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Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft [6/7] XI. DIE MITTELGEBIETE Durch die Gegenüberstellung der Gesetze oder allgemeine Begriffe suchenden Naturwissenschaften und der historischen Kulturwissenschaften ist demnach, wie ich glaube, der maßgebende Unterschied gefunden, der die empirisch-wissenschaftliche Arbeit in zwei Gruppen teilt. Aber, wie ich bereits sagte, greift sowohl das historische Verfahren in das Gebiet der Naturwissenschaften als auch das naturwissenschaftliche Verfahren in das Gebiet der Kulturwissenschaften über und hierdurch wird unser Problem erheblich kompliziert. Es sei daher noch einmal mit allem Nachdruck hervorgehoben, daß wir hier nur die Extreme aufzeigen wollten, ![]() Was die historischen Elemente in den Naturwissenschaften betrifft, so kommt für die neuere Zeit hauptsächlich die Biologie und zwar die sogenannte phylogenetische Biologie in Frage. Sie versucht bekanntlich, den einmaligen Werdegang der Lebewesen auf der Erde in seiner Besonderheit darzustellen und ist deshalb auch schon wiederholt als eine historische Wissenschaft bezeichnet worden. Das ist insofern berechtigt, als sie zwar durchweg mit allgemeinen Begriffen arbeitet, diese Begriffe aber so zusammengefügt, daß das Ganze, welches sie untersucht, mit Rücksicht auf seine Einmaligkeit und Besonderheit zum Ausdruck kommt. Historisch ist also diese Biologie nicht etwa, wie TÖNNIES dies mißverstanden hat, deshalb, weil sie es mit "Entwicklung" überhaupt zu tun hat. Auch die Embryologie handelt von Entwicklung, aber sie bildet einen allgemeinen Begriff ihres Objekts, der nur das enthält, was sich beliebig oft wiederholt und daher ist es in der Tat noch niemanden in den Sinn gekommen, den Studien HARVEYs, SPALLANZANIs und CASPAR F. WOLFFs über die Entwicklung des Eis, der Spermatozoen und des menschlichen Foetus den naturwissenschaftlichen Charakter abzusprechen. Ja, auch die allgemeine Deszendenztheorie, nach der jede beliebige Art allmählich entstanden ist und eine Art in die andere übergeht, ist durchaus nach generalisierender, also naturwissenschaftlicher Methode gebildet und hat mit "Geschichte" auch im formalen oder logischen Sinn nichts zu tun. Sobald aber der Versuch gemacht wird, zu erzählen, welche besonderen Lebenwesen zuerst auf der Erde entstanden sind, welche darauf zeitlich folgten und wie daraus in einem einmaligen Entwicklungsprozeß allmählich der Mensch wurde, worüber uns die allgemeine Deszendenztheorie nur insofern etwas sagt, als sie die besonderen Vorgänge als Beispiele allgemeiner Begriffe benutzt, dann ist die Darstellung unter logischen Gesichtspunkten historisch und da derartige Versuche der neueren Zeit angehören, so muß man sagen, daß in ihnen die historische Idee der Entwicklung auf die Körperwelt, die man früher nur naturwissenschaftlich zu behandeln pflegte, angewendet oder übertragen wurde. Es ist wichtig, das hervorzuheben, weil nur so die logische Struktur dieser Körperwissenschaften deutlich wird und weil dann zugleich klar sein muß, daß aus dem Vorhandensein der phylogenetischen Biologie nichts gefolgert werden darf, was für die Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode in der Geschichte spricht. Man mag versuchen, die Geschichte der Kulturmenschheit darzustellen wie HÄCKEL die "Natürliche Schöpfungsgeschichte", so wird man auch dabei niemals generalisierend, also naturwissenschaftlich im logischen Sinne, sondern individualisierend, also historisch verfahren. Andererseits rechnet man die Untersuchungen der phylogenetischen Biologie trotzdem zu den Naturwissenschaften und da man beim Wort "Natur" nicht nur an den formalen Gegensatz zur Geschichte, sondern auch immer an den Gegensatz zur Kultur denkt, so ist das selbstverständlich berechtigt. Insofern bekommt es einen Sinn, von "historischen Naturwissenschaften" zu reden. Doch fehlt es auch diesen biologischen Darstellungen nicht am leitenden Wert gesichtspunkt, der den einmaligen Werdegang zu einem im formalen Sinn geschichtlichen Ganzen zusammenschließt. Der Mensch gilt als der "Höhepunkt" der phylogenetischen Entwicklungsreihe. Es wird ihm damit ein Charakteristikum beigelegt, das durchaus nicht in dem Sinne "selbstverständlich" ist, daß es ihm auch unabhängig von jeder Wertbeziehung zukommt und nun kann man von diesem Höhepunkt aus rückwärtsblickend die "Vorgeschichte der Kultur, die zwar selbst noch nicht Kultur, sondern nur Natur in der materialen Bedeutung des Wortes ist, aber zugleich zur Kultur in Beziehung gesetzt wird. Deshalb sind hier naturwissenschaftliche und geschichtliche Auffassungen notwendig aufs engste miteinander verknüpft und dennoch wird man aus diesem Umstand keinen Einwand gegen unsere Prinzipien für die Gliederung der Wissenschaften herleiten können. Solche Mischformen werden vielmehr gerade aus ihnen als Mischformen verständlich und daran zeigt sich von neuem, daß unsere Einteilung die wesentlichen methodologischen Unterschiede zum Ausdruck bringt. Die Verknüpfung von Naturwissenschaft