ra-2 Die soziale IdeeDie soziale Frage    
 
EUGEN JÄGER
Der moderne Sozialismus
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"In Ländern, in denen der Grundbesitz sehr geteilt ist, wie in Frankreich und dem linksrheinischen Deutschland, will der Bauer von sozialistischen Plänen nichts wissen und Thiers konnte mit Recht am 13. Januar 1872 in der französischen Nationalversammlung sagen, hinter jedem Stück Land steht ein Bauer mit seinem Gewehr. Aber wo ein starkes ländliches Proletariat besteht, wie besonders in den Ländern mit geschlossenem Grundbesitz, kann die sozialistische Agitation unter Umständen sehr gefährlich werden. In solchen Gegenden bietet der Sozialismus alles auf, um die ländliche Arbeiterbevölkerung für sich zu gewinnen, aber es ist ihm bis jetzt nur in geringem Maß gelungen."

"Man will die Kirche auf breitester Gemeingrundlage erbauen, und vergißt dabei, daß man gar keine wirklichen Kirchengemeinden mehr hat und schon vor Vollendung des Baus die gehätschelten und mit liberalen Schmeichelworten überschütteten Kirchenglieder jegliche kirchliche Grundlage zertrümmert haben könnten; man ringt in der Schule nach Selbständigkeit; die Tochter hält sich für mündig und lechzt danach, das verhaßte Joch der Mutter abzuschütteln; das Parteistichwort: Emanzipation der Schule von der Kirche! absorbiert fast alle öffentliche Tätigkeit, und läßt Gedanken zurücktreten, daß die Kräfte der Volksschule dazu berufen sind, die sittlichen Gefahren des Volkes abzuwehren und dem Volksleben einen Geist einzuhauen, welcher allem Umsturz der Ordnung mutig die Stirn zu bieten vermag."

"Die kleinkrämerische Bewirtschaftung ist durch die Allmacht des Kapitals, durch den Einfluß der Wissenschaft, den Gang der Tatsachen und das Interesse der Gesamtgesellschaft unwiderruflich zum allmählichen Tod verurteilt. Das Mittel der Erlösung liegt in der Vereinigung zur gemeinsamen Forderung des Rechts der Kleinbesitzer und zur genossenschaftlichen Bewirtschaftung des ihnen gehörenden Bodens. Das Kapital ist das Erzeugnis der gemeinsamen Arbeit aller vergangenen Zeiten; es entstand aus der Anhäufung unbezahlter Löhne für erzeugte Arbeit. Ein Kapitalist kann daher nur mit unrechtmäßig erworbenen Kaufmitteln unrechtmäßig erworbenen Grund und Boden erkaufen und deshalb aus doppelten Gründen niemals Anspruch auf rechtmäßiges Eigentum haben."

Viertes Kapitel
Die religiöse Stellung
des modernen Sozialismus

1. Die ganze sozialistische Bewegung ist, wo sie sich vollkommen ausgestaltet hat, durchaus materialistisch und atheistisch. Sie ist es schon deshalb, weil die positive Religion der stärkste Feind des Sozialismus, das Bollwerk gegen alle Umsturzlehren ist. Die Heilighaltung des Privateigentums, der Gehorsam gegen die weltliche und geistliche Autorität werden von ihr mit aller Eindringlichkeit als göttliches Gebot gelehrt. Gegenüber ungerechtem und absolutistischem Auftreten der Behörden und Regierungen erlaubt das positive Christentum das Recht und befiehlt sogar unter Umständen die Pflicht des passiven Gehorsams und des friedlichen Widerstandes; dagegen verwirft es jede Empörung und jede gewaltsame Revolution. Daher kann ein Arbeiter von positivem Glauben niemals Sozialist sein. Wohl kann er die Arbeiterbewegung mitmachen, aber nur soweit sie Ziele erstrebt, die mit seiner religiösen Anschauung verträglich sind; er darf das Recht des Eigentums nicht antasten, sich nicht zur Empörung hinreißen lassen und muß sich auch in der Werkstatt den berechtigten Anordnungen des Arbeitsherrn fügen. Daß der Sozialismus daher jeder positiven Religion feindselig sein muß, begreift sich; mit Recht sagt Dr. BORUTTAU, der Sozialismus sei auf religiösem Gebiet der Atheismus; ferner sagt er (Volksstaat 1871, Nr. 28):
    "Die Hoffnung auf ein befriedigendes Gelingen der sozialistischen Revolution ist eine schwärmerische Utopie, solange man es verabsäumt, durch allgemeine und gründliche Volksaufklärung den Gottesaberglauben auszurotten. Da dieses zu tun niemand anderes als die Sozialisten selber fähig oder willens ist, so ist es unsere Pflicht, diese Areit mit Eifer und Hingebung zu erfüllen und niemand anders ist des Namens eines Sozialistsen würdig, als wer, selbst Atheist, der Ausbreitung des Atheismus mit allem Eifer seine Anstrengung widmet. Die Redaktion des "Volksstaat" wird, wenn sie konsequent sein will, zugestehen müssen, daß es unmöglich ist, die Notwendigkeit der gegen den Staat gerichteten politischen Agitation anzuerkennen und gleichzeitig die Notwendigkeit der gegen die Kirche (die Fundament und Unterbau des Staates ist) gerichteten, der religiösen Agitation zu leugnen."
Daß der moderne Sozialismus durchaus atheistisch ist, liegt auf der Hand; ein flüchtiger Blick in die Zeitungen und Schriften, die im sozialistischen Lager erscheinen und massenhaft unter den Arbeitern verbreitet werden, genügt, um sich davon zu überzeugen. Auch die Schriften von MARX und LASSALLE fußen auf demselben Boden. Für den modernen Sozialismus, wenn er sich konsequent entwickelt hat, besteht der Begriff eines persönlichen Gottes nicht mehr, der sozialistische Staat der Zukunft ist der einzige Gott. Allerdings wurde der Atheismus auf den verschiedenen Kongressen noch nicht als Resolution aufgestellt und zum Parteidogma erhoben. Dennoch aber hat der "Volksstaat" (1871, Nr. 75) Recht, wenn er sagt, der Atheismus der "Internationale sei nicht durch ihre Satzungen bedingt, bestehe aber doch bei den meisten Internationalen. Auf dem Mainzer Kongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei wurde offen erklärt, daß die Parteimitglieder "durch Annahme des Parteiprogramms faktisch mit jedem religiösen Bekenntnis gebrochen hätten."

Indem die sozialistischen Arbeiter atheistisch werden, folgen sie nur dem Beispiel, das ihnen ein Teil der "Bourgeoisie" gibt. Die Massen sehen, daß der Gottesbegriff so vieler Mitglieder der höheren Stände nur noch ein pantheistischer ist, in dessen weiten Falten jede Rechtsverletzung und die laxeste Moral sich einnisten und rechtfertigen kann. Die niederen Stände greifen diese Ideen auf und kommen, durch das Beispiel von oben verleitet, ebenfalls zum Pantheismus, der sich bei ihnen rascher als in den höheren Schichten der Gesellschaft zum Atheismus und Materialismus, seinen letzten praktischen Konsequenzen, entwickelt. Daß die Massen, denen dadurch der Himmel genommen ist, umso ungestümer und gewaltsamer die Erde reklamieren, wird niemanden Wunder nehmen.

Bei der Propaganda für die sozialistischen Ideen wird in der Regel die religiöse Stellung der Arbeiter sehr vorsichtig berührt; es wird meist betont, daß die Forderungen der Arbeiter mit den religiösen Anschauungen durchaus nichts zu tun hätten. Religion und Kirche werden zur Privatsache jedes Einzelnen erklärt, auf die man keinen Zwang ausübt, die sich aber auch jeder Beziehung auf das praktische und politische Leben zu enthalten hätten. Als ob dies je möglich wäre und als ob nicht des Menschen Anschauungen und Handlungen durch seine Stellung zu den höchsten Fragen der menschlichen Existenz ganz wesentlich beeinflußt werden müßten. Ist die Religion auf das Innerste des Menschen zurückgedrängt, und jeder Äußerung nach außen entkleidet, so verliert sie notwendigerweise auch ihren Einfluß auf die Haltung der Menschen gegenüber dem Eigentum, der Ehe und der Autorität. Dadurch werden die Grundpfeiler der Gesellschaft allmählich in den Augen der zum Sozialismus neigenden Arbeiter wankend und hinfällig. Das Verhalten des Menschen gegenüber seinesgleichen, die Stellung des Einzelnen in seiner ganzen Lebenssphäre wird zuletzt nur noch bestimmt durch die materialistischen Lehren des Sozialismus. Das positive religiöse Bekenntnis reduziert sich auf einige unklare Vorstellungen, auf allgemeine deutungsvolle, aber meist nichtssagende Worte, auf schöne Phrasen ohne Kern; damit aber weiß der Arbeiter am allerwenigsten etwas anzufangen. So wird mit eiserner Konsequenz alles Positive vernichtet, als Aberglaube, Heuchelei und Unsinn erklärt, der sich der Wissenschaft, besonders der Naturwissenschaft gegenüber nicht halten könne. Der religiöse Glaube wird nicht bloß mit souveräner Verachtung, sondern mit wahrem Haß behandelt. So sagt der "Vorbote" (1871, Nr. 7, Seite 100): "Wer Wissenschaft und Religionsglauben in Harmonie bringen will, dessen Hirnfunktion ist schon im Voraus arg in Disharmonie gebracht". Ähnliche Stellen liefert die Lektüre der sozialistischen Erzeugnisse in Menge. Durch eine konsequent mit diesen Gedanken getränkte Literatur werden die Massen schließlich zum rohesten Nihilismus gebracht, die pflegen nur noch den "Kultus der gesunden Sinnlichkeit", des ausschweifenden Genusses und der maßlosesten Begierde. Mit dem Verschwinden der Religion verlieren die sozialen Revolution greift siegreich um sich und erfüllt die Arbeiter immer mehr mit unauslöschlichem Haß gegen jeden, der mehr ist und mehr hat, als der in solcher Weise verführte "Proletarier".

Dem wahren Sozialisten gilt die positive Religion nur als ein Gängelband, an welchem die Regierungen und herrschenden Stände die Massen in Zucht und Ordnung halten; als ein Mittel, durch welches die Grundpfeiler der bisherigen Gesellschaft, Eigentum und Autorität; gestützt werden sollen. Die Behandlung der Religion von Seiten vieler Mitglieder der "Bourgeoisie" und von Seiten der meisten Regierungen, die Einrichtung der Staatsreligionen und Landeskirchen gibt Anhaltspunkte genug zur Begründung dieser Anschauung. Im Hinblick auf die kirchlichen Konflikte der Gegenwart sagen die Sozialisten ungefähr Folgendes: Bisher haben Fürsten, Adel, Patrizier, Bürger und "Pfaffen" sich in die Herrschaft über die arbeitenden Klassen durch Kompromisse geteilt, wobei sie die Religion als Zucht- und Bändigungsmittel der Massen benutzten; jetzt glauben Bourgeoisie und Regierungen, die "Pfaffen" entbehren und ihre Herrschaft durch die Gewalt, das Strafgesetz und die "Bildung" allein behaupten zu können. - Interessant und für die Sozialisten charakteristisch ist der Gedankengang einer für die Verbreitung in Arbeiterkreise bestimmten Broschüre: "Die religiöse Frage und die Arbeiter, eine Stimme aus der Sozialdemokratie;", Leipzig 1869. In dieser Schrift wird den Arbeitern geraten, sich dem Geist der neuen Kultur entsprechend den freireligiösen Vereinigungen anzuschließen, und dann wird die Stellung der Arbeiter diesen Genossenschaften gegenüber näher geprüft. Der Protestantismus sei früher revolutionär gewesen und habe die ganze Politik säkularisiert, aber die protestantischen Fürsten hätten bald den Bürgerstand vergessen, dem sie ihre Unabhängigkeit von Kaiser und Papst zu verdanken hatten; der Bürgerstand sei allmählich zu der Idee gekommen, daß die selbständige Macht der Fürsten nicht dem Willen Gottes, sondern dem Willen der Bürger zu verdanken ist. Daher die englische und die große französische Revolution. Aber auch die Bourgeoisie, nachdem sie die Menschenrechte und die Herrschaft der Vernunft proklamiert, sei erschrocken bei dem Gedanken, daß auch der vierte Stand diese für sich beanspruchen kann, und sagt nun: Gott lebt noch, wer wird noch weiter fortregieren, aber unter Aufsicht und Kontrolle der Bourgeoisie. Dies sei geschehen, damit sich der Arbeiterstand mit der Gleichheit der abstrakten Rechte begnügt und nicht auch faktisch die soziale Gleichheit anstrebe. Daher seien, damit das Gesetz gesichert sei, Gottesdienst, Papsttum und Königtum wieder hergestellt worden, in Wirklichkeit aberb sollte der König den Willen der besitzenden Bürgerschaft zur Ausführung bringen, unter dieser Bedingung sei er wieder eingesetzt worden, er sollte bloß scheinbar herrschen. Aber die Bourgeioisie wird sich dennoch hüten, die Kirchen zu stürzen, denn wenn man am Thron Gottes rüttelt, ist dem Menschen nichts mehr heilig, außer seinen Wünschen, nicht einmal der Besitz. Der gegenwärtige Streit zwischen Staat und Kirche sei daher nur ein Scheingefecht verbündeter Unterdrücker, das den Arbeiterstand nichts angeht. Der Protestantismus sei reaktionär geworden und habe ebensowenig eine Zukunft, wie der Katholizismus. Die Arbeiter dürften daber auch mit den freien Gemeinden in jedem Menschen einzig den Menschen, d. h. in wirtschaftlicher Beziehung den Arbeiter achten und von einem durch Gott verordneten Besitzstand nicht wissen wollen. Zum Schluß wird darüber geklagt, daß so viele Vertreter dieser freien Gemeinden für das göttliche Recht des Besitzes seien und daher dem Arbeiter feindlich gegenübertreten. Die freien Gemeinden seien mit Ausnahme eines kleinen Bruchteils Stützen des Besitztums von Gottes Gnaden. - Wie man sieht, ist die Frage über das Eigentum der Kardinalpunkt des Sozialismus.

