tb-1ra-2E. AdickesK. KromanA. Schopenhauervon EhrenfelsN. Hartmann    
 
BRUNO BAUCH
[mit NS-Vergangenheit]
E t h i k
[2/2]

"Nur ein politisches Kind oder ein kulturloser Wilder kann bei dem Wort  Machtpolitik  erschrecken und meinen, Politik könne je etwas anderes als  Machtpolitik  sein. Denn Ohnmachtspolitik ist lediglich ein von Gedankenohnmacht begangener Widerspruch in sich selber. Aber auch nur ein Barbar kann glauben, daß die Macht ansich schon Zweck sei. Sie muß sich erst rechtfertigen aus der Idee des Rechts, wie dieses sich rechtfertigen mßte aus der Idee der Pflicht. Und sein Recht empfängt im Dienste der Pflicht. Die Macht als gerechtfertigte Macht ist immer die Macht, das Recht durchzusetzen, wie das Recht als gerechtfertigtes Recht das Recht auf Freisein zur Pflichterfüllung ist. Nie also kann von Rechts wegen Macht vor Recht gehen. Wann und wo sie es auch immer tun möge, tut sie es zu Unrecht. Nur wo und wann sie ihren Grund im Recht hat, besteht sie zu Recht."

VI. Die Einseitigkeit in der Universalität
des ethischen Grundgesetzes

Man hat mit Recht die Größe von KANTs Leistung auf ethischem Gebiet darin gesehen, daß er gerade das als sittliches Grundgesetz erkannte, was als Sollensforderung, weil es keine einzelnen empirischen Materialien als Sonderforderungen herausgreift, selbst als schlechthin allgemeine Forderung auf alle empirischen Materialien anwendbar ist, sich auf sie und sie auf sich beziehen kann. Daß es "nicht auf die äußeren Handlungen, die man sieht, sondern auf die inneren Prinzipien derselben, die man nicht sieht, ankommt", das entspricht auch dem schlichten, täglichen, gesunden Bewußtsein. Auch dieses muß ja an der sittlichen Forderung gemessen werden, sich auf sie beziehen, sich selber an ihr messen. Sittlichkeit ist kein Vorrecht irgendwelcher Klassen und Kasten, sondern eine an alle vernünftigen Wesen sich richtende Gesetzesforderung, ist die Pflicht schlechthin. Es ist darum in der Tat sehr verkehrt gewesen, wenn man, wie PAULSEN, gerade darin die Schwäche der kantischen Ethik gesehen hat, daß sie eigentlich eine Moral "für kleine Leute" fordere. Gerade darin, daß sie sich nicht allein an "große Leute" wendet, nicht eine "Herrenmoral" begründet, sondern einfach der "gesunden Vernunft" ihr Recht läßt, ohne zur Moralität tiefe philosophische Überlegungen und Untersuchungen zu fordern - die philosophische Ethik und die lebendige Moralität sind ebenso genau zu unterscheiden, wie jene diese zu verstehen und zu begreifen hat -, hat bereits SCHILLER das "unsterbliche Verdienst des Verfassers der Kritik" gesehen. Dieses Verdienst KANTs liegt nach ihm gerade darin, daß er "die gesunde Vernunft aus der philosophierenden wieder hergestellt" hat. Die Universalität der Geltung des Sittengesetzes allen empirischen Lagen gegenüber, weil sie gerade keine solche Materialien zum eigentlichen Gesetzesinhalt erhebt und darum ihr eigentlicher Gesetzesinhalt auf alle anwendbar ist, diese Universalität bezeichnet und aufgedeckt zu haben, ist in der Tat das mit Recht von SCHILLER anerkannte Verdienst KANTs.

