E. TopitschW. StarkR. EuckenTh. Veblen | |||
Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit [Eine Theorie der Wissenssoziologie] [1/7]
V o r w o r t Dieses Buch ist eine systematische, theoretische Abhandlung zur Wissenssoziologie, kein historischer Überblick, keine Exegese soziologischer Theorien, welcher Richtung oder Schule auch immer. Es zeigt keinen Weg zur Synthese kontroverser Lehrmeinungen und hat keinerlei polemische Absicht. Kritik an Theorien anderer kommt (nicht im Text, sondern in den Anmerkungen) nur vor, wo sie nötig ist, um unsere eigene Auffassung zu klären. Ihre Kernstücke finden sich im zweiten und dritten Teil ("Gesellschaft als objektive Wirklichkeit" und "Gesellschaft als subjektive Wirklichkeit". Im zweiten Teil stellen wir unsere eigene Auffassung zu den Fragen der Wissenssoziologie vor, um sie im dritten Teil auf der eben des subjektiven Bewußtseins anzuwenden - ein theoretischer Brückenschlag zu den Problemen der Sozialpsychologie. Als phänomenologische Analyse der Wirklichkeit der Alltagswelt ("Die Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt") bringt der erste Teil so etwas wie philosophische Prolegomena zu den beiden Hauptstücken. Ausschließlich soziologisch interessierte Leser, versucht, ihn zu überschlagen, seien gewarnt; Schlüsselbegriffe, mit denen wir die gesamte Abhandlung bestreiten, werden hier zuerst vorgestellt und definiert. Unser Zugang zur Wissenssoziologie ist - wir sagten es schon - nicht historisch. Aber wir glauben uns doch verpflichtet zu zeigen, warum und wieso unsere Auffassung sich von dem unterscheidet, was bisher als Wissenssoziologie angesehen wurde. Darum geht es uns in der Einleitung. Am Schluß fassen wir dann einiges von dem zusammen, was, so glauben wir, bei unserem Unternehmen für die theoretische Soziologie im Ganzen - und für einige Bereiche der empirischen Forschung - "herausgekommen" ist. Um der Schlüssigkeit des Gedankengangs willen war ein gewisses Maß an Wiederholungen unerläßlich. So werden im ersten Teil Probleme gleichsam in phänomenologische "Klammern" gesetzt, um im zweiten, ausgeklammert, erneut anvisiert zu werden, diesmal mit dem Blick auf ihre empirische Genesis. Schließlich werden sie im dritten Teil auf der Ebene des subjektiven Bewußtseins erneut aufgegriffen. Wir haben uns bemüht, das Buch lesbar zu halten, ohne gegen seine innere Logik zu verstoßen. Hoffentlich haben unsere Leser Verständnis für Wiederholungen, die wir nicht vermeiden konnten. IBN UL ARABI, der große islamische Mystiker ruft aus: "Bewahre uns, Allah, vor dem Ozean der Namen." Beim Lesen theoretischer Soziologie haben wir seinen Stoßseufzer oft wiederholt und am Ende beschlossen, unseren zentralen Gedankengang nicht mit Namen zu befrachten. Die zusammenhängende Darlegung unserer eigenen Position soll deshalb für den Leser nicht unterbrochen werden durch Feststellungen á la: "Weber sagt dies" - "Durkheim sagt jenes" - "Wir stimmen hier mit Durkheim, nicht mit Weber überein" - "Wir glauben, Durkheim ist in diesem Punkt mißverstanden worden" - und so weiter und so fort. Daß auch wir nicht ex nihilo [aus dem Nichts - wp] argumentieren, wird auf jeder Seite offenbar. Aber wir wollen unsere Konzeption nach eigenem Verdienst beurteilt wissen, nicht unter exegetischen oder synthetischen Aspekten. Deshalb haben wir alle Verweisungen und - in Kürze - einige Einwände unseren Quellen gegenüber in die Anmerkungen gebracht. Der Anmerkungsapparat ist also beträchtlich geworden. Wir frönen damit allerdings keiner rituellen "Wissenschaftlichkeit", sondern erfüllen einfach die Treuepflicht historischer Dankbarkeit. Das Problem der Wissenssoziologie Die entscheidenden Thesen dieses Buches stehen in Titel und Untertitel, nämlich: daß Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert ist - und - daß die Wissenssoziologie die Prozesse zu untersuchen hat, in denen dies geschieht. Die Schlüsselbegriffe der beiden Thesen sind "Wirklichkeit" und "Wissen", Worte nicht nur der Umgangssprache, sondern mit weitem philosophiegeschichtlichem Horizont. Wir brauchen uns nicht auf die semantischen Finessen einzulassen, die sich hinter dem alltäglichen wie dem philosophischen Wortgebrauch verbergen. Für unsere Zwecke genügt es, "Wirklichkeit" als Qualität von Phänomenen zu definieren, die ungeachtet unseres Wollens vorhanden sind - wir können sie ver- aber nicht wegwünschen. "Wissen" definieren wir als die Gewißheit, daß Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben. In diesem (freilich vereinfachenden) Sinn sind beide Begriffe für den 'Mann auf der Straße und für den Philosophen relevant. Der Mann auf der Straße bewohnt eine Welt, die - wenngleich in unterschiedlichem Maße - "wirklich" für ihn ist, und er "weiß" - in unterschiedlich bemessener Zuversicht -, daß sie diese oder jene Eigenschaften hat. Der Philosoph muß natürlich nach der absoluten Bedeutung von Wirklichkeit und Wissen fragen: Was heißt "wirklich"? Wieso kann man "wissen"? Diese Fragen gehören zu den ältesten nicht nur der Philosophie, sondern des menschlichen Denkens überhaupt. Darum wundert sich der Mann auf der Straße, und der Philosoph wird ärgerlich, wenn der Soziologe in so ehrwürdige Gefilde des Geistes eindringt. Wir Soziologen müssen also von vornherein klarstellen, in welchem Sinn wir Wirklichkeit und Wissen für die Soziologie beanspruchen, und jedem Ehrgeiz abschwören, etwa als Soziologen für die alten Probleme der Philosophie Lösungen gefunden zu haben. Als gewissenhafte Soziolgen müßten wir die Wörter "Wirklichkeit" und "Wissen" immer in einen Rahmen aus Anführungszeichen stellen. Aber das wäre kein guter Stil - allenfalls ein Hinweis auf die Eigenart ihres Vorkommens in soziologischen Zusammenhängen. Sie stehen nämlich, soziologisch gesehen, gleichsam inmitten ihrer Bedeutungen für den Mann auf der Straße und den Philosophen. Der Mann auf der Straße kümmert sich normalerweise nicht darum, was wirklich für ihn ist und was er weiß, es sei denn, er stieße auf einschlägige Schwierigkeiten. Er ist seiner "Wirklichkeit" und seines "Wissens" gewiß. Der Soziologe kann sich eine solche Unbekümmertheit nicht erlauben, und sei es nur, weil er als Soziologe systematisch zur Kenntnis genommen hat, daß Männer auf den Straßen verschiedener Gesellschaften höchst verschiedener Wirklichkeiten gewiß sind. Ihn verpflichtet seine Wissenschaft zumindest zu folgender Frage: Wird der Unterschied zwischen verschiedenen "Wirklichkeiten" nicht deutlich, sobald man sie in Relation zu gewissen