis zu Realismus und Nominalismus ausgesprochen und die Berechtigung des Realismus verteidigt, jedoch mit dem Zusatz, daß dieselbe eigentlich nicht ihm, sondern platonischen Ideenlehre zukommt, deren Erweiterung er ist.
    "Die ewigen Formen und Eigenschaften der natürlichen Dinge, eide, sind es, welche unter allem Wechsel fortbestehen und denen daher eine Realität höherer Art beizulegen ist, als den Individuen, in denen sie sich darstellen. Hingegen den bloßen, nicht anschaulich zu belegenden Abstractis ist dies nicht nachzurühmen: was ist z. B. Reales an solchen Begriffen wie Verhältnis, Unterschied, Sonderung, Nachteil, Unbestimmtheit und dgl. mehr?"
Diese Einschränkung ist von der größten Wichtigkeit, da sie den wesentlichen Unterschied von SCHOPENHAUERs Ideenlehre von HEGELs Begriffsrealismus bezeichnet und begreifen läßt, wie SCHOPENHAUER ungeachtet seines Platonisierens ein heftiger Gegner jener aus der reinen, Nichts bedeutenden Qualität die Welt herausspinnenden Philosophie sein konnte. Die Begriffe, deren Bewegung nach HEGEL alle Wirklichkeit ergeben soll, sind für SCHOPENHAUER eben bloß Abstraktionen und haben keinen Anspruch auf jene Realität, welche den eigentlichen Artbegriffen zukommt.

Eine tiefer gehende Betrachtung entdeckt jedoch bald noch eine weitere Differenz zwischen dem Realismus SCHOPENHAUERs und dem von HEGEL. Bei HEGEL ist der Begriff als solcher real, daher das absolute Wissen den Begriff im Element des Denkens oder als Begriff erfaßt, wodurch es sich eben über die Religion erhebt, welche, auch als "offenbare Religion", die Form der Vorstellung nicht überwindet. Hingegen entspricht es der ganzen Eigenart des durchaus anschaulichen Denkens SCHOPENHAUERs, daß die Ideen nicht als "Allgemeines", "Gedanken" oder Begriffe für wirkliche Existenzen genommen werden, vielmehr in dieser Gestalt als bloße Auffassungsformen eines der Vorstellung jenseitigen Dings-ansich gelten. In der Tat ist es die Meinung SCHOPENHAUERs, daß der platonischen Idee oder dem Artbegriff in der Welt des Dings-ansich eine anschaulich zu denkende Einheit entspricht, welche keineswegs als Begriff konzipiert werden darf, wenngleich sie vom Intellekt, welcher sie vorher durch seine räumliche Anschauungsweise in viele neben- und auseinander befindliche Einzeldinge zersplittert hat, nur auf dem Weg der Abstraktion, mithin als Allgemeinbegriff wieder erzeugt werden kann. Daß sich SCHOPENHAUER die Einheit der Art völlig unter dem Bild einer anschaulichen, sinnlich-individuellen Einheit und ganz und gar nicht als eine abstrakte, begriffliche vorgestellt hat, geht auch aus seiner bekannten metaphysischen Begründung der Moral und Erklärung der sympathischen Affekte hervor, welche das eigentümliche Wesen seiner Ideenlehre in überaus faßlicher Weise offenbart.

Es muß noch eine originelle Auffassung SCHOPENHAUERs erwähnt werden.
    "Der Nominalismus", behauptet er, "führt eigentlich zum Materialismus: denn nach Aufhebung sämtlicher Eigenschaften bleibt am Ende nur die Materie übrig. Sind nun die Begriffe bloße Namen, die Einzeldinge aber das Reale, ihre Eigenschaften, als einzelne an ihnen, vergänglich; so bleibt als das Fortbestehende, mithin Reale, allein die Materie."
Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß SCHOPENHAUER in seinem Kampf gegen den "Materialismus" fast ebensosehr von seiner realistischen oder platonischen Grundansicht als von den Grundsätzen der kantischen Kritik geleitet wurde und daß er darum insbesondere jede mechanische Welterklärung perhorreszierte [ablehnte - wp]. Seiner Ansicht zufolge dürfte man sich, auch wenn man ganz objektivistisch verfahren wollte, nicht zum eigentlichen Materialismus, sondern nur zum "Naturalismus" bekennen; man dürfte nämlich die bestimmten, typischen Formen des Naturgeschehens nicht auf eine mechanisch-materielle Kausalität zurückzuführen unternehmen, die platonischen Ideen nicht aufgeben.