und Geschichte in der Biologie wird auch dann nicht mehr auffallen, wenn man daran denkt, wie die Theorien DARWINs, aus denen sie entsprungen ist, zustande gekommen sind. Es ist bekannt, daß dieser der Biologie mehrere seiner grundlegenden Begriffe, wie Zuchtwahl, Auslese, Kampf ums Dasein, dem sinnvollen menschlichen Kulturleben entnommen hat. Deshalb dürfen wir nicht erwarten, daß die im Anschluß an DARWIN entwickelten Gedanken sich ohne weiteres nur in einer der beiden hier dargestellent Hauptgruppen der Wissenschaften unterbringen lassen. Wo man vollends die ganze Reihe der Organismen nicht allein als Entwicklung im historischen Sinne, sondern zugleich auch als einen Fortschritt bezeichnet, also in ihr eine Wertsteigerung erblickt, da kann man das nur tun, wenn man die Kulturmenschheit, zu der diese Stufenfolge hinführt, als absolutes Gut setzt und dann liegt sogar weniger eine wertbeziehende und historische als vielmehr eine geschichts philosophische Betrachtungsweise vor. Doch sind die grundlegenden Prinzipien dieser Geschichtsphilosophie nicht etwa der Natur und den Naturwissenschaften entnommen, wie man vielfach glaubt, sondern man hat Kulturwerte auf Naturvorgänge übertragen. ![]() Ein Urteil über den wissenschaftlichen Wert solcher geschichtsphilosophischer Gedanken, die einen "Fortschritt" von den primitivsten Lebewesen bis zum Kulturmenschen hin konstatieren, ist hier nicht am Platz. Naturwissenschaftlich betrachtet ist diese Entwicklung weder ein Fortschritt noch ein Rückschritt, sondern einfach eine wertindifferente Veränderungsreihe, ![]() Das Interesse an der phylogenetischen Biologie scheint überhaupt zurückzutreten. Gewiß hat das Eindringen des historischen Gedankens in die Wissenschaft von den Lebewesen dadurch ungemein befreiend gewirkt, daß die Realitäten, zu denen sich die Speziesbegriffe verdichtet hatten, wohl für alle Zeiten zertrümmert wurden. Aber erstens hätte diese Einsicht auch aufgrund einer generalisierenden Theorie gewonnen werden können und ferner sieht es so aus, als ob die Biologie, nachdem diese Arbeit einmal im Prinzip getan ist, nicht mehr so sehr in der historischen Konstruktion von "Stammbäumen" und "Ahnengalerien" als vielmehr in n, ist hier nicht am Platz. Naturwissenschaftlich betrachtet ist diese Entwicklung der Feststellung allgemeinbegrifflicher Verhältnisse ![]() Noch wichtiger für unseren Zusammenhang sind vielleich die methodisch- naturwissenschaftlichen, also generalisierenden Bestandteile in der Kulturwissenschaft. Bisher habe ich absichtlich nur von den historischen Begriffsbildungen gesprochen, die sich auf einen einzigen einmaligen Vorgang im strengen Sinn des Wortes beziehen und es genügte dieses zur Klarlegung des fundamentalen logischen Prinzips, weil das Ganze einer historischen Darstellung immer als einmaliges Objekt in seiner nie wiederkehrenden Eigenart in Betracht kommt. Jetzt aber ist auch noch folgendes zu beobachten, damit die Darstellung nicht einseitig erscheint. Die Kulturbedeutung einer Wirklichkeit haftet zwar immer am Besonderen, aber zugleich sind die Begriffe des Besonderen und des Allgemeinen relativ. So ist z. B. der Begriff eines Deutschen wohl allgemein, wenn wir ihn in seinem Verhältnis zu FRIEDRICH dem Großen oder GOETHE oder BISMARCK betrachten. Aber dieser Begriff ist zugleich etwas Besonderes, wenn wir ihn ansehen mit Rücksicht auf den Begriff eines Menschen überhaupt und wir können daher solche relativ besonderen Begriffe auch "relativ historische" nennen. Für die Kulturwissenschaften kommt nun nicht nur die individuelle Eigenart in Betracht, die das Einzelne und Besondere im eigentlichen Sinn des Wortes besitzt, sondern, wenn es sich um Teile des zu begreifenden historischen Ganzen handelt, auch die, welche sich an einer Gruppe von Objekten findet. Ja, es gibt keine Kulturwissenschaft, die nicht mit vielen Gruppenbegriffen arbeitet und in manchen Disziplinen treten sie ganz in den Vordergrund. Zwar braucht der Inhalt eines solchen relativ historischen Begriffs durchaus nicht immer mit dem Inhalt des betreffenden Allgemeinbegriffs zusammenzufallen, wie z. B. das, was man unter einem Deutschen versteht, weit entfernt ist, nur das zu enthalten, was allen die Masse des Volkes bildenden Individuen gemeinsam ist ![]() In solchen Fällen kann die wissenschaftliche Begriffsbildung, welche das einer Mehrheit von Objekten Gemeinsame zusammenstellt, als wesentlich genau dasselbe betrachten, was an dieser Gruppe auch mit Rücksicht auf ihre Kulturbedeutung wesentlich ist. Es entstehen dadurch dann Begriffe, die sowohl naturwissenschaftliche als auch Kulturwissenschaftliche Bedeutung besitzen und die eventuell sowohl in einer generalisierenden als auch in einer individualisierenden Darstellung zu verwenden sind. ![]() In diesem Zusammenhang wird auch die Berechtigung und die Bedeutung der Untersuchungen verständlich, für die HERMANN PAUL den Namen der "Prinzipienwissenschaft vorgeschlagen hat. Daß für jeden Zweig der Geschichtswissenschaft in demselben Maße eine Wissenschaft von Bedeutung