2. Hier mögen noch einige Betrachtungen über die Stellung der Ehe im künftigen sozialistischen Staat Platz finden. Die Ehe muß notwendig aufhören, die feste Schranke gegen die Leidenschaften zu bilden; sie artet unter der Wirkung der die sozialistische Gesellschaft durchdringenden Ideen von selbst in die allgemeine Prostitution aus. Allerdings hat sich der moderne Sozialismus in seinen berufenen Vertretern noch nicht amtlich über die Ehe ausgesprochen. Aber es ist klar, daß ein System, welches auf Atheismus und Materialismus beruth, zu keinen anderen Konsequenzen führen kann als die erwähnten. Man hat sich bis jetzt mit anerkennenswerter Klugheit der Behandlung dieser Frage, die von jeher für alle religiös-politischen Anschauungen einen Kardinal- und Wendpunkt bildete, fern gehalten. Doch haben sich bereits verschiedene Anklänge nach der von uns angedeuteten Richtung hin bemerkbar gemacht. Die Äußerungen in einer Versammlung zu Berlin haben wir bereits berichtet. Bei Gelegenheit einer Vereinigung von Anhängern der "Internationale" in Madrid am 22. Oktober 1871 ergrif eine gewisse GUILLERMINA ROSAS das Wort; sie vedammte (Vorbote 1871, Nr. 11, Seite 170) die Moral der heutigen Mittelklasse, die ihren Besitz aus dem Schweiß des Proletariats preßt, wie die Moral der Aristokratie, die ihre Vorrechte aufgebaut hat aus dem Blut der Bürger; sie erklärte sich als Gegnerin jedes Ehegesetzes; einen Gott werde sie nur dann anerkennen, wenn derselbe sinnlich wahrnehmbar vor sie hintrete mit den Worten: "Ich bin dein Gott".

Die Familie hört auf, ein selbständiges und in ihrer Sphäre unabhängiges soziales Wesen zu sein, sie wird durch den Staat rechtlos gemacht, da dieser ihr jede freie Verfügung über die Kinder entzieht. Der sozialistische Staat begnügt sich nicht mehr mit dem Oberaufsichtsrecht, das dem Staat im Namen des allgemeinen und öffentlichen Wohles über die Familien zusteht. Weil das Individuum nur im Staat und durch denselben existiert, so wirft dieser sich ganz besonders zum Herrn der heranwachsenden Generation auf, um diese nach seinem Belieben mit der Vernichtung jeder persönlichen und Gewissensfreiheit in seinem Sinne zurechtzustutzen. Hierbei folgen die Sozialisten nur den Bestrebungen des fortgeschrittenen "Liberalismus", der ja auch jede Freiheit dem allmächtigen Staatsgötzen schlachtet. In einer auf Kollektivbesitz, auf kommunistischer Bewirtschaftung und Verteilung des Ertrages ruhenden Gesellschaft läßt sich die Frage der Jugenderziehung auch gar nicht anders behandeln; das Prinzip, daß die Kinder dem Staat und nicht den Eltern gehören, ist nur die Anwendung des kommunistischen Gedankens auf dieses Gebiet. Der sozialistische Staat muß eben nach allen Richtungen hin ein Zwangsstaat sein und kann und kann dieses Prinzip nicht verleugnen, ohne sich selbst der Auflösung preis zu geben.

2. Auch die Unterrichtsfrage - so viel umkämpft im modernen Staat - verdient hier noch eine kurze Erwähnung, da sie sich ebenfalls von der Stellung der Gesellschaft zu den religiösen Ideen nicht trennen läßt. Im Allgemeinen ist das Unterrichtssystem des modernen Sozialismus noch wenig entwickelt, doch haben sowohl die Kongresse der "Internationale" als auch Äußerungen im "Neuen Sozialdemokrat" die großen Grundzüge angegeben. Der Unterricht der Zukunft ruht auf dem vollkommensten Zwang; die Gleichheit soll auch auf diesem Gebiet gewaltsam herbeigeführt und die allgemeine geistige Verflachung, die ohnehin schon so weit gediehen ist, künstlich befördert werden. Der Unterricht soll für alle gemeinsam sein, es darf in der Erziehung kein Unterschied mehr bestehen zwischen bemittelt und unbemittelt; alle werden vom kommunistischen Staat, dessen Eigentum die Jugend ist, gleichmäßig nch allen Richtungen hin ausgebildet, damit weiterhin keiner mehr über die anderen hervorrat, damit nicht das Reich der Gleichheit durch Unterschiede in Kenntnissen und Bildung gestört wird. Ja, man glaubt sogar, wenn dieses Unterrichts- und Erziehungssystem einige Zeit gedauert hat und mehrere Generationen zurecht dressiert sind, daß sich dann auch die natürlichen Unterschiede der Menschen vermindern und sie, entsprechend den von neueren Naturforschern aufgestellten Hypothesen, mit immer größerer Gleichheit in Begabung und Charakter das Licht der Erde erblicken. So hofft die kommunistishe Gesellschaft, ihre Grundsätze selbst den noch ungeborenen Geschlecht beibringen zu können. Dem geschilderten Unterrichtssystem liegt derselbe Gedanke zugrunde, der sich praktisch als allgemeines Stimmrecht, sozialökonomisch als Kommunismus und sittlich als gegenseitige Prostitution kund gibt. Seitdem die große Wohltätigkeit früherer Jahrhunderte nachgelassen hat, ist die höhere Bildung heutzutage leider nur zu sehr ein Privileg der höheren Geburt, der bevorzugten materiellen Stellung. Der Sozialismus hat nicht Unrecht, wenn er sich gegen diese künstliche Begünstigung wendet, die häufig mittelmäßigen oder ganz talentlosen Menschen zugute kommt; er treibt aber die Sache in das andere Extrem, indem er vom Kommunismus Abhilfe begehrt.

Nach der sozialistischen Anschauung hat der Staat, d. h. die Gesamtheit allein das Recht, Unterricht zu erteilen; ihm gehört die künftige Generation mit Leib und Seele. Weder die Familie, noch freie Vereinigungen, oder gar vom Staat ganz unabhängige Kirchengenossenschaften haben fernerhin bei Unterricht und Erziehung etwas mitzureden, denn Staat und Gesellschaft fallen absolut zusammen. Da im kommunistischen Staat alle Menschen möglichst gleichmäßig arbeiten müssen, so wird die Jugend in allem gleichmäßig unterrichtet, in Wissenschaft, Moral und produktiven Tätigkeiten. Dies faßt sich zusammen in dem auf den Kongressen der "Internationale" so sehr betonten Ausdruck  Enseignement intégral  [vollständige Lehre - wp]; Wissen und Können, Kopf- und Handarbeit sollen auf das Innigste vereinigt sein.

Selbstverständlich ist der Unterricht im sozialistischen Staat losgelöst von jeder religiösen Idee; anstelle derselben tritt die reine Philosophie. Da es aber doch zu sehr im menschlichen Herzen liegt, einen Kultus zu pflegen, so wird der Kultus der großen Männer eingeführt. Der Unterricht muß obligatorisch sein und es ist für den kommunistischen Staat nur konsequent, wenn er auch die gesamten Kosten dieser Erziehung auf die öffentlichen Ausgaben übernimmt. Die französischen Sozialisten bezeichnen dies als die  indemnité alimentaire  [Verpflegungszulage - wp], und diese ist streng genommen nur eine natürliche Folge der allgemeinen Schulpflicht. Der auf dem Kommunismus beruhende Staat kann in dieser Beziehung viel konsequenter sein, als der "moderne" Staat, bei welchem der obligatorische Schulbesuch immer kränkelt, solange die Eltern ihre Kinder noch für den Erwerb des täglichen Brotes benutzen müssen. Anders im sozialistischen Staat, wo ohnehin jeder auf Kosten der Gesamtheit lebt, weil die Arbeit zwangsweise und gemeinsam ist.


Fünftes Kapitel
Die Berechtigung zur Revolution

1. Der moderne Sozialismus tritt mit der Prätention auf, im Gegensatz zum bestehenden positiven Rechtszustand in Staat und Gesellschaft das unverjährbare, in der Vernunft gegebene und durch die sozialistische Wissenschaft klar zu machende Naturrecht zu erstreben. Dieses Naturrecht, so wiie er es auffaßt, führt ihn zur Republik des allgemeinen souveränden Stimmrechts, zum Kommunismus und vor allem zur Lehre, daß bloß die Arbeit Wert erzeugt. Daher wird der Sozialismus die Rechtsverbindlichkeit der Grundlagen unseres bestehenden sozialen und politischen Zustandes niemals anerkennen, sondern ihnen gegenüber stets auf sein Naturrecht verweisen. Die Sozialisten erklären die modernen Verhältnisse als der natürlichen Organisation der Gesellschaft widersprechend und suchen daher dieselben zu beseitigen,  entweder mit dem Gesetz oder gegen das Gesetz! 

Diese Betonung, die der Sozialismus dem natürliche Recht zuteil werden läßt, entspringt einer vernünftigen und wissenschaftlichen Reaktion gegen jene besonders in Deutschland einst so einflußreiche philosophische Rechtsanschaauung, welche alles Recht nur positive sein ließ; sie erkannte kein auf ewigen Vernunftnormen ruhendes, daher natürliches und unverjährbares Recht an; für jene Leute entsprang alles Recht und alle Moral lediglich dem positiven, menschlichen Willen und dadurch wurde nur dem Absolutismus und Cäsarismus gedient. In Wirklichkeit aber fußt alles positive Recht auf dem natürliche, baut sich erst auf demselben auf und darf hinsichtlich der Grundfragen ihm niemals widersprechen. Daß der Sozialismus gegenüber der Schrankenlosigkeit in diesen Dingen wieder auf das unverrückbare Naturrech hingewiesen ist, ist eines seiner Hauptverdienste, wenn auch die sozialistische Auffassung des Naturrechts als eine ganz irrige zu bezeichnen ist. Der Satz, daß das Naturrecht und die natürliche Gerechtigkeit über dem positiven Recht steht, ist unleugbar richtigt; er bildet ja eine der hauptsächlichsten Einwendungen gegen den Sozialismus, der durch seine Bestrebungen gerade jene Organisation der Sozietät, wie sie sich aus der Natur des Menschen ergibt, in ihren Grundlagen vernichten will. Das Naturrecht ist ferner das Bollwerk der Freiheit gegenüber der Willkürherrschaft von Regierungen oder Parteien. Was aber die Sozialisten als Forderungen der natürlichen Gerechtigkeit ansehen, wäre die Vernichtung der Ordnung und des Fortschritts, der Untergang der Zivilisation.

Man kann ohne Widerspruch zu fürchten behaupten, daß der Bundesrat der spanischen Föderation einen gemeinsamen Gedanken des modernen Sozialismus aussprach, indem er am 17. Oktober 1871 die stolze Erklärung gab: "Wenn die Internationale-Arbeiter-Assoziation Gerechtigkeit schaffen will und das Gesetz  dem  entgegensteht, so steht die "Internationale" über dem Gesetz. Die Arbeiter haben in undiskutierbares Recht, ihre Bestrebungen ins Werk zu setzen; sie werden ihr Ziel erreichen  mit  dem Gesetz oder gegen das Gesetz."'

Aus der Behauptung, auf dem Naturrecht zu fußen, nur die natürliche Gerechtigkeit verwirklichen zu wollen, leitet der Sozialismus auch seine Berechtigung zur Revolution ab. Die Umwälzung der alten Gesellschaft ist herbeizuführen "friedlich wenn möglich, gewaltsam, wenn nötig." Daß der moderne Sozialismus seinen Revolutionsbegriff in dieser Weise auffaßt, darüber lassen die Kundgebungen des spanischen Zweiges der "Internationale", die Äußerungen LASSALLEs, sowie die Verhandlungen des Leipziger Hochverratsprozesses nicht den mindesten Zweifel. In klassischer Weise hat dies LASALLE ausgesprochen, indem er sagte: Die soziale Revolution wird kommen "entweder in voller Gesetzlichkeit, und mit allen Segnungen des Friedens, wenn man die Weisheit hat, sich zu ihrer Einführung zu entschließen bei Zeiten und von oben herab - oder aber sie wird innerhalb irgendeines Zeitraums hereinbrechen unter allen Konvulsionen der Gewalt, mit wild wehendem Lockenhaar, erzner Sandalen an ihren Sohlen!" Daher wird der Sozialismus, sobald die Massen in seinem Sinn fanatisiert sind, zur Verwirklichung seiner Ziele vor nichts zurückschrecken, denn er glaubt dabei für eine heilige Sache zu wirken. Mit richtigem Gefühl haben sich alle konsequenten und wahren Sozialisten für die Pariser Kommunie erklärt und die Verteidigung alles dort Vorgefallenen übernommen. Die internationale Solidarität der revolutionären Begeisterung konnte sich nicht unwiderleglicher offenbaren.