Wie sehr auch SCHOPENHAUERs Lehre für realistisch zu gelten hat, so ist doch ihre spezifische Verschiedenheit von dem übrigen, in der Geschichte der neuesten Philosophie auftretenden und insbesondere von HEGELs Realismus niemals außer Acht zu lassen. Sie mit diesem letzteren ohne weiteres in einen Topf zu werfen, wäre ebenso verkehrt, wie etwa mit gewissen Schriftstellern anzunehmen, daß die Idee von SCHOPENHAUERs Panthelematismus [Allwillenslehre - wp] schon von SCHELLING antizipiert worden ist, wobei man nicht bedenken würde, daß SCHOPENHAUER in der Begründung seines Prinzips von einer Identitätsphilosophie gerade entgegengesetzten Voraussetzung, von der "totalen Diversität [Verschiedenheit - wp] des Idealen und Realen", ausgeht. Mit der Ansicht, daß die reinste, am wenigsten subjektiv gefärbte, durch den Intellekt entstellte Apparition [Erscheinung - wp] des Dings-ansich in dem aus dem eigenen Innern uns bekannten Willen gegeben ist; hat SCHELLINGs "Wille ist Ursein" in Wahrheit so viel wie nichts zu tun, und eine Ideenlehre, welche sich auf die Kluft zwischen dem wirklichen Wesen der Welt und deren Vorstellungsgebilde gründet, ist etwas ganz Anderes als die unkritische Erhebung der Begriffe zu Realitäten, welche namentlich das Philosophieren der hegelschen Schule auszeichnet.

Während SCHOPENHAUER das Prinzip der Individuation ganz auf die empirische Welt der Erscheinung beschränkte, wurde dieses Prinzip von HERBART zu metaphysischer Bedeutung erhoben. Die Philosophie HERBARTs ist in einem eminenten Maß pluralistisch und individualistisch: ihre Realen sind recht eigentlich Individuen, Atome - einzelne, nicht bloß physisch, sondern auch in der Vorstellung unteilbare Wesen. Eben deshalb aber können sie nicht als materiell gedacht werden, indem der Begriff der Materie die quantitative Bestimmbarkeit in sich schließt, mit der Quantität jedoch auch die Divisibilität [Teilbarkeit - wp] im logischen oder vielmehr psychologischen Sinn notwendig gesetzt wird. Die Materie, deren Grundeigenschaft die Ausdehnung im Raum ist und deren Kräfte sich insgesamt als Bewegung im Raum äußern, gehört auch nach HERBART bloß der Erscheinung an; die Dinge-ansich müssen als unräumliche Existenzen konzipiert werden, weil das Wirkliche nicht ein in sich Zusammengesetztes sein kann. HERBARTs Metaphysik trifft hierin, daß sie der Materie nur eine Erscheinungswirklichkeit zugesteht, mit der Philosophie SCHOPENHAUERs zusammen; sie unterscheidet sich jedoch von dieser sehr wesentlich dadurch, daß sie das den materiellen Phänomen zugrunde liegende Reale als ein vielfach Individuelles bestimmt, so zwar, daß demselben in der empirischen Welt nicht etwa die Art oder sonst irgendein Allgemeines, sondern das einzelne Merkmal des einzelnen Dings entspricht. Und da mit der Vielheit der Realen zugleich ein Nebeneinander derselben gegeben ist, welches den intelligiblen Raum darstellt, so dürfen reale Beziehungen auch als Grund des Erfahrungsraumes angenommen werden, welcher sonach kein bloßes Hirngespinst, bloß eine subjektive Zutat des Intellekts ist, wie bei SCHOPENHAUER, sondern aus realen Verhältnissen der Dinge zueinander resultiert.

Die Stellung HERBARTs zur Frage nach der Wirklichkeit der Allgemeinbegriffe ist schon durch seine Metaphysik bezeichnet; es steht mit derselben im innigsten Zusammenhang, wenn er in der platonischen Ideenlehre eine Täuschung erblickt und es als eine psychologisch aus der Anstrengung, teils in sich selbst, teils weit mehr noch in Anderen Begriffe als Objekte des Denkens festzuhalten, erklärbare "Übertreibung" der Philosophen bezeichnet, "daß sie die Begriffe in die Zahl der realen Gegenstände versetzen." Den Schellingianern ruft HERBART die klassischen, für die Epigonen der Naturphilosophie noch heute beherzigenswerten Worte zu:
    "Kein Hauch des Platonismus darf die eigentliche Naturforschung anwehen; diese beruth unwandelbar auf den Begriffen der Substanz, der Kraft und der Bewegung; nicht auf einer Verbindung von Ideen und formloser Materie."
HERBARTs Individualismus ist vom sensualistischen Individualismus der Anthropologie so verschieden, wie die nur im intelligiblen Raum befindlichen und der Zeit enthobenen Realen von den Naturwesen, deren Existenzformen Raum und Zeit sind. Das Merkmal, in welchem jene mit diesen übereinstimmen, ist die Einzelheit, die Singularität oder Individualität. Während jedoch von der Anthropologie das Individuelle, nur insofern es das Gegenteil des Allgemeinen ist, als Grundlage oder Voraussetzung der Wirklichkeit ausgesprochen wurde, suchte dies HERBART auch von demselben, insofern es das Gegenteil des in sich Zusammengesetzten bedeutet, geltend zu machen. HERBART hat zur Einzelheit oder Individualität im Sinne des Nominalismus noch die Einfachheit als Kriterium der Realität hinzugefügt.