sein kann, "welche sich mit den allgemeinen Lebensbedingungen des geschichtlich sich entwickelnden Objektes beschäftigt, welche die in allem Wechsel gleichmäßig vorhandenen Faktoren nach ihrer Natur und Wirksamkeit untersucht", vermag ich freilich nicht zuzugeben. Denn wo das Einmalige und Besondere im strengsten Sinn des Wortes in Betracht kommt, würden sich die allgemeinen Begriffe einer Prinzipienwissenschaft höchstens als Begriffs elemente anwenden lassen. Den genannten Wissenschaften jedoch, die wie die Sprachwissenschaft besonders viele generalisierend gebildete Bestandteile enthalten, müssen solche Untersuchungen in der Tat von großer Bedeutung sein. Auch die generalisierende Psychologie kann aus denselben Gründen in solchen Wissenschaften eine Rolle spielen und in diesem Sinne sind daher die früheren Ausführungen zu ergänzen. Aber darum darf man diese Wissenschaft vom Seelenleben wiederum durchaus nicht als "die vornehmste Basis aller in einem höheren Sinne gefaßten Kulturwissenschaft" bezeichnen, denn ihre Bedeutung nimmt in demselben Maß ab, in dem sich die Kulturbedeutung des rein Individuellen steigert und dementsprechend die allgemein begrifflichen Untersuchungen überhaupt verschwinden. Das aber ist gerade bei den bedeutsamsten Kulturvorgängen der Fall. In einer Geschichte der Religion, des Staates, der Wissenschaft, der Kunst, kann das einmalige Individuum nie "unwesentlich" sein. Hier gehen die Impulse zur Schöpfung neuer Kulturgüter fast immer von einzelnen Persönlichkeiten aus, wie jeder weiß, der sich nicht irgendwelchen Theorien zuliebe vor den geschichtlichen Tatsachen absichtlich verschließen will. Die Persönlichkeiten müssen daher auch historisch bedeutungsvoll werden und bei ihrer Darstellung ist dann mit nur relativ historischen Begriffen nicht auszukommen. Diese Behauptung hat wiederum nichts mit der Tendenz zu tun, die Geschichte aus den Absichten und Taten großer Männer zu "erklären" oder gar die kausale Bedingtheit alles historischen Lebens zu bestreiten. Man liebt es, die geschichtlichen Persönlichkeiten als Marionetten zu bezeichnen und darauf hinzuweisen, daß NAPOLEON oder BISMARCK selbst ein Bewußtsein ihrer Marionetteneigenschaften gehabt haben. Ob das berechtigt ist, brauchen wir nicht zu fragen, denn davon hängt die Entscheidung über die Methode der Geschichte nicht ab. Auch Marionetten sind individuelle Wirklichkeiten und ihre Geschichte kann daher nur mit individuellen Begriffen, niemals aber mit einem System allgemeiner Begriffe dargestellt werden. Auch die Drähte, welche die Marionetten in Bewegung setzen, sind individuell wie jede Wirklichkeit und die Geschichte würde also, sogar wenn sie von lauter Marionetten handelte, immer zu zeigen haben, durch welche individuellen und besonderen Drähte hier diese und dort jene historisch bedeutsamen Marionetten in Bewegung gesetzt worden sind. Im übrigen ist der Vergleich mit Marionetten gerade im Sinne der Naturalisten wenig glücklich, denn die Bewegung von Marionetten muß ja in letzter Hinsicht immer auf Absichten handelnder Menschen zurückzuführen ![]() ![]() Doch ich verfolge das nicht weiter, denn es muß schon jetzt klar sein, daß durch die generalisierenden Kulturwissenschaften unsere prinzipielle Scheidung wohl eingeschränkt, aber nicht aufgehoben werden kann. Der Grund ist der, daß ein Kulturbegriff auch hier nicht nur die Auswahl der Objekte bestimmt, sondern in gewisser Hinsicht auch die Begriffsbildung oder die Darstellung dieser Objekte wertbeziehend und historisch macht. Die Allgemeinheit der Begriffe in den Kulturwissenschaften nämlich hat eine Grenze und diese hängt von einem Kulturwert ab. So wichtig daher die Feststellung allgemeiner begrifflicher Verhältnisse im kulturwissenschaftlichen Interesse sein mag, so dürfen dabei doch immer nur Begriffe von einer relativ geringen Allgemeinheit verwendet werden, ![]() Sie möglichst deutlich zu zeigen, ist umso notwendiger, als sie faktisch sehr häufig und durchaus zum Schaden der Kulturwissenschaften überschritten wird. Es ist heute beliebt, Kulturerscheinungen in ihren primitivsten Stadien bei den sogenannten Naturvölkern aufzusuchen, weil man glaubt, sie dort in ihrer "einfachsten" Gestalt kennenzulernen und gewiß hat das seine Berechtigung. Soll aber dadurch auch ein Verständnis für die uns näher stehenden Kulturvorgänge gewonnen werden, so wird man sich hüten müssen, daß man in die untersuchten Vorgänge nicht etwas hineininterpretiert, was tatsächlich gar nicht in ihnen liegt ![]() Man wird z. B. ganz sicher sein müssen, ob eine Betätigung, die man für "Kunst" hält, auch wirklich mit dem Kulturgut noch irgendetwas gemeinsam hat, was wir bei uns Kunst nennen und das ist nur mit Hilfe eines historischen Kulturbegriffs von Kunst möglich, der aufgrund eines ästhetischen Wertbegriffs gebildet ist. Solange man hierüber nichts weiß - und dieses Wissen dürfte in vielen Fällen schwer zu erwerben sein - ![]() Den größten Raum werden die allgemeinen Begriffe in den Kulturwissenschaften einnehmen, welche das wirtschaftliche Leben zum