Der moderne Sozialismus weiß sehr wohl, daß sein Ziel auf dem Boden der heutigen Gesellschaft und des gegenwärtigen Staates nimmermehr erreicht werden kann; alle Anstrengungen, das soziale Problem auf diesem Boden zu lösen, werden von seiner Seite nur mit Hohn behandelt. Jedes Entgegenkommen der herrschenden und besitzenden Klassen hinsichtlich Arbeitszeit und Lohnhähe, seien die Zugeständnisse noch so groß, werden höchstens als Abschlagszahlungen behandelt. Jede Annäherung an seine Bestrebungen in Bezug auf politische Freiheit oder Steuerfragen ermuntert ihn zu noch weiter gehenden Foderungen, zu noch schärferer Formulierung seiner Endziele. An eine friedliche Erreichung derselben aber können die Vertreter des Sozialismus, wenn sie die Lage ernsthaft prüfen, unmöglich selbst glauben. LASSALLE hatte sich hierüber in doktrinärer Weise anfangs einer Täuschung hingegeben, bald aber hätte auch er zur Einsicht kommen müssen, daß er einzig durch einen gewaltsamen Umsturz das Ziel erreichen kann, wenn er nicht - was wahrscheinlicher gewesen wäre - schon vorher resignierend und voller Verachtung gegen den Arbeiterstand, der seinem Ruf nicht in Masse gefolgt war, von der Agitation zurückgetreten wäre. Die Regierungen werden in Einheit mit sämtlichen höheren und besitzenden Ständen alle verfügbaren Mittel anwenden, um sich zu erhalten; aber auch abgesehen davon ist es ganz unmöglich, die Massen der Besitzlosen für die soziale Revolution zu gewinnen, solange die Achtung vor dem Eigentum und der Gehorsam gegen die staatliche Autorität durch die Religion sanktioniert sind. Es gehört allerdings nicht zu den Unmöglichkeiten, nicht einmal zu den Unwahrscheinlichen, daß sich da oder dort (selbst auf friedlichem Weg) eine sozialistische Autorität aufwirft und ihren Hexensabbath aufführt. Doch kann dies nur in kleineren Verhältnissen oder in besonders ungünstiger Lage des Staates geschehen. Da nun der Sozialismus unmöglich resignieren wird, wenn er die Forderungen der angeblich natürlichen Gerechtigkeit nicht in friedlicher Weise erreichen kann, so bleibt ihm bloß der Weg des gewaltsamen Umsturzes. Auch hat der Sozialismus noch niemals, so wenig wie der "Liberalismus", eine prinzipielle Abneidung gegen diesen Weg kund gegeben. Aus Klugheits- oder Opportunitätsrücksichten hat er vielleicht diese und jene Empörung verurteilt, niemals aber die Revolution ansich. Ja seine Vertreter haben schon wiederholt betont, daß jedes Epoche machende Prinzip bloß durch die Gewalt in's Leben trat, daß jede neue Weltwende mit Blut inauguriert wurde. Daher schreibt der "Neue Sozialdemokrat" (1871, Nr. 17). "Soll die Arbeiterklasse warten, bis die Bourgeoisie  freiwillig  ihre Vorrechte preisgibt - das heißt bis in alle Ewigkeit warten - oder soll sich die Arbeiterklasse zum  Kampf  organisieren, um, zur Herrschaft gelangt, jene Vorrechte aus der Welt zu schaffen und somit allen Klassen und aller Ausbeutung ein Ende zu machen? Letzteres ist der einzige Weg, welchen die Arbeiterpartei als richtig anerkennt."

Im "Volksstaat" (1871, Nr. 89) spricht Dr. BORUTTAU von jenen Sozialisten, welche die Enthaltung von der Politik verlangen; er sagt: das Hauptargumente dieser Leute ist "der Hinweis auf das Gefühl des Widerwillens, das man dagegen empfindet, mit einem Feind mit gütlichen Mitteln weiter zu verhandeln, der uns bereits mit bewaffneter Gewalt gegenüber gestanden und nach gewonnenem Sieg dieselbe so grausam mißbraucht hat; es sei eine Würdelosigkeit, wenn ein Teil der Sozialisten fortfährt, mit den Vertretern der "Ordnung" über politische Rechte zu verhandeln, nachdem dies längst bis zum Überdruß geschehen und der hinlänglichste Beweis geliefert ist, daß unser Gegner niemals seinen Willen ändern wird, vor einer anderen Macht als der Gewalt des Schwertes zu weichen."

Man würde sich aber sehr irren, wenn man glaubte, der Sozialismus werde unter allen Umständen und um jeden Preis losschlagen. In allzu tolle Unternehmungen wird man sich nicht einlassen. Der Pariser Aufstand hatte bei der damaligen Lage der Stadt und Frankreichs wohl die meisten Chancen fürs Gelingen; man wird aber in Zukunft vielleicht noch besser seine Zeit abzuwarten suchen, wie in der Vergangenheit. So sagt der Genfer "Egalité" vom 22. Januar 1870: "Zwei Strömungen sind noch vorhanden in der Volksmasse: die eine wird gebildet von den Männern der Vergangenheit und würde sich zu einer Revolution um jeden Preis treiben lassen; die andere, aus der jungen Generation zusammengesetzt, nähert sich der "Internationale"; sie will keine Abenteuer suchen, ehe nicht die Kräfte gut organisiert sind, damit die Sache der Arbeit nicht ein für allemal betrogen werde." Gerade in Genf, wo der Sozialismus ungefähr 5000 Anhänger zählen könnte, wäre es nicht schwierig, bei Einigkeit, guter Organisation und zumal bei zuverlässiger Führung durch einen Handstreich im geeigneten Augenblick das Staatsruder zu ergreifen.

2. Weil sich der Sozialismus für einen Vertreter der natürlichen Gerechtigkeit gegenüber der in der modernen Gesellschaft herrschenden "Ausbeutung, Sklaverei und Untertdrückung" hält, so wohnt seinen Anhängern etwas Fatalistisches inne. Sie sind vom endlichen Sieg ihrer Sache felsenfest überzeugt und es herrscht bei ihnen nicht der mindeste Zweifel, daß sich der sozialistische Staat früher oder später auf den Trümmern der heutigen Gesellschaft aufbauen müsse. Dieser Fatalismus, der sich mit Pantheismus paart, macht eine sozialistische Revolution so gefährlich; die Arbeiter glauben unerschütterlich an die Worte ihrer Führer und gehen ganz darin auf. Verstärkt wird der fatalistische Zug im modernen Sozialismus durch die Idee von der unbegrenzten logischen Entwicklung der Dinge, wie sie von HEGEL und seinen Schülern erfunden wurde. LASALLE hat diesen pantheistischen Gedanken im vollsten Umfang angenommen und daraus den unaufhaltsamen und vollen Sieg des Sozialismus als eine logische Notwendigkeit gefolgert. Gemäß jener Lehre ist jedes Zeitalter kraft eines inneren Dranges ein neuer Fortschritt, eine höhere Ausgestaltung des wahren Menschentums, eine vollendetere Form der Freiheit und Sittlichkeit. In gewissen, wenn auch beschränkten Sinn ist dies richtig und ein solches Ziel sollte jeder sozialpolitischen Tätigkeit innewohnen. Pantheistisch wird diese Anschauung dadurch, daß sie jene Weiterentwicklung der Menschheit notwendig und immanent sein läßt. Schließlich trifft man auf die Schranke des Privateigentums als Hindernis der vollen sozialen Freiheit sowie als Ursache der "Ausbeutung" und der "Knechtschaft". Auch die Beseitigung dieser Schranke folgt mit der Notwendigkeit eines Fatums aus jener pantheistischen Weltanschauung. Daher will der Sozialismus nun der letzte und größte Fortschritt sein, er will das Schlußglied an die lange Entwicklungsreihe anschmiegen, indem er die Befreiung der "Enterbten" predigt. Diesem Gedanken entsprechend, wird die erste französische Revolution als ein ungeheurer Fortschritt, als die Befreiung der Bourgeoisei gepriesen; nun aber sei auch dieser Stand reaktionär geworden, indem er sich der Befreiung der Arbeit, dem Aufgehen aller Klassen in die eine große Menschheit und damit der Aera des höchsten Glücks widersetze. Als Beispiel für die pantheistische Anschauungsweise des Sozialismus diene hier noch der "Neue Sozialdemokrat", der (1871, Nr. 74) schreibt:
    "Die Sozialisten passen jede ihrer sozialpolitischen Handlungen und Organisationen ihrem Grundprinzip an, nämlich der Auffassung, daß die Weltgeschichte in ihrer Weiterentwicklung notwendig zu einer sozialen Umwälzung führt, welche die Ausbeutung des vierten Standes durch den jetzt herrschenden dritten befestigt, indem anstelle des Kapitalbesitzes die Arbeitsleistung das maßgebliche Element im gesellschaftlichen Leben wird. Auf dieses Endziel muß notwendig das Streben einer jeden Arbeiterpartei gerichtet sein, wenn sie nicht des gemeinsamen Vorwärtsschreitens mit der geschichtlichen Bewegung sehr schnell verlustig gehen und sich überleben will. Andererseits ist es aber barer Unsinn, zu glauben, es sei möglich, der weltgeschichtlichen Bewegung vorauszueilen und mittels einer Zauberformel die herrschende Gesellschaft zu stützen, bevor sie durch eine innere Entwicklung ihr Weiterbestehen selbst unmöglich gemacht hat. An diesem letzten Fehler ist der sogenannte sektiererische Sozialismus gescheitert, welcher besonders in Frankreich häufig auftauchte und bald gewaltsam durch Verschwörungen und Putsche, bald friedlich durch einen für unwiderstehlich gehaltenen Aufruf an die öffentliche Meinung, wie z. B. CABETs Bestrebungen es dartun, im Flug dem Sozialismus zum Sieg verhelfen zu können glaubte."
Der Gedanke von der fortschreitenden Entwicklung der Menschheit zu immer höherer Kultur hat eine große Berechtigung, aber in pantheistischer Weise aufgefaßt, wie es die deutsche Philosophie getan hat, konnte er nur schaden. Es gibt gewisse Punkte und Grundformen in der Gesellschaft, über welche jene Entwicklung nicht hinaus darf, ohne antisozial zu werden, ohne den Gang jener Weiterentwicklung zu immer höherer Kultur und Zivilisation abwärts statt aufwärts zu lenken. Wir vermögen daher in der Weise, wie unsere Philosophie jenen Satz angewendet hat, nur ein sehr zweideutiges Geschenk zu sehen. Die Gesellschaft hat alle Mühe, die auf solche Weise geweckten Geister wieder zu bannen und wir hegen starke Zweifel, ob ihr dies bald und friedlich gelingen wird.


Sechstes Kapitel
Stellung des modernen Sozialismus
zu Nation und Staat

1. Wie alle internationalen Ideen wie alles, was auf der Natur des Menschen als Mensch beruth, verhält sich auch der Sozialismus abweisend zu jeder nationalen Überhebung und Eitelkeit, zu jenem Chauvinismus, welcher die eigene Nation als die höchste Blüte der Menschheit auffaßt. Dieser Chauvinismus, die Ausartung eines berechtigten und notwendigen Selbstgefühls, führt wohl vorübergehend zu großen Erfolgen, aber sie sind dann auch stets der Beginn eines inneren Rückganges. Die Eigenschaft, unabhängig von der Rationalität, also international und kosmopolitisch zu sein, teilt der Sozialismus mit allen übrigen rein humanitären und sozialen Begriffen und Institutionen. Das Gleiche gilt daher für das Privateigentum, für die Ausartung desselben zum schrankenlosen Kapitalismus, für Monarchie und Republik, ganz besonders aber für die religiösen Ideen, da diese sich ihrer Natur nach, solange sie rein religiös bleiben, nur an den Menschen als Menschen wenden. In der Gegenwart hat sich der internationale Charakter der sozialistischen Prinzipien besonders scharf ausgeprägt. Neben der "Internationale" will auf der "Allgemeine Deutsche Arbeiterverein" in Berlin keinen einseitigen deuschen Sozialismus pflegen, weil es einen solchen gar nicht gibt. Aus diesem Grunde wird jede Pflege der Nationalität, sobald sie gegensätzlich zu anderen Nationen auftritt, den Sozialismus schwer schädigen und besonders die "Internationale" an der Wurzel angreifen. Denn es wird dadurch der Gedanke einer sozialistischen Verbrüderung, die ohne Rücksicht auf Sprache und Farbe vor sich gehen soll, ertötet. Eine besonders eifrige Pflege des Nationalgefühls ist daher von den Sozialisten niemals zu erwarten. Nur LASSALLE macht hiervon eine Ausnahme; bei ihm war der Sozialismus noch nicht zur vollen Klarheit entwickelt und daher findet sich in seinen Schriften keine Spur von der Erkenntnis, daß die Interessen und Ziele der sozialistischen Arbeiter international sind. IN seinen früheren Jahren überwog bei ihm die politische Begeisterung für den deutschnationalen zentralisierten Einheitsstaat die Hingabe an die rein sozialen Interessen des Proletariats. LASALLEs Schüler haben sein System zum reinen Sozialismus weiter gebildet und daher konsequenterweise das politische Ziel nur als Mittel zum Zweck erklärt. Auch bei ihnen ist der nationale Gedanke zurückgetreten hinter den sozialen.