Und doch spricht gerade SCHILLER trotz dieser Anerkennung von KANTs "einseitiger moralischer Schätzung des Menschen". Das kann zunächst als Widerspruch erscheinen. In seiner Anerkennung des "Verdienstes" kommt er mit den Anhängern, in seinem Vorwurf der "Einseitigkeit" mit den Gegnern KANTs überein. In Wahrheit aber liegt darin kein Widerspruch. Freilich hat SCHILLER selbst darauf weiter nicht reflektiert, daß in dieser seiner doppelseitigen Stellungnahme kein Widerspruch vorliege, wie auch Anhänger und Gegner KANTs nicht weiter darauf reflektiert haben. Sie empfinden sich in der Tat wohl nur als Gegensätze, ohne eine Möglichkeit der Synthesis ihrer Antithesen zu erkennen. Achten wir einmal darauf, daß der Vorwurf der "Einseitigkeit" bei SCHILLER sich mit dem deckt, was die Gegner KANTs diesem als "Formalismus" vorwerfen, dann eröffnet sich auch sofort die Möglichkeit, auf jene Synthese einen Ausblick zu gewinnen. Denn gerade das "Formale" ist das Universelle und Einseitige zugleich. Im Formalen liegt Recht und Grenze des Rechtes bei KANT beschlossen. Nur müssen wir uns, um nun nicht gegen KANT selbst ins Unrecht zu geraten, davor hüten, das "Formale", wie die Gegner das tun, gleich als "formalistisch" oder gar als inhaltslos zu deuten. Demgegenüber haben die Anhänger KANTs recht, wenn sie betonen, daß das Grundgesetz "formal" sei gegenüber dem "Material", als Gesetz aber selbst einen Inhalt habe und gerade wegen seiner universellen Geltung für jedes "Material" "formal" sein müsse. Ebenso aber müssen wir uns hüten, wie die Anhänger KANTs das tun, das Formale des ethischen Grundgesetzes für die ganze ethische Gesetzlichkeit auszugeben. Demgegenüber hat SCHILLER mit seinem Vorwurf der "Einseitigkeit", haben die Gegner KANTs mit dem Vorwurf des "Formalismus" recht. Nur trifft ein solcher Vorwurf nicht auf das Grundgesetz selber zu, sondern darauf, daß die Ethik als Ganzes "bloß formal" bleiben müßte, wenn sie außer dem allgemeinsten "Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft" keine besonderen ethischen, inhaltlich spezifizierteren Gesetze mehr anerkennen würde, die jenem allgemeinen Gesetz gegenüber zwar besonders und spezifiziert, als Gesetze aber jeder konkreten Aufgabe gegenüber allgemein sind. In letzter Linie also hat der Vorwurf und Einwand sein Recht im schon hervorgehobenen Fehler KANTs, daß er die Bedeutung der von ihm so genannten "hypothetischen Imperative" nicht herauszustellen vermocht hat. Denn gerade auf diese "hypothetischen Imperative" kommt, wie sich später zeigen wird, sehr viel an. Sie sind wirklich als Gesetze zu erkennen, als welche sie KANT eigentlich nur bezeichnet hat, um sie bald wieder fallen zu lassen oder unbestimmt mit den Maximen verschmelzen zu lassen, während sie zwischen diesen und dem Grundgesetz schlechthin stehen.

