ra-2HobbesBluntschliM. AdlerJ. EötvösE. KaufmannA. Müller    
 
GEORG JÄGER
Erkenntniskritik und Staatswissenschaft
[2/2]

"Das letzte Kriterium der Wahrheit ist das Gefühl der Denknotwendigkeit. Wie sich diese bildet, ist eine Frage für sich; jedenfalls entspringt es dem Wesen und den Gesetzen des Denkens. Die Einsicht in die Notwendigkeit, die das Denken beherrscht, ist demnach die Bedingung bewußter Erkenntnis. Die Erkenntniskritik hat Recht, wenn sie die Wahrheit vom Wesen des Denkens aus begreifen will, nur darf das Denken nicht in rationalistischer Weise mit der Vernunft in eins gesetzt werden."

"Ein vervielfältigtes Ich, ein unbestimmtes  Man  oder  Wir  verwerten die staatswissenschaftlichen Theorien als Subjekt und Träger der als notwendig empfundenen Staats- und Rechtsbegriffe, als höchste Instanz für ihre Wahrheit und Wirklichkeit. Auf sein Zeugnis pflegen sie sich zu berufen für die Axiome, die Begriffe und Zwecke, die keines Beweises bedürfen und durch ihr Dasein und ihre Überzeugungskraft sich selbst Beweis sind."

"Gerade die sozialistische Kritik zwang die individualistische Theorie, sich auf die objektive Grundlage ihres Rechtssystems zu besinnen: alle Rechte setzen ein Recht, eine objektive Rechtsordnung voraus, in der sie Schutz gegen die Willkür des individuellen Bewußtseins suchen und aus der sie ihren Rechtscharakter ableiten."

"Die Rechtsordnung muß als sittliche Ordnung gestaltet, empfunden und begriffen werden im Zusammenhang mit sittlichen Vorstellungen, sonst wird sie zur Zwangsorganisation und hört auf, als Rechtsorganisation zu wirken, d. h. die freie Zustimmung des sittlichen Willens zu finden, die selbst vom Opfer des Rechtszwangs nicht als Gewalt betrachtet, sondern als gerecht, als Folge einer sittlichen und sozialen Notwendigkeit anerkannt wird."


III.

In der Staats- und Rechtsbildung wird das geschichtliche und gesellschaftliche Leben einer gesetzmäßigken Form der Notwendigkeit unterworfen. Aber diese Notwendigkeit hängt selber von der geschichtlichen Wirklichkeit ab. Durch diese erhalten sie und die Idee, die ihr im Bewußtsein des Menschen entspricht, ihren wirksamen Inhalt, und nicht von den Formalprinzipien einer rationalen Staatswissenschaft oder einer allgemeinen Staatslehre.

Denn das objektive, geschichtliche Dasein gehört ebenso sehr zum Wesen vom Staat und Recht wie ihre geistige Natur und ihre im Charakter des menschlichen Gemeinschaftslebens und Wollens begründete Notwendigkeit. Also gehört dieses geschichtliche Sein auch zum Wesen eines Denkens über Staat und Recht, das objektiv sein will und aus der Wirklichkeit sein Gesetz erhält. Wer von ihm abstrahiert, zerstört die Einheit von Denken und Wirklichkeit, in der die Wahrheit besteht.

Eine allgemeine Staats- und Rechtswissenschaft ist ein Phantom, dem kein realer Gegenstand entspricht. Eine Sammlung wichtiger Erfahrungssätze aus der Politik und dem Rechtsleben mag sie bieten; aber dadurch wird sie noch nicht zu einer Wissenschaft, deren Aufgabe die Erkenntnis einer Notwendigkeit bleibt. Das Denken über Staat und Recht ist mit einer konkreten geschichtlichen Wirklichkeit verwachsen. In ihr ruht die Notwendigkeit, die es zu erkennen vermag. Von einer rationalen Psychologie, die aus dem Begriff des Selbstbewußtseins das Wesen der Seele zu entwickeln versuchte, hat die Erkenntniskritik alle die befreit, die nicht auf die thomistische Philosophie eingeschworen sind. Noch trügerischer ist eine Staats- und Rechtslehre, die aus einer allgemeinen Idee von Staat und Recht nach allgemeingültigen Begriffen, Zwecken oder Postulaten Staat und Recht konstruieren oder begreiflich machen will. Denn wie es keine absolute Gottesidee, sondern nur geschichtliche Gottesideen gibt, so gibt es geschichtliche Staats- und Rechtsideen. Die Jllusion einer absoluten Gültigkeit erzeugen diese geschichtlich bedingten Ideen dadurch, daß sie wegen ihrer geschichtlichen Notwendigkeit in dem von der gleichen Notwendigkeit beherrschten Bewußtseins neben sich keine andere Gottesvorstellung, keine anderen Staats- und Rechtsgedanken dulden.

Jeder Versuch, das geschichtliche Leben nach einer einheitlichen Formel oder einem einheitlichen ökonomischen Entwicklungsgesetz zu begreifen, scheitert an der Mannigfaltigkeit und Sprödigkeit der geschichtlichen Wirklichkeit. Die Einheit der Notwendigkeit zersplittert in zahlreiche Notwendigkeiten, und jede empfängt ihr Gesetz im besonderen Kreis der Wirklichkeit, der Erscheinungen und Tatsachen, in dem sie wirkt.

Die Keime allen geschichtlichen Lebens in ihrer bunten Wirklichkeit, das Volkstum, die Elemente des Rechts und der wirtschaftlichen Organisation, die religiösen Vorstellungen, die Macht der Persönlichkeit, die geschichtlichen Ereignisse gestalten die Notwendigkeit, die die Staats- und Rechtsbildung beherrscht. Sie gestalten auch das Denken und demnach das Verhältnis des Denkens zur Wirklichkeit, also die Denknotwendigkeit, die als Gesetz der Erkenntnis wirkt und empfunden wird. Sie sind zugleich Samen und Frucht, Ursache und Wirkung, Notwendigkeit und Wirklichkeit.

Sie sind nicht nur Elemente der Geschichte, sondern Wirklichkeit und lebendige Ursache der Gegenwart. In ihr wirken jene Keime und Elemente des Lebens als lebendige Kräfte und nur als solche und nicht als Geschöpfe und Erbe der Vergangenheit dienen sie zum Verständnis der Gegenwart. Denn diese ist nach einfach Resultat und Fortsetzung eines früheren Zustandes. Es genügt nicht, die historische Frage nach ihrem Ursprung zu stellen und die Erscheinungen ihres Lebens an der Kette der Tatsachen auf die geheimnisvolle Tatsächlichkeit zurückzuführen, die den Untergrund der Geschichte bildet. Die Gegenwart ist geschichtliches Leben. Als Leben muß sie verstanden werden nach ihrem eigenen Lebensgesetz, nach einer Notwendigkeit, die zusammenfällt mit der Gesamtheit der Tatsachen. Das Leben der Gegenwart muß sich selbst, seine Wirklichkeit, seine Ursachen und seine Notwendigkeit in einer beständigen inneren Schöpfung neu erzeugen. Indem es dies tut, erzeugt es die Rätsel seines Daseins neu, nicht als geschichtliche Probleme, sondern als Rätsel des gegenwärtigen Lebens.

Die Elemente und Grundkräfte der Geschichte sind kein formloser Stoff und kein abstraktes Gesetz. Es sind reich und bestimmt ausgestaltete Gebilde schon in ihrer primitiven Erscheinung. Gerade wegen der Bestimmtheit ihrer Gestalt fordern sie eine Ursache. Sie müssen aus einer Notwendigkeit erklärt werden, nach der ihr Dasein, ihr Wesen und ihre Wirkungsweise verständlich wird. Die Tatsache kann sich nicht einfach selbst an die Stelle der Erklärung setzen, die das Denken verlangt, wenn es Erkenntnis werden soll. Trotz der Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Wirklichkeit und trotz seiner eigenen Abhängigkeit von dieser Mannigfaltigkeit sucht also das Denken nach einer einheitlichen Ursache, nach einer Notwendigkeit, auf die sich alle Teilursachen zurückführen lassen. Seine eigene Natur kann das Denken nicht ablegen. Denn die Erkenntnis ist Vernunfterkenntnis. Sie kann auf diesen Charakter nicht verzichten, ohne sich selbst aufzuheben. Sie strebt nach innerer Einheit und nach Einheit der Kausalerklärung, sobald sie über den engen Bereich einzelner Erfahrungen zu allgemeingültigen Prinzipien aufsteigt, nach denen Zusammenhang, Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit der Erscheinungen begriffen und die Erkenntnis in Einklang mit dem Wesen vernünftigen Denkens gesetzt wird. Daraus ergibt sich ein innerer Widerspruch der Erkenntnis. Während sich das Denken Einheitlichkeit und Vollständigkeit der Kausalerklärung zum Ziel setzt und nur so seine innere Einheit sichern kann, hebt die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit diese Einheitlichkeit und Einheit auf; denn die gleiche Ursache müßte gleiche Wirkungen haben. Die Verschiedenheit der Wirkungen weist auf eine Verschiedenheit der gestaltenden Notwendigkeit hin. Die innere Einheit der Erkenntnis ist bei der geschichtlichen Natur und Bedingtheit des Denkens ein täuschender Schein.

Die Rätsel und die ungelösten Widersprüche der Metaphysik waren nicht nur kosmologische Probleme, sie berührten auch die Staats- und Rechtsphilosophie. Denn die alte Metaphysik war nicht nur eine Kosmologie der natürlichen Welt. Ihr Weltbil war einheitlich und umfaßte die gesellschaftliche, die sittliche und geschichtliche Welt mit. Hier und nicht allein in theologischen und naturphilosophischen Vorstellungen lagen die Wurzeln der Anschauungen, die ihr Weltbild gestalteten.

Das metaphysische Weltbild war ein als Realität gedachtes Spiegelbild des Wesens des Denkens. In den metaphysischen Ideen erschienen die Forderungen, die der menschliche Geist an die Erkenntnis und an das Bild der Wirklichkeit stellte. Die metaphysische Ontologie behandelte sie als reale Wesen oder als eine Notwendigkeit, die als objektive Ursache wirkt: die Welt ist für sie nicht nur die gedachte Einheit, sondern der tatsächliche Inbegriff, das einheitliche, objektive System aller Tatsachen; Gott ist das  ens realissimum,  der Inbegriff aller als Ursache und Gesetz denkbaren Möglichkeiten, die Notwendigkeit, durch die sich die Welt als vernünftige, zweckmäßige und sittliche Tatsache verwirklicht.