Gegenstand haben, denn soweit sich solche Bewegungen überhaupt isolieren lassen, kommen ja hier in der Tat sehr oft nur die Massen in Betracht und das für diese Kulturwissenschaft Wesentliche wird daher meistens mit dem Inhalt eines verhältnismäßig allgemeinen Begriffs zusammenfallen. So kann z. B. das historische Wesen des Bauern oder des Fabrikarbeiters in einem bestimmten Volk zu einer bestimmten Zeit ziemlich genau das sein, was allen einzelnen Exemplaren gemeinsam ist ![]() Zugleich aber tritt gerade hier am deutlichsten hervor, wie ungerechtfertigt diese Versuche sind, Geschichte nur als Wirtschaftsgeschichte und dann als Naturwissenschaft zu treiben. Sie beruhen nämlich, wie sich leicht zeigen läßt, auf einem Prinzip zur Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, das vollkommen willkürlich gewählt ist, ![]() ![]() Ja, die absolut gesetzten Werte sind hier so maßgebend, daß das für sie Bedeutsame in das allein wahrhaft Seiende ![]() ![]() ![]() Hat man sich die Wertgesichtspunkte, auf denen der "historische Materialismus" beruth, einmal klargemacht, so sieht man, was von der Objektivität einer solchen Geschichtsschreibung zu halten ist. Sie ist vielmehr das Produkt von Parteipolitik als Wissenschaft. Daß früher das wirtschaftliche Leben von den Historikern vielleicht allzu wenig beachtet wurde, soll nicht bestritten werden und als ergänzende Betrachtung hat die Wirtschaftsgeschichte gewiß ihren Wert. Jeder Versuch aber, alles auf sie als das einzig Wesentliche zu beziehen, muß zu den willkürlichsten Geschichtskonstruktionen gerechnet werden, die bisher überhaupt versucht worden sind. ![]() DIE QUANTITATIVE INDIVIDUALITÄT Nach diesen Einschränkungen kann der Sinn, in dem wir Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft einander entgegensetzen, nicht mehr mißverstanden werden und die am Anfang gestellte Aufgabe, die empirischen Wissenschaften, soweit das durch Darlegung der beiden logisch einander entgegengesetzten Grundtendenzen möglich ist, in zwei Hauptgruppen einzuteilen, darf also als gelöst gelten. Da jedoch der hier entwickelte Versuch von den herkömmlichen Meinungen weit abweicht, hat er selbstverständlich nicht nur Zustimmung gefunden, sondern ist auch von den verschiedensten Seiten angegriffen worden. In einer Darstellung, der es wie dieser vor allem darauf ankommt, die Hauptsachen übersichtlich zu geben, kann man nicht allen Einwänden begegnen. Ich habe deswegen ausdrücklich an einigen Stellen auf spätere Ergänzungen hingewiesen und ich will jetzt versuchen, wenigstens noch die wichtigsten Punkte klarzustellen, an die sich vor allem Bedenken knüpfen lassen. Erstens kann man bestreiten, daß das naturwissenschaftlich generalisierende Verfahren unter allen Umständen unfähig ist, das Individuelle und Besondere zu begreifen ![]() Zweitens kann man behaupten, daß auch ohne Wertgesichtspunkte eine individualisierende Begriffsbildung möglich ist ![]() Schließlich kann man, auch wenn diese beiden Einwände erledigt sind, die Objektivität der historischen Kulturwissenschaften problematisch finden ![]() Was die Erfassung des Besonderen und Individuellen durch naturwissenschaftlich verfahrende Disziplinen betrifft, so werden als Beispiele hierfür fast immer die Physik und die Astronomie genannt. Das ist kein Zufall und der Grund dafür ist auch nicht schwer zu finden. Diese beiden Wissenschaften wenden die Mathematik auf ihre Objekte an und wir brauchen nur an das zu erinnern, was wir über die zwei Wege gesagt haben, die der Wissenschaft zur Überwindung des heterogenen Kontinuums jeder Wirklichkeit offenstehen (4), um zu begreifen, weshalb man eine restlose Erfassung der individuellen Realität durch die Begriffe der Physik und der Astronomie für möglich hält. Zugleich aber wird man unter diesem Gesichtspunkt am leichtesten einsehen, daß hier eine Täuschung vorliegt, d. h. daß die Wirklichkeit auch durch diese Wissenschaften nur in einer Weise begriffen werden, die unseren logischen Grundgegensatz von Natur und Geschichte nicht in Frage stellt. Wir brauchen zu diesem Zweck nur einen neuen Begriff der "Individualität" zu verstehen, der sich sowohl von der schlechthin unbegreiflichen bloßen Andersartigkeit jeder Wirklichkeit als auch von der durch Wertbeziehung entstehenden Individualität, die in die historischen Begriffe eingeht, prinzipiell unterscheidet und den man als Begriff der quantitativen Individualität im Gegensatz zur stets qualitativen Individualität der Wirklichkeit als der bloßen Andersartigkeit ![]() Die Naturwissenschaft beschränkt sich in einigen Disziplinen bei ihrer Begriffsbildung auf das an der Wirklichkeit, ![]() ![]() ![]() Wer von einer derartigen, bei aller Nüchternheit doch höchst phantastischen Metaphysik, auf die wir hier nicht näher eingehen können (5), beherrscht ist, wird das Wesen der wissenschaftlichen Begriffsbildung nie verstehen. Unsere Wissenschaftslehre gilt in der Tat nur unter der Voraussetzung, daß die Wirklichkeit jenes qualitative heterogene Kontinuum ist, von dem früher gesprochen wurde und daß