Unterschieden zwischen verschiedenen Gesellschaften setzt? Für den Philosophen ist aus professionellen Gründen gar nichts gewiß. Er hat die Pflicht, sich ein Maximum an Klarheit darüber zu verschaffen, was das - absolut genommen - ist, was der Mann auf der Straße für Wirklichkeit und Wissen hält. Anders gesagt: der Philosoph, nicht der Soziologe, ist befugt zu entscheiden, wo Anführungszeichen hingehören und wo man sie guten Gewissens weglassen kann. Er ist es, der eine Trennlinie zwischen gültigen und ungültigen Aussagen über die Welt ziehen muß. Dazu ist der Soziologe nicht imstande. So hat er dann - wenn schon keine stilistische - so doch eine professionelle Schwäche für Anführungszeichen, die man ihm verzeihen möge. Ein Beispiel: Der Mann auf der Straße glaubt an seine eigene "Willensfreiheit" und fühlt sich daher für seine Taten "verantwortlich". Kindern und Geisteskranken spricht er hingegen eben diese "Freiheit" und "Verantwortlichkeit" ab. Der Philosoph untersucht nach der Methode seiner Wahl den ontologischen oder erkenntnistheoretischen Stellenwert der Begriffe. Ist der Mensch frei? Was bedeutet Verantwortlichkeit? Wo liegen ihre Grenzen? Wie kann man dergleichen wissen? Und so fort. Überflüssig zu sagen, daß der Soziologe solche Fragen nicht beantworten kann. Was er jedoch fragen kann und muß, ist: Wie kommt es, daß eine Gesellschaft eine deutliche Vorstellung von "Freiheit" hat und eine andere nicht? Und wie kommt es, daß die Wirklichkeit dieser Freiheit in der ersten Gesellschaft gewahrt bleibt und dabei - was als Problem noch interessanter ist - dennoch immer wieder Einzelnen oder sogar ganzen Gruppen abhanden kommt? Die fundamentale Rechtfertigung des Interesses der Soziologie an der Problematik von "Wirklichkeit" und "Wissen" ist die Tatsache der gesellschaftlichen Relativität: was für einen tibetanischen Mönch "wirklich" ist, braucht für einen amerikanischen Geschäftsmann nicht "wirklich" zu sein. Das "Wissen" eines Kriminellen ist anders als das eines Kriminologen. Daraus folgt, daß offenbar spezifische Konglomerate von "Wirklichkeit" und "Wissen" zu spezifischen gesellschaftlichen Gebilden gehören und daß diese Zugehörigkeit bei der soziologischen Analyse dieser Gebilde entsprechend berücksichtigt werden muß. Daß "Wissenssoziologie" vonnöten ist, zeigt sich also bereits an den offenkundigen Unterschieden zwischen Gesellschaften hinsichtlich dessen, was Gewißheit für sie ist. Darüber hinaus muß sich jedoch ein Fach, das sich "Wissenssoziologie" nennt, damit befassen, wieso und auf welche Weise "Wirklichkeit" in menschlichen Gesellschaften überhaupt "gewußt" werden kann. Mit anderen Worten: Wissenssoziologie darf ihr Interesse nicht nur auf die empirische Vielfalt von "Wissen" in den menschlichen Gesellschaften richten, sondern sie muß auch untersuchen, aufgrund welcher Vorgänge ein bestimmter Vorrat von "Wissen" gesellschaftlich etablierte "Wirklichkeit" werden konnte. Wir behaupten also, daß die Wissenssoziologie sich mit allem zu beschäftigen hat, was in einer Gesellschaft als "Wissen" gilt, ohne Ansehen seiner absoluten Gültigkeit oder Ungültigkeit. Insofern nämlich alles menschliche "Wissen" schließlich in gesellschaftlichen Situationen entwickelt, vermittelt und bewahrt wird, muß die Wissenssoziologie zu ergründen versuchen, wie es vor sich geht, daß gesellschaftlich entwickeltes, vermitteltes und bewahrtes Wissen für den Mann auf der Straße zu einer außer Frage stehenden "Wirklichkeit" gerinnt. Mit anderen Worten behaupten wir: Die Wissenssoziologie hat die Aufgabe, die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit zu analysieren. Diese unsere Auffassung von Wissenssoziologie und von ihren eigensten Aufgaben weicht ab von dem, was man ihr allgemein zugestand, seit sie vor rund fünfzig Jahren zum erstenmal so genannt wurde. Deshalb sollten wir, bevor wir unseren eigenen Gedankengang darlegen, einen kurzen Blick auf die bisherige Entwicklung werfen und erklären, warum und wie weit wir uns veranlaßt sehen, unsere eigenen Wege zu gehen. Den Ausdruck "Wissenssoziologie" hat MAX SCHELER geprägt (1). Zeit: die zwanziger Jahre - Ort: Deutschland. Und SCHELER war ein Philosoph. Alle drei Tatsachen sind wichtig für das Verständnis der Genese und Entwicklung des neuen Fachgebietes. Die Wissenssoziologie hat ihren Ursprung in einer besonderen Situation der deutschen Philosophie und Geistesgeschichte. Diese ihre Ausgangsproblematik war ein Zeichen, das ihr anhaftete, während sie allmählich eindrang in die allgemeine Soziologie, besonders auch der englisch sprechenden Welt. Die Folge war, daß sie für die Masse der Soziologen, die von den Problemen deutscher Denker der zwanziger Jahre unberührt war, ein peripheres Gebiet bleiben sollte. Das gilt besonders für die amerikanischen Soziologen, die sie im allgemeinen für eine Spezialität nach europäischem Gusto hielten. Noch wichtiger ist, daß diese Untrennbarkeit der Wissenssoziologie von ihrer Ausgangskonstellation zu einer theoretischen Schwäche für sie wurde, selbst da, wo man ihr ein gewisses Interesse entgegenbrachte. Ihre Vorreiter nicht anders als das gesamte soziologische Fußvolk sahen nämlich in ihr eine Art Glossarium zur Ideengeschichte; eine nicht unbeträchtliche Kurzsichtigkeit in Bezug auf die potentielle theoretische Bedeutung der Wissenssoziologie war das Resultat. Wesen und Zuständigkeiten der Wissenssoziologie sind sehr unterschiedlich definiert worden. Ja, man kann sagen, daß ihre Geschichte eine Geschichte ihrer Definitionen ist. Dennoch war man sich immerhin darüber einig, daß sie sich mit den Zusammenhängen zwischen menschlichem Denken und den sozialen Gebilden, in denen es jeweils entstanden war und fortdauerte, zu befassen hat. So läßt sich dann sagen, daß die Wissenssoziologie der soziologische Ort für ein viel umfassenderes Problem ist: das Problem der "Seinsgebundenheit" des Denkens überhaupt. Obgleich sie den Nachdruck auf die gesellschaftlichen Faktoren legt, sind ihre theoretischen Schwierigkeiten ähnlich wie bei anderen - historischen, psychologischen oder biologischen - Determinanten für das menschliche Denken. Das zentrale Problem ist (in ihrem wie in jedem anderen Fall): Bis zu welcher Grenze spiegelt menschliches Denken die vorausgesetzte Determinante wider, bis wohin ist es unabhängig von ihr? Sehr wahrscheinlich ist die immense Ansammlung historischer Gelehrsamkeit - eine bedeutende Frucht des 19. Jahrhunderts in Deutschland - für die Vorrangstellung dieses grundsätzlichen Problems in der neueren