Gleichwohl ist der Sozialismus nicht dem Nationalgefühl ansich feindlich; er will es nur nicht so stark wachsen lassen, daß dadurch der soziale Gegensatz innerhalb der eigenen Nation geschwächt wird. Auch die "Internationale" fußt auf einem Element, das vorwiegend lokaler und nationaler Art ist, auf den Gewerkschaften und Sektionen, die sich dann zu provinziellen und nationalen Verbänden vereinigen und erst durch ihre Zusammenfassung im Generalrat ihren internationalen Charakter erhalten. Die angestrebte künftige Organisation der Gesellschaft ist der Existenz der Nationalitäten durchaus nicht feindlich. Aber es gibt unter den Sozialisten, wie in jeder Partei, gar manche extreme Fanatiker und Phantasten, besonders bei den unruhigen Romanen und bei den Nihilisten;es sind überspannte Geister, die mit großem Pathos das Wort "Vaterland" für einen abstrakten, längst überwundenen Begriff erklären. BAKUNIN will in seinerm tollen Radikalismus sogar jeden Unterschied der Geschlechter aufheben. Die "Internationale" hat sich bisher vor dieser Lächerlichkeit gehütet und ebensowenig wird sie mit anderen Schwärmern auch die nationalen Unterschiede in der Menschheit auslöschen, die Nationen vertilgen wollen.

2. Die Gefahr, die der Sozialismus dem nationalen Gedanken bringt, ist trotzdem sehr bedeutend. Sowie sich der sozialistische Gedanke entwickelt hat, tritt bei seinen Anhängern die Teilnahme für die großen nationalen Interessen immer mehr zurück, das Klassenbewußtsein und der Klassenhaß reißen das ganze Denken und Fühlen ansicht, das Gefühl der politischen Zusammengehörigkeit geht verloren. So nimmt die lebendige Teilnahme an den Geschicken des Vaterlandes ab, der Haß gegen die herrschenden sozialen Zustände überwuchert alles. Dann taucht in den Kreisen des "Proletariats" der Gedanke auf, seine Lage könne nicht schlimmer werden und die Sozialisten sehen es sogar mit Freuden, wenn den herrschenden sozialpolitischen Mächten eine Niederlage von außen beigebracht wird. So berichtet LASSALLE in seinem "Der italienische Krieg", die französische Arbeiter hätten während des orientalischen Krieges die Niederlage Frankreichs gewünscht, weil sie gehofft hätten, die Folge davon werde der Sturz NAPOLEONs sein. Das Parteiinteresse stand über dem Wunsch nach Erfolg der vaterländischen Waffen. Die Schwächung der politischen Macht und die inneren Unruhen glaubt der Sozialismus dann zu einer Schilderhebung benutzen zu können. Er wird sich daher nicht zugunsten der verhaßten Bourgeoisie schlagen, sondern die Niederlage der herrschenden Macht, sowie die sich daran knüpfende Ratlosigkeit und Verwirrung benutzen, um selbst die Leitung der politischen Angelenheiten in die Hand zu nehmen. Er wird dies umso mehr erstreben, als ja die "Internationale" und LASSALLE gleichmäßig lehren, die Arbeiter könnten ihre "Befreiung" nur durch die Erlangung der politischen Gewalt erreichen. Wie gefährlich diese Stimmung werden kann, haben Frankreich und Paris im Frühjahr 1871 erfahren. Auch in Lyon machten schon schon im September 1870 die Sozialisten einen Versuch, die Herrschaft zu gewinnen, es gelang ihnen aber nicht. In Paris glückte das Unternehmen und hatte den schrecklichen Bürgerkrieg zur Folge. Hätte sich die Nationalversammlung zu Bordeaux im Februar 1871 für die Monarchie ausgesprochen, dann hätten sicher die Sozialisten im Bunde mit den radikalen Republikanern in den wichtigeren Städten die Fahne des Aufruhrs erhoben; leicht hätte damals Frankreich in große territoriale Gruppen auseinanderfallen können. - Mit derselben Gleichgültigkeit, mit welchen die französischen Sozialisten der Niederlage des Kaiserreichs und der Bourgeoisie zusahen, mit derselben Ruhe und schlecht verhehlten Schadenfreude würden auch die Sozialisten Englands einen Sieg Nordamerikas über ihr Vaterland betrachten.

3. Mit dem soeben Gesagten haben wir bereits die Frage von der Staatsgefährlichkeit des Sozialismus berührt. Diese Staatsgefährlichkeit kann doppelter Natur sein; sie ist entweder der Gegensatz zu dem auf politischem und sozialen Boden gerade herrschenden Regime, sie kann aber auch eine Feindschaft gegen die Fundamente des Staats überhaupt sein. Das erstere ist, solange sich die Bewegung innerhalb der gesetzlichen Schranken hält, noch nicht staatsgefährlich im strengen Sinne des Wortes. Der "Liberalismus" hat, ehe er hoffähig wurde und Anteil an der Regierung erhielt, bekanntlich im weitesten Umfang diese Oppositon geübt. Nur Hochmut und Unverstand kam im Kampf gegen Formen oder Personen der Regierung, oder gegen eine sekundäre Institution des Staates etwas Staatsgefährliches erblicken, solange die Opposition sich auf gesetzlichem Boden bewegt. Der Sozialismus ist staatsgefährlich nicht als Oppositioin ansich, sondern als sozialistische Opposition.

Bei den konsequenten und entschiedenen Sozialisten geht das Gefühl für das Vaterland verloren, solange dort Privateigentum und Monarchie bestehen. Der nationale Gedanke wird seiner politischen Geltung beraubt, alles löst sich in den Gegensatz zwischen Besitz und Nichtbesitz auf. Es kann dies höchst gefährlich werden für den einzelnen konkreten Staat, und ansich schon ist das Umsichgreifen einer derartigen Stimmung geeignet, die Staatsiedee selbst aufzuheben; denn der politische Gedanke wird vernichtet zugunsten des rein sozialen.

Für die Monarchie ist der Sozialismus schon dadurch im höchsten Grad staatsgefährlich, daß er die republikanische Regierungsform als die einzig berechtigte erklärt und auch erstrebt. Dies ist indessen nur eine relative Gefahr, die sich einzig auf die monarchischen Staaten beschränkt. Allein was der Sozialismus an die Stelle der Monarchie setzen will, ist nicht die Republik schlechtweg, sondern die soziale Republik, "la Sociale". Hierin liegt die höchste Staatsgefährlichkeit, nämlich die Aufhebung der Grundlagen des Staates selbst. Diese Seite des Sozialismus ist überdies noch mehr als bloß staatsgefährlich, sie ist geradezu antisozial. Sie vernichtet die Fundamente und Prinzipien, auf denen sich der Staat erst aufbaut, Eigentum, Ehe und Autorität. Dies sind die sozialen Grundlagen, welche zu ihrem Bestehen nicht erst der Zustimmung des Staates bedürfen; denn in der konservativen Staatsanschauung darf der Staat nicht omnipotent sein, so sehr es auch seine Pflicht ist,, die Beziehungen der Menschen zu jenen sozialen Fundamenten zu regeln, und mit seiner Sanktion zu versehen. Der Sozialismus leugnet das Privateigentum, er vernichtet ebensosehr den bürgerlichen Gehorsam wie Ehe und Familie. So entzieht er dem Staat die ewigen Grundlagen, die Pfeiler jeder Ordnung und fortschreitenden Zivilisation. Während das politische Verhalten des Sozialismus bloß dem gegenwärtigen Staat feindlich ist, vernichten seine sozialen Bestrebungen den Staat feindlich ist, vernichten seines sozialen Bestrebungen den Staat selbst, weil sie die Gesellschaft auflösen und das Chaos herbeiführen. Dies wird leider von den heutigen Staatslenkern oft übersehen; sie halten die sozialen Fundamente für unerschütterlich, während dieselben doch vom Sozialismus langsam unterwühlt werden. Gegenüber dieser großen, vom Sozialismus her drohenden Gefahr ist die Frage ob Monarchie oder Republik noch untergeordnet und mit demselben Recht, mit welchen Leipziger Angeklagte wegen ihrer Angriffe auf die Monarchie verurteilt wurden, hätte man dieselben auch wegen ihrer sozialen Bestrebungen verurteilen können. Die Ziele der Sozialisten müssen zum Zwangsstaat, damit zum Krieg aller gegen alle, zur Aufhebung des Staates führen. Hierin liegt die höchste, die absolute Staatsgefährlichkeit des modernen Sozialismus, denn ohne den Staat keine Zivilisation.


Siebtes Kapitel
Die Stärke des modernen Sozialismus

1. So wenig man sich durch die großen Zahlen darf täuschen lassen, welche die sozialistischen Führer gerne auftischen, ebensosehr muß man sich hüten, die Bewegung zu unterschätzen. Daß der sozialistische Abfall der Arbeiter von der natürlichen Sozialordnung Fortschritte macht, unterliegt keinem Zweifel. Die Massen ind, durch das Beispiel der höheren Stände verleitet, entschieden sozialistische disponiert. Ganz besonders ist dies in den Städten der Fall, auf dem Land aber auch schon teilweise, besonders dort, wo die moralischen und religiösen Faktoren wenig Einfluß mehr haben. Man vernichte die Bedeutung derselben noch mehr, man lasse dann eine neue Generationi heranwachsen und die entsetzte Welt wird noch ganz andere Dinge erleben als bisher. Ein großer Teil der wenig oder nichts Besitzenden, besonders der industriellen Arbeiter, hat jedes religiöse Gefühl und die ruhige Selbstgenügsamkeit abgestreift und die Achtung vor Autorität und Privateigentum verloren; in diese Massen wirft dann der Sozialismus sein Programm, das den klaren und konsequenten Materialismus predigt, das dem Menschen Besitz und Genuß als höchstes Ziel hinstellt. Gegenüber dieser mächtigen Gewalt werden sich alle verschwommenen Phrasen, mit denen so manche den Sozialismus bannen zu können glauben, als wirkungslos erweisen. es sind nicht wenige Agitatoren, es sind bereits Massen, welche im sozialistisch-materialistischen Sinn denken und, wenn die Zeit gekommen ist, auch handeln werden. Sie begeistern sich für die Gerechtigkeit und Heiligkeit ihrer Forderungen, sie erblicken auf Seiten der besitzenden Klassen nur Knechtschaft, Korruption, Lüge und Sittenlosigkeit, sich selbst aber halten sie für berufen, die Herrschaft der natürlichen Gerechtigkeit zu verwirklichen, anstelle der Unsitte die Sittlichkeit, anstelle der Lüge die Wahrheit, anstelle der Unterdrückung die Erlösung, anstelle der Ausbeutung wächst, das Gebahren der Agitatoren wird immer kühner und zuversichtlicher, die Zahl der Versammlungen und Feste zusehends größer. Wenn auch der größte Teil der Bevölkerung indolent ist und es stets bleiben wird, da er bloß dem täglichen Erwerb nachgeht, so werden doch die in der Industrie und in den städtischen Gewerken beschäftigten Arbeiter mit wachsendem Erfolg in die Agitation hineingezogen. Die Führer und Apostel der Bewegung zeigen eine Opferwiligkeit, die in Erstaunen setzt, besonders wenn man die geringen mittel bedenkt, über welche die Leute fast ausnahmslos verfügen. Keine Stadt, ja fast kein Dorf ist heutzutage mehr sicher vor der Ansteckung. Der leichte, billige Verkehr, die sich stets enger knüpfende soziale Verschlingung, die überall hin dringende Presse bewirken das rasche Umsichgreifen der sozialistischen Ideen. Arm und ungebildet (wenigstens im Sinne der Bourgeoisie), aber mit glühendem Eifer für die Sache des Proletariats und wohl ausgerüstet mit den Ideen von MARX und LASSALLE durchziehen die Wanderapostel die Städte und Fabriken und werben überall für die sozialistische Zukunft. Tüchtige Redner zählen sie zu den Ihrigen, nicht Phrasenhelden, sondern Männer, die an Arbeit gewöhnt sind und sich selbst mit Ernst unterrichtet haben. So bereisen sie die einzelnen Gegenden als Propheten des vierten Standes, den Untergang des dritten und der gesamten alten Gesellschaft predigend. Was man bei der Bourgeoisie nur zu sehr vermißt, die Arbeiter tun es: sie lesen die Schriften der Gegner aufmerksam und können denselben auch gerecht werden. Die Erscheinungen auf konservativer, auf evangelischer oder katholischer Seite werden von den Arbeitern vielfach mit einer Unbefangenheit und Gerechtigkeitsliebe gewürdigt, die viele sich hoch gebildet dünkende Bourgeois beschämen könnte. Dies verhindert natürlich nicht, daß unter den Führern und Agitatoren gar manche sind, welche auf Kosten der Arbeiter ein flottes und faules Leben führen, welche mit einer zynischen Gewissenlosigkeit nur ihrem persönlichen Ehrgeiz fröhnen und sich noch dafür bezahlen lassen. Auch die finanziellen Forderungen der Parteien an ihre Mitglieder hemmen den Aufschwung des politischen Sozialismus sehr stark, da es für die meisten Arbeiter schwierig ist, jenen Ansprüchen zu genügen. So wurde auf dem Dresdener Kongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bekannt gegeben, daß 53 Orte ganz oder teilweise, 98 Orte überhaupt nicht die Parteisteuern bezahlt hatten.