Es wird ziemlich allgemein anerkannt, daß HERBARTs verhältnismäßig exakte und von phantastischen Spekulationen sich fernhaltende Denkweise auf keinem Gebiet schönere Früchte gezeitigt hat, als auf demjenigen der Psychologie, und hier gerade war es das nominalistische Verfahren, auf welchem sein hauptsächlichstes und unbestrittenstens Verdienst, die Zerstörung der psychologischen Vermögenstheorie, beruth. Die Seelenvermögen waren die realen Universalien der alten Psychologie. Die allgemeinen Begriffe: Vorstellen, Gefühl, Wille wurden als wirkliche einheitliche Mächte hypostasiert [einem Wort gegenständliche Realität zubilligen - wp], in welchen die einzelnen Vorstellungen, Gefühle und Willensakte ihren Grund haben, sowie das einzelne Naturereignis durch die in der Natur sich ausprägende Idee bestimmt und begründet ist. Der von HERBART unternommenen Austreibung der Seelenvermögen aus der Psychologie gebührt daher dieselbe Bedeutung wie der Austreibung der platonischen Ideen aus der Naturphilosophie, an welcher HERBART gleichfalls seinen Anteil hat. Seine Reform der Psychologie hätte aber noch viel gründlicher und den Forderungen der Wissenschaft gemäßer ausfallen können, wenn ihn nicht dogmatische Rücksichten gehindert hätten, den superstitiösen [zweifelhaften - wp] Seelenbegriff, den Quell mannigfacher Irrtümer und Verkehrtheiten, aufzugeben. HERBARTs Seelenreales, welches dem christlichen Glauben zuliebe sein Vorstellungsspiel nach dem Tod, wo alle Hemmungen beseitigt, sogar ungestört ins Unendliche fortsetzt, ist eine für die Wissenschaft äußerst verderbliche Fiktion, die selbst den Wert jener ansich hochwichtigen Reform zu einem nicht geringen Teil illusorisch macht. Diese erdichtete und erfundene Einheit steht im grellsten Widerspruch mit der Vielheit der Ganglienzellen des Großhirns, deren Komplex als bloßen Ernährungsapparat zu betrachten heute wohl niemandem mehr einfallen kann, von welchen eine große Anzahl unzweifelhaft wahre "Seelenzellen" darstellt, wie sie HAECKEL genannt hat. Deshalb ist eine gesunde, physiologische Psychologie auf herbartinischer Grundlage undenkbar, und es leuchtet ein, daß die Konzeption des "Realen" auf psychologischem Gebiet, zumindest in der von HERBART vorgenommenen Weise, der wissenschaftlichen Erkenntnis des Seelenlebens gerade zuwider läuft. Aus der vorzüglichen Bearbeitung gewisser psychologischer Stellen, worin es ihm möglich war, von der falschen Grundvorstellung eines einfachen Seelenwesens abzusehen, läßt sich ermessen, wie ungemein nachteilig jene Voraussetzung, willkürlich der Theologie zu Gefallen gemacht, auf HERBARTs Denken wirkte.

Neben HERBART muß auch BENEKE genannt werden, der, obschon einer völlig spiritualistischen Anschauung huldigend, doch nicht durch den Trugbegriff der Seelenmonade, in HERBARTs Fassung, gehemmt wurde. BENEKE ist der Ruhm desjenigen Philosophen zu zollen, welcher im Bereich der psychischen Phänomene die nominalistische Betrachtungsart am klarsten und konsequentesten zur Geltung brachte. Die herkömmliche Vermögenshypothese bekämpft er nicht weniger radikal als HERBART, und er legt in ganz unzweideutiger Weise dar, daß die Bekämpfung von einem individualistischen oder nominalistischen Standpunkt aus geschieht.
    "Man hat den Fehler begangen", sagt er, "daß man für alle Seelenentwicklungen, die in ihrer Form miteinander übereinkommen (für alle Begriffe, für alle Begehrungen, für alle Wollungen, für alles Vernünftige etc.), ein einziges Grundvermögen oder eine Gesamtkraft angenommen hat, durch welche sie gewirkt werden sollen. Aber daraus, daß dieselben logisch oder für unser Vorstellen Eins (einstimmig) sind, folgt doch noch keineswegs, daß sie auch reell oder in ihrer psychischen Grundlage Eins (unmittelbar zusammenhängend) sein müssen. Im Gegensatz mit dem bisherigen Verfahren also, haben wir den Entwicklungen, welche uns unser Selbstbewußtsein darstellt, die Vermögen oder Kräfte zunächst in der Einzelheit zu unterlegen, wie wir die bewußten Entwicklungen wahrnehmen, und erst eine besondere Untersuchung darüber anzustellen, ob, und in welchem Maß ihr inneres Seelensein, oder die ihnen zugrundeliegenden Vermögen, miteinander in Verbindung stehen möchten; wo sich dann zeigt, daß allerdings gelegentlich Verbindungen zwischen Kräften von derselben Form stattfinden, aber durchaus nicht so umfassende und durchgreifende, daß wir hierdurch irgendwie berechtigt wären, dem Menschen einen Verstand, ein Begehrungsvermögen, einen Willen, eine Vernunft etc. beizulegen."

    "Alle Kräfte des Verstehens, des Wollens etc. werden einzeln begründet und wirken einzeln; dabei sehen wir denselben Menschen das Eine gut und das Andere schlecht verstehen; das Eine kräftig und das Andere unkräftig wollen etc. - Wie läßt sich dies mit dem einen Verstand, Gefühl, Willen etc. zusammenreimen? - Der (ausgebildete Mensch also hat nicht einen Verstand, eine Urteilskraft, einen Willen etc., sondern Tausende von Verstandeskräften, Urteilskräften, Wollensvermögen etc."