Aber gerade weil die metaphysischen Ideen als Wirklichkeit vorgestellt wurden, stießen sie mit der Wirklichkeit zusammen. Die Summe der erkennbaren Tatsachen entsprach ihnen nicht und ließ sich aus ihnen nicht erklären. Das  ens realissimum,  die Idee einer in ihrer Unbegrenztheit unerschöpflichen Quelle der Kausalität blieb ein vages Erkenntnisprinzip, das wegen seiner Unbestimmtheit und Inhaltslosigkeit für die wirkliche Erkenntnis des bunten Reichtums der natürlichen und geschichtlichen Welt unbrauchbar war. Das Band zwischen ihm und der Welt der Tatsachen zerriß, während sich die gestaltende Notwendigkeit in ihr offenbaren müßte. Es zerriß zwischen ihm und der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, wenn es als sittliche und vernünftige Notwendigkeit nach den Bedürfnissen der menschlichen Seele gedacht wurde.

Das abstrakte Bild zweckmäßiger Kausalität und vernünftiger Notwendigkeit, das  ens realissimum,  der eine überweltliche und übergeschichtliche Gott der Begriffsmetayphysik wurde durch Erfahrungswissenschaft und Erkenntniskritik aus der wissenschaftlichen Welterklärung verbannt. Er erhielt eine neutrale Stelle an der Grenze der Erkenntnis. An die Stelle des geschichtlichen und staatswissenschaftlichen Rationalismus trat eine Wissenschaft, die mit hellen Augen die Erscheinungen des geschichtlichen Lebens betrachtete und seine Pulsschläge mitempfand. Aber der Natur des Denkens entzog auch sie sich nicht trotz der Kritik der metaphysischen Dialektik. Sie schuf ein neues metaphysisches, geistiges Abbild der bunten Mannigfaltigkeit geschichtlicher Wirklichkeit in der Götterwelt ihrer Volks- und Rechtsgeister, der Zeitgeister oder Ideen einer Epoche. Das schien seinem Urbild, der geschichtlichen Wirklichkeit, besser zu entsprechen als die abstrakte, vernünftige Notwendigkeit der alten Geschichtsphilosophie. Die Keime und Grundkräfte der Geschichte und des gesellschaftlichen Daseins, die geschichtliche Eigenart oder die Tendenzen verschiedener Zeitalter gewannen Gestalt, Leben und geistigen Ausdruck. Sie wurden Mittel einer Erklärungsweise, die unter dem Eindruck und Einfluß der Wirklichkeit stand. Wie sich im geschichtlichen Leben selbst die Einheit der Menschheit und die Idee dieser Einsicht verflüchtigte, so löste sich der  eine  Gott der Geschichte, die Gottesidee der einheitlichen, abstrakten Notwendigkeit in zahlreiche göttliche Wesen auf, wie der Gott der Gnosis in den Äonen, die zwischen ihm und der Wirklichkeit der Welt und des Denkens vermittelten. Jener eine Gott behielt seine Majestät und Unerkennbarkeit; erst indem er sich in Volks- und Rechtsgeistern offenbarte, gewann er Erkennbarkeit und Wirkungskraft.

Diese Personifikationen geschichtlicher Verhältnisse und geistiger Anschauungen, Verkörperungen der Art, wie sich die Wirklichkeit im Bewußtsein darstellte, nahmen Teil am Wesen der metaphysischen Gottesidee und so teilten sie auch ihr Schicksal. Ihnen wurde eine selbständige Kausalität, die Wirkungsweise einer gesetzmäßigen Notwendigkeit, das Recht eines höchsten Erklärungsprinzips und Beweggrundes des Willens zugeschrieben. So wurden sie zur Ursache ihrer eigenen Ursache: der Geist eines Rechts oder die Idee einer Epoche sollten die Wirklichkeit erklären, von der sie erzeugt waren und mit der sie abstarben, deren Eindruck auf den Geist sich in ihnen spiegelte.

Es ist ein Verfahren, bei dem das Kausalitätsverhältnis umgekehrt wird, nur liebte die neuere geschichtliche Kunst, ein tatsächliches Verfahren an die Stelle klarer, grundsätzlicher Behauptungen zu setzen. Das Leben wurde zusammengesetzt und erklärt aus seinen eigenen Wirkungen, dem Christentum, dem Protestantismus, dem Calvinismus, dem Geist des Kapitalismus und zahlreichen anderen Geistern. Ihre letzte und höchste Frucht ist der moderne Geist. In ihm wird gewissermaßen die Gegenwart selbst vergöttert und als verweltlichtes  ens realissimum  vorgestellt.

Nun gibt es ein Wort, das unser Problem zu lösen und die Einheit der letzten Ursache mit der Verschiedenheit ihrer Wirkungen zu versöhnen scheint in einer Weise, mit der sich auch die grundsätzlichen materialistischen Vertreter der Einheit der Kausalerklärung zufrieden geben. Das Wort heißt  Entwicklung Aber die Entwicklung ist selbst eine Tatsache, die der Erklärung bedarf: sie ist nicht Ursache und Erklärungsgrund, sondern Folge und Erscheinung des Lebens und der Lebensnotwendigkeit.

Das geistige Bild einer Tatsachenreihe wird als Idee oder Prinzip zu einer Einheit zusammengefaßt und dann als Ursache dieser Tatsachenreihe verwendet bald aufgrund einer idealistischen und bald aufgrund einer materialistischen Hypothese. Ein Erklärungsmoment oder ein Eindruck der Wirklichkeit auf unser Denken wird an das Ende der Kausalreihe gesetzt und diese alsdann willkürlich abgebrochen. Aber jeder Versuch ein Ende zu finden treibt das Problem wieder an die Oberfläche. Denn die Wirkungsweise der Notwendigkeit, die als letzte gesetzt wird, und ihr Verhältnis zu den Erscheinungen und zu unserem Denken bedürfen, um verständlich zu werden, selbst wieder der begründenden und erklärenden Notwendigkeit, weil keine Notwendigkeit sich selbst erklärt. Soll sie in dieser Weise verwendet werden, dann verwandelt sie sich in eine Tatsache und als eine Tatsache muß sie aus einer Ursache oder Notwendigkeit erklärt werden.

Die metaphysischen Probleme verscheuchte die Erkenntniskritik aus der wissenschaftlichen Betrachtung der natürlichen Welt. Sie entfernte sie mit den metaphysischen Ideen aus der erkennbaren Wirklichkeit, indem sie einerseits ihre Unlösbarkeit und andererseits ihren dialektischen oder geistigen Ursprung nachwies. Kann sie sich des gleichen Erfolges im wissenschaftlichen Denken über Staat, Recht und menschliche Gemeinschaftsbildung rühmen, in dem uns verwandte Gegensätze entgegentreten: der Gegensatz von Freiheit des Willens oder der Wirkungskraft der Zwecke und der Notwendigkeit und von Notwendigkeit der Erkenntnis und Begriffe und der Zufälligkeit der Tatsachen, die Wirklichkeit und Denken gestalten? Denn auch die geschichtlichen Tatsachen müssen dem logischen Gesetz des zureichenden Grundes, dem Prinzip der Kausalerklärung unterworfen werden, das den Zufall ausschließt. Von einer aprioristischen, feststehenden Denknotwendigkeit hängen sie aber nicht ab und die Notwendigkeit, der sie in der Staats- und Rechtsbildung unterliegen, entwickelt sich auch als geistige Notwendigkeit aus einer Wirklichkeit, die keinem Vernunftgesetz folgt.

Für die wissenschaftliche Erkenntnis gibt es nur eine Notwendigkeit, die Notwendigkeit, die als erfahrungsmäßige Wirklichkeit erkannt wird. So lautet die These. Aber ihr steht eine Antithese gegenüber: für die wissenschaftliche Erkenntnis gibt es nur eine Wirklichkeit, die Wirklichkeit, die als Notwendigkeit begriffen wird oder begriffen werden kann. Eine Notwendigkeit kann nur durch die Vernunft begriffen oder durch den Geist empfunden werden. Denn sie ist nichts anderes als die Übereinstimmung mit einem als notwendig empfundenen Gesetz des Denkens oder Wollens, und nicht eine Gewohnheit oder Häufung von Eindrücken.

Aus dem staatswissenschaftlichen Denken vermag die Erkenntniskritik die ungelösten Widersprüche nicht zu verbannen, selbst wenn die staatswissenschaftliche Gelehrsamkeit oder der geschichtliche Empirismus sich ihnen verschließt. Sie wurzeln im Denken. Über die natürliche Welt vermag es sich zu erheben. Zur geschichtlichen und gesellschaftlichen Welt dagegen gehört es als eines ihrer Bildungs- und Lebenselemente, als ein Bestandteil ihrer Wirklichkeit, in die es eingesenkt ist mit seinen Problemen und notwendigen Widersprüchen. Die Gegensätze des Lebens erzeugen die Gegensätze des Denkens und der Erkenntnis und die Wirklichkeit des Lebens und des Denkens spottet der erkenntniskritischen Kautelen [Vorbehalte - wp]. Hier ist die Erkenntnis nicht nur eine Theorie, die einen Standpunkt über ihrem Objekt zu gewinnen vermag. Sie ist untrennbar verbunden mit dem Prozeß der Staats- und Rechtsbildung: in ihm bilden sich die Staats- und Rechtsanschauungen, die den Geist beherrschen unter dem Druck der gleichen Notwendigkeit und der gleichen Wirklichkeit. Im geistigen Leben, das die menschliche Gemeinschaftsbildung begleitet, sind die Begriffe zugleich Zwecke und die Gegensätze objektive Tatsachen, ein Bestandteil der 'Wirklichkeit die die Erkenntnis widerspiegeln muß, wenn sie Wahrheit sein soll.

Die bunte Mannigfaltigkeit des geschichtlichen und sozialen Lebens ist nicht nur eine Tatsache, sie ist eine Bedingung seiner Erkennbarkeit. Das starre Einerlei einer einheitlichen Notwendigkeit wäre keine Geschichte, kein geschichtliches Leben und kein Gegenstand geschichtlicher Erkenntnis. Trotzdem kann diese auf das Ziel der Erkenntnis, auf die Einsicht in einen einheitlichen, geschlossenen und gesetzmäßigen Kausalzusammenhang nicht verzichten, weil die Erkenntnis die Form der Vernunfterkenntnis zu gewinnen sucht und sich in dieser Gestalt ihrer Notwendigkeit bewußt wird.

Es ist ein Widerspruch, der in dem Bewußtsein besteht und sich erzeugt, das von einer Lebensnotwendigkeit geschaffen wird und der theoretischen Erkenntnis von Staat und Recht das Gesetz vorschreibt, nachdem sie Wahrheit und Einfluß auf das Denken gewinnt.