Man darf die Macht des Sozialismus nicht nach der Zahl der Vereinsmitglieder schätzen; auch die Beurteilung nach der Auflage seiner Zeitungen wäre ungenau. Die zahlenden Mitglieder sind wohl die besten und nachhaltigsten Kämpfer, allein sehr viele Arbeiter und Arbeitervereinigungen sind doch sozialistische, obwohl sie sich keiner Parteiorganisation angeschlossen haben. Sie zählen jetzt nicht mit, werden aber doch, wenn die Stunde geschlagen hat, auf dem Kampfplatz sein. Auch viele Gewerkschaften sind sozialistisch gesinnt;, sie bilden ja die Vorschule für den politischen Sozialismus und werden zu diesem Zweck gepflegt. Manche dieser Gewerkschaften, so die der Buchdrucker, der Zigarrenarbeiter und Hutmacher, führen eine ganz unabhängige Existenz, sind sehr stark und nähern sich den sozialistischen Bestrebungen. Daher begnügen sich die Arbeiter sehr häufig mit der einfachen Mitgliedschaft einer Gewerkschaft und dem dadurch herbeigeführten geistigen Zusammenhang mit der sozialistischen Organisation. Nimmt man die Mitgliederzahl der beiden sozialdemokratischen Parteien in Deutschland auf 10 000 an, so darf man doch mindestens 200 000 Arbeiter und noch mehr rechnen, welche eine ausbrechende Bewegung unterstützen würden, sobald diese irgendwie Aussicht auf Erfolg hätte. Im konstituierenden Norddeutschen Reichstag hatte der Sozialismus 5 Vertreter; die Sozialdemokratische Arbeiterpartei allein brachte es in Sachsen bei der Wahl der Abgeordneen für den Reichstag auf 48 000, in ganz Deutschland auf 150 009 Stimmen. Die in den Parteilisten eingetragenen und regelmäßige Beiträge zahlenden Mitglieder, sowie die meisten Abonnenten der sozialistischen Zeitungen sind nur die Kader der großen Revolutionsarmee; sie werden fortwährend neue Anhänger, erfüllen die Massen mit ihren Bestrebungen und vernichten in den ihnen zugänglichen Kreisen den Einfluß der konservativen Prinzipien und die Achtung vor den Fundamenten der Gesellschaft. An vielen Orten erhält der sozialistische Kandidat Tausende von Stimmen und doch zählt die betreffende lokale Mitgliedschaft nur einige hundert Teilnehmer: aber diese Leute sind begeistert für ihre Ideen, tief durchdrungen von der Wahrheit derselben und deswegen fällt es ihnen nicht schwer, die übrigen Arbeiter nach ihrem Sinn zu lenken.

Die sozialistisch gesinnten Arbeiter, besonders die Agitatoren, klagen sehr über die "verfluchte Bedürfnislosigkeit" der Massen. Wo diese noch mäßig und einfach leben, wenig Bedürfnisse haben, dort ist nur ein schlechter Boden für den Sozialismus. Sowie aber die Auflösung der überkommenen Ordnung, besonders des Familienlebens um sich greift, sobald der Hang nach Vergnügngen und die Trunksucht überhand nehmen, wenn dann vollends der Neid gegen die höheren Stände groß wächst und der Materialismus, von oben herab getragen, die besitzlosen Klsasen in seinen Strudel zieht, da gedeiht der Sozialismus üppig. Dieser Bedürfnislosigkeit, d. h. der Zufriedenheit des Arbeiters mit seinem Loos, der Einfachheit und Nüchternheit der Lebensweise, muß von Seiten der sozialistischen Agitatoren mit allem Eifer entgegengearbeitet werden, wenn der proletarische Gedanke entstehen und gedeihen soll. Besonders liegt noch die ländliche Arbeiterbevölkerung unter dem Bann dieser "Bedürfnislosigkeit", während die Arbeiter  in  den Städten sich in dieser Beziehung fast ganz modernisiert haben.

Die Sozialisten sind meist sehr schlimm auf jene Anstalten zu sprechen, durch welche die Arbeitgeber ihren Arbeitern eine angenehmere Häuslichkeit, billigere Lebensmittel, sowie Unterstützungen in Krankheit und Alter zu verschaffen suchen. Ihnen erscheint dies alles nicht als Ausfluß der Humanität, sondern als das Bestreben, den Arbeiter an den Unternehmer zu fesseln; alle derartigen Anstalten dienen angeblich nur dazu, "die Ausbeutung zu verschärfen" und sind so gehaßt, daß die konsequenten Sozialisten gar nicht zu deren Errichtung mitwirken wollen. Der Sozialismu gedeiht eben nur in einer ganz proletarischen Bevölkerung und diese herbeizuführen, ist daher das nächste Ziel der Agitatoren. Zu diesem Zweck muß alles hintertrieben werden, was die Arbeiter zu seßhaften und zufriedenen Menschen machen könnte. Daher sucht man auch in den sozialistischen Blättern vergeblich nach Ermahnungen der Arbeiter zu Fleiß, Sparsamkeit, Selbstbeherrschung, Nüchternheit und der ihnen so notwendigen Müßigkeit; es ist nur ein schlechter Einwand, zu sagen, die höheren Stände hätten diese Eigenschaften ebenfalls nicht durchgehend; der Stand, welcher der Fels für die Kirche der Zukunft sein will,  muß  sie haben. Statt dessen werden die Arbeiter mit Schmeicheleien berauscht, alle Begierden werden angestachelt und die besitzenden Klassen gleichzeitig als Ausbund aller Schlechtigkeit hingestellt. Unter dem Einfluß dieser Faktoren greifen Vergnügungssucht, Fest- und Versammlungswut stets weiter um sich, vernichten das Familienleben, verhindern den Aufschwung selbst besserer Elemente und tragen zur Verbreitung des proletarischen Hasses gegen die bestehende Ordnung nicht das Wenigste bei. Auch gegen die Bestrebungen, die Selbsthilfe zu organisieren, richtet sich die Agitation der sozialistischen Führer, damit sich ja kein materiell und geistig gesunder Arbeiterstand bilden könne. Das schrankenlos im sozialen Körper wühlende Großkapital und die sozialistische Agitationi arbeiten sich gegenseitig in der Bildung eines verzweifelnden und zu allem fähigen Proletariats in die Hände.

2. Eines der wirksamsten Mittel für die sozialistische Propaganda sind die Arbeitseinstellungen, die in den letzten Jahren auf deutschem Boden epidemisch geworden sind. Sie werden bei uns zwar nach englischem Muster, aber noch nicht mit englischer Umsicht und nicht mit den Mitteln der dortigen Gewerkvereine betrieben. Über den Wert der Streiks sind die Stimmen sehr geteilt, und in gewissem Sinne sprechen sich auch die Führer der Sozialisten dagegen aus. LASSALLE erklärte aus der gesellschaftlichen Lage der Arbeiter gebe es auf gesellschaftliche Weg keinen Ausweg und berief sich zum Beweis dessen auf die Streiks, "die vergeblichen Anstrengungen der Sache,sich als ensch gebärden zu wollen". Er verwarf die Streiks, weil sie ganz auf dem Boden der der heutigen Produktionsweise erwachsen und das Lohnsystem unangetastet lassen. Doch erkannte LASSALLE (Ronsdorfer Rede) an, daß die Forderung des Koalitionsrechts als Grundlage der Arbeitseinstellungen "eine ganz vortreffliche im Sinne der Agitation" sei; aus diesem Grund unterstützte er jene Forderung. Ganz in demselben Sinne werden die Arbeitseinstellungen von den Sozialisten allgemein aufgefaßt. Eine wirkliche Besserstellung der Arbeiter wollen sie durch ein solches Mittel nicht herbeiführen, denn sie würden sonst der sozialistischen Agitation den Boden entziehen. Zweck des Sozialisus ist ja nicht die Erhöhung des Arbeitslohnes, sondern die Abschaffung des Lohnsystems und damit des Privateigentus. Der durch Streiks errungene Gewinn soll wieder zu Beiträgen für andere Arbeitseinstellungen und für die Unterstützung stets weiter gehender Ansprüche verwendet werden. Hauptzweck der Streiks für den Sozialismus ist die Spaltung der bürgerlichen Gesellschaft nach Besitz und Nichtbesitz, die Weckung und Verbreitung des Klassengegensatzes. Auf dem Stuttgarter Kongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei beschäftigte man sich mit der Frage des Streiks. BEBEL sagte damals: "Die Streiks vernichten die Lehre von der  Harmonie  des Kapitals und der Arbeit und zeigen den Arbeitern, daß nur der politishe Weg sie zum Ziele zu führen imstande ist." Es wurde dort ferner beantragt, im Vereinsorgan ausführliche Artikel über die Arbeitseinstellungen zu veröffentlichen; dieselben sollten "in dem Sinne gehalten sein, daß die Streiks auf Grundlage der heutigen Gesellschaft nicht einmal momentan helfen können, deshalb auch so viel wie möglich zu vermeiden sind, besonders da die internationalen Gewerkschaften noch zu jung und mittellos sind." MOLL aus Solingen beantragte, der Kongreß möge beschließen: "Streiks sind für unsere Agitationen verwerfliche Mittel und werden von der Partei aus nicht mehr unterstützt." Dieser Antrag wurde aber abgelehnt. YORK aus Hamburg nahm die Arbeitseinstellungen in Schutz " als die Lehrschulen des Arbeiters im Sozialismus". Er faßte dadurch die Streiks von ihrer wichtigsten Seite auf, wollte aber dem unsinnigen Überhandnehmen derselben entgegentreten. Auf seinen und anderer Vorschlag wurde beschlossen: "Der Kongreiß mißbilligt jeden, den Arbeitern nicht direkt durch das Kapital aufgezwungenen Streik, der nicht von einer Organisation genügend vorbereitet ist, um Aussicht auf Erfolg zu verbürgen." Ein weiterer Antrag, welcher beabsichtigte, eine eigene Kommission zu schaffen mit der Aufgabe, die Streiks zu bestimmen, zu genehmigen und für deren Durchführung zu sorgen, wurde verworfen. Der Erfurter Gewerkschaftskongreß führte dies weiter.

Auch die Kongresse der "Internationale" haben sich viel mit diesem Gegenstand beschäftigt und die Wirksamkeit der internationalen Unterstützung kam dabei mehrmals zu Anerkennung. Der Kongreß zu Brüssel (1868) erklärte, daß im gegenwärtigen Kampf zwischen Kapital und Arbeit die Arbeitseinstellungen eine Notwendigkeit sind und daß man in jeder Föderation eine Kasse zur Unterstützung derselben gründen soll. Schon auf dem Genfer Kongreß schlugen die Engländer vor, man möge ein universelles Band schaffen, um unüberwindliche Arbeitseinstellungen von ungeheurer Ausdehnung hervorzurufen. TOLAIN aus Paris erklärte damals, die "Internationale" habe den Beruf, Arbeitseinstellungen zu unterstützen.