die empirischen Disziplinen den Sinn haben, diese empirische Wirklichkeit zu erkennen. Hält man hieran fest, dann fügen sich die quantifizierenden Naturwissenschaften unserer Theorie leicht ein, ja es zeigt sich, daß gerade sie die Individualität der Wirklichkeit und der Geschichte, die stets qualitativ ist, niemals in ihre Begriffe aufnehmen können. ![]() Freilich, das muß man zugeben: jene rein quantitative "Welt" der Physik ist durch die generalisierende Begriffsbildung restlos erkennbar ![]() ![]() ![]() Unter welcher Voraussetzung allein ist dies zutreffend? Man muß mit der rationalistischen Metaphysik des siebzehnten Jahrhunderts die bloße Ausdehnung, die extensio von DESCARTES und SPINOZA, der körperlichen Wirklichkeit gleichsetzen und dementsprechend die letzten Teile dieser "Wirklichkeit" oder die "Atome" sich so denken, daß aus ihnen der Körper besteht ![]() ![]() ![]() Das rein Quantitative ist, für sich betrachtet, unwirklich. Die bloße "Ausdehnung" enthält noch keine körperliche Realität. Das homogene Kontinuum, das man allein begrifflich vollkommen beherrscht, steht vielmehr in schroffstem Gegensatz zum heterogenen Kontinuum, das uns jede Wirklichkeit zeigt, ![]() ![]() Dabei ist es gleichgültig, wie groß oder wie klein man sich das Wirklichkeitsstück denkt, das in seiner Besonderheit und Individualität in Betracht kommt. Solange man überhaupt noch eine Wirklichkeit vor sich hat, die mit den uns bekannten Wirklichkeiten unter einen Begriff gebracht werden kann, muß man sie wie jede Wirklichkeit als heterogenes Kontinuum, also als durch begriffliche Erkenntnis prinzipiell unerschöpflich voraussetzen. ![]() ![]() ![]() Kurz, das heterogene Kontinuum der Wirklichkeit macht sich auch darin geltend, daß die Physik mit ihrer Arbeit nie zu Ende kommen kann. Was sie erreicht, ist immer nur das Vorletzte und wo es so aussieht, als wäre sie zum Letzten gekommen, da beruth das darauf, daß sie das, was noch nicht in ihre Begriffe eingegangen ist, ignoriert. Ein Körper, der in der Weise ein Teil eines größeren Körpers ist wie ein Punkt ein Teil einer Linie und der daher in seiner ganzen Wirklichkeit durch seine Stelle auf der Linie restlos bestimmt wird, ist eine begriffliche Fiktion. Es ist der Begriff eines theoretischen Wertes, einer "Idee", einer "Aufgabe", aber nicht der einer Realität. ![]() Ja, man muß noch einen Schritt weiter gehen. Sogar das homogene Kontinuum einer mathematischen Linie ist etwas prinzipiell anderes als das homogene Diskretum von Punkten, aus denen sie angeblich "besteht". In Wahrheit läßt sich eine Linie nie aus Punkten zusammensetzen und nun soll man gar das heterogene Kontinuum der Wirklichkeit als homogenes Diskretum von "Atomen" im strengen Sinne des Wortes, d. h. einfachen und einander gleichen Dingen denken und dann meinen, dieses restlos erkennbare Gebilde sei eine Wirklichkeit? ![]() Man muß über den rein quantitativ bestimmten mechanischen Begriffen vollkommen vergessen haben, was man in jeder Sekunde seines wachen Daseins an Wirklichkeit erlebt, um glauben zu können, es werde durch die Begriffe der mathematischen Physik irgendeine wirkliche Individualität erfaßt. Tatsächlich bedeutet die scheinbare Individualitäts- und Wirklichkeitsnähe, welche durch die Anwendung der Mathematik und durch die Einführung des homogenen Kontinuums in die Begriffe hervorgebracht wird, die größte Wirklichkeitsferne, denn individuelle Wirklichkeiten sind nie homogen, und alles, was sich mathematisch "individualisieren" läßt, ist für sich allein, wie alles rein Quantitative, irreal. ![]() ![]() Hat man das verstanden, so wird man auch in der Astronomie keine Gegeninstanz gegen die Behauptung erblicken, daß sich mit naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffen keine wirklichen Individualitäten in die Wissenschaft aufnehmen lassen. Gewiß, die Astronomie kann für die Vergangenheit und für die Zukunft die Bahnen der einzelnen Weltkörper, die sie mit Eigennamen bezeichnet, genau berechnen, sie kann Sonnen- und Mondfinsternisse bis auf Bruchteile einer Sekunde voraussagen und ebenso die individuellen Zeitpunkte angeben, in denen sie früher stattgefunden haben, so daß es möglich ist, damit auch historische Ereignisse chronologisch festzulegen. Schon oft hat man daher in der Astronomie die denkbar vollkommenste Erkenntnis erblickt und von hier aus ist dann das Ideal einer "Weltformel" entwickelt worden, mit deren Hilfe es möglich sein müßte, den gesamten Werdegang der Wirklichkeit in allen seinen individuellen Stadien restlos zu berechnen. Besonders du BOIS-REYMOND hat diese Gedanken populär gemacht und damit in weiten Kreisen die wunderlichsten Vorstellungen von den Zukunftsmöglichkeiten der Naturwissenschaften genährt, die merkwürdigerweise auch in logischen Schriften ihr Unwesen treiben und zur Behauptung geführt haben, der gesamte geschichtliche Verlauf der Welt lasse sich im Prinzip naturwissenschaftlich voraussagen wie eine Planetenbahn. ![]() Es würde zu weit führen, den Knäuel von logischen Widersinnigkeiten, der im Gedanken einer