Sobald das Denken aus den Schranken der Schule heraustritt und am Bildungsprozeß von Staat und Recht teilnimmt, sobald es also die Wahrheit gewinnt, die sich von der Wirklichkeit des Lebens nicht trennen läßt, gibt es sich nicht mehr der Gewalt der historischen Erfahrungswissenschaft, der geschichtlichen Erscheinungen und Eindrücke hin. Es wappnet sich mit der Selbstgewißheit einer unmittelbar empfundenen Notwendigkeit, die sich in verschiedene Gestalten kleiden kann, für das wissenschaftliche, vernünftige Denken aber die Form der Vernünftigkeit annehmen muß. Den Widerspruch der Vernunft erträgt sie nicht, der Stützen historischer Gelehrsamkeit und Tradition kann sie entbehren. Das wahre geschichtliche Bewußtsein, das aus der Kontinuität der inneren Entwicklung hervorwächst, verzichtet am leichtesten auf die historische Form und vergißt seinen eigenen geschichtlichen Ursprung.

Aber diese Vernunft des staatlichen und rechtlichen Denkens bleibt doch selbst eine geschichtliche Wirklichkeit, eine gestaltete, in ihren letzten Wurzeln unbegreifbare Tatsache, kein absolutes Vermögen des menschlichen Geistes, das sein Gesetz in sich trägt und von ihm aus die Wirklichkeit erfaßt und gestaltet, sondern der geistige Ausdruck einer geschichtlichen Wirklichkeit, die zur Notwendigkeit wird. Ja sie wirkt nur, indem sie sich der reichen Mannigfaltigkeit des geschichtlichen Seins, den Elementen des geschichtlichen Lebens der Gegenwart anpaßt und an ihrer Mannigfaltigkeit, ihren Gegensätzen teilnimmt. Denn sie lebt im geschichtlichen Leben. Trotzdem wird sie wirksam in der Form einer vernünftigen oder sittlichen Notwendigkeit, zu deren Charakter und Wirkungskraft das Gefühl der Einheitlichkeit und Allgemeingültigkeit gehört. Sie macht sich frei von ihrem Ursprung, von den Bedingungen ihres Lebens und ihrer Stärke. So bleibt ein Zwiespalt bestehen zwischen der notwendigen Form und dem wirksamen Inhalt oder Wesen des Denkens, das Staat und Recht zu erkennen und zu gestalten sucht als das, was sie sind: als notwendige Lebensformen und notwendige Ideen.


IV.

Das letzte Kriterium der Wahrheit ist das Gefühl der Denknotwendigkeit. Wie sich diese bildet, ist eine Frage für sich; jedenfalls entspringt es dem Wesen und den Gesetzen des Denkens. Die Einsicht in die Notwendigkeit, die das Denken beherrscht, ist demnach die Bedingung bewußter Erkenntnis. Das  gnothi sauton  [Erkenne dich selbst! - wp] ist die erste Aufgabe der Wissenschaft. Die Erkenntniskritik hat Recht, wenn sie die Wahrheit vom Wesen des Denkens aus begreifen will, nur darf das Denken nicht in rationalistischer Weise mit der Vernunft in eins gesetzt werden.

Das Denken verwirklicht sich, wie das Leben, als individueller Vorgang, als subjektives Urteil, Gefühl und Wollen, auch das Denken, dessen Inhalt Staat, Recht und menschliches Gemeinschaftsleben ist. Das Ich des Selbstbewußtseins ist der Pol, um den sich die Welt der Erscheinungen und Zwecke dreht. Wie die Persönlichkeit die unzerstörbare Zelle des Gemeinschaftslebens bleibt, so ruht im Ich des Selbstbewußtseins der Maßstab des Urteils darüber, was als Wahrheit von Staat und Recht anerkannt und empfunden wird. Denn in ihm wirkt das Gefühl der vernünftigen und sittlichen Notwendigkeit oder der Lebensnotwendigkeit, das letzte Kriterium der Wahrheit und der wirksame Beweggrund des Willens.

Das Ich des Selbstbewußtseins hält sich gern für ein Ding-ansich; denn in seiner Empfindung enden alle Erkenntnisse und Zwecke. Aber in seinem realen Dasein ist es eine Erscheinung und zwar eine geschichtliche Erscheinung und Tatsache. Das Ich, das sich als Subjekt des Staats- und Rechtsbewußtseins fühlt, ist Bestandteil eines allgemeinen Bewußtseins, das durch die Geschichte und die gesellschaftliche Wirklichkeit gestaltet wird und nicht durch eine im subjektiven Bewußtsein begründete Notwendigkeit. Denn Staat und Recht sind ihrem Wesen, ihrem notwendigen Verhältnis zum subjektiven Bewußtsein nach, niemals nur individuelle, sondern stets allgemeine Formen, Zwecke, Begriffe und Lebensnotwendigkeiten. Der feste Zusammenhang mit einem allgemeinen Denken gehört zum Staats- und Rechtsbewußtsein. Nur durch diesen Zusammenhang hat das subjektive Denken, das Ich des Selbstbewußtseins Staats- und Rechtsbegriffe. Es wird also mit dem Kriterium der Wahrheit, das es in sich zu tragen glaubt, insofern es Staats- und Rechtsbewußtsein ist, durch eine allgemeine, geschichtliche und gesellschaftliche Notwendigkeit und Wirklichkeit gestaltet und geschaffen. Denn daß ein "Wir", das ein vervielfältigtes Ich des Selbstbewußtseins und seines Freiheitsgefühls wäre, die Welt des Rechts und der Rechtsgedanken "selbst macht", ist eine trügerische Jllusion und Finte, und es ist unbegreiflich, daß sie sogar in der materialistischen Theorie in einem offenen Widerspruch mit ihren Voraussetzungen auftaucht.

Aber trotzdem versinkt das Ich des Selbstbewußtseins und das Gesetz, von dem es sich beherrscht fühlt, nicht in ein allgemeines Denken und eine allgemeine Notwendigkeit. Es bewahrt sich die volle, unverlierbare Empfindung der Individualität seines Denkens und Wollens, seiner sittlichen Verantwortlichkeit, seiner Zwecke, seines Rechts, seines Verhältnisses zu Staat und Recht. Es fühlt sich als Organ einer Notwendigkeit, die dem allgemeinen Gesetz gleichberechtigt ist und von ihm abhängig wird, ohne in ihm aufzugehen. Es legt den Maßstab, den es in ihr findet, an das allgemeine Denken.

Ein vervielfältigtes Ich, ein unbestimmtes "Man" oder "Wir" verwerten die staatswissenschaftlichen Theorien als Subjekt und Träger der als notwendig empfundenen Staats- und Rechtsbegriffe, als höchste Instanz für ihre Wahrheit und Wirklichkeit. Auf sein Zeugnis pflegen sie sich zu berufen für die Axiome, die Begriffe und Zwecke, die keines Beweises bedürfen und durch ihr Dasein und ihre Überzeugungskraft sich selbst Beweis sind.

Diese letzte Autorität des Rechtsbewußtseins, dieses  Wir,  ist bei Licht besehen aber keineswegs die einfache Vervielfältigung des Ichs des Selbstbewußtseins, das das Gefühl unmittelbarer Gewißheit in sich trägt. Denn dieses Ich behält sich das Recht vor, dem Wir der Rechtstheorien, seinem eigenen Schattenbild, zu widersprechen. Ebenso ist das Ich des Selbstbewußtseins keineswegs einfach der Bruchteil eines Bewußtseins, das seine Wahrheit durch ein allgemeingültiges objektives Gesetz erhält.

Individuum und Staat sind nicht die beiden Pole, zwischen denen sich nach einem klaren Verhältnis das Rechtsleben und Rechtsdenken bewegt. Die Beziehungen zwischen dem individuellen und dem allgemeinen Leben und Bewußtsein, zwischen dem Gesetz, das dieses und das jenes beherrscht, sind verwickelt. Das subjektive und das allgemeine objektive Element stehen in einem Gegensatz. Trotzdem bedingen sie einander, durchdringen sich und bilden eine organische Einheit. Es gelingt nicht zwischen beiden eine scharfe Grenzlinie zu ziehen. Wenn die Theorien versuchen, in dem ein oder anderen Element einen festen Ausgangspunkt der Betrachtung oder ein einheitliches Prinzip des Urteils zu finden und sich nach diesem Ausgangspunkt scheiden, tun sie der Wirklichkeit Gewalt an. Die Ausgangspunkte der Theorien und Schulen sind nicht die Grundlagen des Lebens und Denkens. In den Konsequenzen der Theorien zeigt sich die Unmöglichkeit, den einen Ausgangspunkt festzuhalten, und im Kreislauf des Denkens enden sie auf dem entgegengesetzten Standpunkt.

Eine individualistische Rechtslehre baut Recht, Staat und Gemeinschaftsleben auf der Persönlichkeit, ihrer Freiheit und Selbstbehauptung und den Rechtsvorstellungen auf, die mit dem individuellen Leben gegeben zu sein scheinen, auf den Ideen und Institutionen des Eigentums und des Vertrages, in denen sich die Selbständigkeit des Individuums bewährt und rechtlich verwirklicht. Das innere Leben der rechtlich organisierten Gesellschaft beruth für sie auf einem System subjektiver Rechte, die in einem subjektiven Bewußtsein die geistige Natur des Rechts erhalten. Diesen Charakter tragen dann auch die öffentlichen Rechte. Sie dienen dem individuellen Leben. Der Staat ist der Verband der Rechtspersönlichkeiten.

Ohne Zweifel liegt dieses subjektive Element im Wesen des Rechts. Es läßt sich aus keinem Recht ausscheiden. Auch der Sozialismus wird, als Rechtssystem gedacht, eine kommunistische Begründung subjektiver Rechtsansprüche; auch er will das wahre Recht der Rechtspersönlichkeit verwirklichen und beruft sich auf ihr Rechtsbewußtsein.