Jetzt kam es nur darauf an, die grundsätzlichen Momente der Universalität und Einseitigkeit im ethischen Grundgesetz selber aufzuweisen. Jene liegt in seinem  Verhältnis  zum ethischen Material, diese im Verhältnis zur ethischen Gesetzlichkeit überhaupt.' Wir wollen jetzt nur einmal darauf achten, zu welchen Schwierigkeiten wir im Konkreten gerade angesichs der Universalität und Einseitigkeit des praktischen Grundgesetzes geführt werden, solange wir nicht auf das Ganze ethischer Gesetzlichkeit reflektieren. HANS PICHLER, der das Problem der "Einseitigkeit der Gedanken" ganz allgemein erörtert hat, entwickelt es auch für die "Grundzüge der Ethik". Sowenig sich nun das, was ich über Universalität und Einseitigkeit des ethischen Grundgesetzes, seine "formale" Bedeutung und sein Verhältnis zu Material und "hypothetischen Imperativen" ausgeführt habe, mit den Gedankengängen PICHLERs berührt (er würde wahrscheinlich nur seine Einseitigkeit, nicht seine Universalität, gelten lassen), so hat er trotzdem die Schwierigkeiten im Konkreten, die sich zunächst für die ethische Bestimmung ergeben, mit besonderer Klarheit und Schärfe aufgedeckt. Er weist z. B. darauf hin, daß die pazifistische Gesinnung im sittlichen Sinne ebensogut wie geradezu ein sittliches Verbrechen sein kann, je nachdem ein Volk "unter freundlichen oder schwachen Nachbarn lebt", oder "von gefährlichen Nachbarn bedroht ist". Weiter: Sittlich "gut" handeln ebenso die Soldaten, "die im guten Glauben an die Brüderlichkeit der Nationen die Waffen wegwerfen und ihr Vaterland so an die Erbarmungslosigkeit der Feinde ausliefern", die also ihr Vaterland verraten, wie diejenigen, die für ihr Vaterland Leib und Leben opfern. Beide können aus dem Bewußtsein der Pflicht, die einen im Glauben an die ehrenhafte Gesinnung der Feinde die anderen in Treue für das Vaterland handeln. Indem wir aber das eine Bewußtsein als ein irrendes, das andere als ein erkennendes ansprechen, treten wir im Ethischen selbst über die Sphäre des ethischen  Grund gesetzes hinaus und lassen doch in beiden Fällen, sofern es nur auf "innere Prinzipien der Handlung, die man nicht sieht", nach dem ethischen Grundgesetz ankommt, diese als sittlich gut gelten. PICHLER stimmt weiter auch dem Satz SCHOPENHAUERs bei, wonach "ebensogut wie der Bandit, welcher dadurch seinen Lohn erwirbt", auch der ein "Mörder sei, welcher rechtgläubig den Ketzer den Flammen überliefert", um sich dadurch "einen Platz im Himmel zu erwerben". Freilich liegt darin noch nicht die Schwierigkeit. Denn daß der, der um seines eigenen Plätzchens im Himmel willen seinen Nächsten dem Flammentod überantwortet, ein Mörder ist, daran wird niemand zweifeln. Denn er handelt ja nicht "aus Pflicht", sondern um seines eigenen Vorteils willen. Die Schwierigkeit beginnt erst dann, wenn er ohne Rücksicht auf eigenen Lohn im Himmel, aber gerade im Bewußtsein, seine Pflicht zu tun, sein Ketzerrichteramt ausübt. Daß das geschehen kann, zur Zeit der Ketzerprozesse wirklich geschehen ist und daß der Ketzerrichter bei seiner Tat vom Bewußtsein geleitet sein kann, mit ihr seine Pflicht zu erfüllen, daran kann wiederum kein Zweifel sein. Seine Tat ist also sittlich gut. Und dennoch werden wir sie