deutschen Philosophie verantwortlich. In einem Maße, das in keiner Epoche der Geistesgeschichte seinesgleichen hat, wurde in jener Zeit die Vergangenheit mit all ihrer unerhörten Vielfalt an Formen dem zeitgenössischen Denken durch die Geschichtswissenschaft "vergegenwärtigt". Der Führungsanspruch der deutschen Wissenschaft steht auf diesem Gebiet außer jeder Diskussion. Infolgedessen ist es nicht überraschend, daß die theoretischen Probleme, die in der Folge auftragen, in Deutschland auch am schärfsten akzentuiert wurden. Man kann diese Situation als eine Art Höhenrausch des Relativitätsbewußtseins ansehen. Die erkenntnistheoretische Dimension des zentralen Problems ist offensichtlich. Auf empirischer Ebene stellte es die Aufgabe, die konkreten Zusammenhänge zwischen Denkweisen und historischen Konstellationen so genau wie irgendmöglich zu untersuchen. Wenn diese unsere Auffassung zutrifft, so griff die Wissenssoziologie einfach ein Problem auf, das ursprünglich von der Geschichtswissenschaft gestellt worden war - in einem engeren Sinne zwar, aber doch gerichtet auf im Wesentlichen dieselben Probleme. (2) Weder das Grundproblem noch sein engerer Sinn sind neu. Eine Ahnung von gesellschaftlichen Grundlagen für Wertsetzungen und Weltansichten hatte schon die Antike. Mindestens seit der Aufklärung ist daraus ein Leitmotiv westlichen Denkens geworden. Man könnte einen ganzen Katalog von "Genealogien" des Grundproblems der Wissenssoziologie zusammenstellen (3). In nuce [im Kern - wp] steckt es schon in PASCALs berühmten Ausspruch, daß die Wahrheit auf der einen Seite der Pyrenäen der Irrtum auf der anderen ist. (4) Unmittelbare geistige Vorläufer der Wissenssoziologie sind jedoch drei große Strömungen im deutschen Denken des 19. Jahrhunderts: MARX und NIETZSCHE sowie ihre Folgen und schließlich der Historismus. Von MARX kommt die Ausgangsvorstellung der Wissenssoziologie: daß das Bewußtsein des Menschen durch sein gesellschaftliches Sein bestimmt wird (5). Begreiflicherweise ist viel darüber gestritten worden, was für eine Determination MARX dabei im Sinn hatte. Fest steht, daß vieles vom großen "Kampf um Marx", der nicht nur den Anfängen der Wissenssoziologie, sondern auch dem "klassischen Zeitalter" der Soziologie überhaupt seinen Stempel aufgedrückt hat - manifest vor allem in den Werken von MAX WEBER, DURKHEIM und PARETO - in Wahrheit ein Kampf um eine schiefe MARX-Interpretation durch "die Marxisten der letzten Tage" gewesen ist. Eine solche Auffassung leuchtet ein, wenn man bedenkt, daß die entscheidend wichtigen "Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte" von 1844 erst im Jahr 1932 aufgefunden worden sind und daß die MARX-Forschung erst nach dem zweiten Weltkrieg die anstehenden Folgerungen aus dieser Entdeckung ziehen konnte. Wie dem auch sei: Von MARX hat die Wissenssoziologie nicht nur die schärfste Formulierung ihres zentralen Problems, sondern auch einige ihrer zentralen Begriffe, darunter zum Beispiel den der "Ideologie" (Ideen, die als Waffen für gesellschaftliche Interessen wirken) und den des "falschen Bewußtseins" (Denken, das dem gesellschaftlichen Sein des Denkenden "entfremdet" ist). Die Wissenssoziologie war von jeher fasziniert vom MARXschen Zwillingsbegriff "Basis/Überbau". Wissenssoziologische Kontroversen über die richtige Interpretation dessen, was MARX selbst damit gemeint hat, waren besonders hitzig. Der spätere Marxismus tendierte dazu, "Basis" kurzerhand gleichzusetzen mit Wirtschaftsstruktur, deren "Überbau" dann lediglich ihr Reflex wäre (so beispielsweise bei LENIN). Heute steht wohl fest, daß dieser einseitig ökonomische Determinismus eine Fehlinterpretation ist. Ihr eher mechanistischer als dialektischer Charakter allein sollte schon Mißtrauen hervorrufen. Was MARX beschäftigt hat, ist, daß menschliche Gedanken sich auf menschliche Tätigkeiten ("Arbeit" im weitesten Sinne des Wortes) gründen und damit auch auf die gesellschaftlichen Gebilde, welche durch diese Tätigkeit entstehen. Man begreift "Basis" und "Überbau" am ehesten, wenn man sie als dauernde Wechselwirkung zwischen menschlicher Tätigkeit und der Welt sieht, die ben durch diese Tätigkeit hervorgebracht wird. (6) Die Wissenssoziologie hat - beginnend mit SCHELER - das Basis/Überbau-Schema immer wieder verschieden abgewandelt und war stets der Auffassung, daß es Zusammenhänge geben muß zwischen Gedanken und jener "untergründigen" Wirklichkeit, die anders ist als diese Gedanken selbst. Die Faszination durch das MARXsche Begriffspaar hielt der Tatsache stand, daß in der Wissenssoziologie dann vieles ausdrücklich in einer Frontstellung gegen den Marxismus formuliert wurde und daß sich angesichts der Differenzen über die Art der Beziehung der beiden Komponenten des MARXschen Modells gegnerische Lager bildeten. NIETZSCHEs Ideen sind von der Wissenssoziologie weniger ausdrücklich weiterverfolgt worden. Aber sie gehören doch unbedingt zum allgemeinen geistigen Horizont und zur allgemeinen "Stimmung", in der die Wissenssoziologie entstanden ist. NIETZSCHEs Anti-Idealismus - bei allen inhaltlichen Unterschieden dem von MARX gar nicht so unähnlich - eröffnete weitere Perspektiven auf das menschliche Denken als Instrument im Kampf um Macht und Überleben (7). NIETZSCHE entwickelte seine eigene Theorie des "falschen Bewußtseins" in den Analysen der gesellschaftlichen Bedeutung von Täuschung und Selbsttäuschung und der Jllusion als notwendiger Lebensbedingung. SCHELER hat NIETZSCHEs Begriff des "Ressentiment" als eines schöpferischen Faktors für gewisse Typen des menschlichen Denkens direkt übernommen. Überspitzt kann man sagen, daß die Wissenssoziologie geradezu eine besondere Weise ist, das, was NIETZSCHE treffend "die Kunst des Mißtrauens" genannt hat, anzuwenden. (8) Der Historismus, vor allem wie er im Werk von WILHELM DILTHEY zum Ausdruck kommt, war ein unmittelbarer Vorläufer der Wissenssoziologie (9). Seine Thematik war beherrscht von einem überwältigenden Gefühl für die Relativität aller Aspekte menschlichen Geschehens, das heißt also auch für die unausweichliche Geschichtlichkeit des Denkens. Das historische Dogma, daß keine geschichtliche Situation anders als unter ihren eigenen Bedingungen verstanden werden kann, ließ sich mühelos in die emphatische Betonung der gesellschaftlichen Einbettung des Denkens überführen. Gewisse historische Begriffe wie zum Beispiel "Standortgebundenheit" und "Sitz im Leben" konnten einfach transponiert werden. "Social Location" des Denkens ist nichts anderes