Hier steht man in der Tat den äußersten Konsequenzen der nominalistischen Seelentheorie gegenüber; man wird sich jedoch der Erwägung kaum verschließen können, daß dieses Resultat einer rein auf die Innerlichkeit gerichteten Forschung mit der so häufig von Physiologen und neuestens auch von der englischen Psychologie (BAIN) mit großer Bestimmtheit erhobenen Forderung einer "gesonderten Verkörperung der Vorstellungen im Gehirn" auf das Schönste zusammenstimmt. Daß es trotzdem auch BENEKE versagt blieb, die Seelenlehre auf Grundlagen zu stellen, welche der modernen, das geistige Leben in einem steten Zusammenhang mit physischen Vorgängen betrachtenden Wissenschaft entsprechen, erklärt sich großenteils wohl aus dem spiritualistischen Vorurteil des Philosophen. WUNDT hat in seinem meisterhaften "Grundzügen der physiologischen Psychologie" trefflich hervorgehoben, wie die Spiritualisierung des Mechanischen, das Herüberholen des äußeren Reizes in das Gebiet psychischer Innerlichkeit jene falsche Auffassung der Vorstellung als eines aus zwei, zum Teil trennbaren Faktoren, Reiz und Urvermögen, zusammengesetzten Gebildes verschuldet, welche zu den Grundirrtümern von BENEKEs Psychologie zählt. Die Beseitigung der allgemeinen Seelenkräfte aber und die Ersetzung derselben durch individuelle, in der Form übereinstimmende Prozesse wird als bleibendes Verdienst BENEKEs anerkannt werden müssen, in welches sich nur allein HERBART mit ihm teilt; wie auch seine Annahme, daß die in der ausgebildeten Seele wahrnehmbaren Formen "erst durch eine längere Reihe von dazwischen liegenden Prozessen erzeugt werden", im Licht der heutigen Entwicklungsgeschichte eine ganz besondere Bedeutung erhält.

In der nachkantischen deutschen Philosophie fehlen also trotz Überwiegen der realistischen Auffassungsweise doch auch nicht entschiedene Repräsentationen des nominalistischen Prinzips: HEGELs Begriffsabsolutismus tritt in HERBART, BENEKE und FEUERBACH eine energische Position des Individuellen als des allein Wirklichen gegenüber. Gegenwärtig läßt sich bei dem stets im Wachsen begriffenen Einfluß der exakten Naturwissenschaft auch ein Zunehmen und Erstarken des nominalistischen Elements nicht verkennen, und muß vor allem jene auf der kantischen Kritik fußende Richtung, welche die Ergebnisse dieser Kritik nicht im Sinne eines phantastischen Idealismus verwertet, sonderm dem Geist wie den positiven Ergebnissen der Naturwissenschaft Rechnung zu tragen bemüht ist und anstelle des absterbenden dogmatischen einen lebenskräftigen kritischen Materialismus setzt, als eine kräftige Stütze der nominalistischen Anschauungsweise bezeichnet werden. Andererseits ist es keinem Zweifel unterworfen, daß der Einfluß von HEGELs Philosophie mehr und mehr abnimmt, sich also die Bedeutung gerade desjenigen Systems verliert, in welchem die realistische Vorstellungsart am allermeisten zur Geltung gekommen war. Hingegen findet eine andere Form des Realismus unter den Philosophen der Gegenwart noch zahlreichere Vertreter, welche verschiedenen, aber stets theistischen Richtungen angehören. Der Unterschied dieses Realismus von dem HEGELs, zu dem er sich ähnlich verhält, wie die neuplatonische zur platonischen Ideenlehre, beruth wesentlich auf seiner personalistischen Basis, und verschwindet daher vollkommen, wenn der absolute Geist, wie von ROSENKRANZ geschieht, dem dialektischen Prozeß vorausgesetzt wird. Der hier gemeinten realistischen Ansicht zufolge existieren die Begriffe ebenfalls außer und vor den Dingen, wie bei HEGEL, jedoch nicht als für sich bestehende und sich selber bewegende Entitäten, sondern als Gedanken im Bewußtsein des göttlichen Geistes. Diesen Standpunkt charakterisiert KAULICH scharf in Folgendem:
    "Zunächst müssen wir sagen: Universalia sunt ante rem [Ideen gehen den Dingen vorher - wp], freilich nicht ansich, etas als ansich bestehende Wesenheiten, sondern in der Idee Gottes von der Natur, weil ja Gott in der Idee der Kreatur auch schon jene Begriffe vorgedacht hat, indem durch die schöpferische Idee nicht bloß das Sein gedacht, sondern auf die Grundformen des Daseins vorgezeichnet wurden. Wir müssen ferner sagen: Universalia sunt in re [Ideen und Sein fallen zusammen - wp], denn nach der Realisierung der schöpferischen IDee besteht das Allgemeine nur im Besonderen, in den einzelnen Substantivierungen der Natursubstanz, in den Individuen, als das ihnen innewohnende Lebens- und Gestaltungsgesetz, das sich im Bereich des Organischen durch den geschlechtlichen oder ungeschlechtlichen Zeugungsprozeß auf andere neu sich bildende Individuen überträgt. Schließlich müssen wir sagen: Universalia sunt post rem [Allgemeinbegriffe kommen nach den Dingen - wp], wieder nicht ansich, sondern für das erkennende Denken, denn das Allgemeine muß sich früher am Einzelnen dargestellt haben, bevor es durch das Denken gewonnen werden kann."