Eine Arbeitseinstellung mag ausgehen, wie sie will, immer ernsten der Sozialismus und seine Anhänger die Früchte davon. Setzen die Arbeiter ihre Forderungen durch, so erscheint dieser Erfolg als Frucht des gemeinsamen Auftretens, der Solidarität; damit wächst die Begierde und der Mut, bei nächster Gelegenheit neue und noch höher geschraubte Forderungen zu stellen. Das Recht hierzu ergibt sich aus der sozialistischen Negationi des Eigentums und aus der eng damit zusammenhängenden Theorie von der "Ausbeutung" der Besitzlosen durch die Besitzenden. Schlägt die Arbeitseinstellung fehl - und das ist mindestens ebenso häufig der Fall, als das Gelingen derselben - dann hat wiederum der Sozialismus den Vorteil davon. Ja sein Gewinn ist fast noch bedeutender als im vorhergehenden Fall. Denn die Arbeitseinstellung ist das große Mittel, den Klassenhaß hervorzurufen und ihn überall zu hellster Glut zu entflammen. Dann erst kann ja die sozialistische Agitation gedeihen und daher sind die Streiks das Sprengmittel, um die soziale Kluft zu erweitern und die Versöhnung unmöglich zu machen. Die bedeutenden Verluste, die den Arbeitern durch das Mißlingen eines Streiks erwachsen, die großen Entbehrungen, welche sie mit ihren Familien ertragen, das alles kann doch bloß den einzigen Erfolg haben, daß sie sich zu einem unvertilgbaren Haß gegen die bestehende Gesellschaft entflammen, daß sie für Vorspiegelungen einer goldenen Zukunft von Seiten der Agitatoren noch empfänglicher werden. Schon die Erbitterung beider Teile, welche nach jedem Streik übrig bleibt, macht eine Versöhnung sehr schwer; fast unmöglich wird sie aber, wenn die Arbeiter nach langem Kampf erlegen sind. Dann trösten sie sich mit der Hoffnung, bei nächster Gelegenheit das Versäumte wieder einzuholen. Um aber zu siegen, dazu bedarf es längerer Vorbereitungen und einer starken Organisation und vor allem der Unterstützung der Streikenden durch die Nichtstreikenden. Wer aber sollte beides besser verschaffen können, als die bereits vorhandene Organisation des Sozialismus, zumal des internationalen? Weil daher die Streiks in der Gegenwart meist rasch einen sozialistischen Charakter annehmen, so kann es nur auf Selbsttäuschung beruhen, wenn die "Bourgeoisie" in weitschweifigen wissenschaftlichen Ausführungen den Arbeitern die Nutzlosigkeit der Arbeitseinstellungen zu beweisen sucht. Jene Zeiten sind vorüber, in welchen die Bedeutung der Streiks ausschließlich in der Lohnerhöhung lag.

TESTUR gibt an, daß in Lyon in dem Maße, in welchem die Arbeitseinstellungen zunahmen, sich auch der Beitritt zur "Internationale" vermehrte. Auch bei Gelegenheit des mißlungenen Streiks zu Chemnitz im Herbst 1871 sowie bei dem zu Brandenburg machte sich die propagandistische Bedeutung der Arbeitseinstellungen bemerkbar ("Volksstimme 1871, Nr. 100, Neuer Sozialdemokrat 1872, Nr. 24) (1)

3. Die Sozialdemokratie weiß sehr wohl, daß sie fast ohnmächtig ist ohne die Mitwirkung der Landbevölkerun. Die Teilnahmslosigkeit des ländlichen Proletariats ist eine Hauptlücke im sozialistischen Feldzugsplan und wirkte sehr mit zum Scheitern der Agitation LASSALLEs. Solange der proletarische Gedanke nicht die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ergriffen hat, ist auch einen nachhaltigen Sieg der sozialistischen Revolution nicht zu rechnen; noch viel weniger wird das allgemeine Stimmrecht ein Arbeiterparlament liefern. In Ländern, in denen der Grundbesitz sehr geteilt ist, wie in Frankreich und dem linksrheinischen Deutschland, will der Bauer von sozialistischen Plänen nichts wissen und THIERS konnte mit Recht am 13. Januar 1872 in der französischen Nationalversammlung sagen, hinter jedem Stück Land steht ein Bauer mit seinem Gewehr. Aber wo ein starkes ländliches Proletariat besteht, wie besonders in den Ländern mit geschlossenem Grundbesitz, kann die sozialistische Agitation unter Umständen sehr gefährlich werden. In solchen Gegenden bietet der Sozialismus alles auf, um die ländliche Arbeiterbevölkerung für sich zu gewinnen, aber es ist ihm bis jetzt nur in geringem Maß gelungen. Die Hindernisse sind noch zu groß. Es ist vor allem der schwerwiegende Einfluß der kirchlichen Dogmen, die religiös geheiligte Achtung vor dem Eigentum, der in gleicher Weise sanktionierte Gehorsam gegen staatliche und kirchliche Autorität in der beiden Teilen zugemessenen Sphäre; es ist der Einfluß der Geistlichkeit, solange diese noch auf positiv religiösem Boden steht, denn wo dies nicht mehr der Fall ist, ist auch ihre Autorität bei den Massen nur noch gering. In vielen Gegenden gesellt sich auch dazu noch eine verhältnismäßig erträgliche Lage der ländlichen Bevölkerung, die von je gewohnte einfache Lebensweise (die "verfluchte Bedürfnislosigkeit"), die Leichtigkeit, Eigentum zu erwerben und sich dadurch vor dem gänzlichen Versinken in das Proletariat zu bewahren. Wo aber alle diese Faktoren mehr oder weniger verschwunden sind und wo vielleicht noch der Umstand mitwirkt,, daß die höheren Stände, die Großgrundbesitzer und ländlichen Industriellen, ihre an den Besitz geknüpften moralischen Verpflichtungen gegen die Besitzlosen verkennen, so daß hierdurch ein Klassengegensatz erwächst, dann wird die sozialistische Agitation auch unter der ländlichen Bevölkerung langsame, aber sichere Fortschritte machen. Aus Norddeutschland kommen in der neueren Zeit Klagen über den wachsenden Einfluß der Sozialdemokratie auf die Landbevölkerung; besonders wird dies von HOLSTEIN behauptet; der "Hamburger Correspondent" hatte im Frühjahr 1872 die dortigen Zustände eingehend beleuchtet; als Hauptursachen der bedrohlichen Vorgänge wurden angegeben ("Concordia", Zeitschrift für die Arbeiterfrage, Berlin 1872, Nr. 6 und 9): Die Erschütterung und teilweise Zerstörung der Autorität, da die Männer, welche den Bauern und Käthnern [Kleinbauer ohne eigenen Hof - wp] sonst die letzte Instanz bildeten, der Gutsherr, der Prediger, der Beamte, eine Reihe von politischen Wandlungen durchgemacht (zuerst dänische, dann augustenburgische und sodann preußische Begeisterung), die für den Landmann gleichbedeutend gewesen sind mit dem Einsturz aller festen Normen für sein politisches und sein sittliches Verhalten; Zusammensetzung der einmal überkommenen Autorität sei aber für jeden Knecht und Käthner gleichbedeutend mit völliger  Autoritätslosigkeit;  die schlimmste Seite der Sache ist, daß das Ansehen der Kirche mit in die Brüche zu gehen begonnen hat; wer aber glauben will, daß die Klassen der Tagelöhner und Arbeiter sittlichen und religiösen Halt genug besitzen, um gegen die Verlockungen der Sozialisten taub zu sein, der kennt die Verhältnisse nicht, unter denen der Arbeiter größtenteils lebt, der hat die von Haß erfüllte Miene nicht beobachtet, mit der er ausruft: Wir sind Sklaven und erzeugen Sklaven, wir sind Bettler und erzeugen Bettler; gerade der Lohnarbeiter ist seit 1848 nicht mehr in sich zur Ruhe gekommen; das frühere patriarchalische Verhältnis zwischen Herr und Knecht, Besitzer und Tagelöhner ist hinweggefegt, und anstelle dessen sind Mißgunst und Haß, Frechheit und Faulheit auf der einen, Stolz, Herrschsucht und Mißtrauen auf der anderen Seite getreten; der Arbeiter weiß und fühlt: Für das nackte Überleben muß ich arbeiten und das nackte Leben hinterlasse ich den Meinen; der Staat macht immer größere Ansprüche an seine Leistungsfähigkeit. der Schul- und Militärzwang sind eine schwere Last, und immer drohender und lauter wird der Ruf: Gebt uns mehr! in der Kirche kämpft man um orthodoxe und liberale Parteischablonen. Verfassungsparagraphen, ein papierner Musterbau der Kirche sind die beliebtesten Zielpunkte des Strebens; man scheint wenig davon zu ahnen, daß der Feind, welcher jede christiliche Kirce, einerlei ob von orthodoxen oder liberalen Predigern bedient, und nach konservativem oder liberalem Muster konstituiert, verwünscht und untergräbt, seinen Weg in die Herzen der Gemeinden ebnet; man will die Kirche auf breitester Gemeingrundlage erbauen, und vergißt dabei, daß man gar keine wirklichen Kirchengemeinden mehr hat und schon vor Vollendung des Baus die gehätschelten und mit liberalen Schmeichelworten überschütteten Kirchenglieder jegliche kirchliche Grundlage zertrümmert haben könnten; man ringt in der Schule nach Selbständigkeit; die Tochter hält sich für mündig und lechzt danach, das verhaßte Joch der Mutter abzuschütteln; das Parteistichwort: Emanzipation der Schule von der Kirche! absorbiert fast alle öffentliche Tätigkeit, und läßt Gedanken zurücktreten, daß die Kräfte der Volksschule dazu berufen sind, die sittlichen Gefahren des Volkes abzuwehren und dem Volksleben einen Geist einzuhauen, welcher allem Umsturz der Ordnung mutig die Stirn zu bieten vermag; die Lehrerwelt organisiert sich und verpufft ihre besten Kräfte auf der Rednertribüne in unfruchtbaren Rodomontaden [Prahlereien - wp]; man bewegt sich auch hier in idealistischen Verfassungsplänen und erträumt sich von einer freien Volksschule eine Zeitalter voller Licht und Leben, während der Zerstörer jeder wahren sittlichen Volksbildung in Muße seine Sprengminen präpariert und legt. - Diese Äußerungen enthalten nur zuviel sehr Wahres und auch für andere Gegenden Deutschlands Zutreffendes.

An Versuchen, die ländlichen Arbeiter für sich zu gewinnen, haben es die Sozialisten nicht fehlen lassen, obwohl ihnen im Allgemeinen die Berührungspunkte mit dem Land abgehen. Der "Volksstaat" veröffentlichte (1870, Seite 18) einen "Aufruf an die Landarbeiter", welcher am 16. November 1869 vom Zentral-Kommité der Sektionsgruppe deutscher Sprache der "Internationale" in Genf erlassen wurde. Es heißt dort (wir zitieren nach BITZER, Arbeit und Kapital):
    "Die kleinkrämerische Bewirtschaftung ist durch die Allmacht des Kapitals, durch den Einfluß der Wissenschaft, den Gang der Tatsachen und das Interesse der Gesamtgesellschaft unwiderruflich zum allmählichen Tod verurteilt. Das Mittel der Erlösung liegt in der Vereinigung zur gemeinsamen Forderung des Rechts der Kleinbesitzer und zur genossenschaftlichen Bewirtschaftung des ihnen gehörenden Bodens. Das Kapital ist das Erzeugnis der gemeinsamen Arbeit aller vergangenen Zeiten; es entstand aus der Anhäufung unbezahlter Löhne für erzeugte Arbeit. Ein Kapitalist kann daher nur mit unrechtmäßig erworbenen Kaufmitteln unrechtmäßig erworbenen Grund und Boden erkaufen und deshalb aus doppelten Gründen niemals Anspruch auf rechtmäßiges Eigentum haben. Ist demnach aller Grund und Boden Gemeingut der Gesamtgesellschaft, so kann er nie verteilt oder sonst veräußert, sondern nur als Lehensgut Ackerbaugenossenschaften zur Ausbeutung für die Gesamtgesellschaft über geben werden. Zur Erreichung des nächsten Zweck soll Folgendes dienen:

      1) die Kleinbesitzer einer Gemeinde bilden, indem sie ihre Grundstücke, Viehbestände, Wirtschaftsgebäude, Ackergerätschaften, Arbeitskräfte unter Anwendung aller Mittel der Wissenschaft und Technik zu einem gemeinschaftlichen Betrieb vereinigen, eine Produktivgenossenschaft.

      2) Alle besitzlosen Arbeiter, die bis jetzt nur Tagelöhnerei betreiben, als Knechte oder Mägde dienen, werden gleichberechtigte Mitgenossen und erhalten, wie alle anderen, die durch ein besonderes Reglement festzustellenden Mittel ihres Lebensunterhalts.

      3) Die Kleinbesitzer beziehen bis auf weitere sachentsprechende Anordnungen nach dem Verhältnis ihrer Zuschüsse an Grundstücken, Gebäuden, Viehbeständen, Gerätschaften, Saatfrüchten, Nahrungs- und Fütterungsvorräten und anderen Betriebsmittel, was alles von einer gemeinsam gewählten Kommission zum Kapitalwert abzuschätzen ist, einen Jahreszins.

      4) Aller Reingewinn wird zum Gemeingut geschlagen und haben auf dessen Nutznießung, die statutenmäßig zu regeln ist, alle Mitgenossen gleichen Anspruch.

      5) Diese Produktivgesellschaften treten sowohl unter sich, als auch mit den Produktiv- und Konsumgenossenschaften der industriellen Arbeiter, sowie mit allen Arbeitervereinen in eine nähere Beziehung, um sich nach den Grundsätzen der Solidarität, moralisch und materielle, brüderlich beizustehen und allen kapitalistischen und politischen Druck gemeinschaftlich zu überwinden.