Gerade die sozialistische Kritik zwang die individualistische Theorie, sich auf die objektive Grundlage ihres Rechtssystems zu besinnen: alle Rechte setzen ein Recht, eine objektive Rechtsordnung voraus, in der sie Schutz gegen die Willkür des individuellen Bewußtseins suchen und aus der sie ihren Rechtscharakter ableiten. Eigentum und Vertragsfreiheit stützen sich auf die gesellschaftliche Notwendigkeit. Sie erhalten ihren wirksamen Inhalt nicht aus den Vorstellungen isolierter Rechtspersönlichkeiten als deren notwendige Attribute, sondern aus einem ökonomisch ausgestalteten Rechtszustand. Das System subjektiver Rechte ist ein objektives Rechtssystem, das die Persönlichkeit, ihre Freiheit und ihr Denken in seinem Bann hält. In dieser Rechtsordnung lebt der Staat. Selbst wenn er seinen Charakter und seine Lebenskraft durch sein Verhältnis zu den einzelnen Rechtspersönlichkeiten erhalten würde, so bedeutet das keineswegs eine subjektive Zersplitterung des Staatslebens, durch die die Gemeinschaftsbildung subjektiver Willkür preisgegeben würde. Im Gegenteil: durch sein Verhältnis zum Staat wird der persönliche Wille Organ einer objektiven politischen Notwendigkeit. Er muß seinen subjektiven Charakter ablegen, ob die verfassungsmäßigen Formen der Staats- und Rechtsbildung monarchische oder demokratische sind. Vermag er das nicht, vermag er nicht, sich dem Gesetz der Gemeinschaftsbildung anzupassen, dann wird er ein Organ der Auflösung und hört auf der Ausdruck der Notwendigkeit zu sein, die das Recht gestaltet. Die verfassungsmäßige Form allein vermag die sozialen und geistigen Wirkungen des Rechts nicht zu erzeugen. Das vermag nur der Wille, der der Diener des Staates, des wirksamen Prinzips der Rechts- und Gemeinschaftsbildung ist.

Das System privatrechtlicher Ansprüche ist zugleich ein Wertsystem. Der Wert bildet den wahren, realen Inhalt der Rechte. Die Wertbildung ist der materielle Inhalt der Rechtsbildung. Der Wertbegriff ist demnach einer der Grundbegriffe für das Verständnis menschlichen Gemeinschaftslebens. In ihm kehr der gleiche Gegensatz wieder: das subjektive und das objektive Element verwachsen zu einer untrennbaren Einheit.

Vom Wertbegriff gehen individualistische und sozialistische Theorien aus; ihn legt die klassische Nationalökonomie ihrem System zugrunde, und an ihn knüpft die materialistische Geschichtstheorie an, die das individuelle Bewußtseins als Erzeugnis einer objektiven, materiellen gesellschaftlichen Notwendigkeit betrachtet. Aus dem Wertbegriff läßt sich ein subjektives Werturteil nicht ausschalten; ohne eine individuelle, persönliche Wertempfindung käme die Wertvorstellung überhaupt nicht zustande. Der Wert drückt die Bedeutung aus, die ein Gegenstand für ein subjektives Denken und Leben hat. Die individuelle Grundlage des Werturteils wird nicht beseitigt, wenn man ihm im Verbrauch von Arbeitskraft oder von Hirn und Nervensubstanz eine objektive Ursache und einen materiellen Inhalt gibt. Denn der Verbrauch persönlicher Arbeitskraft und individuellen Hirns wäre es, der auf eine rätselhafte Weise Wertempfindung und Werturteil erzeugt.

Der subjektiven Seite des Wertes steht die objektive gegenüber. Sie ist dem Wertbegriff nicht minder wesentlich als jene. Die subjektiven Werturteile setzen den Wert als objektives Verhältnis voraus, und als solches wollen sie ihn bestimmen. Er gliedert sich in ein objektives Wertsystem ein, von dem Wert und Werturteil abhängen. Diese Doppelseitigkeit des Wertes, die Verbindung von Subjektivität und Objektivität ist mit den Tatsachen und dem Wertbegriff gegeben. Man muß sie anerkennen und darf sie nicht beseitigen, indem man dem Denken die Wahl zwischen einem objektivistischen und subjektivistischen Ausgangspunkt läßt. Denn wohin die Entscheidung fällt, an der Wirklichkeit wird sie zuschanden. Die objektiven Wertverhältnisse bilden sich durch subjektive Werturteile, und die subjektiven Werturteile drücken objektive Wertverhältnisse aus und gehen aus ihnen hervor.

Der Gegensatz und die Einheit der objektiven und subjektiven Natur des staatlichen und rechtlichen Denkens und der staatlichen und rechtlichen Wirklichkeit gehört nicht zu den metaphysischen Antinomien, die die Erkenntniskritik aus dem Reich der Wissenschaft und der ihr zugänglichen Erfahrungswelt entfernen kann, indem sie von den Erscheinungen die regulativen Prinzipien des Denkens unterscheidet. Denn in der Welt des geschichtlichen und sozialen Lebens entspring dieser Gegensatz der Wirklichkeit des Lebens und des Denkens, dem notwendigen Verhältnis des Denkens zu sich selbst. Es ist ein subjektiver Vorgang, und als solcher wird er Wahrheit, aber gerade dabei wird er sich seiner objektiven Natur, seines geschichtlichen und gesellschaftlichen Charakters bewußt. Auch als bewußtes Denken bleibt er von seinen geschichtlichen Bedingungen und einer Notwendigkeit abhängig, die nicht in seiner vernünftigen Natur liegt, sondern zugleich in ihm und außer ihm lebt. Es kann den Standpunkt nicht gewinnen, den die Erkenntniskritik ihm anweisen möchte, den Standpunkt, von dem aus es seine eigene Anschauungsweise, die Erscheinungen und sein Verhältnis zu ihnen betrachten könnte. Es würde dem Auge gleichen, das sich selber sehen will. Denn es selbst und seine Anschauungsformen sind eine wechselnde geschichtliche Tatsahe. Sich selbst zu begreifen und vom Ich eines übergeschichtlichen Selbstbewußtseins aus Inhalt und Form des Denkens zu verstehen, ist unmöglich, weil es kein solches Selbstbewußtsein gibt. die Freiheit der Persönlichkeit und die Freiheit ihres Wollens und ihrer Erkenntnis ist gebunden durch die Tatsache ihres geschichtlichen Daseins. Wenn man sagt, daß der Zufall der Persönlichkeit und der Zufall persönlicher Urteile und Zwecke die geschichtliche und soziale Welt gestaltet, dann ist das nur soweit der Fall, als die Persönlichkeit und die persönlichen Zwecke aufhören Zufall zu sein und Geschöpfe und Werkzeuge einer objektiven Notwendigkeit werden, aber einer Notwendigkeit, die ihrerseits die Persönlichkeit, die Subjektivität der Zwecke und Gedanken, also die Verschiedenheit und mit ihr den Gegensatz zwischen dem Gesetz der Individualität und dem allgemeinen Gesetz des objektiven Lebens voraussetzt. Denn Individualität und allgemeines Leben sind nicht Erscheinungen, die man als Tatsachen nebeneinander stellen könnte, sondern beide sind Ausdruck einer als Notwendigkeit empfundenen Wirklichkeit.


V.

Die Erkenntniskritik will Wahrheit und Notwendigkeit aus dem Wesen des menschlichen Denkens und seinem Verhältnis zu den Erscheinungen ableiten. Nun sind Staat und Recht nicht nur Vernunftideen oder geschichtliche Erscheinungen und Tatsachen. Das notwendige Verhältnis des Geistes zu ihnen besteht demnach nicht nur darin, daß vernünftige Begriffe oder gegebene geschichtliche Anschauungsformen auf sie angewandt werden. Sie leben und verwirklichen sich im Willen, ja das Gemeinschaftsleben wird das wichtigste Gebiet sittlicher Willensbetätigung. Zieht sich der Wille aus ihm zurück, dann verfällt er einer individualistischen Selbstsucht und hört auf einer allgemeinen Lebensnotwendigkeit zu gehorchen. Deshalb ist das Verhältnis des Geistes zu Staat und Recht der Notwendigkeit unterworfen, die der Wille als sein Gesetz empfindet.

Die Aufklärung und die Erkenntniskritik, die von ihr ausging, zog eine scharfe Grenze zwischen Recht und Sittlichkeit. Sie beschränkte das Rechtsgebot auf das äußere Verhalten und sonderte es, indem sie dort seine unbedingte Geltung anerkannte, vom kategorischen Imperativ, der das innere Lebensgesetz des sittlichen Willens bildet: die sittliche Natur des Verhältnisses zu Staat und Recht besteht für sie in der Pflicht der Unterordnung oder einer Hingabe, die Willkür und Selbstsucht überwindet. Der Inhalt des Rechtswillens aber wurde von einem Zusammenhang mit sittlichen Begriffen und Zwecken gelöst. Staat und Recht erhielten den Charakter sittlicher Indifferenz.

Der Gedanke ist beinahe ein Axiom moderner Aufklärung geworden, und doch ist er ein Erbe mittelalterlicher, theologischer Anschauung, die die Sündhaftigkeit oder sittliche Indifferenz von Staat und Recht lehrte, um sie dem höheren Prinzip kirchlicher Gemeinschaftsbildung unterzuordnen. Er ist überhaupt nur verständlich bei der Voraussetzung der Passivität des Willens im Prozeß der Staats- und Rechtsbildung.

Der Wille empfindet das sittliche Gebot als ein unbedingtes, als einen kategorischen Imperativ, weil es seinem eigenen Wesen zu entspringen scheint und mit seinem Freiheitsgefühl als Betätigung seiner Autonomie gegeben ist: seine Freiheit besteht für ihn in der Möglichkeit einer Unabhängigkeit von äußeren Rücksichten und Bedürfnissen. Ist der kategorische Imperativ des Sittengebotes die Maxime, die der sittlichen Natur des Willens entspringt, dann ist er ihr als Ganzes in allen seinen Betätigungen unterworfen, auch in seiner wichtigsten: dem sozialen, staatlichen und rechtlichen Wollen. Wird dieses aus ihm ausgeschieden und einer zweiten Notwendigkeit, einem politischen und juristischen kategorischen Imperativ unterworfen, dann wäre die Einheit des Willens gebrochen und mit ihr das, was das Sittengesetz zum kategorischen Imperativ macht, die Unbedingtheit seiner Geltung für den Willen.