Wenn man HEGELs Ansicht, welche den Begriffen eine auf sich selbst gegründete Realität vindiziert [zuweist - wp], einen immanenten Realismus nennen will, so kann diese theistische Auffassung, welche von den realen Ideen auf ein Subjekt, in welchem sie gedacht werden, zurückgeht, transzendenter Realismus heißen; die von beiden abweichende Vorstellungsweise SCHOPENHAUERs dürfte dann etwa als transzendentale Ideenlehre bezeichnet werden. Was nun den transzendenten Realismus angeht, so erkennt auch diese Auffassung ganz, insbesondere in den organischen Typen, die Verwirklichungen bestimmter Ideen, und faßt daher die Gruppen des natürlichen "Systems" nicht als bloße Abstraktionen des klassifizierenden Verstandes, auch nicht als Komplexe blutsverwandter, durch eine gemeinsame physische Abstammung von einem Stammorganismus zusammengehöriger Individuen auf, sondern betrachtet dieselben vielmehr als die realen Vorbilder der natürlichen Lebewelt, welche in ihnen präformiert lag. In diesem Sinne erklärt IMMANUEL HERMANN FICHTE,
    "daß der Begriff von Gattung und Art nichts bloß Subjektives, vom menschlichen Denken Ersonnenes ist, um die Tiere und die Pflanzenindividuen leichter unterscheiden und benennen zu können, sondern ein objektives, allwirksames Gestaltungsgesetz, ein vorbildliches Schema, welchem die Natur innerhalb eines gewissen Gebietes organischer Bildungen unabänderlich treu bleibt."
Weit entfernt also, daß die Art nur in der zufälligen oder auf mechanischer Naturkausalität beruhenden Übereinstimmung der unter ihr begriffenen Individuen Realität hat, ist sie vielmehr selbst die Realität dieser individuellen Bildungen, sofern sie sich als das formgebende Prinzip derselben darstellt.

Die absolute Unveränderlichkeit der Spezies innerhalb ihres Begriffs, welche natürlich die Möglichkeit der Varietätenbildung so wenig wie die eines gänzlichen Verschwindens der Art und ihres Ersetztwerdens durch eine neue Form ausschließt, möchte die nächste Konsequenz dieser Auffassungsweise zu sein scheinen. In der Tat sind zahlreiche Philosophen der bezeichneten Richtung als Gegner der Transmutationstheorien [Umwandlungstheorien - wp] aufgetreten und haben das immer stärkeren und haben das immer stärkeren Angriffen von Seiten der empirischen Naturwissenschaft ausgeprägte Speziesdogma in seinem ganzen Umfang zu verteidigen gesucht. Ihrer Ansicht zufolge soll die Transition [Übergang - wp] von niedereren zu höheren Lebensformen einzig in dem diese Typen als "Vorbilder" setzenden göttlichen Geist stattfinden; in der natürlichen Welt hingegen soll jede dieser Ideen durch einen besonderen Akt der schöpferischen Kausalität verwirklicht weren und nun als in sich geschlossener, unveränderlicher Formenkreis bestehen, der mit keinem anderen, die Realisation einer eigenen Idee darstellenden Formenkreise physisch zusammenhängt. Demnach weist der übereinstimmende Bauplan in größeren Gruppen des Tier- und Pflanzenreiches wohl auf den einheitlichen Ursprung aus einer höheren d. h. universelleren Idee im Bewußtsein des Schöpfers, aber nicht auf einen physischen Konnex [Zusammenhang - wp], auf eine gemeinsame Abstammung vom selben Organismus hin. Die Stellung dieser Philosophen zur Abstammungstheorie hat mit der schon bezeichneten HEGELs viel Ähnlichkeit und es erinnert ganz an HEGELs Ansicht einer nur im Reich des Begriffs geltenden Kontinuität der Naturbildungen, wenn FICHTE behauptet
    "daß Geoffrey St. Hilaire recht gehabt hat mit jener großen Grundanschauung, wie sie allen seinen Werken zugrunde liegt, daß es in der Organisation der Tiere nur einen allgemeinen Plan gibt, eine gemeinsame Grundiee (unité de composition organique), welche bloß gewisse Modifikationen angenommen hat, um die Unterschiede der Gattungen hervorzubringen; - unrecht nur dadurch, daß er diesen Gedanken einer idealen Präformation gleichsam materialisierte, indem er einen tatsächlichen Übergang der verschiedenen Gattungen ineinander annehmen zu dürfen glaubte."