als seine gesellschaftliche Standortgebundenheit. Es war das Erbe des Historismus, das die Wissenssoziologie zu ihrem Interesse an Geschichte und an den Methoden der Geschichtswissenschaft befähigte - ein Faktor übrigens, der mitverantwortlich ist für ihre Außenseiterstellung in der amerikanischen Soziologie. SCHELERs Interesse an der Wissenssoziologie und an soziologischen Problemen überhaupt war im Grunde nur eine Episode auf seinem philosophischen Weg (10). Sein Fernziel war die Begründung einer philosophischen Anthropologie, welche die historische und gesellschaftliche Bedingtheit der Wirklichkeit des Menschen zwar ins Auge fassen, über diese seine Relativität aber hinausgreifen sollte. Die Wissenssoziologie war für ihn ein Instrument, mit dessen Hilfe die durch den Relativismus entstandenen Schwierigkeiten beseitigt werden konnten, um der Lösung der philosophischen Hauptaufgabe näherzukommen. SCHELERs Wissenssoziologie ist im wahrsten Sinne eine "ancilla philosophiae" [Magd der Philosophie - wp], und zwar die Magd einer sehr besonderen Philosophie. So versteht es sich, daß SCHELERs Wissenssoziologie im Grunde eine negative Methode ist. Er war der Auffassung, daß die Beziehung zwischen "Idealfaktoren" und "Realfaktoren", deutliche Reminiszenzen [Ähnlichkeitserinnerung - wp] des MARXschen Basis-Überbau-Modells, lediglich regulativ sei. Das heißt, die "Realfaktoren" schaffen die Bedingungen und Umstände, unter denen die "Idealfaktoren" in der Geschichte in Erscheinung treten können. Den Gehalt der Idealfaktoren können die Realfaktoren jedoch nicht beeinflussen. Mit anderen Worten: Die Gesellschaft sorgt für das "Dasein" nicht für das "Sosein" von Ideen. Die Wissenssoziologie wird auf diese Weise zu einer Verfahrensvorschrift, mit deren Hilfe der jeweilige sozio-kulturelle Bestand an ideellen Gehalten untersucht werden muß, mit der Maßgabe allerdings, daß diese Gehalte selbst keine sozio-kulturellen Ursachen haben und somit der soziologischen Analyse nicht zugänglich sind. Wollte man SCHELERs Methode bildlich darstellen, so wäre das etwa so: Man wirft dem Drachen der Relativität einen ordentlichen Happen zu, aber nur, um ungestört in die Burg der ontologischen Gewißheit eindringen zu können. In diesem absichtlich (und notwendig) bescheiden gehaltenen Rahmen analysierte SCHELER mit beachtlicher Berücksichtigung der Details die Weisen, in welchen die Gesellschaft Wissen reguliert. Er betonte nachdrücklich, daß das Wissen der individuellen Erfahrung vorgegeben ist und diese in eine gesellschaftlich vorgegebene Sinnordnung einbettet. Diese Ordnung erlebt das Individuum - trotz ihrer Relation zu einer speziellen sozio-historischen Situation - als natürliche Weltansicht. SCHELER nannte das die "relativ-natürliche Weltanschauung" einer Gesellschaft - ein Begriff, der noch heute von entscheidender Bedeutung für die Wissenssoziologie ist. Nach SCHELERs "Erfindung" der Wissenssoziologie wurden ihre Verwendbarkeit, Reichweite und Tragfähigkeit in Deutschland heftig diskutiert (11). Daraus ging schließlich eine Neuformulierung hervor, in deren Zeichen die Wissenssoziologie Einzug in die Soziologie im engeren Sinne hielt und schließlich die englisch sprechende Welt erreichte. Es handelt sich um die Wissenssoziologie KARL MANNHEIMs (12). Man kann mit Sicherheit sagen, daß Soziologen heute an Wissenssoziologie - pro oder kontra - mit MANNHEIMschen Kategorien herangehen. Für die amerikanische Soziologie liegt das nahe, weil praktisch das gesamte MANNHEIMsche Oeuvre in englischer Sprache vorliegt. Es ist zum Teil von vornherein englisch geschrieben worden - in der Zeit, in der Mannheim nach dem Ausbruch des Nazismus in England lehrte -, oder es ist in englischer Neubearbeitung erschienen. SCHELERs großer wissenssoziologischer Aufsatz ist dagegen bis heute noch nicht übersetzt. Abgesehen vom "Diffusionsfaktor" ist MANNHEIMs Werk jedoch auch weniger mit philosophischem "Ballast" befrachtet. Das gilt besonders für seine späteren Schriften und ist offensichtlich, wenn man einmal die englische Fassung seines Hauptwerkes Ideologie und Utopie mit dem deutschen Original vergleicht. MANNHEIM wurde so für Soziologen einfach die "kongenialere" Figur, auch für solche, die seinem Ansatz kritisch oder wenig interessiert gegenüberstanden. MANNHEIM faßte die Wissenssoziologie weiter als SCHELER, möglicherweise weil für ihn die Auseinandersetzung mit dem Marxismus entscheidender war. Bei ihm bestimmt die Gesellschaft nicht nur die Erscheinung, sondern auch den Gehalt menschlicher Gedanken - mit Ausnahme der Mathematik und zum Teil auch der Naturwissenschaften. So wurde die Wissenssoziologie eine positive Methode zur Untersuchung fast jeder Facette menschlichen Denkens. Bezeichnenderweise richtete MANNHEIM sein Hauptinteresse auf das Phänomen der Ideologie. Er unterschied einen partikularen, einen totalen und einen allgemeinen Ideologiebegriff. Das heißt, für ihn gibt es Ideologie, die nur einen Ausschnitt im Denken eines Gegners bestimmt, Ideologie, die - ähnlich dem "falschen Bewußtsein" bei MARX - das gesamte Denken des Gegners bestimmt, und Ideologie, die nicht nur vom Denken des Gegners, sondern auch von dem des Protagonisten Besitz ergriffen hat. Mit diesem letzteren Ideologiebegriff übrigens glaubte MANNHEIM, noch über MARX hinausgegangen zu sein. Auf jeden Fall hat er mit seinem allgemeinen Ideologiebegriff die Ebene der Wissenssoziologie im weiteren Sinne erreicht, das heißt, er hat das Verständnis dafür erschlossen, daß kein menschlicher Gedanke (bis auf die oben genannten Ausnahmen) immun ist gegen die ideologisierenden Einflüsse des gesellschaftlichen Gebildes, zu dem er gehört. Durch diese erweiterte Theorie der Ideologie wollte MANNHEIM ihre grundsätzliche Problematik abtrennen von der politischen Theorie und Praxis, die sich des Begriffs bedient. Seit MANNHEIM ist Ideologie ein grundsätzliches Problem der Erkenntnistheorie und der soziologisch orientierten Geschichtsphilosophie. Obwohl MANNHEIM SCHELERs ontologische Ambitionen nicht teilte, war ihm doch nicht wohl bei diesem Pan-Ideologismus, auf den seine Gedankengänge hinzudrängen schienen. So prägte er den Ausdruck "Relationismus" (im Gegensatz zu "Relativismus"), um auf die erkenntnistheoretische Perspektive seiner Wissenssoziologie hinzuweisen, gewiß keine Kapitulation vor sozio-historischen Relativitäten, sondern das nüchterne Zugeständnis, daß Wissen immer Wissen von einem bestimmten Ort aus ist. Der Einfluß DILTHEYs ist wahrscheinlich an dieser Stelle