auch als sittlich verwerflich bezeichnen. Denn sie ist ein Verbrechen gegen die Forderung der sittlichen Freiheit, gegen die Freiheit des Gewissens, da auch das Opfer des Ketzerrichters, wie dieser selbst, im Bewußtsein der Pflicht in eben dem Handeln gehandelt haben, für das ihn nun der Ketzerrichter den Flammen opfert. Wie nach dem vorigen Beispiel PICHLERs der Vaterlandsverräter sowohl als auch der vaterlandstreu sich opfernde Verteidiger sittlich "gut" handeln, ohne Frage aber doch dieser sittlich höher steht wie jener, so handeln nach diesem im Anschluß an SCHOPENHAUER gewählten, aber in entgegengesetzter Richtung modifizierten Beispiel sowohl der Ketzerrichter wie sein Opfer sittlich gut, aber dieses steht sittlich unzweifelhaft höher als jener. Ja, man könnte im ersten Fall den sittlich guten Vaterlandsverräter, im zweiten Fall den sittlich guten Ketzerrichter zugleich als sittliche Verbrecher bezeichnen, um die Schwierigkeit und Kompliziertheit des ethischen Problemverhalts besonders deutlich zu machen. Ihre Gegenstücke wären auf der einen Seite der Märtyrer seiner Überzeugung, auf der anderen der Held. Es bliebe richtig, daß es für die rein moralische Beurteilung, wie KANT sagt, nicht "ankommt auf die Handlungen, die man sieht, sondern auf die inneren Prinzipien derselben zu denken möglich ist, was ohne Einschränkung für gut gehalten werden könnte, als allein ein guter Wille". Zugleich aber würde deutlich, daß diese rein moralische Beurteilung noch nicht die ganze ethische Beurteilung ist, daß die Güte zwar der einzige moralische Wert, aber noch nicht die ethische Werttotalität und damit auch, daß das ethische Grundgesetz zwar Grundgesetz, aber noch nicht die Totalität der ethischen Wertgesetzlichkeit überhaupt, sondern trotz seiner grundlegenden Universalität nur eine Seite von dieser ist. Ohne sich auf ihm zu gründen, ist freilich sittliches Handeln nicht möglich. Alles sittliche Handeln muß auf ihm gegründet sein, um gut sein zu können. Aber es braucht nicht allein auf ihm gegründet und darum nicht allein gut zu sein, wenn es, um sittlich zu sein, auch immer gut sein muß. Das ging ja schon daraus hervor, daß wir im Falle des Vaterlandsverräters und des Vaterlandstreuen gewiß von Pflichtbewußtsein, das eine Mal aber von irrendem, das andere Mal von erkennendem Pflichtbewußtsein sprechen konnten. Dasselbe Verhältnis und denselben Unterschied kann der Fall des Ketzerrichters und seines Opfers deutlich machen. Mögen wir beide Male auch allein am ethischen Grundgesetz messend die Handlungen, weil nach diesem gerichtet, auch als rein moralisch richtig beurteilen können, so zeigt sich doch, daß die Richtigkeit, so universell sie ist, doch noch nicht die Totalität der ethischen Richtigkeit ist, daß diese noch andere Richtgrundlagen fordert, noch andere Richtgesetze als allein das ethische Grundgesetz. Die Notwendigkeit der Unterscheidung, die wir zwischen den beiden Formen der Allgemeinheit ethischer Gesetzlichkeit bereits gemacht haben, wird so von neuem deutlich. Ebenso wird deutlich, daß der gute Sinn der "formalen" Allgemeinheit des ethischen Grundgesetzes nicht auch den schlechten Sinn einer "bloß formalen" Ethik selber mit sich zu führen braucht.