Das Pflichtgebot richtet sich an ein vernünftiges Bewußtsein und setzt sich in ihm in ein Urteil um. Deshalb duldet es die Unklarheit des Selbstbetrugs nicht, die sich mit dem Gedanken der Gesetzlichkeit über die Wirkungen des staatlichen und rechtlichen Handelns hinwegtäuscht; weil Staat und Recht sich im Willen verwirklichen, müssen sie in einer dem Gesetz des menschlichen Willens angemessenen Gestalt in unser geistiges Leben eingegliedert werden, wenn Begriff und Wirklichkeit, ihre geistige Natur und ihr äußeres Dasein zusammenstimmen sollen. Erst in dieser Einheit erfüllt sich ihr Wesen. Demnach genügen zu ihrer Erkenntnis nicht die Kategorien der Kausalität und der geschichtlichen Tatsächlichkeit. Staat und Recht müssen den Urteilsformen unterworfen werden, die mit einem vernünftigen und sittlichen Willen, und zwar einem sozialen, gemeinschaftsbildenden Willen gegeben sind: also nicht nur den Grundsätzen der Vernünftigkeit und Zweckmäßigkeit; sondern auch denen der Gerechtigkeit und Sittlichkeit. Erst durch sie und im Zusammenhang mit ihnen vollzieht sich die Verwandlung, durch die zufällige geschichtliche Tatsachen, Machtverhältnisse, ökonomische Notwendigkeiten die Gestalt einer Rechts- und Staatsordnung gewinnen.

Die Rechtsordnung muß als sittliche Ordnung gestaltet, empfunden und begriffen werden im Zusammenhang mit sittlichen Vorstellungen, die der Form nach absolut, dem Inhalt nach selbst dem Gesetz der geschichtlichen Entwicklung unterliegen. Sonst wird sie zur Zwangsorganisation und hört auf, als Rechtsorganisation zu wirken, d. h. die freie Zustimmung des sittlichen Willens zu finden, die selbst vom Opfer des Rechtszwangs nicht als Gewalt betrachtet, sondern als gerecht, als Folge einer sittlichen und sozialen Notwendigkeit anerkannt wird. Nach dem gleichen Grundsatz als sittliche Ordnung, im Zusammenhang mit sittlichen Vorstellungen muß das gegenwärtige Leben und der geschichtliche Ursprung von Staat und Recht begriffen werden, weil das Erkenntnisprinzip einer Wissenschaft von der Wirkungsweise ihres Gegenstandes und seinem Verhältnis zu unserem Geist abhängt. Das Lebensgesetz des Staates ist zugleich das Gesetz seines geschichtlichen Ursprungs. Die Notwendigkeit, auf der die geistige und soziale Wirkungskraft von Staat und Recht beruth, enthält den gegenwärtigen und den geschichtlichen Grund ihres Daseins. Die geschichtliche Erklärung soll keine zufällige geschichtliche Erscheinung beschreiben, sondern Staat und Recht in ihrem Wesen und ihrer Wirkungsweise als notwendige Lebens- und Gemeinschaftsformen verstehen lehren.

Das sind keine Abstraktionen, die dem Leben und der Geschichte Gewalt antun. Das Leben von Staat und Recht besteht nicht im Dasein einer unwiderstehlichen Zwangsgewalt oder einer äußeren aus Zweckmäßigkeitsgründen und geschichtlichen Ursachen unentbehrlichen Ordnung. Niemals kann es der juristischen und politischen Apologetik [Rechtfertigung - wp] gelingen, mit geschichtlichen oder Zweckmäßigkeitsgründen ein erschüttertes Staatsbewußtsein oder einen wankenden Rechtsglauben zu stützen. Leben können sie nicht schaffen, und das Dasein von Staat und Recht ist Leben, geistiges und geschichtliches Leben. Ihr Bildungsprozeß, soweit er sich im Geist abspielt, vollzieht sich nach einem Gesetz, das der Geist als eine innere, in seinem Wesen begründete Notwendigkeit empfindet, und dieses Gesetz bewährt seine Stärke ebensosehr durch seine revolutionäre wie durch seine Staat und Recht schützende Kraft.

Allerdings bestehen Recht- und Staat und Staats- und Rechtsvorstellungen nur als geschichtliche Tatsachen und nicht als Ideen, die von der geschichtlichen Rechtsbildung losgelöst wären. Aber im Recht werden die äußeren, sichtbaren Tatsachen und Vorgänge zu geistigen, gedachten und gewollten Beziehungen. Die äußeren Vorgänge und Erscheinungen werden in den Rechtsformen und in den Rechten zu Symbolen und Kennzeichen innerer, durch Begriffe und Willensakte gestalteter Verhältnisse oder zu Trägern gesellschaftlicher, aus dem Gesellschaftsleben entspringender Kräfte, wie die Substanz des Eigentums Träger des wahrhaft wirksamen Moments, des Wertes wird.

Daß das Eigentumsrecht ein geistiges Wesen ist und sich in ihm die Verfügungsgewalt von einem äußerlichen, körperlichen Besitz eines Gegenstandes loslöst , daß der Wertcharakter aller Eigentumsobjekte ihren Stoff zu einer bloßen Voraussetzung ihres wirksamen Inhalts macht, hatte schon der staatswissenschaftliche Rationalismus erkannt. Aber er war gebunden, nicht durch eine Vernunftform - das war nur Schein, denn das Eigentumsrecht, das er voraussetzt, ist keine notwendige Vernunftform -, sondern er war gebunden durch die geschichtliche und gesellschaftliche Wirklichkeit, in der er sich entwickelte. Wie er das Denken in die Formen des Vernunftschlusses zu bannen suchte, so verstand er auch die geistige Natur des Rechts von engen, rationalistischen Anschauungen aus. Deshalb verkannte er, daß diese geistige Natur des Rechts ihren Charakter vom Willen und von sittlichen Vorstellungen aus erhält. Die Rechtsidee wirkt und lebt als Bestandteil des sittlichen Bewußtseins. Gerechtigkeit und Freiheit sind Grundbegriffe des Rechts. Sie vereinigen in sich das sittliche und rechtliche Element. In primitiven Zuständen, im hellenischen und deutschen Altertum treten uns diese Begriffe als Rechtsanschauungen entgegen mit einem bestimmten, rechtlichen und sozialen Inhalt: sie entwickelten sich dann zu Begriffen individueller Sittlichkeit. Von dieser neuen Grundlage aus suchten sie sich aufs neue im Gemeinschaftsleben, in einer Rechtsordnung zu verwirklichen. Sie wurden zu Rechtsbegriffen und Rechtszwecken, zu Prinzipien organisierten Gemeinschaftslebens. Iin einem lebendigen Recht und in der Rechtsbildung bleibt der Zusammenhang mit sittlichen Begriffen und Bedürfnissen bestehen. Denn ihren ursprünglichen Charakter kann die Rechtsidee nicht deshalb verlieren, weil sie sich im positiven Recht durchsetzt. Die Enttäuschung des Rechts, die sich in seiner Loslösung von sittlichen Vorstellungen vollzieht, ist ein Kennzeichen seiner Erstarrung und Auflösung, ein Beweis, daß es seine Rechtsnatur, die Wirkungsweise des Rechts verliert.

Nicht durch seine Macht, die Unwiderstehlichkeit seiner Zwangsgewalt und die Tatsache seines Bestandes begründet und rechtfertigt der Staat seine Autorität. Durch sie gewinnt er nicht die Herrschaft über den sozialen Willen und das soziale Bewußtsein. Staat und Recht beanspruchen stets zweckmäßig und vernünftig, gerecht und sittlich zu sein. Den Gedanken, daß sie in ihren Wirkungen unzweckmäßig und unvernünftig, ungerecht und unsittlich sein könnten, dürfen sie nicht aufkommen lassen, ohne sich selbst da zu zerstören, wo die Wurzeln ihrer Kraft liegen, in den Seelen der Menschen. Auch die Apologeten [Verteidiger - wp] einer erstarrten Rechtsordnung gestehen die Notwendigkeit einer solchen vernünftigen und sittlichen Selbstbeurteilung des Rechts zu, indem sie ihm durch Fiktionen Vernünftigkeit und Sittlichkeit andichten.

Eine Notwendigkeit, die in der geistien Natur des Staates und Rechts, in ihrem Verhältnis zum Bewußtsein und Willen wurzelt, wird zu einem objektiven Gesetz der Staats- und Rechtsbildung. Sie gehört zur Wirklichkeit des Rechtslebens. Die Staats- und Rechtsidee ist verknüpft mitder Idee der Gerechtigkeit und ist unlösbar verbunden mit dem Dasein und der Entwicklung von Staat und Recht. Sie läßt sich aus der Wirklichkeit und einer Erkenntnis, die ihr entspricht, nicht entfernen wie die metaphysischen Ideen. Die Tatsachen der natürlichen Welt bleiben auch ohne die Gotteswelt- und Seelenidee bestehen als Erscheinungen und Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft, die die Erscheinungen nach der Kategorie der Kausalität verknüpft und in einen ursächlichen Zusammenhang bringt, der selbst Erscheinung und Ergebnis einer erfahrungsmäßigen Erkenntnis ist. Ohne die Staats- und Rechtsidee in ihrer wechselnden geschichtlichen Gestalt dagegen zerfiele die geschichtliche und soziale Welt zu Staub. Sie würde aufhören zu existieren und Gegenstand einer Erkenntnis zu sein. Denn der Zusammenhang mit Staats- und Rechtsideen, nicht als spekulativen Idealen oder doktrinären abstrakten Formeln, sondern als Gedanken von geschichtlicher Wahrheit, Wirklichkeit und Kraft, macht das Recht zum Recht, den Staat zum Staat: sie sind es, die geschichtliche und gesellschaftliche Tatsachen in die Sphäre einer geistigen Notwendigkeit erheben und ihnen eine Macht über Bewußtsein und Willen geben, die die historische Tatsächlichkeit oder eine ökonomische Wirklichkeit nicht zu schaffen vermögen. Sie sind es, die dem lebendigen, dem werdenden Recht, das seine Kraft nicht aus einem positiven Rechtszustand zieht, die überlegene Stärke des wahren Rechts verleihen.

Hier stoßen wir auf den grundsätzlichen Widerspruch der materialistischen Geschichtstheorie. Sie bestreitet den geistigen Ursprung und die selbständige Wirkungskraft sittlicher Ideen und der mit ihnen verknüpften Staats- und Rechtsideen: die wahre Ursache ist für sie nicht Bewußtsein und Wille, sondern die Tatsache und das Gesetz, die Bewußtsein und Willen gestalten; die Staats- und Rechtsideen sind nur die geistige Wirkung der ökonomischen Notwendigkeit, in der die materialistische Theorie das Lebensgesetz der Gesellschaft und der Geschichte sieht.