Was übrigens jene Ansicht HEGELs betrifft, so erscheint dieselbe nur als Privatmeinung des Philosophen, keinesfalls jedoch als unabweisbare Konsequenz seines philosophischen Prinzips; vielmehr läßt sich auch die Vorstellung einer "äußerlich wirklichen" Phylogenie [stammesgeschichtliche Entwicklung der Lebewesen - wp] ganz füglich in das System aufnehmen, ja wird diese Vorstellung oder die einer sinnlichen generatio aequivoca [Urzeugung ohne göttlichen Schöpfungsakt - wp] sogar zur Notwendigkeit, wenn, wie von der junghegelschen Richtung, die Vernunft als "den kosmischen Kräften und deren Verhältnissen immanent" betrachtet wird. Wie aber HEGELs Philosophie, ohne sich zu widersprechen oder ihren prinzipiellen Standpunkt zu verlassen, ein Kompromiß mit der naturwissenschaftlichen Auffassungsweise eingehen kann, so ist dieses nicht weniger bezüglich der theistischen Ansicht der Fall, deren Vertreter der Notwendigkeit, mit den biologischen Permutationslehren [Austauschtheorien - wp] sich in irgendeiner Weise auseinanderzusetzen, mehr und mehr sich bewußt werden. Freilich gestattet die theistische Ansicht nicht den Umschlag in einen Naturalismus, da ihr die Ideen nicht in der Luft schweben (wie bei HEGEL, wo sie darum auch schließlich in die Materie herabsinken), sondern in der sie denkenden, trans- und supramundanen [überirdisch, überweltlich - wp] Subjektivität des Absoluten eine konkrete Grundlage besitzen; indessenn kann auch den Theismus nichts an der Annahme hindern, daß die hyperphysische Kausalität die schon verwirklichten Ideen, d. h. die vorhandenen organischen Typen benützt, um durch deren Veränderung die nächst höheren oder begrifflich am nächsten stehenden Formen ins Dasein zu rufen. Diese zu realisierenden Begriffe werden dann die Finalursache der Variation der Stammform sein und wird die Umgestaltung dieser letzteren nicht dem Zufall oder dem Walten mechanischer Naturgesetze anheimgegeben werden, sondern eine im Vorhinein bestimmte, durch den schöpferischen Gedanken vorgezeichnete Richtung erhalten. In dem Umstand, daß das bildende, schaffende Prinzip an schon Geleistetes anknüpft, um zu weiteren Bildungen fortzuschreiten, wird man höchstens eine Bestätigung der sogenannten lex parsimoniae naturae [Gesetz der natürlichen Sparsamkeit - wp], aber keine Beschränkung jenes Prinzips erblicken können, welches immer als das den physischen Prozeß Beherrschende erscheint, ob es nun irgendeine Lebensform zu einer neuen Gestalt umprägt, oder ob es aus dem nicht weniger gegebenen Material anorganischer Elemente die beabsichtigte Form hervorgehen läßt. Die realistische Auffassung des Artbegriffs wird durch eine solche Abstammungsvorstellung in keiner Weise alteriert [beeinflußt - wp]: vielmehr bleibt die Spezies, auch wenn sie durch eine Entwicklung aus einer anderen entstanden ist, das Vorbild, das bestimmende Moment (to on heureka], und kein bloßer Effekt des Entwicklungsprozesses, und das Stadium der Metamorphose, welchem sie ihren Ursprung verdankt, kann nicht als gleichwertig mit dem darauf folgenden Zustand der Stabilität angesehen werden. Weil nun aber die Abstammungslehre den biologischen Tatsachen weit besser entspricht als die Hypothese der unmittelbaren Schöpfungsakte, und für gewisse Gesetze des organischen Lebens, wie besonders den Parallelismus der embryologischen, päläontologenschen und systematischen Entwicklungsreihen jene allein den Schlüssel eines Verständnisses bietet, so sehen sich hervorragende Vertreter der theistischen Weltansicht genötigt, der Abstammungs- oder Transmutationstheorie, die sie, um die Differenz ihrer Vorstellungsweise von der mechanistischen auszudrücken, "Entwicklungstheorie" nennen, vor der älteren Kreationsannahme den Vorzug zu geben. Diese Entwicklungslehre ist nach JOHANN HUBERs Worten
    "nichts anderes als die Lehre von einer unmittelbaren Schöpfung, nämlich der Produktion neuer und höherer Gebilde aus früheren, tieferstehenden durch die Kraft des von Anfang an wirkenden, schöpferischen Triebes, welcher nach immer reicherer Manifestation strebt."
Aber auch solche Produktionsakte sind, wie die unmittelbaren Schöpfungen,
    "ein Außerordentliches, indem sie den gewöhnlichen Lauf des Naturlebens durchbrechen und darum an denselben nicht zu beobachten sind".
So verträgt sich diese Entwicklungstheorie auf das Beste mit der Konstanz der Spezies. Wenn nämlich die Entwicklung etwas Thaumatisches [Magisches - wp] ist, wenn es einer besonderen Sollizitation [Entwicklung - wp] von Seiten des hyperphysischen [übernatürlichen - wp] Prinzips zur Realisierung irgendeiner neuen Idee bedarf, um in der organischen Welt die Veränderungen hervorzubringen, die Arten aus und über sich hinausgehen zu machen, so ist die Spezies in ihrem normalen Verhalten ein fixer, unveränderlicher Typus und es sind diejenigen im Recht, welche jede aus natürlichen Ursachen erfolgende Umänderung der Lebewesen, sofern sie die Grenzen der Art überschreitet, in Abrede stellen.