bei MANNHEIM von größter Bedeutung. Das Problem des Marxismus soll mit den Mitteln des Historismus bewältigt werden. Wie dem auch sein mag: MANNHEIM war der Überzeugung, daß ideologisierende Einflüsse zwar nicht vollständig verhindert, aber doch durch eine systematische Analyse möglichst vieler ihrer gesellschaftlichen Ursachen und Begleitumstände gemildert werden können. Mit anderen Worten: Der Gegenstand des Denkens wird fortschreitend deutlicher durch die Vielfalt der Perspektiven, die sich auf ihn richten. Dieser Klärungsprozeß ist für ihn die Aufgabe der Wissenssoziologie, die damit zu einem wichtigen Hilfsmittel für das richtige Verständnis jedes menschlichen Geschehens wird. MANNHEIM glaubte, daß verschiedene gesellschaftliche Gruppen sehr verschieden dazu befähigt seind, die ihnen gegebenen engeren Grenzen zu transzendieren. Er setzte seine größte Hoffnung auf die "freischwebende Intelligenz" (der Ausdruck stammt von ALFRED WEBER), eine Art Streu- und Zwischenschicht, die er für relativ frei von Klasseninteressen hielt. Er betonte auch die Macht des "utopischen" Denkens, welches zwar auch - wie die Ideologie - ein verzerrtes Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit hat, aber (anders als die Ideologie) dynamisch genug ist, um sich die Wirklichkeit nach diesem Bild umformen zu können. Wir hoffen, nicht besonders betonen zu müssen, daß wir mit den vorangegangenen Bemerkungen SCHELERs und MANNHEIMs Wissenssoziologie keineswegs gerecht werden konnten. Wir wollten lediglich einige Grundzüge der beiden Auffassungen herausgreifen, die in ihrer Aufeinanderfolge zutreffend die "gemäßigte" und die "radikale" Wissenssoziologie (13) genannt worden sind. Bemerkenswert ist, daß die spätere Wissenssoziologie weitgehend aus Kritiken und Modifikationen der beiden Grundkonzepte bestanden hat. Wie wir schon hervorhoben, hat die MANNHEIMsche Version weiter fortgewirkt und dem Fach einen definitiven Zuständigkeitsbereich angewiesen - besonders in der englisch sprechenden Welt. Der bedeutendste amerikanische Soziologe, der sich der Wissenssoziologie angenommen hat, ist ROBERT MERTON (14). Seine Darstellung, die zwei Kapitel seines Hauptwerkes einnimmt, war eine sehr brauchbare Einführung für amerikanische Soziologen, die dafür aufgeschlossen waren. MERTON gab selbst ein Musterbeispiel für Wissenssoziologie, indem er ihre Hauptthemen komprimiert und zusammenhängend formulierte. Besonderes Interesse verdient dabei sein Versuch, die Wissenssoziologie mit der Struktur- und Funktionstheorie in Einklang zu bringen. Seine eigenen Begriffe: "manifeste" und "latente" Funktionen - wendet er auf den Bereich der Bildung von Gedanken an, um dann zwischen gerichteten, bewußten Funktionen von Gedanken und ungerichteten, unbewußten zu unterscheiden. Er bezog sich zwar hauptsächlich auf MANNHEIM, der für ihn der Wissenssoziologie par excellence [beispielhaft - wp] war, betonte jedoch gleichzeitig die Bedeutung der DURKHEIM-Schule und PITIRIM SOROKINs. Bemerkenswert ist, daß MERTON offenbar die Nähe der Wissenssoziologie zu wesentlichen Errungenschaften der amerikanischen Sozialpsychologie, der Bezugsgruppentheorie zum Beispiel übersehen hat, wobei er letztere an einer anderen Stelle desselben Werkes behandelt. Auch TALCOTT PARSONS hat sich zur Wissenssoziologie geäußert (15). Sein Beitrag beschränkt sich jedoch hauptsächlich auf die Kritik an MANNHEIM und versucht erst gar nicht, das Gebiet in sein eigenes theoretisches System einzubeziehen. Zwar analysiert er "das Problem der Rolle von Ideen" ausführlich, jedoch in einem Bezugsrahmen, der sich von SCHELERs oder MANNHEIMs Wissenssoziologie erheblich unterscheidet (16). So können wir also ruhig sagen, daß MERTON und PARSONS über die Wissenssoziologie MANNHEIMscher Prägung nicht hinausgelangt sind. Dasselbe gilt für ihre Kritiker. Um nur den lautstärksten zu erwähnen: CHARLES WRIGHT MILLS ist in seinen frühen Arbeiten auf Wissenssoziologie eingegangen, aber lediglich darstellend, und ohne einen eigenen Beitrag zur theoretischen Weiterentwicklung zu leisten (17). Ein interessanter Versuch, die Wissenssoziologie mit neopositivistischen Mitteln in die allgemeine Soziologie einzubeziehen, ist der von THEODOR GEIGER, der nach seiner Emigration aus Deutschland großen Einfluß auf die skandinavische Soziologie gehabt hat (18). GEIGER kehrte zu einem Ideologiebegriff zurück, der enger ist als gesellschaftlich verzerrte Denkvorstellungen, und bestand auf der Möglichkeit, durch eine sorgfältige Befolgung wissenschaftlicher Verfahrensrichtlinien ideologischen Verzerrungen entgehen zu können. Der neopositivistische Zugang zur Ideologieanalyse ist in jüngster Zeit in der deutschsprachigen Soziologie wieder von ERNST TOPITSCH aufgegriffen worden, der mit Nachdruck auf die idelogogischen Wurzeln verschiedener philosophischer Strömungen hingewiesen hat (19). Die soziologische Analyse von Ideologien - gewiß ein wichtiger Teilbereich der Wissenssoziologie, so wie MANNHEIM sie sieht - ist seit dem zweiten Weltkrieg in der amerikanischen wie in der europäischen Soziologie großem Interesse begegnet (20). Am weitesten über MANNHEIM hinaus geht wohl ein anderer europäischer Emigrant, der eine umfassende Wissenssoziologie vorstellt: WERNER STARK, der in England und den Vereinigten Staaten gelehrt hat (21). Er entfernt sich mehr als alle anderen von MANNHEIMs zentralem Ideologiebegriff. Aufgabe der Wissenssoziologie ist nach ihm nicht die Entlarvung oder auch nur Feststellung gesellschaftlicher Denkverzerrungen, sondern die systematische Erkundung der Grundlagen des Wissens selbst. Einfach gesagt, STARKs zentrales Problem ist die Soziologie der Wahrheit, nicht des Irrtums. Bei aller Eigenständigkeit steht er in seiner Auffassung vom Zusammenhang zwischen Ideen und Gesellschaft SCHELER wahrscheinlich näher als MANNHEIM. Noch einmal: Wir wollten hier keinen historischen Abriß der Geschichte der Wissenssoziologie geben. Wir haben sogar Richtungen ignoriert, die ansich für die Wissenssoziologie beansprucht werden könnten, auch wenn sie sich selbst nicht so aufgefaßt haben. Mit anderen Worten: wir haben uns auf das beschränkt, was unter der Flagge "Wissenssoziologie" segelt - die Theorie der Ideologie gehört mit dazu. Diese unsere Beschränkung hat einen Sachverhalt ins Licht gerückt: Abgesehen von den erkenntnistheoretischen Bemühungen einiger Wissenssoziologen hat sich das allgemeine Augenmerk in der Empirie nahezu ausschließlich auf Ideen, das heißt also auf theoretische Gedanken