solchen Weltformel steckt, vollständig zu entwirren. Es genügt für unsere Zwecke, wenn wir zeigen, daß schon der Ansatzpunkt für diese Gedankengebilde falsch ist, also ihnen jede haltbare Grundlage fehlt. ![]() Wird von der Astronomie also irgendeine wirkliche Individualität erfaßt? Wir haben bereits gezeigt, daß man die quantitativen Bestimmungen zwar "individuell" nennen kann, weil sie auch zur Individualität gehören wie jede beliebige Bestimmung, daß aber diese raumzeitliche Individualität mit dem, was wir in der Geschichte unter Individualität der Wirklichkeit verstehen, nie zusammenfällt. Mit Rücksicht auf die volle Besonderheit der Weltkörper sind die "individuellen" Raum- und Zeitangaben der Astronomie sogar durchaus allgemein. Denn an derselben Stelle des Raumes und der Zeit könnte sich jedes beliebige Exemplar eines Körpers mit denselben quantitativen Bestimmungen finden, das darum noch nicht eine Einzige der individuellen qualitativen Eigenschaften zu haben brauchte, die seine Individualität ausmachen und die eventuell für eine individualisierende Wissenschaft wesentlich sind. Ist doch der Zusammenhang der individuellen qualitativen und der individuellen quantitativen Bestimmungen auch für die Astronomie ganz "zufällig", ja, kein denkbarer Fortschritt der generalisierenden Wissenschaften wird diese Kluft quantitativer und qualitativer Individualität überbrücken, denn sobald wir das Reich der reinen Quantitäten verlassen und zur qualitativen Wirklichkeit übergehen, kommen wir aus dem homogenen ins heterogene Kontinuum und damit hört jede Möglichkeit einer restlosen begrifflichen Beherrschung der Objekte auf. ![]() Deshalb ändert auch die Möglichkeit einer Zuordnung der Konstruktionen der mathematischen Physik zum Qualitativen der Wirklichkeit an unserem Ergebnis nichts, ![]() ![]() ![]() Wenn ich z. B. weiß, daß einer genau bestimmten Quantität ein Ton von genau bestimmter Höhe, also von genau bestimmter Qualität, entspricht, so ist dabei trotzdem an dem Ton nur das berücksichtigt, was sich beliebig oft wiederholt hat und nicht etwa das, was diesen Ton zum einmaligen und individuellen Wirklichen macht. Oder will man etwa bezweifeln, daß jeder wirkliche Ton wie jeder wirkliche Mensch nur einmal existiert, daß jede einzelne wirkliche Sinnesqualität sich von allen anderen unterscheidet? Bei der Gewöhnung, lediglich in allgemeinen Begriffen zu denken und auf die unwichtige Individualität des Wirklichen nicht zu achten, also an dem Ton nur seine begrifflich bestimmbare Höhe in Betracht zu ziehen, mag man übersehen, was ein wirklicher Ton ist und dann an seine restlose Zuordnung zu quantitativen Bestimmungen glauben. Aber diese Denkgewohnheit ist es gerade, die wir bekämpfen, nehmen wir andere wirkliche Gebilde als "einfache" Sinnesqualitäten, so tritt die Unbegreiflichkeit ihrer qualitativen Individualität sofort zutage. Bei den Tönen sind ihre individuellen Unterschiede unwesentlich, gewiß, aber darum nicht weniger wirklich und sie gehen mit ihrer qualitativen Individualität in keinen Begriff der Naturwissenschaft ein. ![]() Es bleibt also dabei: das Qualitative ist vom Quantitativen durch eine Kluft getrennt, über die auch die Psychophysik der Zukunft keine Brücke schlagen wird. Der Rationalismus des siebzehnten Jahrhunderts mochte glauben, daß jedem "einfachen" und bloß "ausgedehnten" Körper eine ebenso einfache Sinnesempfindung "parallel" zu setzen sei und daß man daher die Wirklichkeit more geometrico behandeln könne. Wir sollten heute endlich gelernt haben, daß die rationalen "Welten" erst Produkte der generalisierenden Abstraktion sind und daß sie deshalb zwar gewiß nicht aufhören, theoretisch und praktisch wertvoll zu sein, aber niemals mit individuellen Wirklichkeiten zusammenfallen. ![]() Aus diesen Gründen hat die Berufung auf Physik und Astronomie oder gar auf Psychophysik für unsere Probleme keine Bedeutung. Der Schritt vom Homogenen ins Heterogene, der uns vor eine prinzipiell unerschöpfliche Mannigfaltigkeit führt, ist stets der Schritt vom Wirklichen zum Unwirklichen, der auch mit dem vom Irrationalen zum Rationalen zusammenfällt. Wir können nur den Schritt von der irrationalen Wirklichkeit zu den rationalen Begriffen machen, indem wir das nicht Quantifizierbare weglassen, die Rückkehr zur qualitativen individuellen Wirklichkeit ist uns für immer versagt. Denn wir werden aus den Begriffen nie mehr herausholen als das, was wir in sie hineingetan haben. Der Schein, als führe ein Komplex von Allgemeinheiten zum Individuellen zurück, entsteht allein dadurch, daß wir uns ein ideales Sein rein quantitativer Art aufbauen, in dem jeder beliebige Punkt beherrschbar ist und daß wir dann diese begriffliche Welt mit der individuellen Wirklichkeit verwechseln, in der es keine "Punkte" gibt. ![]() Im Zusammenhang hiermit sei noch ein Einwand erwähnt, der sich an ein in neuerer Zeit auch in der Philosophie vielfach behandeltes Naturgesetz knüpft. Der sogenannte Entropiesatz, der lehrt, daß es in der Welt zu einem allgemeinen "Wärmetod" kommen muß, weil alle