Aus dieser Harmonie der auf eine realistische Fassung des Artbegriffs gegründeten Entwicklungslehre mit dem alten Spezies-Dogma, welche unter anderen von WEISSE ausdrücklich bemerkt wurde, geht aber auch auf das Klarste ihre Diskrepanz mit der Vorstellungsweise der heutigen Naturwissenschaft hervor. Denn nicht bloß die Ansicht einer Entwicklung überhaupt ist dieser eigentümlich, sondern insbesondere der Ausschluß jedes übernatürlichen Moments aus dem Transmutations- und Entwicklungsprozeß, die Annahme einer in den Organismen selbst liegenden Modifizierungsmöglichkeit, welche ausreicht, alle innerhalb der organischen Reiche (oder wenigstens PHYLEN) zutage tretenden Unterschiede erklärbar zu machen. Die Naturwissenschaft wird keineswegs prinzipiell der Annahme eines inneren Entwicklungsprinzips, einer "intrinsischen [in ihr selbst liegenden - wp] Tendenz der Organismen, vom elterlichen Typus zu degenerieren", sich entgegenstellen, wenn eine solche Tendenz als Wirkung mechanisch-materieller Ursachen genommen wird, aber sie wird jede teleologische Deutung dieses Prinzips auf das Entschiedenste ablehnen und gerade diese Deutung ist der in Rede stehenden metaphysischen Ansicht das Wesentliche. Was die Naturwissenschaft als Resultat, Wirkung, mithin als das Letzte seiner Entstehung nach betrachtet, das macht jene zum Ersten, zum Prinzip, zur Ursache, und so erscheint ihr das Endprodukt des Umbildungsprozesses der Lebewelt als das den ganzen Prozeß in all seinen Momenten bestimmende Ziel, welches freilich in den Anfängen des organischen Werdens noch nicht erkannt werden kann.
    "Nicht das Menschengeschlecht", sagt Frohschammer, "ist aus der Tierwelt hervorgegangen, sondern umgekehrt, die Menschennatur ist das ursprüngliche primäre Wesen allen Lebens gewesen, wenn auch nur potentiell oder ideal, und bei einem unermeßlichen Naturprozeß zur Realisierung, zum Produzieren der Menschennatur ist die Tierwelt gleichsam als Nebengewinn und - wenn man so will - reales Spielwerk der schaffenden Weltphantasie oder objektiven Bildungspotenz entstanden."
Während die Naturwissenschaft - um wieder FROHSCHAMMERs Worte zu gebrauchen - jede Bildung als ein "aus dem Zusammenwirken gegebener Verhältnisse ohne typisches Prinzip, ohne synthetische Kraft Entstandenes" ansieht, glaubt diese Auffassung in der Natur eine "Idee oder ideale und teleologische Norm" als Prinzip anerkennen zu müssen.

Dem transzendenten Realismus der theistischen Philosophen nahe verwandt ist der Standpunkt, welchen die Philosophie des Unbewußten, "die Lehre vom allgemeinen Instinkt oder vom absoluten Hellsehen", wie sie FICHTE ungemein treffend genannt hat, in dieser Frage einnimmt. Diese Philosophie, die nicht bloß in kürzester Zeit eine außerordentliche Popularität erlangt, sondern auch in fachmäßigen Kreisen wenngleich nicht Zustimmung, so doch immerhin Beachtung gefunden hat, bietet so mannigfache Bezugspunkte zu den verschiedensten neueren Systemen und philosophischen Richtungen dar, daß sie einem durchaus eklektischen [Ideen anderer werden übernommen und zu einem System zusammengefügt - wp] Charakter zur Schau tragen würde, wenn ihr nicht die Konzeption des Unbewußten selbst das Gepräge einer originellen und einheitlichen Gedankenschöpfung verleihen würde. Auch der Unterschied ihrer Ideenlehre von der eben besprochenen Auffassung beruth im Wesentlichen darauf, daß, was dort bewußter Gedanke, in ihr des Bewußtseins entkleidet und zur "unbewußten Vorstellung" geworden ist; nebenbei allerdings auch noch in der monistischen Fassung des Absoluten, welches die reale Welt nicht nur aus sich, sondern auch in sich, durch den Konflikt seiner beiden Momente: Wille und Vorstellung, erzeugt. Vermöge dieser "Alleinheit" des Unbewußten, welche jede selbständige Subsistenz [Bestehen durch sich selbst - wp] der Kreatur unmöglich macht, wird nämlich das Verhältnis des schöpferischen Gedankens zur kreatürlichen Welt, der Idee zu ihrer Realisation oder ihrem physischen Abbild ein anderes: die Idee wird, indem der Wille sie als Inhalt erfaßt, wohl aus sich, aber nicht aus dem Absoluten herausgesetzt, ihre Verwirklichung, ihr Übergang in die Sphäre des materiellen Seins ist ein innerhalb des absoluten Geistes, d. h. des "Unbewußten" sich vollziehender Prozeß. Die Dualität von Geist und Natur, von Schöpfer und Geschöpf, welche die Grundvoraussetzung des eigentlichen Theismus bildet, erscheint in der Philosophie des Unbewußten gänzlich aufgehoben, daher sie von konsequenten Theisten mit Recht als pantheistisch [alles