gerichtet. Das gilt auch für STARK, der seinem Buch "Die Wissenssoziologie" den Untertitel Ein Beitrag zum tieferen Verständnis des Geisteslebens gibt. Mit anderen Worten, die Wissenssoziologie hat sich auf theoretischem Boden für erkenntnistheoretische und auf empirischem für geistesgeschichtliche Fragen interessiert. Wir legen Wert darauf, ausdrücklich zu betonen, daß wir im Hinblick auf die Berechtigung und Bedeutung beider Fragenkomplexe keinerlei Vorbehalte haben. Doch halten wir es für unglücklich, daß gerade diese Konstellation, deren historische Gründe wir gezeigt zu haben glauben, die Wissenssoziologie in einem solchen Maß beherrscht hat. Das Resultat ist - unserer Auffassung jedenfalls -, daß die großen theoretischen Potenzen der Wissenssoziologie unbekannt geblieben sind. Wenn man erkenntnistheoretische Erwägungen über den Wert soziologischer Erkenntnisse in die Wissenssoziologie miteinbezieht, so ist das, als wenn man einen Bus schieben will, in dem man fährt. Gewiß - wie jede empirische Wissenschaft, die Zeugnis ablegt von der Relativität und Bedingtheit des menschlichen Denkens, konfrontiert auch die Wissenssoziologie mit erkenntnistheoretischen Problemen, die für die Soziologie wie für jede andere Wissenschaft bestehen. Aber, wir sagten das ja schon, die Wissenssoziologie ist dabei in einer ähnlichen Situation wie die Geschichtswissenschaft, die Psychologie und die Biologie, um nur die drei wichtigsten empirischen Fächer zu erwähnen, die der Erkenntnistheorie Sorge machen. Die Logik des erkenntnistheoretischen Problems ist für alle drei Fächer dieselbe. Daher fassen wir sie zusammen: Wie kann ich mich zum Beispiel auf meine soziologische Analyse der Sitten des amerikanischen Mittelstandes verlassen, wenn einerseits die Kategorien, die ich verwende, historisch bedingt sind, wenn andererseits ich selbst und alles, was ich denke, von meinen Genen und bzw. oder meiner tiefsitzenden Feindseligkeit den Mitmenschen gegenüber bestimmt ist und schließlich ich selbst zu allem Überfluß auch noch ein Angehöriger der amerikanischen Mittelklasse bin? Es liegt uns fern, solche Fragen nicht gebührend ernst zu nehmen. Worauf wir bestehen, ist nur, daß sie nicht in das empirische Fach Soziologie hineingehören. Rechtens gehören sie in die Methodologie der Sozialwissenschaften. Die jedoch ist Sache der Philosophie und per definitionem etwas anderes als die Soziologie, die ja eben ihr Gegenstand ist. Unter anderen Unruhestiftern der empirischen Wissenschaften - liefert auch die Wissenssoziologie nur "Stoff" für methodologische Probleme. Lösen kann sie sie in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich nicht. Wir schließen daher aus der Wissenssoziologie die erkenntnistheoretischen und methodologischen Probleme aus, welche ihre beiden großen Urheber so beunruhigt haben. Kraft einer solchen Ausschließung setzen wir uns von SCHELERs und von MANNHEIMs Wissenssoziologie und von späteren (ausdrücklich auch von neopositivistisch orientierten) Unternehmen ab, welche sich in dieser einen Hinsicht nicht von SCHELER und MANNHEIM unterscheiden. In unserer ganzen Studien haben wir jede erkenntnistheoretische oder methodologische Frage nach den Möglichkeiten einer soziologischen Analyse entschlossen unterlassen - auf wissenssoziologischem wie auch auf jedem anderen soziologischen Gebiet. Wir betrachten die Wissenssoziologie als ein Teilgebiet der empirischen Wissenschaft Soziologie. Unser spezielles Vorhaben ist zwar theoretischer Natur. Aber unsere Theorien gehören in das empirische Fach und zu seinen konkreten Problemen und haben nichts mit der Frage nach den Grundlagen des empirischen Faches zu tun. Summa summarum [Alles in Allem - wp] betreiben wir theoretische Soziologie und keine Methodologie der Soziologie. Nur in einem Teil der Abhandlung, welcher der Einleitung unmittelbar folgt, gehen wir über die Grenzen soziologischer Theorie hinaus - aus Gründen allerdings, die wenig mit der Erkenntnistheorie zu tun haben, was zu geeigneter Zeit deutlich werden wird. Allerdings müssen wir auch auf empirischer Ebene die Wissenssoziologie neu bestimmen: als Theorie nämlich, die auf einen empirischen Gegenstand der Soziologie gerichtet ist. Sie hat sich, wie wir sahen, auf dieser Ebene als Geistesgeschichte im Sinne von Ideengeschichte aufgefaßt. Daß es sich dabei um einen wesentlichen Aspekt der Soziologie handelt, dessen sind auch wir gewiß. Ja, im Unterschied zu unserer Abtrennung erkenntnistheoretischer und methodologischer Fragen, gestehen wir der Ideengeschichte zu, auch Wissenssoziologie sein zu können. Nur ist unserer Ansicht nach die Problematik von "Ideen", einschließlich des Sonderfalles Ideologie, nur ein Einzelproblem der Wissenssoziologie und nicht einmal ein sehr zentrales. Die Wissenssoziologie muß sich mit allem beschäftigen, was in der Gesellschaft als "Wissen" gilt. Sobald man an dieser Ausgangsthese festhält, wird man gewahr, wie unglücklich der geistesgeschichtliche Zugang gewählt ist - mindestens dann, wenn er ins Zentrum zu führen glaubt. Theoretische Gedanken, "Ideen", Weltanschauungen, sind so wichtig nicht in der Gesellschaft. Obwohl auch diese Phänomene in sie hineingehören, sind sie doch nur ein Teil dessen, was "Wissen" ist. Nur ein begrenzter Kreis von Leuten ist zum Theoretisieren berufen, zum Geschäft mit "Ideen" bestellt, zur Fabrikation von Weltanschauungen. Aber jedermann in der Gesellschaft hat so oder so Teil an Wissen. Etwas freundlicher gesagt: wenige befassen sich mit der theoretischen Interpretation der Welt, aber alle leben in einer Welt. So ist dann der Ansatz der Wissenssoziologie beim theoretischen Denken nicht nur eine ungerechtfertigte Beschränkung, sondern auch unbefriedigend, weil ja selbst dieser Bereich des Wissens nur recht verstanden werden kann, wenn er vor dem Hintergrund einer viel umfassenderen Analyse von "Wissen" gesehen wird. Die Bedeutung theoretischen Denkens in Gesellschaft und Geschichte allzu wichtig zu nehmen, ist ein begreiflicher Fehler der Theoretiker. Umso nötiger ist es, diesen intellektualistischen Irrtum zu korrigieren. Die theoretischen Definitionen von "Wirklichkeit" bzw. Realität - die philosophischen, naturwissenschaftlichen, ja, selbst die mythologischen - erschöpfen das nicht, was für den gesellschaftlichen Jedermann "wirklich" ist. Weil dem so ist, muß sich die Wissenssoziologie zuallererst fragen, was "jedermann" in seinem alltäglichen, nicht oder vortheoretischen Leben "weiß". Allerweltswissen, nicht "Ideen" gebührt das Hauptinteresse der Wissenssoziologie, denn dieses "Wissen" eben bildet die Bedeutungs- und Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gäbe. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit ist also der Gegenstand der Wissenssoziologie. Sie wird natürlich nicht davon ablassen, auch die theoretischen Artikulationen dieser Wirklichkeit zu analysieren, aber eben nicht in erster Linie. Was wir hier vorschlagen - das wird jetzt hoffentlich deutlich -, ist trotz der Abtrennung der erkenntnistheoretischen und methodologischen Fragenkomplexe eine weitergreifende Feldbestimmung der Wissenssoziologie, viel weitergreifend als alles, was bisher von diesem Fach erwartet wurde. Die Frage erhebt sich, welche theoretischen "Ingredienzien" die Wissenssoziologie nötig hat, um so weit und so neu bestimmt werden zu können. Wir verdanken unsere erste Einsicht in die Notwendigkeit einer Neubestimmung dem Philosophen und Soziologen ALFRED SCHÜTZ. Er hat sein ganzes Werk, philosophisch und soziologisch, Analysen der "Lebenswelt" gewidmet. Auch wenn er selbst keine Wissenssoziologie geschrieben hat, sah er doch völlig klar, worum es dabei zu gehen hat:
Unsere anthropologischen Voraussetzungen stehen unter dem Einfluß von MARX, besonders seiner Frühschriften, und unter dem Eindruck der biologisch unterbauten philosophischen Anthropologie von HELMUTH PLESSNER, ARNOLD GEHLEN und anderen. Unsere Auffassung vom Wesen der gesellschaftlichen Wirklichkeit verdanken wir zu großen Teilen DURKHEIM und seiner Schule, wenngleich wir seine Theorie der Gesellschaft abgewandelt haben durch eine dialektische Perspektive im Sinne von MARX und vor allem dadurch, daß wir mit MAX WEBER betonen, daß "subjektiv gemeinter Sinn" ein konstituierender Faktor für gesellschaftliche Wirklichkeit ist (24). Unsere sozialpsychologischen Voraussetzungen, wichtig besonders bei der Analyse der Internalisierung gesellschaftlicher Wirklichkeit, sind von GEORGE HERBERT MEAD und seinen Nachfolgern in der sogenannten "Symbolic-Interactionist-School" der amerikanischen Soziologie beeinflußt. (25) Wir weisen in den Anmerkungen darauf hin, wie wir diese verschiedenen "Ingredienzien" in unsere Theorie einschmelzen. Natürlich sind wir uns vollkommen klar darüber, daß wir den ursprünglichen Intentionen der verschiedenen gesellschaftstheoretischen Schulen nicht voll gerecht werden und in unserem Zusammenhang auch gar nicht gerecht werden können. Aber wir sagten ja schon zu Anfang, daß wir hier keine Exegese und schon gar keine Synthese um der Synthese willen betreiben wollen. Wir sind uns auch bewußt, daß wir gelegentlich einem Denker Gewalt antun, wenn wir ihn in einen theoretischen Zusammenhang bringen, der ihm vielleicht höchst befremdlich vorgekommen wäre. Zu unserer Rechtfertigung sagen wir, daß wissenschaftliche Dankbarkeit allein noch keine wissenschaftliche Tugend ist. So zitieren wir auch TALCOTT PARSONS, an dessen Theorie wir zwar ehrliche Zweifel anmelden, dessen integrierende Absichten wir aber ebenso ehrlich teilen:
Der eine steht bei DURKHEIM in Die Methode der Soziologie, der andere bei MAX WEBER in Wirtschaft und Gesellschaft. DURKHEIM sagt: "Die erste und grundlegendste Regel besteht darin, die soziologischen Tatbestände wie Dinge zu betrachten" (27), und WEBER sagt: "Für die Soziologie (im hier gebrauchten Wortsinn, ebenso wie für die Geschichte) ist aber gerade der Sinn zusammenhang des Handelns Objekt der Erfassung." (28) Die beiden Thesen widersprechen einander nicht. Gesellschaft besitzt tatsächlich objektive Faktizität. Und Gesellschaft wird tatsächlich konstruiert durch Tätigkeiten, die einen subjektiv gemeinten Sinn zum Ausdruck bringen. Und selbstverständlich wußte DURKHEIM das eine so gut wie WEBER das andere. Es ist ja gerade der Doppelcharakter der Gesellschaft als objektive Faktizität und subjektiv gemeinter Sinn, der sie zur "Realität sui generis" [aus sich selbst heraus - wp] macht, um einen anderen zentralen Begriff von DURKHEIM zu verwenden. Die Grundfrage der soziologischen Theorie darf demnach so gestellt werden:
Anmerkungen 1) MAX SCHELER, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Bern 1926. Diese Aufsatzsammlung enthält SCHELERs grundlegenden Aufsatz zur Wissenssoziologie mit dem Titel "Probleme einer Soziologie des Wissens"; in kürzerer Form war dieser Aufsatz bereits 1924 in einem von SCHELER unter dem Titel "Versuche einer Soziologie des Wissens" (München-Leipzig 1924) herausgegebenen Sammelband des Forschungsinstitutes für Sozialwissenschaften in Köln erschienen. 2) Vgl. WILHELM WINDELBAND und HEINZ HEIMSOETH, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 1950, Seite 605f. 3) Vgl. ALBERT SALOMON, In Praise of Enlightenment, New York 1963; HANS BARTH, Wahrheit und Ideologie, Zürich-Stuttgart 1961; WERNER STARK, The Sociology of Knowledge, Chicago 1958, Seite 46f (dt. "Die Wissenssoziologie", Stuttgart 1960, Seite 39f. 4) BLAISE PASCAL, Pensées, Seite 294. 5) KARL MARX, Die Frühschriften (Hrsg. Siegfried Landshut), Stuttgart 1953; darin Seite 225f: "Nationalökonomie und Philosophie". 6) Zu MARX' Basis-Überbau-Modell vgl. KARL KAUTSKY "Verhältnis von Unterbau und Überbau", in. IRING FETSCHER, Der Marxismus, Frankfurt-Wien-Zürich 1966, Seite 112f; ANTONIO LABRIOLA, Die Vermittlung zwischen Basis und Überbau, Seite 116f; JEAN YVES CALVEZ, La pensée de Karl Marx, Paris 1956, Seite 424f (dt.: Karl Marx, Olten-Freiburg i. Br. 1964, Seite 365f. - Die wichtigste Neuformulierung des Problems stammt von GEORG LUKACS, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923. LUKACS' Interpretation der Dialektik bei MARX ist umso bemerkenswerter, als sie um fast ein Jahrzehnt der Wiederauffindung der "Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" von 1844 (vgl. Anm. 5) vorausging. 7) Für die Wissenssoziologie am wichtigsten sind von NIETZSCHE, "Zur Genealogie der Moral" und "Der Wille zur Macht". An Sekundärliteratur siehe WALTER A. KAUFMANN, Nietzsche, New York 1956. - KARL LÖWITH, Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1964; vgl. auch HANS BARTH, a. a. O., Seite 203f. 8) Eine der frühesten und interessantesten Verbindungen einer "Wissenssoziologie" zu NIETZSCHEs Denken findet sich bei ALFRED SEIDEL, Bewußtsein und Verhängnis", Bonn 1927. SEIDEL, ein Schüler von MAX WEBER, hat versucht, NIETZSCHE und FREUD für eine radikale soziologische Kritik des Bewußtseins auszuwerten. 