      6) In Gemeinden, in denen die Kleinbesitzer die Notwendigkeit genossenschaftlicher Bewirtschaftung noch nicht begreifen, oder letztere nicht eingehen wollen, mögen die Besitzlosen für sich allein zunächst einen Feldarbeiterverein gründen und dann, gestützt auf ihr Naturrecht, das der Gemeinde, dem Staat, der Kirche gehörende, sowie das in anderer Weise zu beschaffende Land mit ganzer Energie zum gemeinschaftlichen Betrieb verlangen.

      7) Die Besitzlosen, welche auf großen Landgütern arbeiten, müssen sich zusammenhalten, außer ihrem Taglohn einen entsprechenden Anteil am Reingewinn begehren, sich durch diese Beteiligung mit der Leitung und Verwaltung der Geschäfte vertraut machen, damit sie sich - wenn durch einen Umschwung die autorkratische Herrschaft der Gutsbesitzer beseitigt ist - mehr befähigt haben, die Bewirtschaftung in demokratisch-genossenschaftlicher Weise allein durchzuführen."
Auf der Londoner Delegiertenkonferenz der "Internatione" im September 1871 beschäftigte man sich ebenfalls mit dieser Angelegenheit. Ein weiterer "Mahnruf an die landwirtschaftliche Bevölkerung" wurde von JOHANN MOST, Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und Redakteur der Chemnitzer "Freie Presse" verfaßt, scheint uns aber die Sache zu wenig von der agitatorischen Seite anzugreifen. Bis jetzt sind indessen alle diese Beratungen und Aufrufe, einige Örtlichkeiten ausgenommen, noch sehr unwirksam gewesen, so wenig man auch die Bedeutung der Agitation und die Größe der Gefahr verkennen darf.


Achtes Kapitel
Die Bedeutung der sozialistischen Bewegung

1.Der moderne Sozialismus entspringt seinem Wesen nach aus dem Abfall von der natürlichen Sozialordnung. Zuerst aber sind die höheren Stände abgefallen und dies hat sich - denn die Gesellschaft erkrankt in der Regel von oben her - dann auf die unteren Schichten fortgepflanzt und dort die sozialistischen Erscheinungen hervorgerufen. Die Fundamente allen Rechts wurden verlassen, die Grundsätze der Moral mit Füßen getreten, so daß gegenwärtig im Leben der Völker kein Recht, keine Achtung vor den Verträgen mehr besteht. Im politischen Leben herrscht der vollendete Realismus, eine aller moralischen Rücksichten bar gewordene Nützlichkeitspolitik. Auf sozialem Gebiet ist es der Materialismus, welcher der Gegenwart in stets wachsendem Grad seinen Stempel aufdrückt. Auch in Naturreht und Nationalökonomie sind die metaphysischen Prinzipien verloren gegangen. Wer möchte sich nun wundern, wenn auch die unteren Stände der Gesellschaft, auf denen die Last des Lebens am drückendsten ruht, in stets um sich greifender Weise von der natürlichen Sozialordnung abfallen, wenn der soziale Zwiespalt zusehends wächst. 2. Der Sozialismus faßt in seinem Kampf gegen das Privateigentum dies ganz unrichtig auf. Er versteht unter demselben immer nur das materialistische gewordene Eigentum, wie es der Gegenwart seinen Charakter aufprägt. Das Eigentum, wenn es auf der Höhe der modernen Zeit steht, betrachtet sich als absolut und schrankenlos; dadurch aber hat es sich von seiner naturrechtlichen Bedeutung entfernt. Denn in der naturgemäßen Sozialordnung gibt es kein absolutes Eigentum, da mit der Verfügung über die Stoffe und Kräfte der Natur nicht bloß Rechte, sondern auch sehr hohe moralische Verpflichtungen gegen die Besitzlosen verbunden sind. Die Reaktion des Sozialismus gegen jene unrichtige und antisoziale Auffassung des Eigentums ist daher teilweise berechtigt, insofern man dadurch auf die hohe soziale Bedeutung des Eigentums und dessen Schranken wieder aufmerksam gemacht wurde. Der Sozialismus aber gerät in das andere Extrem, indem er das Privateigentum gänzlich aufheben und alle Produktionsfaktoren in die Hände der Gesamtheit, des Staates legen will, also dem absolut und schrankenlos gewordenen Eigentum den Kommunismus gegenüberstellt. Die wahre Sozialordnung liegt hier in der Mitte. Die moralischen Verpflichtungen, die der Besitz mit sich bringt, sollen nicht, oder nur in beschränktem Maße durch die Gesamtheit erzwungen werden; denn sonst befindet sich der Staat bereits auf der schiefen Ebene des Sozialismus. Hier sind es die moralischen Elemente, denen die Aufgabe zufällt, die richtige Sozialordnung zu erhalten. Jene beiden Extreme sind von Übel und führen zur Auflösung der Gesellschaft. Aus dem materialistisch gewordenen Eigentum entwickelt sich die egoistisch-kapitalistische Produktionsweise mit all ihren von den Sozialisten so treffend geschilderten Greueln, das absolut gewordene Eigentum richtet furchtbare Verwüstungen im sozialen Körper an und eine Versöhnung der Gegensätze ist auf diesem Boden unmöglich. Das andere Extrem, der Kommunismus, zu welchem jeder Sozialismus führen muß, ist ebenso zu verwerfen, da er nicht minder den Tod der Gesellschaft herbeiführen würde.

Vom Standpunkt der materialistischen Prinzipien läßt sich das Privateigentum durchaus nicht rechtfertigen. Denn alle Menschen haben die gleiche Natur und kraft derselben die gleichen natürlichen Rechte; zu den ersten Menschenrechten gehört aber doch das Recht zu leben und damit der Anspruch auf die Güter der Erde. Hat der Mensch nun einmal nichts Höheres als möglichst viel zu besitzen und zu genießen, ist dies sein letztes und höchstes Ziel, dann ist nicht einzusehen, mit welchem Rechtstitel ein Teil der Menschen die übrigen gemäß der bestehenden Form des Eigentums von Besitz und Genuß ausschließt. Die Versöhnung des materialistischen Evangeliums mit der gleichen Natur des Menschen ist nur möglich durch die Aufhebung des Privateigentums. Der materialistische Philosoph muß daher, so lange  er  bei der reinen Theorie bleibt, notwendig Sozialist und Kommunist werden. Anders freilich gestaltet sich die Sache, wenn der Materialismus praktisch geübt wird; dann wird die humanistische Idee, das Gefühl für die natürliche Gleichheit aller Menschen, unterdrückt durch den Egoismus und durch die alles niederwerfende Genußsucht; das Eigentum macht sich absolut, der Krieg aller gegen alle beginnt. Aus diesem Widerspruch zwischen dem theoretischen und praktischen Materialismus erklärt sich, daß einerseits der Sozialismus und andererseits der alles menschlichen Gefühls bar gewordene Kapitalismus demselben philosophischen Prinzip des Materialismus entspringen. Der Besitzende wird Kapitalist in dem Sinne, den der Sozialismus diesem Wort beilegt, die Besitzlosen werden sozialistische Revolutionäre. Der Materialismus ist eben ansich schon ein Widerspruch.

Weil der Sozialismus dem Materialismus entspringt, so ist der Streit um das Privateigentum in letzter Instanz ein Kampf des Materialismus mit der überlieferten Anschauung, welche über der irdischen noch eine höhere, sittliche Ordnung annimmt. Wer diese leugnet muß zuletzt, solange in ihm das Mitgefühl für die Menschheit lebendig bleibt, zum Sozialismus kommen. Wenn man ferner das Privateigentum verneint, wie es die humanistisch gesinnte Schattierung der materialistischen Philosophie tut, so wird man auch die einzige Quelle des Tauschwertes in der Arbeit suchen müssen. Viele glauben den Sozialismus bekämpfen zu können, indem sie das Eigentumsrecht schützen, aber die Ursache des Abfalls vom Eigentum, den offenen oder versteckten Atheismus, nicht angreifen wollen. Darauf bezogen sagt MARX (Kapital, Seite XI), heutzutage sei der Atheismus eine  culpa levis  [leichte Fahrlässigkeit - wp], verglichen mit der Kritik überlieferter Eigentumsverhältnisse.

3. Und doch muß das Privateigentum bestehen! Es gibt gewisse feste Schranken, welche in der Natur des Menschen und der Gesellschaft gegeben sind und welche in ihrer Gesamtheit die Fundamente für das soziale Leben bilden. Dazu gehört das Prinzip der Autorität, welches ein Lebensprinzip jeder Gesellschaft, jedes organisierten Zusammenlebens der Menschheit ist. Selbstverständlich und ebenso notwendig zur gesunden Sozialordnung gehörig ist es, daß der Träger einer Autorität - sei diese weltlich oder geistlich, monarchisch oder republikanisch - sich seiner Verpflichtungen gegen die Gesellschaft bewußt ist und sie mit der notwendigen Hingabe erfüllt; denn einzig auf diesen Verpflichtungen beruth auch scin Rechtstitel, kraft dessen er Gehorsam beanspruchen und erzwingen kann. Dieses Verhältnis, auf welchem die Autorität fußt, wird von den Trägern derselbe nur zu häufig mißachtet und auf einen solchen Mißbrauch der Autorität bekämpft. Zu jenen Fundamenten, auf denen die Gesellschaft in der natürlichen Ordnung der Dinge beruth, gehören ferner die Ehe und das Privateigentum. Dies sind die naturrechtlichen Schranken, welche keine philosophische Dialektik, keine Anorndung irgendeiner Autorität überschreiten kann, ohne sozialistische und antisozial zu werden. Die erwähnten drei sozialen Fundamente bilden im Blühen und Verfallen der Völker und Staaten die festen Punkte, gewissermaßen die konstanten Größen, auf welche man nach jeder Erschütterung zurückgreifen muß, um das soziale Gebäude wieder in die Fugen zu bringen und es auf der Bahn der Zivilisation zu erhalten. Ist die Familie die feste Schranke für das sittliche Zusammenleben der Menschen, so ist es das Eigentum hinsichtlich der Beziehung der Menschen zur äußeren Natur, zur toten Materie, aus welcher er seine Lebensnotdurft zieht. Diese Schranke, welche in der Institution des Privateigentums liegt, ist so stark, daß der Mensch schon bei seiner Geburt in eine durch das Erbrecht mehr oder weniger bestimmte Beziehung zu den Gütern der Erde tritt; die Stelle, in welcher ein Mensch geboren wird, ist meist schon von größtem Einfluß für seine ganze spätere Stellung. Trotz aller Mißstände, welche die Institution des Privateigentums mit sich bringt, ist sie doch die relativ beste, indem sonst Leidenschaft, Herrschsucht, Sinnlichkeit und ein alles niederwerfender Egoismus die Gesellschaft stets wieder von Neuem der Zersetzung und Vernichtung ausliefern würden. Gegenwärtig nun hat eine ins Schrankenlose treibende Dialektik die sozialen Fundamente zu bloßen historischen Kategorien erniedrigt, ihnen nur noch eine relative Berechtigung zugestanden, und so ist es gekommen, daß das soziale Gebäude bis in die innersten Fugen hinein zittert. Aber das Gewicht der Realität wird sich immer wieder geltend machen gegenüber diese Umsturzversuchen, seien sie auf Schulmeinungen beschränkt oder streben sie sogar danach, ins Leben zu treten. Auswüchse und Mißbräuche, die sich auf der Grundlage der gesellschaftlichen Fundamente bilden, müssen durch eine gemeinsame Tätigkeit der berufenen Faktoren reformiert werden, niemals aber darf man, wie der Sozialismus es tut, wegen solcher Mängel die Grundlagen jeder Ordnung und Zivilisation beiseite werfen.

4. Wenn wir uns nun zur Frage nach der Gefährlichkeit des Sozialismus wenden, so haben wir uns sowohl gegen diejenigen auszusprechen, welche die Bedeutung der Bewegung übertreiben, als auch gegen jene, welche sie unterschätzen. Es ist noch nicht lange her, daß die Existenz der sozialen Frage überhaupt geleugnet wurde; dies ist jetzt nicht mehr möglich. Der Gegensatz gegen die bestehende Sozialordnung macht unleugbare und rasche Fortschritte; auch die Organisierung dieses Gegensatzes hat sich schon sehr weit ausgedehnt und es ist nicht abzusehen, bis wohin die Entwicklung noch weiter schreiten wird. Jene, welche durch alle möglichen "Freiheiten", vor allem durch das unbedingte "Gehenlassen" einen besten Zustand der Gesellschaft herbeiführen wollten, haben sich überlebt; die Manchestertheorie ist, was LASSALLE schon vor acht Jahren vorausgesagt hat, eines sanften Todes verschieden und ihre begabtesten Vertreter sind, hauptsächlich durch das Anschwellen der sozialistischen Bewegung veranlaßt, von dieser Lehre zurückgekommen. Andererseits darf man sich nicht den Befürchtungen hingeben, als werde je eine sozialistische Gesellschaft dauernd existieren, denn es ist eine absolute Unmöglichkeit, daß eine solche Gesellschaft eine Zukunft haben könne. Freilich ist die Möglichkeit sehr ins Auge zu fassen, daß der Sozialismus da und dort die Herrschaft erlangen kann und es würde dies an den meisten Orten eine Durchgangszeit voll Blut und Feuer sein. Schon in dieser Möglichkeit aber liegt eine Fülle von Unheil. Die eifrige Propaganda und die fast religiöse Begeisterung so vieler Anhänger des Sozialismus würden allein schon auf die Intensität der Gefahr hinweisen, wenn nicht die Vorgänge in Paris der Welt gezeigt hätten, was die Menschen vermögen, wenn sie für die sozialistischen Dogmen fanatisiert sind. Ist einmal die Flut irgendwo durch die Dämme gebrochen, so kann Entsetzliches geschehen sein, bis der gesunde Verstand, das Gewicht der Realität und die Macht der natürlichen Sozialordnung wieder die Herrschaft erlangen. Die höchste Gefahr für einen Staat aber kommt, wenn der Sozialismus in die Armee eindringt; diese Gefahr liegt besonders nahe bei Ländern mit der allgemeinen Wehrpflicht, da dieselben auch in der Regel mitten im Strom der modernen Entwicklung stehen. Für solche Staaten ist es doppelt notwendig, die moralischen Faktoren zu pflegen, auf welchen allein eine dauernde, durch Willenskraft und feste Überzeugung getragene Achtung vor den sozialen Fundamenten beruth.