ist Gott - wp] bezeichneit und, einesteils als das göttliche Bewußtsein leugnend, andernteils als die Selbständigkeit der endlichen Individualität und damit den Gegensatz derselben zum absoluten Geist vernichtend, von denselben bekämpft wird. Hingegen stimmt die "Philosophie des Unbewußten" darin mit dem Theismus überein und bildet mit diesem einen gemeinsamen Gegensatz zu HEGELs Lehre, daß sie erstens außer der begrifflichen Welt noch eine andere, außer dem logischen noch ein alogisches Sein als volle Wirklichkeit annimmt, und fürs zweite jenes Logische oder die Idee nicht auf sich selbst beruhen, sondern mit dem Unlogischen, welches sie positiv als Wille bestimmt, in einer identischen Substanz wurzeln läßt. Auch wird ausdrücklich die Verschiedenheit der unbewußten Vorstellung vom Begriff hervorgehoben, indem Begriffe nur als "Brücken des diskursiven Denkens" anzusehen sind, "während alles unbewußte Denken sich in konkreten Intuitionen bewegt." - Da von HARTMANN sich gegen den transzendentalen Idealismus durchaus ablehnend verhält, begreift es sich von selbst, daß die unbewußten Vorstellungen von SCHOPENHAUERs "Ideen" radikal verschieden sind, wie auch die Übereinstimmung mit SCHOPENHAUER überhaupt, zumindest im theoretischen oder eigentlich metaphysischen Teil, sie nur auf sehr oberflächliche Punkte erstreckt. Zumal das principium individuationis in der "Philosophie des Unbewußten" eine ganz andere Bedeutung hat, als im System SCHOPENHAUERs, wo es in der subjektiven Auffassung des Intellekts begründet ist, und diesem Denker eine jenseits des Bewußtseins stattfindende Individuation ebenso fremd geblieben ist wie der Begriff der "objektiven Erscheinung". Die unbewußte Vorstellung, die sich mittels des Willens in räumlichen Atomen realisiert, ehe noch ein Subjekt vorhanden ist, welches sie anschaut, kann jedenfalls nicht mit der Idee verwechselt werden, die erst der täuschende Spiegel des Verstandes in die Vielheit natürlicher Individuen zerlegt.

Wenn sich Ideen in der Natur ausprägen, so müssen sie sich offenbar als Zwecke und muß die Materie, in der sie realisiert werden soll, sich als Mittel verhalten und umgekehrt kann ein Naturzweck wohl nicht anders als in der Form einer Idee existierend gedacht werden: daher der Zusammenhang zwischen Realismus und Teleologie, daher die allzeit wahrzunehmende Erscheinung, daß sich der Realismus vorzugsweise auf dem Gebiet der biologischen Wissenschaften heimisch fühlt. In dieser Hinsicht ist die "Philosophie des Unbewußten" besonders lehrreich, indem der Zusammenhang der realistischen Auffassungsweise mit den gerade in der Sphäre des Organischen noch immer nicht ganz d. h. für Jedermann beseitigten Zweckbegriffen in ihr auf das Klarste zutage tritt.
    "Wenn Plato", heißt es in der Philosophie des Unbewußten, - "wenn Plato, der von Naturgesetzen eigentlich noch keine Ahnung hatte, von allem, wovon er sich Gemeinbegriffe abstrahieren konnte, auch transzendente Ideen annahm, so war dies ein kindlicher Standpunkt, der, wie Aristoteles berichtet, ihm später selbst gerechte Bedenken erregt haben soll. Wir wissen jetzt, daß die ganze unorganische Natur eine Folge der nach ihren immanenten Gesetzen (welche mit zu ihrer Idee gehören) sich auswirkenden Atomkräfte ist, und erst mit dem Entstehen der Organismen wahrhaft neue Ideen hinzutreten."
Woher aber wissen "wir" von diesen "neuen Ideen", welche erst in den Organismen zur Erscheinung kommen? Woher anders als aus der scheinbaren Zweckmäßigkeit der organischen Bildungen und der organischen Prozesse?! Denn daß nicht auch die vitalen Phänomene "Folgen der sich auswirkenden Atomkräfte" sind, daß sich in denselben wirklich neue Ideen realisieren, welche noch nicht inbegriffen sind in der Idee der unorganischen Natur, und neue Kräfte ins Spiel setzen, wird doch bloß deshalb angenommen, weil die morphologische und physiologische Zweckmäßigkeit im Organischen einer Erklärung aus der Kausalität der die lebenlose Welt beherrschenden Kräfte sich zu entziehen scheint. So gehören die Idee und der Zweck untrennbar zusammen. Der Zweck soll nach von HARTMANN "die positive Seite des Logischen" oder, was eins ist, der unbewußten Vorstellung sein - jedenfalls ist er der Erkenntnisgrund derselben, durch dessen Auffassung der "Philosophie des Unbewußten" die Einsicht in das Reich der Ideen vermittelt wird.
LITERATUR - Hugo Spitzer, Nominalismus und Realismus in der neuesten deutschen Philosophie mit Berücksichtigung ihres Verhältnisses zur modernen Naturwissenschaft, Leipzig 1876