9) Eine der überzeugendsten Darstellungen der Beziehungen zwischen Historismus und Soziologie findet sich bei CARLO ANTONI, Della storicismo alla sociologica, Florenz 1940 (dt.: Vom Historismus zur Soziologie, Stuttgart o. J.); vgl auch H. STUART HUGHES, Consciousness and Society, New York 1958, Seite 183f. Das für uns wichtigste Werk von DILTHEY ist: "Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Stuttgart-Göttingen 1958. 10) Eine ausgezeichnete Darstellung der SCHELERschen Auffassung von Wissenssoziologie findet sich bei HANS-JOACHIM LIEBER, Wissen und Gesellschaft, Tübingen 1952, Seite 55f; vgl. auch STARK, a. a. O. und öfter. 11) Zur allgemeinen Entwicklung der deutschen Soziologie in dieser Zeit vgl. RAYMOND ARON, La sociologie allemande contemporaine, Paris 1950 (dt. Die deutsche Soziologie der Gegenwart, 1965). Wichtige Beiträge aus dieser Zeit zur Wissenssoziologie finden sich bei SIEGFRIED LANDSHUT, Kritik der Soziologie, München 1929; HANS FREYER, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Leipzig-Berlin 1930; ERNST GRÜNWALD, Das Problem der Soziologie des Wissens, Wien 1934; ALEXANDER von SCHELTING, Max Webers Wissenschaftslehre, Tübingen 1934. Das zuletzt genannte Buch - noch immer die wichtigste Arbeit zur Methodologie MAX WEBERs - muß vor dem Hintergrund der Debatten über die Wissenssoziologie verstanden werden, die sich damals an die Formulierungen von SCHELER und MANNHEIM anschloß. 12) KARL MANNHEIM, Ideologie und Utopie, zuerst Bonn 1929. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Schriften von MANNHEIM zur Wissenssoziologie enthält der von KURT WOLFF herausgegebene und überzeugend eingeleitete Band, "Karl Mannheim: Wissenssoziologie", Neuwied 1964. Als Sekundärliteratur vgl. STARK, a. a. O.; HANS-JOACHIM LIEBER, a. a. O. 13) Diese Charakterisierung der beiden Ausgangsformulierungen der Wissenssoziologie stammt von LIEBER, a. a. O. 14) ROBERT K. MERTON, Social Theory and Social Structure, Chicago 1957, Seite 439f. 15) Vgl. TALCOTT PARSONS, "An Approach to the Sociology of Knowledge", in: Proceedings of the Fourth World Congress of Sociology (at Milan, Italy 1959), Löwen 1961, Bd. 4, Seite 25f; derselbe, "Culture and the Social System", in: PARSONS u. a. (Hg), Theories of Society, New York 1961, Bd. 2, Seite 963f. 16) Vgl. TALCOTT PARSONS, The Social System, Glencoe/Jllinois, 1966, Seite 326f (Erstauflage 1937). 17) Vgl. C. WRIGHT MILLS, Power, Politics and People, New York 1963, Seite 453f. 18) Vgl. THEODOR GEIGER, Ideologie und Wahrheit, Stuttgart 1953; derselbe, "Arbeiten zur Soziologie (Hg. PAUL TRAPPE), Neuwied 1962, Seite 412f. 19) Vgl. ERNST TOPITSCH, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, Wien 1958; derselbe, "Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft", Neuwied 1966. TOPITSCH steht unter dem Einfluß der rechtspositivistischen Schule von KELSEN. Zur Bedeutung des letzteren für die Wissenssoziologie vgl. HANS KELSEN, Aufsätze zur Ideologiekritik (Hg. ERNST TOPITSCH), Neuwied 1964) 20) Vgl. DANIEL BELL, The End of Ideology, New York 1960; KURT LENK (Hg), Ideologie - Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Darmstadt 1972; NORMAN BIRNBAUM (Hg.), The Sociological Study of Ideology, Oxford 1962. 21) Vgl. WERNER STARK, a. a. O. 22) Vgl. ALFRED SCHÜTZ, Collected Papers, Bd. I, Den Haag 1962, Seite 149. Das Gesperrte stammt von uns. 23) SCHÜTZ, a. a. O., Bd. II, 1964, Seite 121. 24) Über die Bedeutung der Soziologie von DURKHEIM für die Wissenssoziologie vgl. GERARD L. De GRÉ, Society and Ideology, New York 1943, Seite 54f; MERTON, a. a. O.; GEORGES GURVITCH, Problémes de la sociologie de la conaissance. Traité de sociologie, Paris 1960, Bd. 2, Seite 103f. 25) Aus der Richtung der "Symbolic Interactionists" steht der Wissenssoziologie am nächsten die Arbeit von TAMOTSU SHIBUTANI, "Reference Groups and Social Control", in ARNOLD ROSE (Hg), "Human Behaviour and Social Processes", Boston 1962, Seite 128f. Die Schule hat keine Verbindung zwischen der MEADschen Sozialpsychologie und der Wissenssoziologie gezogen. Das hängt mit der geringen Kenntnis von den Problemen der Wissenssoziologie in Amerika zusammen. Die theoretisch wichtigere Ursache ist jedoch in der Tatsache zu suchen, daß MEAD und seine Schüler kein adäquates Konzept der Gesellschaftsstruktur hatten. Aus diesem Grund scheint uns die Integration der Ansätze von MEAD und DURKHEIM so besonders wichtig. Wir möchten hier anmerken, daß (so wie die Gleichgültigkeit der amerikanischen Sozialpsychologen der Wissenssoziologie gegenüber sie an einer makro-soziologischen Theorie gehindert hat) die in Europa herrschende Gleichgültigkeit gegenüber MEAD bis heute eine ernsthafte Unterlassungssünde des neomarxististischen Denkens ist. Es entbehrt nicht der Ironie, daß neomarxistische Theoretiker noch jüngst eine Brücke zu FREUD gesucht haben - dessen Psychologie mit den anthropologischen Grundlagen des Marxismus völlig unvereinbar ist -, während sie der Theorie von MEAD mit ihrer Dialektik von Individuum und Gesellschaft, die ihren eigenen Grundlagen bei weitem mehr entsprechen würde, nicht die geringste Beachtung geschenkt haben. Ein Beispiel für diese merkwürdige Erscheinung, das noch nicht weit zurück liegt, ist GEORGES LAPASSADEs L'entrée dans la vie (Paris 1963) ein im übrigen höchst überzeugendes Buch, das sozusagen auf jeder Seite geradezu nach MEAD schreit. Wenngleich in einem anderen Zusammenhang geistiger Eigenbrötelei, gilt dasselbe für die jüngsten amerikanischen Anstrengungen, eine Annäherung zwischen Marxismus und Freudianismus zu erreichen. Ein europäischer Soziologe, der für die Gesellschaftstheorie eng und mit Erfolg an MEAD und die MEAD-Tradition anknüpft und sie in seinem theoretischen Denken fruchtbar gemacht hat, ist FRIEDRICH TENBRUCK ("Geschichte und Gesellschaft", Habilitationsschrift, Universität Freiburg). Er analysiert den sozialen Ursprung der Wirklichkeit und die strukturellen Bedingungen der Wirklichkeitserhaltung zwar in einem anderen Gesamtzusammenhang als dem unseren, aber in einer Weise, die sich mit unserer Anwendung und Fortführung MEADscher Gedanken trifft. 26) Vgl. TALCOTT PARSONS, The Structure of Social Action, Chicago 1949 27) Vgl. EMILE DURKHEIM, Les régles de la méthode sociologique, Paris 1950 (dt.: Die Regeln der soziologischen Methode, Neuwied 1965, Seite 115). 28) Vgl. MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, Köln-Berlin 1964, § 1, 9, Seite 10. 29) "Sachen" scheint das, was DURKHEIM mit "choses" meint, besser wiederzugeben als der in der deutschen Ausgabe von Les régles etc., die wir oben zitieren, benutzte Ausdruck "Dinge". |