Damit ist eine grundsätzlich bedeutungsvolle Stellung gewonnen, die sich auch im Konkreten deutlich bekundet. Es kommt nun vor allem darauf an, den Zusammenhang zwischen dem Grundsätzlichen und dem Konkreten zu erschließen.


VII. Die sittliche Persönlichkeit

Im Sollen bestimmte sich der Charakter der ethischen Gesetzlichkeit in einer der Seinsgesetzlichkeit gegenüber deutlich abgehobenen Form. Darin kam freilich auch schon die Subjektsbezogenheit der ethischen Gesetzlichkeit zum Ausdruck. Aber nur gänzliches Unverständnis, das aus eigenen Subjektivismen und Anthropomorphismen nicht herauszukommen vermöchte, könnte darin eine "Subjektivierung" oder gar "Anthropomorphisierung" der ethischen Gesetzlichkeit sehen. Deren Geltung als Gesetzlichkeit besteht von aller Subjektivität unabhängig und wird als Geltung von keiner Subjektivität berührt. Vielmehr empfängt diese von der Geltung des Gesetzes erst Sinn und Bedeutung. Und sie empfängt sie gerade dadurch, daß das Gesetz von sich aus die Subjektivität fordert. Aber es fordert sie nicht in dem Sinne, daß es seine Geltung in dieser gründete. Es fordert sie nicht für seine Geltung, sondern für seine Darstellung derart, daß in seiner Geltung sich erst die Gültigkeit, der Sinn und die Bedeutung der Subjektivität gründet. Das Gesetz bleibt nicht in abstrakter Leerheit und die Subjektivität nicht in leerer Abstraktheit, gerade weil die objektive Geltung des Gesetzes sein Dargestellt-Werden-Sollen besagt. Die Geltung des Gesetzes bliebe als Geltung auch ohne Subjekt bestehen. Aber weil sein Gesetzescharakter Sollenscharakter ist, so fordert er ein auf ein Sollen sich beziehendes könnendes Wollen, das das Gesetz zur Darstellung bringe.  Sich  auf ein  Sollen beziehen  kann aber nur ein Wollen, das von sich und dem Sollen weiß, sich von diesem unterscheiden muß, um sich auch auf dieses beziehen zu können, also ein seiner selbst und des Sollens bewußtes Wollen oder kurz ein vernünftig wollendes Selbstbewußtsein. Selbstbewußt, weil von sich wissend, vernünftig, weil von Gesetz, Wert und Sollen wissend und sich auf dieses beziehend kann nur von ihm, als Wollendem, das Gesetz zur Darstellung gebracht werden. Ein sich auf das Gesetz als Sollensgesetz in seinem Bewußtsein beziehen könnendes, es durch seinen Willen zur Darstellung bringen könnendes Selbstbewußtsein aber heißt sittliche Persönlichkeit. Ihre spezifisch sittliche Bedeutung liegt darin, daß sie sich, des Gesetzes und ihrer selbst bewußt, also selbstbewußt, auf das Gesetz beziehen  kann  und es im Wollen zur Darstellung bringen  kann,  gleichviel, ob sie sich darauf tatsächlich bezieht und es tatsächlich zur Darstellung bringt. Tut sie es durch die Tat, dann ist auch eben diese Tat sittlich. Aber sie selbst ist immer schon Möglichkeitsbedingung der Handlung. Und darin gerade liegt ihr eigener sittlicher Charakter. Sie hat, wie ich dies früher einmal formuliert habe, ethischen Potentialcharakter. Diese sittlich-personale Potentialität ist Voraussetzung aller sittlichen Realität. Darum ist auch die sittliche Persönlichkeit nicht mit dem realen Individuum zu verwechseln. Dieses als solches, das Individuum bloß als Individuum, ist sowenig sittlich wie das Reale überhaupt, das als solches immer individuell ist, sittlich ist. Dem Individuum gegenüber bleibt die Persönlichkeit selbst Aufgabe. Das Individuum ist sittliche Persönlichkeit nur der Möglichkeit nach, wie die Persönlichkeit Darsteller des Gesetzes nur der Möglichkeit nach ist. Weil das Gesetz aber nicht das Individuum, sondern gerade die Persönlichkeit fordert, so hat nicht jenes, sondern allein diese ethischen Potentialcharakter. Wie ihm gegenüber das Sittengesetz, so bleibt dieser selbst dem Individuum gegenüber Aufgabe im Klimax einer teleologischen Abhängigkeit, die der entelechetischen Entwicklung bei ARISTOTELES entspricht. Mag sich im Realen die Persönlichkeit also auch immer als Individuum darstellen, so stellt sich doch das Individuum noch nicht als Persönlichkeit dar. Möchte man also auch immer dem Individuum personalen Potentialcharakter beilegen, so hat doch nur die Persönlichkeit als solche ethischen Potentialcharakter. (1) Denn gerade sie, nicht schon und nicht bloß das Individuum, ist zur Darstellung des Gesetzes gefordert.