Bewegung allmählich in Wärme übergeht und alle Intensitätsunterschiede sich immer mehr ausgleichen, ist offenbar das Produkt einer generalisierenden Begriffsbildung und doch scheint dadurch zugleich der einmalige Verlauf der "Weltgeschichte" im umfassendsten Sinn des Wortes bestimmt zu werden, ja man hat diese Lehre, wonach die Welt schließlich stillstehen muß wie ein Uhrwerk, das von niemand mehr aufgezogen wird, geradezu als das Entwicklungsgesetz der Welt bezeichnet. Selbstverständlich haben Überlegungen darüber, ob das berechtigt ist, für die Methode der historischen Kultur wissenschaften keine Bedeutung, denn niemand wird behaupten, daß sich die Folgen dieses Gesetzes in dem uns bekannten Abschnitt der Menschheitsgeschichte bemerkbar machen können. Aber im logischen Interesse ist es doch wichtig zu zeigen, daß auch hier das allgemeine Prinzip des notwendigen Auseinanderfallens naturwissenschaftlich generalisierender und historisch individualisierender Betrachtungsweise nicht durchbrochen wird und wir brauchen zu diesem Zweck nur an einige Gedanken zu erinnern, die aus KANTs Antinomienlehre jedem geläuft sein sollten. Wäre der Entrophiesatz wirklich ein historisches Gesetz und nicht nur ein allgemeiner Begriff, dem man jeden beliebigen Teil der Körperwelt als Gattungsexemplar unterordnen kann, so müßte er auf das einmalige Weltganze im strengsten Sinne des Wortes anwendbar sein, denn nur dann könnte er etwas über die Geschichte dieses "historischen" Ganzen sagen. Gerade das aber ist unmöglich, sobald man an den allein zulässigen Begriff des körperlichen Welt ganzen denkt. Die Wirklichkeit ist nicht nur intensiv, sondern auch extensiv unerschöpflich, d. h. ihr heterogenes Kontinuum läßt nicht nur im kleinen, wie wir bereits sahen, sondern auch im großen jede Grenze vermissen und infolgedessen ist die Anwendung eines Gesetzes, das begrenzte, erschöpfbare Quantitäten voraussetzt, auf das Weltganze ausgeschlossen. Der Begriff des Wärmetodes verliert dementsprechen sofort seinen Sinn, sobald es sich nicht mehr um ein begrenztes "Quantum" von Energie handelt. Mit Rücksicht auf den ersten Satz der Thermodynamik, wonach das Quantum der Energie konstant ist, hat man das schon oft bemerkt und sonderbarerweise daraus bisweilen den Schluß gezogen, es müsse die Wirklichkeit begrenzt sein. Dieser Schluß beruth jedoch wieder auf einer unzulässigen rationalistischen Verwechslung der Realität mit unseren Begriffen oder er setzt voraus, daß die Wirklichkeit sich auch mit Rücksicht auf ihre inhaltlichen Bestimmungen nach der Wissenschaft richte. Tatsächlich darf man nur den Schluß ziehen, daß die Welt der Physik nicht "die" Wirklichkeit ist und daß sowohl der erste als auch der zweite Hauptsatz der Thermodynamik lediglich in dem Sinne auf das Weltganze anwendbar sind, daß jeder seiner Teile als Gattungsexemplar darunter fällt. Der Teil ist dann aber zugleich als geschlossen und endlich, also in dieser Hinsicht als prinzipiell verschieden vom Weltganzen zu denken. Schon die Ausführung dieses Gedankens in einer Richtung entscheidet: da man der Wirklichkeit keinen Anfang in der Zeit setzen kann, müßte der Wärmetod längst eingetreten sein, wenn man das Quantum Wärme oder kinetischer Energie als endlich annimmt und wenn man es "unendlich" groß setzt, falls das überhaupt einen Sinn hat, kann der Wärmetod nie eintreten. Der Entropiesatz gilt also, falls er richtig ist, nur von jedem beliebigen als geschlossen gedachten Teil der Welt. Über den einmaligen Verlauf oder über die Geschichte des Welt ganzen sagt er uns gar nichts und deswegen sagt er uns im Grunde auch nichts mit naturgesetzlicher Notwendigkeit über die Geschichte irgendeines wirklichen Teils der Welt, denn keiner dieser Teile ist wirklich vollkommen geschlossen, so daß es in ihm einmal zu einem Stillstand kommen muß, wie in einer Uhr, die niemand mehr aufzieht. Es bleibt vielmehr sehr wohl denkbar, daß jeder beliebige Teil in eine kausale Verbindung mit einem anderen Teil der Welt tritt, in dem ein größeres Maß von Wärme vorhanden ist, wodurch dann auch sein Wärmemaß wieder zunimmt, er wie eine Uhr von neuem aufgezogen wird, also nicht zum Stillstand kommt und dies kann sich wegen der prinzipiellen Grenzenlosigkeit der Welt beliebig oft wiederholen, so daß die Geschichte eines Teils sehr wohl auch in umgekehrter Richtung verlaufen kann, wie der Entropiesatz lehrt oder daß sich in ihr ein Auf- und Abwogen im Wärmequantum zeigt, wie wir das ja tatsächlich in den meisten uns bekannten Teilen der Welt beobachten. Selbstverständlich sind dies nichts anderes als logische Möglichkeiten, aber sie genügen hier, wo es nur darauf ankommt, zu zeigen, daß es keinen Fall gibt, in dem das allgemeine Gesetz zugleich den einmaligen Verlauf eines historischen Ganzen mit Notwendigkeit bestimmt. Auch der Entropiesatz sagt uns nichts über den einmaligen Verlauf des Weltganzen, also über die "Weltgeschichte", sondern nur etwas über jeden beliebigen, aber zugleich geschlossenen Teil. Jeder dieser Teile ist dann dem allgemeinen Gesetz als