Die Hauptursacje. warum der Sozialismus keine Zukunft hat, ist der materialistische Geist, welcher ihn durchdringt. Daher hat der Sozialismus seinen gefährlichsten Gegner in sich selbst, denn es ist mit der Herrschaft des Materialismus notwendig die innere Auflösung und Zersetzung gegeben. Ja diese wird schon eintreten, ehe das Ziel erreicht und die alte Gesellschaft gestürzt ist. Ein Blick auf die Erscheinungen in den Kreisen der Sozialisten belehrt zur Genüge hierüber. Der Trieb zu Spaltungen ist dem modernen Sozialismus immanent und bildet eines seiner wesentlichsten Kennzeichen. Der Materialismus kann ja bloß eine vorübergehende Einigung der Geister herbeiführen; sobald es sich darum handeln, die gemeinsamen Pläne in die Wirklichkeit überzuführen, muß die Koalition der Sozialisten durch die Überwucherung der persönlichen Leidenschaften unheilbar geschädigt werden. An derselben Ursache wird auch jede sozialistische Organisation der Gesellschaft notwendig scheitern müssen. Wie die Republik Republikaner verlangt, so bedarf eine sozialistische Gesellschaft in noch viel höherem Grad der freiwilligen Disziplin; diese fehlt aber auf dem materialistischen Boden noch weit mehr als in der normal zusammengesetzten Gesellschaft und deswegen  muß  das Privateigentum sein. Schon die einfache Frage nach der Führerschaft bringt Egoismus und Herrschsucht mit allen häßlichen Leidenschaften zutage. Daher kann der Sozialismus wegen seines durchaus materialistischen Charakters nur zerstören, aber nicht aufbauen. Das vollendete Chaos würde eintreten, sobald den Sozialisten die Möglichkeit gegeben wäre, ihre Theorien praktisch zu machen und die Gesellschaft nach ihren Plänen neu zu gestalten. Eine Zeit lang könnte sich der sozialistische Staat noch halten, aber bloß dadurch, daß seine Gliederung, die theoretisch auf weitestgehender Autonomie beruhen sollte, in eine despotisch zusammengehaltene verwandelt würde. Bald müßte auch diese unter den Schlägen eines herrschsüchtigen Imperators zusammenbrechen und so unnatürlich der Cäsarismus auch ist, so wäre er doch in diesem Fall noch eine Wohltat für die Gesellschaft; sie hätte die Freiheit nicht wieder erlangt, wohl aber wenigstens eine sichere Ordnung. Daher müßte ein Sieg des Sozialismus naturgemäßer Weise zugleich der Wendepunkt zu seinem Untergang hin sein, denn die Auflösung der sozialistischen Gesellschaft im entsetzlichsten Bürgerkrieg ist eine in ihrem innersten Wesen begründete Notwendigkeit. Freilich lassen sich darauf noch keine Hoffnungen für die Anhänger der natürlichen Sozialordnung bauen. Der Vernichtungskampf würde über ihren Häuptern und über ihrem Eigentum geführt werden und sie müßten die Zeche bezahlen. Die sozialistische Irrlehre muß auf geistigem und besonders auf moralischem Gebiet überwunden werden, erst dann kann man von einem wirklichen Sieg der Ordnung und Freiheit sprechen, erst dann verschwindet die Gefahr für die Gesellschaft.

5. Fassen wir zum Schluß nach alles zusammen, so scheint uns das innerste Wesen des modernen Sozialismus im Abfall von der Autorität zu liegen. Dieser Quelle entspringt die prinzipielle Hinneigung zur politischen Revolution, die Vernichtung der Ehe und die Leugnung des Privateigentums. Über die Mittel, welche Staat und Gesellschaft gegen die immer höher anschwellende sozialistische Bewegung zu ergreifen gedenken, könenn wir uns hier nicht näher auslassen. Der Sozialismus ist die gefährlichste Ausgestaltung der sozialen Frage, er ist die Spitze, in welcher diese Frage gipfelt. Das zu lösende Problem besteht in der Wiederherstellung der natürlichen Sozialordnung und der erste Schritt hierzu wäre die Anerkennung, daß die höheren Schichten der Gesellschaft selbst vielfach von dieser natürlichen Ordnung abgefallen sind. Wenn schon die Lösung der sozialen Frage vorwiegend auf geistigem und moralischem Gebiet erreicht werden muß, so gilt dies in noch viel höherem Grad für den Sozialismus. Wir glauben daher, daß die bisher vorgeschlagenen Reformen den Sozialismus nur wenig berühren werden. Dabei haben wir sowohl das im Auge, was die halbamtlichen Berliner "Provinzial-Korresponden" Anfang September 1872 in einem Artikel "Die Fürsorge für das Wohl der arbeitenden Klassen" als die nächsten Pläne der preußischen Regierung kund gab, als auch das, was der soziale Kongreß beriet, der am 6. und 7. Oktober 1872 zu Eisenach tagte. Zu diesen Maßnahmen und Reformen gehören besonders: die noch größere Entfesselung der Gewerbetätigkeit, die Förderung freier Genossenschaften, die Beschränkung der Sonntagsarbeit, der Schutz der jugendlichen und weiblichen Arbeit gegen übermäßige Anspannung und Ausbeutung, eine umfangreiche Fabrikgesetzgebung Hand in Hand mit einer Verstärkung des Schulzwangs, Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit, nebst einem allen berechtigten Ansprüchen genügenden Haftpflichtgesetz, Sorge für Unterstützungs- und andere Kassen, Herbeiführung von Schiedsgerichten als Vorläufer von Einigungsämtern (boards of conciliation and arbitration), welche die Löhne regulieren und überhaupt eine Vermittlung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer herbeiführen sollen; auch die ernste Berücksichtigung der Wohnungsnot, also der "Grund- und Bodenfrage" in den Städten gehört hierher, wenn auch gerade bei dieser Frage die Gefahr nahe liegt, daß der Staat selbst sozialistisch gefärbte Eigentumsbeschränkungen vornimmt; auch Polizeimaßregeln gegen die Verbreitung der sozialistischen Irrlehren werden sich, wie die Dinge gegenwärtig liegen, nicht umgehen lassen. Dabei ist freilich zu bedenken, daß solche Maßregeln das Übel meist verschlimmern, daß sie die soiale Spaltung vertiefen, daß überhaupt solche Ausnahmegesetze, ebenso wie die Bestrafung einer bloßen Tendenz und das Verbot der freien Meinungsäußerung einer Vernichtung derjenigen Prinzipien gleich kommen, auf denen der moderne Staat groß geworden ist.

Durch die Anwendung der im oben aufgezählten Reformen und Maßregeln möchte es wohl gelingen, der sozialistischen Agitation manchen Stoff zu entziehen und ihr sehr vieles Menschenmaterial abwendig zu machen, obgleich dadurch das Wesen des Sozialismus, der grundsätzliche Abfall vom Eigentum mit den daraus folgenen Konsequenzen nicht im Mindesten berührt wird. Es wäre daher auch irrig, zu glauben, daß auf diese Weise der Sozialismus gebannt werden könnte. Seine Wurzeln liegen auf moralischem Gebiet und auf diesem hat die Staatsgewalt den allergeringsten Einfluß. Denn obgleich in jenem Gebiet der Schlüssel für fast alle sozialen Vorgänge liegt, so ist es doch dem Wirkungskreis der politischen Mächte am weitesten entrückt. Bloß durch Unterricht und Verbreitung von Bildung kan der Staat hier wirken, aber wie wenig mächtig auch dieses Mittel ist, beweist allein schon der Umstand, daß gerade die bedeutendsten Sozialisten unserer Zeit, MARX und LASSALLE, Männer sind, denen niemand einen Mangel an Kenntnissen und Bildung wird vorwerfen können. Den Arbeiter durch Bildung über seine Lage trösten, das heißt ihm Steine geben statt des Brotes und eine Hauptseite der sozialen Frage, die Magenfrage, übesehen. Die soziale Frage ist ihrem Wesen nach eine ethische, der Sozialismus kann daher bloß auf diesem Gebiet dauernd überwunden werden. Dies ist festzuhalten, denn sonst möchte auf allzugroße Zuversicht noch ein schlimmeres Erwachen folgen.
LITERATUR: Eugen Jäger, Der moderne Sozialismus, Berlin 1873
    Anmerkungen
    1) Einige sehr treffende Bemerkungen über die destruktive Wirksamkeit der Streiks finden wir in dem Schriftchen von Dr. EDGAR BAUER "Die Wahrheit über die Internationale". Der Verfasser sagt dort (Seite 13): "Dem Wucher nachahmend, der sein Recht und seine Forderungen auf die bloße Wucht des Besitzes stützt, hat auch die Arbeiterklasse angefangen, durch den rohen Druck ihrer Massen auf die Arbeitgeber zu drücken. Die Arbeiter sind zu Erpressern geworden, indem nun nicht mehr ihre Leistung, sondern die Summe der Gewalt, die sie aufbieten können, zum Maßstab ihrer Forderungen dient. Hieraus ist ein doppeltes Ergebnis erwachsen. Erstens ist diejenige Branche der Spekulation gefördert worden, welche die Preise der Lebensbedürfnisse in kurzer Zeit verdoppelte. Zum anderen sind die selbständigen Industriellen entmutigt und den "Gründern" in die Arme getrieben worden. Der Fabrikant erlahmt und wirft sein Etablissement dem erstbesten Gründungskommité an den Hals. So hat die Arbeiternot, von welcher man früher zu sprechen wußte, ihren Sinn gewandelt. es ist nicht mehr die Not der Arbeiter, sondern die Not um die Arbeiter. Der Arbeiter, welcher seinen Lohn beansprucht, weil er etwas gelernt hat, und weil er an der Werkstelle seinen Mann steht, ist zur Seltenheit geworden. Statt seiner haben wir jetzt den Arbeiter, welcher bezahlt sein will, weil er existiert und welcher diese interessante Tatsache seiner Existenz von heute auf morgen um 25 % höher veranschlagen möchte. Dem Fabrikanten entschwindet jeder Anhaltspunkt, wonach er seine Berechnungen anstellen könnte. Denn auch die Konsumtion, welche gesunderweise einen stetigen, berechenbaren Charakter tragen soll, wird eine Sache der Laune. Der Bürger fängt an, sein Etablissement zu hassen, das ihm eine Kette von Beängstigungen und Abhängigkeiten auferlegt. War es früher sein Ehrgeiz, eine betriebsame Anstalt begründet z haben, die seinen Namen trägt und in der Familie bleibt, so kann er sich und seine Familie jetzt nicht schnell genug aus den Wechselfällen der Arbeiterbedrängnisse retten, und seine Stelle nimmt ein anonymes Konsortium ein, welches die Arbeitsstätte nur deshalb kauft, um sie eine Stunde später an der Börse wieder feilzubieten und mit möglichst viel Profit loszuschlagen. Der selbständige, persönliche, dauerhafte Besitz geht unter. Wie sich freilich die Notzucht gegen den Arbeiter kehren wird, sobald erst die anonymen Gesellschaften durchgedrungen sind, das bleibt abzuwarten. Solange der Arbeiter unmittelbar mit dem Arbeitgeber verhandeln konnte, stand seine Sache gut genug. Er befand sich einem Mann gegenüber, einem Wesen aus Fleisch und Blut, von Willen, von Einsicht, das man einschüchtern oder überreden konnte. Aber wie? Wenn der Arbeiter seinen Arbeitgeber gar nicht mehr entbehren kann? Wenn er es nur noch mit dem verwaltenden Sekretär einer Gesellschaft zu tun hat, der keine Vollmacht besitzt oder mit dem "Direktor", der ebenfalls leugnet, daß er an und für sich selber einen Willen hat? Wie, wenn dem Arbeiter erst eine Gesamtorganisaton der Aktiengesellschaft gegenübersteht, welche, unfaßbar und für ihn unauffindbar, mit den Streiks leicht fertig werden wird? Dann wird der Arbeiter an den Folgen seines Sieges über das persönliche Eigentum schwer zu tragen haben."