Indessen: Die Lippe schwört, was das Denken leugnet! Die materialistische Theorie widerlegt sich selbst durch die hinter den Worten erkennbaren Gedanken ihrer Vertreter. Der sichtbaren Wirklichkeit von Staat und Recht setzen sie ein Gedankenbild entgegen, durch das die ökonomische Notwendigkeit erst staats- und rechtsbildende Kraft erhält. SO sind sie in Wahrheit weniger materialistisch als die ihrer Gegner, die sich auf eine starre, geschichtliche Tatsächlichkeit berufen. Das menschliche Bewußtsein wird von ihnen selbst auf eine Idee verwiesen, die mit der zwingenden Gewalt einer Pflichtvorstellung ausgerüstet wird. Im Klassenkampf wird die Selbstaufopferung der Persönlichkeit verlangt und ihm wird das Gepräge eines Kampfes um die höchsten Güter der Menschheit aufgedrückt. Die Kraft, die bei jeder Arbeitseinstellung ins Feld geführt wird, ist nicht die ökonomische Zweckmäßigkeit, sondern eine Solidaritätspflicht, die nicht anders wirkt wie ein unbedingtes sittliches Gebot. Nach der Arbeitswerttheorie, die der geschichtliche Materialismus aufgenommen hat, beruth der Wertinhalt, der wahre Inhalt aller Rechtsansprüche auf Arbeitsleistungen. Die Rechtsform, die juristische Begründung eines Rechtsanspruches stimmt also bisher nicht mit dem Rechtsinhalt überein. Dieser hat nicht vermocht, sich eine adäquate Rechtsform zu schaffen, durch die er sich als subjektives Recht verwirklicht. Demnach ergibt sich die Kongruenz von Rechtsform und Rechtsinhalt, in der die Verwirklichung des Rechts besteht, nicht aus den ökonomischen Tatsachen, durch die sich der Wert bildet. Um sie herzustellen, muß die materialistische Theorie an die Idee der Gerechtigkeit appellieren.

Was folgt nun aus der geistigen, sittlichen Natur von Staat und Recht, die sich aus den Tatsachen der Staats- und Rechtsbildung, dem unfreiwilligen Zugeständnis der grundsätzlichen Gegner einer sittlichen Begründung des Rechts und aus einem notwendigen Verhältnis des menschlichen Gemeinschaftslebens zum Willen und seinem Gesetz ergibt? Zunächst der Grundsatz der Idealität oder Vollkommenheit des Staates und des Rechts. Er gehört zu ihrem Wesen ebenso wie die innere Universalität, die Allgemeinheit des Rechtsschutzes für alle die, für die ein geschichtliches Gebilde Staat und Recht ist. Das sind die, in deren Leben und Bewußtsein es als ihr Staat und Recht wirkt. Diesen Grundsatz darf kein Staat und kein Recht verleugnen. Sie müssen ihn anerkennen nicht als lückenlose Wirklichkeit, wohl aber als Postulat, als ihr Lebens- und Bildungsgesetz. Innerhalb der geschichtlichen und natürlichen Bedingungen ihres Daseins beanspruchen sie die Gerechtigkeit und das wirksame Prinzip des Gemeinschaftslebens zu verwirklichen, nicht ein Staat und ein Recht, die auch anders sein könnten, sondern der Staat und das Recht zu sein. So wird ihnen ein Ziel gesteckt und dem Urteil ein Maßstab gegeben, der von den gleichen Ursachen abhängt wie das Gemeinschaftsleben. Es nimmt im menschlichen Bewußtsein die Gestalt eines absoluten Zweckes an. Denn mit diesem Schein muß sich die bedingte Notwendigkeit umgeben, weil hinter der Tatsache der Notwendigkeit die Bedingtheit verschwindet.

Verzichtet der Staat auf die Vollkommenheit und Universalität in diesem geschichtlichen Sinn, dann verzichtet er darauf, die höchste und vollkommene Form menschlichen Gemeinschaftslebens zu sein. Weil das Bewußtsein auf die Verwirklichung einer solchen Form, einer Lebensnotwendigkeit nicht verzichten kann, tritt er damit sein Recht, seine geistige Wirkungskraft an andere Formen der Gemeinschaftsbildung, an einen unpolitischen Staat, eine Kirche oder einen Zukunftsstaat ab. Ihnen überläßt er seinen eigenen Charakter. So zerstört er sich selbst. Das vermag aber kein gesundes, lebenskräftiges Staatswesen. Sein Erstgeburtsrecht, den Anspruch auf den sozialen Prinzipat und auf die Herrschaft über den gemeinschaftsbildenden Willen kann es nicht aufgeben. Aber wahren kann er ihn nur, indem er sich dem Gesetz der Vollkommenheit und inneren Universalität anpaßt, und nicht durch äußere Gewalt. Seine Pflicht entspricht seinem Recht. Er verlangt das höchste Opfer, das Opfer des Lebens und der persönlichen Willkür. Der gesunde Staatssinn, der in einem kräftigen Staat lebt, räumt es ihm ein, aber nicht, weil er die Stärke besitzt, es sich zu nehmen, sondern weil er das Organ der Notwendigkeit ist, die das Gemeinschaftsleben als sittliche Ordnung gestaltet und in sittlichen Begriffen verankert. Wäre er nur das Erzeugnis der Gewalt, der Gewohnheit und der Zweckmäßigkeit, so würde die Persönlichkeit mit ihm rechten oder handeln und die Vorteile und Nachteile des Gehorsams abwägen. Dann wäre das Zerrbild des Staates, das der aufgeklärte bürgerliche Geschäftssinn einst entwarf, seine Wahrheit.

Dem Grundsatz der Vollkommenheit und inneren Universalität von Staat und Recht, der Tatsache, daß die Idee einer vollkommenen Rechtsorganisation das Ding-ansich, das Gesetz der Staats- und Rechtsbildung ist, steht eine zweite Notwendigkeit gegenübe. Sie droht die Einheit des staatlichen und rechtlichen Denkens aufzuheben.

Zum Wesen und Begriff von Staat und Recht gehört ihre äußere, geschichtliche und gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Staats- und Rechtsidee ist nie ein bloßes Gedankending. Bewußtsein und Willen sind an Staat und Recht in einer positiven, geschichtlichen Gestalt gebunden. Denn in dieser ihrer erkennbaren und äußerlich wirksamen Realität und nicht als Idealstaat und Idealrecht sind sie notwendige Formen des Gemeinschaftslebens und verwirklichen sie eine soziale und sittliche Notwendigkeit. Während nur ihre Idealität den Willen zu binden scheint, erheben sie in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit Anspruch auf Heiligkeit und verlangen die Hingabe der Persönlichkeit. Und das Gewissen und das sittliche Urteil müssen ihren Anspruch anerkennen. Denn Gehorsam und Unterwürfigkeit allein würden den Bestand des Staates nicht sichern; sie würden also das Gebot der Notwendigkeit nicht erfüllen.

Die geschichtliche Wirklichkeit von Staat und Recht entspricht niemals dem Gesetz der Vollkommenheit und inneren Universalität, auf die sich ihre Macht über Leben und Persönlichkeit, über Denken und Wollen gründet. Sie erfüllt nie rein die Staats- und Rechtsidee, nicht etwa in einem absoluten Sinn, sondern in ihrer wirksamen durch die Geschichte und die gesellschaftliche Entwicklung bedingten Gestalt. An der Wirklichkeit zersplittern die Gebote der Staats- und Rechtsideen, ohne daß sie ihr darum die Majestät von Staat und Recht abstreiten dürften.

Jeder Staat bildet sich als Organisation von Herrschaftsverhältnissen oder als Klassenstaat. Solange er ein geschichtliches Dasein führt, ist es ihm unmöglich, den Charakter seines historischen Bildungsganges völlig abzulegen, zum wahren Staat zu werden und das Rechtsprinzip zu verwirklichen, das jedem, für den er Staat ist, seine Freiheit, sein soziales Dasein, Befriedigung seiner Rechtsvorstellungen sichert. Jedes Recht enthält und schützt gerade wegen der Allgemeingültigkeit seiner Formen eine Fülle von Unrecht und Unsittlichkeit. Weder für das Leben noch für das Denken gewinnen die grundlegenden Institutionen und Begriffe des Rechts die Allgemeinheit, auf die es sich beruft. Die Rechtsmacht des Eigentums zwingt auch den Eigentumslosen in die Rechtsordnung, die auf das Eigentumsrecht begründet ist. Darin ist sie universal. Zugleich aber entrechtet sie ihn und sein Denken, weil er durch die Macht der Tatsachen von seinem wirksamsten Recht ausgeschlossen ist. Ein kraftvoller nationaler Staat vergewaltigt die Grundsätze, auf die er sein eigenes Leben stützt und die er so als staatsbildend anerkennt. Die fremden Volksteile, die er mit Gewalt unter seine Herrschaft zwingt, für die er trotzdem Staat zu sein beansprucht, muß er zur Unterwürfigkeit, zur politischen Passivität, zum Verzicht auf ihre Nationalität nötigen. Er muß ihnen ein sittliches Opfer zumuten, das er selbst verurteilt.

Das positive Recht und der geschichtliche Staat sind nicht die reinen Formen der Gerechtigkeit und der politischen oder sozialen Notwendigkeit, die für Willen und Bewußtsein die Gestalt einer sittlichen Verpflichtung annimmt. Solange sich sich nicht zu kraftlosen Schemen verflüchtigen und das höchste und allgemeingültige Gesetz des Gemeinschaftslebens verkörpern, müssen sie trotzdem verlangen, als solche anerkannt zu werden und den Widerspruch als revolutionären, rechts- und staatswidrigen Frevel verdammen.

Dieser Gegensatz dringt in unseren Willen und unsere Erkenntnis ein, obwohl beide nach innerer Einheit verlangen.

Der Wille ist gebunden an das sittliche Gesetz, das er als unbedingtes empfindet, weil sich in ihm seine eigene sittliche Natur verwirklicht. Er will ein sittlicher Wille sein. Aber als rechtlicher und staatlicher Wille ist er an eine Wirklichkeit gefesselt, die mit ihrer eigenen Idee, mit den sittlichen Voraussetzungen ihrer Wirksamkeit nicht übereinstimmt und doch allein imstande ist, der Idee Wahrheit und Leben zu verleihen und den Willen über den Eigennutz individualistischer Selbstgenügsamkeit zu erheben.