Gattungsexemplar unterzuordnen und gerade auf dieser Allgemeinheit beruth die Bedeutung des Gesetzes. Es hat wie alle Naturgesetze die "hypothetische" Form: wenn es ein geschlossenes Körperganzes gibt, dann ![]() Im übrigen sei noch einmal bemerkt, daß diese Ausführungen für die Einteilung der empirischen Wissenschaften in die zwei Gruppen der generalisierenden Naturwissenschaften und der individualisierenden Kulturwissenschaften nicht wesentlich sind. Wir mögen den Begriff der Kultur durch Übertragung des Wertgesichtspunktes auf ihre Vorstufen und ihre sonstigen, räumlichen Bedingungen noch so weit ausdehnen, wir werden doch niemals zum Begriff eines historischen Ganzen kommen, in dem das, was der Entropiesatz aussagt, von geschichtlicher Bedeutung werden könnte, selbst wenn wir dieses Ganze als geschlossen annähmen. Nur das prinzipielle und allgemeine logische Auseinanderfallen von Naturgesetzlichkeit und Geschichte sollte auch hier gezeigt werden. Da es sich dabei hauptsächlich um die Bekämpfung einer falschen Auffassung der rein quantitativen Begriffsbildung und somit der Mathematik handelt, möchte ich diese Ausführungen mit einem Wort von GOETHE schließen, der zwar gewiß kein systematisch wissenschaftlicher Philosoph war, dafür aber einen eminenten Sinn für das besaß, was wirklich ist. RIEMER überliefert von ihm die folgenden Worte: "Die mathematischen Formeln außer ihrer Sphäre, d. z. dem Räumlichen, angewendet, sind völlig starr und leblos und ein solches Verfahren ist höchst ungeschickt. ![]() ![]() ![]() Anmerkungen 1) Diese Untersuchung findet sich in meinem Buch über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Vgl. besonders Seite 264f und 480f, dritte und vierte Auflage Seite 181f und Seite 330f. Wer sich mit meinen Ansichten kritisch auseinandersetzen wir, muß die dort entwickelten Gedankengänge berücksichtigen. Sie sind nicht etwa "Zugeständnisse", wie man sie oft genannt hat, sondern in ihnen liegt geradezu der Schwerpunkt für eine wirklich logisch durchgeführte Methodenlehre der empirischen Einzelwissenschaften. Wer das nicht beachtet und dann z. B. meint, jede Untersuchung der Kulturobjekte müsse nach meiner Ansicht nur historisch verfahren, wird die hier entwickelten Gedanken mißverstehen. Man sollte endlich die Meinung aufgeben, daß alle Einzelwissenschaften sich in ein zweigliedriges Schema bringen lassen, wie es das von Natur- und Geisteswissenschaften ist. 2) Da wiederholt im Anschluß an meine methodologischen Untersuchungen die Frage erörtert worden ist, ob die Nationalökonomie eine historisch-individualisierende oder eine generalisierende Wissenschaft sei, bemerke ich ausdrücklich, daß ich nicht beabsichtigen kann, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Sie muß der Entscheidung der Einzelforscher überlassen bleiben. Unter logischen Gesichtspunkten ist eine generalisierende Darstellung des wirtschaftlichen Lebens ebenso berechtigt wie eine individualisierende. Lediglich die Meinung, daß die Nationalökonomie ausschließlich generalisierend verfahren dürfe, ist abzulehnen. Das wäre eine schlechte Methodenlehre, die nicht für die verschiedenen "Richtungen" der Einzelforschung Platz hätte. 3) Offenes Antwortschreiben an das Zentralkommittee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig, 1863. An den oben zitierten Satz von LASSALLE habe ich gedacht, als ich in der ersten Auflage dieser Schrift den Ausdruck "Ideale des Magens" gebrauchte. TÖNNIES hätte das wohl vermuten können und jedenfalls nicht schreiben sollen, er sehe nicht, "aus welchem Sumpf RICKERT die ihm eigentümliche Darstellung der materialistischen Geschichtsauffassung geschöpft hat." (Archiv für systematische Philosophie, Bd. VIII, Seite 38) Wenn TÖNNIES später den "schrillen Klang" seiner Worte damit erklärt, daß er sich "persönlich gereizt fand durch den hochfahrenden Ton", (a. a. O. Seite 408), so ist das nur ein neuer Beweis darüf, daß gewisse naturalistische Geschichtsauffassungen mehr eine Sache persönlicher und meist leidenschaftlich vertretener "Überzeugung" als ruhiger wissenschaftlicher Begründung sind. Die Sätze im Text sind gar nicht "hochfahrend", sondern suchen lediglich die Tatsache festzustellen, daß der "historische Materialismus", wie jede Geschichtsphilosophie, auf bestimmten Wertsetzungen beruth und daß seine ganze Verspottung des Idealismus auf eine Vertauschung der alten Ideale mit neuen, nicht etwa auf eine Beseitung der "Ideale" überhaupt hinauskommt. Das zu widerlegen hat TÖNNIES leider nicht versucht. Daß viele zu einer naturalistischen Geschichtsauffassung auch in ganz altmodischer Weise aufgrund von Idealen des Kopfes und des Herzens kommen, will ich gewiß nicht bestreiten. Aber das stellt diese Denker nur "menschlich" höher, nicht wissenschaftlich, denn das ist die eine Inkonsequenz und ein Rückfall in "Ideologie". 4) Vgl. oben 5) Vgl. über diesen physiologischen Idealismus mein Buch: Der Gegenstand der Erkenntnis, 1892, 4. und 5. Auflage 1921, Seite 63f 6) Vgl. FRISCHEISEN-KÖHLER, Wissenschaft und Wirklichkeit, Seite 150f |