Das Gemeinschaftsleben verwirklicht sich in einer bestimmten, geschichtlichen Staats- und Rechtsordnung. Dies ist die notwendige Ordnung, in der das soziale Prinzip, das Grundgesetz eines sittlichen Daseins der menschlichen Gesellschaft objektive Wirklichkeit erhält. Ihr ist der Wille verpflichtet, obwohl sie der Rechtsidee nicht entspricht und nach ihrem Ursprung und in ihren unabwendbaren Wirkungen mit Unrecht und Unsittlichkeit verknüpft bleibt. Mit und im eigenen Recht durch den persönlichen Rechtswillen diese Rechtsordnung zu erhalten, ist eine soziale und sittliche Pflicht. Denn der Rechtsverzicht löst die Rechtsordnung auf und der Wille, der, um seine eigene Reinheit zu behüten, sich in seinem inneren Leben der Rechtsordnung entfremdet, verfällt der Gleichgültigkeit, die eine Staats- und Rechtsordnung sicherer zerstört als revolutionäre Gewalt, sobald sie ein allgemeines Gesetz des Willens wird. Unser sittlicher Wille muß für einen Zustand eintreten, der die Reinheit der sittlichen Zwecke zerstört. Denn Recht und Rechtswille erhalten ihren Charakter nicht durch die einzelnen Handlungen, die indifferent sein können, sondern durch das Gesamtrecht, das sich in ihnen durchsetzt.

Auch als Rechtswille kann der Wille seinem Wesen nicht untreu werden. der Konflikt, in den er hineingestellt ist, beeinflußt das Recht, das wegen seiner geistigen Natur am Wesen der geistigen Kräfte teilnimmt, durch die es sich verwirklicht. Im objektiven, geschichtlichen Leben des Rechts wiederholt sich sein subjektives Leben und mit ihm der Gegensatz, der die Einheit des Rechtsbewußtseins stört. Hier wird er zu einem objektiven, notwendigen Gesetz der Rechts- und Staatsbildung und beweist dadurch seine objektive Notwendigkeit.

Gegen die Notwendigkeit, auf der die positive Rechtsordnung, das Rechtsbewußtsein und die Pflicht beruhen, die ihr entspring, erhebt sich eine zweite Notwendigkeit. Es ist die, die aus dem Gefühl und der Erkenntnis des im positiven Recht sich bildenden Unrechts ein neues Rechtsbewußtsein und eine Pflicht schafft, die jener ersten widerspricht. Den Rechtswillen beherrscht einerseits die Erscheinung des Rechts, die das Erzeugnis der Rechtsbildung ist, andererseits ein verborgenes Gesetz der Rechtsbildung, das noch nicht äußere Wirklichkeit geworden ist, aber als Rechtsidee das geistige und sittliche Wesen, die zwingende, geistige Gewalt des Rechts in sich trägt. Beide, der positive und der ideelle Rechtsbegriff stehen über der subjektiven Willkür: eine sittliche Notwendigkeit erhebt sich gegen die andere. Aber ohne diesen Gegensatz wäre keine Rechtsbildung, keine Entwicklung, kein Leben des Rechts möglich. Denn er allein führt das Recht über seine Erstarrung hinaus und wird für den Willen die wirksame Triebkraft der Rechtsbildung.

Das ist der notwendige Gegensatz, den die Rechts- und Staatsbildung selbst, der historischen Rechtsorthodoxie und der Behaglichkeit des Ruhebedürfnisses und des Genusses der positiven Rechtsmacht zum Trotz, immer wieder an die Oberfläche treibt. Er wirkt tiefer als der Streit um die Verfassungsformen, in denen die politische Gewalt organisiert wird und die für das Leben des Staates nur Mittel sind. Er zieht das Gewissen in den Strudel der gesellschaftlichen Antagonismen hinein. Er ist die Ursache des Streites der Pflichten, der gerade für das reinste Staats- und Rechtsbewußtsein, für die Männer zum tragischen Verhängnis wurde, die die sittlichen und sozialen Bedürfnisse ihrer Zeit und die Notwendigkeiten der Gemeinschaftsbildung am tiefsten empfanden. Sie fühlten ihren Willen gebunden durch die Heiligkeit der Staats- und Rechtsidee und zugleich durch die Heiligkeit des positiven Rechts und des geschichtlichen Staates, die die Idee verkörpern und doch nicht erfüllen, nicht verwirklichen und trotzdem der vollen und wahren Verwirklichung ihren eigenen absoluten Herrschaftsanspruch entgegensetzen.

Im wissenschaftlichen Denken spiegelt sich, wenn es sich zu lebendiger Wahrheit emporringt, die Wirklichkeit des Lebens und das Verhältnis, in dem das Denken zu ihr steht. Deshalb durchzieht der gleiche Gegensatz die bewußte Erkenntnis, seitdem sie anfing das staatliche und rechtliche Leben als eines ihrer Objekte zu behandeln. Vergebens versuchte die Staatsphilosophie ihn zu heben und die Notwendigkeit, die die Staats- und Rechtsbildung beherrscht, entweder von einem einzigen Gesichtspunkt aus zu verstehen oder durch eine klare Grenzbestimmung die individuelle Sittlichkeit und damit das Reich der Persönlichkeit vom Gebiet staatlicher und rechtlicher Wirklichkeit und Notwendigkeit zu sondern.

Eine individualistische Ethik verlegte die Sittlichkeit durchaus in die Persönlichkeit. Sie verzichtete nicht darauf, das Zusammenleben der Persönlichkeiten, Staat und Recht zu versittlichen. Aber den einzigen Weg dazu fand sie in der individuellen Vervollkommnung. Ein entarteter Staat und ein unsittliches Recht sind jedoch nicht nur unerträglich für das sittliche Bewußtsein, weil Recht und Staat als notwendige Lebensformen notwendige Begriffe und Zwecke sind; sondern sie dringen in den Willen und das Bewußtsein und zerstören so die individuelle Sittlichkeit. Daß die Vollendung der sittlichen Persönlichkeit des vollkommenen, des sittlichen Staates bedarf, das mußte auch die Ethik der sittlichen Persönlichkeit in ihrer reinsten Gestalt, der Platonismus, aussprechen. Seine Staatsidee, das Abbild der vollkommenen sittlichen Persönlichkeit, behandelte er als objektives Gesetz wahrer Staatsbildung. Mit dem realen Staat, der tatsächlichen, geschichtlichen Staatsbildung zerfiel er. Sein politisches Denken endete einerseits in einem unlösbaren Dilemma: der vollkommene Staat bedarf, um sich zu verwirklichen, vollkommener Persönlichkeiten, die Persönlichkeiten bedüren, um ihre Vollkommenheit zu verwirklichen, des vollkommenen Staates, und andererseits in einer unfruchtbaren Utopie, deren spekulativer Charakter dem Lebensgesetz des sittlichen Wollens, der Pflicht und Notwendigkeit, die Idee im Gemeinschaftsleben zu verwirklichen, widersprach.

Gegen den Versuch, das Gemeinschaftsleben auf einem absoluten, objektiven Gesetz aufzubauen, reagierte die Persönlichkeit. Er wurde unternommen entweder von religiösen Idealisten, die den rechtlichen und staatlichen Willen und mit ihm den rechtbildenden Staatswillen einem unbedingten göttlichen und sittlichen Gebot unterwarfen oder von ihren weltlichen Antipoden, die den Absolutismus und seinen ökonomischen Folgen begründeten Wirtschaftsordnung verfochten. Bei jenen scheiterte der hohe Flug der Gedanken an der notwendigen Unvollkommenheit jeder realen, geschichtlichen Gemeinschaftsbildung, und an die Stelle des unerreichbaren Ideals trat die Unterordnung unter eine hierarchische oder staatskirchliche Autorität. Diese zerstörten die Freiheit der Persönlichkeit, indem sie ihre sittliche Verantwortlichkeit in ihrem sozialen Leben und Wollen durch den Rechtsbefehl des Staates und die rechtliche, ökonomische Notwendigkeit ersetzten. Gegen die kirchliche und gegen die politische oder volkswirtschaftliche Knechtung und Beschwichtigung des Gewissens erhoben sich im Leben und im Denken die Kräfte, die sich Freiheit und Verantwortlichkeit, die sittlichen Grundlagen der Persönlichkeit nicht nehmen lassen. Aber sobald sie in die Wirklichkeit hinaustraten, mußten sie ihre Sicherheit doch wieder in einer Notwendigkeit suchen, die das individuelle Leben und Denken an ein objektives, allgemeingültiges Gesetz bindet.

Seit dem Ende des Mittelalters bemühte sich die Staatswissenschaft den Widerspruch zu heben, ohne eines der beiden Prinzipien verkümmern zu lassen und dem Staat und dem Gesetz des Gemeinschaftslebens zu geben, was ihnen, der Persönlichkeit, was ihr gehört: Das Recht des Staates - das ist der Gedanke, der immer wiederholt und von SPINOZA auf eine klare Formel gebracht wurde - endet mit seiner Macht, aber soweit diese reicht, ist es unbedingt und begründet eine Rechtspflicht, die ihren verbindlichen Charakter nicht aus der Sittlichkeit, sondern aus der Kraft staatlicher Zwangsgewalt und der Notwendigkeit einer durch sie verwirklichten Rechtsordnung erhält. Damit scheint eine feste Schranke gegen die Vermischung beider Prinzipien gezogen: das Reich, das einem wirksamen Rechtszwang zugänglich ist, das Gebiet äußerer Beziehungen ist der Herrschaft des Staates und Rechts, die innere geistige Welt, die dem Rechtszwang unzugänglich ist, der vernünftigen und sittlichen Persönlichkeit vorbehalten.

Damit konnten sich Denker zufrieden geben, die in individualistischer Unabhängigkeit ihr kostbares Vorrecht fanden und außerhalb des Lebens ihres Staates zu stehen glaubten. Aber das ist eine Staatsauffassung, die für uns unhaltbar geworden ist. Denn Staat und Recht sind nicht nur äußere Gewalten, denen gegenüber sich die Persönlichkeit ihrer Freiheit bewußt wird, sondern in ihnen findet oder sucht sie ihre Freiheit, die ohne sie rettungslos die Beute der Macht würde, und zwar entweder im Staat der geschichtlichen Erscheinung oder in einem Idealstaat. Staat und Recht lassen sich nicht aus der Welt des inneren Menschen loslösen und der sittliche Wille nicht aus ihrem Leben. Denn sie sich ihr Wesen erst in ihm und durch ihn verwirklicht, so wird er selbst, wenn er sich von der menschlichen Gemeinschaftsbildung in Staat und Recht lossagt, seiner Natur untreu. Wer den Willen in ein staatliches und rechtliches, und ein individuelles sittliches Wollen zerlegt, gibt die Einheit des sittlichen Willens auf; denn die Einheit besteht nicht in der Einheitlichkeit des Subjekts, sondern in der Einheit der Notwendigkeit, die der Wille als sein höchstes Gesetz empfindet und anerkennt. Er zerstört den Zusammenhang der individuellen und sozialen, der subjektiven und objektiven Sittlichkeit, deren Zusammengehörigkeit durch die unwiderlegliche Sprache der Tatsachen bewiesen wird.

Wirklichkeit und Vollkommenheit schließen sich aus. Trotzdem gehören sie im Leben von Staat und Recht zusammen. Denn ihr Wesen wird durch ihre positive, geschichtliche und ihre ideale, sittliche Natur gebildet. Die Idee gewinnt in ihnen ein irdisches und zeitliches Dasein. Der Wille ist durch beide Notwendigkeiten gebunden. Auch als Rechtswille muß er ein reiner und sittlicher Wille sein, aber seine Reinheit wird getrübt durch seine Verkettung mit einem unvollkommenen Erzeugnis geschichtlicher Wirklichkeit. Eine Trennung von Staat und Kirche ist möglich, namentlich wenn eine Kirche eine öffentliche Anstalt für Kultuszwecke wird, eine Trennung von staatlichem und rechtlichem Handeln und Sittlichkeit ist unmöglich. Denn dem Gesetz des Wollens sind beide unterworfen und wie ein unsittliches Wollen das Recht, so entsittlicht ein unsittliches Recht den Willen.

Eine Kirche vermag das religiöse Bewußtsein über ihre eigene Unvollkommenheit hinwegzutrösten mit dem Gedanken, daß sie das irdische trübe Abbild eines zukünftigen Reiches der Vollendung ist. Der Staat ist dagegen nach seinem Wesen und seiner Idee irdisch; Staat und Recht sind gegenwärtige Notwendigkeit. Als solche richten sie ihr Gebot an den Willen. Auch ein Zukunftsstaat wird für den Willen zur gegenwärtigen Notwendigkeit und raubt so dem realen Gegenwartsstaat seine Herrschaft über das Bewußtsein. Ebenso gegenwärtig, wie das Gebot des Staates, ist das Sittengebot, und es muß sich dem als notwendig empfundenen oder erkannten Gesetz der Gemeinschaftsbildung anpassen. Erkennt der Staat das Gesetz der Vollkommenheit in diesem Sinn für sich nicht mehr an, begnügt er sich eine Sammlung tatsächlicher gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Einrichtungen zu sein, dann kann er das sittliche Bewußtsein nicht mehr an sich ketten. Aber freizugeben vermag er es doch nicht, bis es sich selbst befreit und im Widerspruch mit der äußeren objektiven Gebundenheit des Staats und Rechtsbewußtseins einen revolutionären Charakter erhält. Denn die schlimmste Revolution ist die, die sich im Innern des Menschen vollzieht, wenn Staat und Recht in seinem sittlichen Willen absterben und sich ihr geistiges Wesen auflöst.

Der Gegensatz von Idee und Wirklichkeit, der dem Wesen von Staat und Recht entspringt und mit dem Prozeß der Staats- und Rechtsbildung gegeben ist, gleicht den Antinomien der Metaphysik, namentlich dem Widerspruch, der im Problem von Freiheit und Notwendigkeit liegt. Aber ihm gegenüber ist die Erkenntniskritik, die die Wissenschaft von den metaphysischen Antinomien befreite, indem sie ihre Unlösbarkeit auf dem Gebiet der Erfahrungswissenschaft nachwies, ohnmächtig. Denn er gehört einerseits zur Wirklichkeit des Lebens, andererseits liegt er im Willen und durch diesen bestimmt er Bewußtsein und Erkenntnis. Der sittliche Wille läßt sich durch keine Vernunftkritik von der Pflicht der Entscheidung entbinden: den Widerspruch mit sich selbst erträgt er nicht. Er sucht ihn in sich selbst zu lösen und nicht, indem er neben sein empirisches Wesen seine transzendentale Natur setzt. Er erkennt für sich kein doppeltes Gesetz an: das Gebot der Unterwerfung unter eine äußere Wirklichkeit und das Gebot seiner eigenen Reinheit, die mit der Idee des sittlichen Gesetzes gegeben ist. Dadurch wird sein Verhältnis zu Staat und Recht bestimmt. Sie sind für ihn eine äußere Wirklichkeit, denen er sich fügen soll, zugleich aber leben sie in ihm als ein Teil seines Wesens, sobald er sich, einem notwendigen Gebot folgend, über ein invididuelles Dasein erhebt. Er muß die Einheit suchen, weil jedes der beiden Elemente ohne das andere ein unvollkommenes Bruchstück ist, aber er vermag sie nicht zu finden. Unter dem gleichen Einfluß steht auch die wissenschaftliche Erkenntnis, das Denken über Staat und Recht. Denn das Denken hängt ab von der Wirklichkeit und dem Bewußtsein. Die Wissenschaft kann nicht mehr tun als das notwendige Verhältnis beider in Begriffe fassen. Sie kann nur aussprechen, was Staat und Recht für das menschliche Bewußtsein sind. Denn sie schafft die notwendigen Gedanken nicht, sondern gibt ihnen nur Klarheit und wissenschaftliche Form.

Der innere Gegensatz, der die Staats- und Rechtsvorstellung durchzieht, bricht in das Leben, in die Wirklichkeit der geschichtlichen und gesellschaftlichen Welt und in die wissenschaftliche Erkenntnis ein, wenn sie ein Bild der Wirklichkeit sein will und sich nicht begnügt, diese einem gegebenen Schema zu unterwerfen. Die staatsrechtliche Jurisprudenz nennt das mit der Ironie selbstbewußter Gelehrsamkeit eine metaphysische oder metajuristische Behandlung des Staatsrechts, mit der nichts anzufangen ist. Aber dieses metaphysische, metajuristische Verhältnis beweist seine überlegene Realität im Bildungsprozeß von Staat und Recht, der sich nicht allein in gesetzgeberischen Akten und juristischen Konstruktionen vollzieht. Denn das Ding-ansich von Staat und Recht, ihre wirksame Idee, das Verhältnis zu einer Lebensnotwendigkeit und einer notwendigen Gestalt des Bewußtseins, zu notwendigen Zwecken des Willens hat die Kraft, die Konstruktionen der Jurisprudenz in leere, tote Formeln zu verwandeln, denen kein Leben, kein lebendiges Denken, keine lebenschaffende, gemeinschaftsbildende Wirkungskraft entspricht.

Die Harmonie unseres Staats- und Rechtslebens und unseres Staats- und Rechtsbewußtseins ist gestört. Die Einheit von Recht und Gerechtigkeit, von Staat und innerer Universalität der Gemeinschaftsbildung, von realer geschichtlicher und geistig-sittlicher Natur von Staat und Recht bleibt ein Ziel und ist keine verwirklichte Wahrheit. Wer das bestreitet, verkennt die wahre Gestalt des Lebens. Er sucht die Einheit in einer Form und die Ursache der Unvollkommenheit jedes geschichtlichen also auch des gegenwärtigen Rechts und des inneren Gegensatzes, dessen Dasein mit Worten geleugnet und zugleich durch eine unruhige Reformarbeit zugestanden wird, in den Formen und Mitteln des Rechts, aber nicht da, wo er wirklich liegt, in der Tiefe der Rechtsbildung: hier entfaltet er seine zerstörende und aufbauende Kraft.

Reformen, die sich auf einem äußerlichen Empirismus aufbauen, erreichen ihr Ziel nicht. Die Rechtswissenschaft wird dadurch nicht über die Gegensätze hinweggehoben und mit dem Leben versöhnt, daß man zu einer Erfahrungswissenschaft erklärt und die Erfahrung auf dem Bild eines praktischen Geschichtsbetriebes aufbaut. Denn das Leben selbst trägt schroffe Gegensätze in sich und trägt sie in die Rechtsgedanken hinein, und die Rechtswissenschaft ist auch als Erfahrungswissenschaft Geisteswissenschaft. Sie muß das Recht nach seinem Wesen verstehen in der Doppelseitigkeit seines objektigen, positiven, geschichtlichen Daseins und seiner geistigen, sittlichen Natur und muß es, wenn sie praktisch werden will, im Einklang mit seinem Wesen und den Gesetzen seiner Bildung gestalten.

Wahrheit und Notwendigkeit vom Wesen des Denkens aus begreifen, das heißt, sie verstehen, nicht nur nach formalen Grundsätzen und Kriterien der Denknotwendigkeit, sondern nach den Forderungen, die das Wirklichkeits- und Wahrheitsbewußtsein an sich selbst stellt. In seinem Verhältnis zu Staat und Recht steht dieses nicht neben der äußeren Wirklichkeit, der Erscheinung von Staat und Recht: es entwickelt und bildet sich mit ihr und in ihr. Es wird durch die Geschichte und ein soziales Gesetz und nicht durch eine allein im Denken liegende Notwendigkeit gestaltet, nach deren Gebot die Erscheinungen sonst den Kategorien der Vernunftserkenntnis, der mathematischen Anschauung, der Erfahrungswissenschaft unterworfen werden. Das Organ der Erkenntnis bildet sich mit der Erscheinung und ist selbst ein Bestandteil der Erscheinung. Andererseits aber bleibt sich das Denken auch hier seiner Unabhängigkeit und seines eigenen Gesetzes bewußt, so daß es keineswegs mit der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit verschmilzt. Das Verhältnis des Bewußtseins zu Staat und Recht wird durch den Willen bestimmt, aber dieser bleibt von realen, geschichtlichen Tatsachen abhängig, ohne doch auf das absolute Sittengebot verzichten zu können, das ihm seine Freiheit und Autonomie verbürgt. Darin liegt einerseits die Möglichkeit der Wahrheit, der Übereinstimmung zwischen der äußeren, geschichtlichen und der geistigen, sittlichen Natur von Staat und Recht, der Einheit von Denken und Wirklichkeit, andererseits aber die Ursache notwendiger Gegensätze, die jene Einheit weder im Leben noch im Denken aufkommen lassen. Sie bleiben im geschichtlichen und dem gegenwärtigen Leben des Rechts und im Denken über Staat und Recht bestehen wegen seiner Verbindung mit der Wirklichkeit und dem Wollen. Denn der erkenntniskritische Vorbehalt beschwichtigt das Bewußtsein da nicht, wo es ein Ja oder Nein verlangt und von sich selbst eine Entscheidung fordert. Diese Gegensätze, diesen Zustand des Denkens muß die Wissenschaft anerkennen. Sie soll nicht so tun, als ob sie auf alles eine Antwort bereit hätte. Sie darf die Probleme nicht verschleiern und dem Geist ihre Lösung nicht vorspiegeln, weil er sie von ihr erwartet.
LITERATUR - Georg Jäger, Erkenntniskritik und Staatswissenschaft, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 36. Jhg., München und Leipzig 1912