Hier nun finden zwei Grundgedanken, die wir früher verfolgt haben, eine weitere Ergänzung. Wir unterschieden bei der Erörterung der beiden Formen der Allgemeinheit ethischer Gesetzlichkeit zwischen dem Gewollt-Werden-Sollen als solchen und seiner möglichen Geknüpftheit an Bedingungen des Erfüllt-Werden-Könnens; damit auch zwischen allgemeiner Anerkennungsnotwendigkeit und Erfüllungsnotwendigkeit, welche letztere durch Bedingungen der Erfüllungsmöglichkeit begrenzt sein könnte. In der Sphäre der Subjektsbezogenheit würde dieser Unterscheidung die Unterscheidung zwischen dem Wollen als Wollen und dem Vollbringen, sowie zwischen der Persönlichkeit als Persönlichkeit und der Persönlichkeit, insofern diese, wie vorhin bemerkt, sich im Realen immer auch als Individuum darstellt, eben als Individuum entsprechen. Damit aber wird nun keineswegs etwa der verfehlten und bereits abgelehnten SCHOPENHAUERschen Unterscheidung zwischen der Frage: "ob ich tun kann, was ich will" und der Frage: "ob ich auch wollen kann, was ich will" nun nachträglich wieder ein Recht eingeräumt. Dabei bleibt es, daß ich, was ich nun einmal wirklich will, auch wollen kann. Aber hinsichtlich des Tun-Könnens ergibt sich ein Unterschied. Soweit das Wollen selber ein Tun ist und sich die eine Form der Allgemeinheit ethischer Gesetzlichkeit lediglich an das Wollen als Wollen richtet, richtet es sich ausschließlich auch an die Persönlichkeit als Persönlichkeit. Insofern diese durch das auf das Sollen sich beziehen könnende Selbstbewußtsein bestimmt ist, ist sie eben selbst bereits der Garant dieses Könnens und kann die eine Form ethischer Allgemeingesetzlichkeit sich an "jedes vernünftige Wesen überhaupt" richten und Erfüllung fordern. Man müßte also SCHOPENHAUERs metaphysische Frage: "wieweit die Wurzeln der Persönlichkeit ins Metaphysische reichen", als zu Recht bestehend gelten lassen, wollte man seine Frage: "ob ich auch wollen kann, was ich will" ihrer sowohl ethischen wie psychologischen Sinnlosigkeit entkleiden, die nun doppelt sinnlos würde, weil sie jetzt auch auf die andere Sinnlosigkeit der Frage: "ob ich tun kann, was ich tue" hinausliefe. Insofern aber ethisch die Personalität bereits Voraussetzung der Realität ist, läßt sich die vom allgemeinen ethischen Grundgesetz aufgegebene Forderung an jede Persönlichkeit richten und von jeder Persönlichkeit erfüllen. Soweit nun aber nicht bloß das Wollen ein Tun, sondern das Tun ein Vollbringen bedeutet, treffen wir innerhalb der Gesetzessphäre auf jene Bedingungen der Erfüllungsmöglichkeit, die in der Sphäre der Subjektsbezogenheit dadurch gekennzeichnet sind, daß im Realen die Persönlichkeit zugleich Individuum ist. Die zweite Form ethischer Allgemeingesetzlichkeit hat zwar die gleiche Gesetzesgeltung wie das universelle Grundgesetz. Sie hat auch dem Subjekt gegenüber, soweit dieses Persönlichkeit ist, die gleiche Anerkennungsnotwendigkeit wie dieses. Aber insofern im Realen das Subjekt ja nicht allein Persönlichkeit, sondern auch Individuum ist, hat an seiner Individualität die Erfüllungsmöglichkeit auch ihre bestimmten Grenzen und Bedingungen.


VIII. Die sittliche Gemeinschaft

Die Geltung ethischer Gesetzlichkeit besteht also zwar unabhängig von aller Subjektivität. Aber ihre Darstellung kann sie nur finden durch die auf sie sich beziehen könnende Subjektivität, durch die Persönlichkeit. Diese also ist, wie KANT es ausgedrückt hat, "Subjekt der Darstellung des Sittengesetzes". Als solchem erwächst ihr nun selbst ein Wert vom Sittengesetz her durch Wertübertragung. Scharf und klar ins Bewußtsein erhoben wurde dieser zum ersten Mal in der geschichtlichen Entwicklung, als das Christentum "vom unendlichen Wert der Menschenseele" sprach. Denn "Menschenseele" bezeichnete hier mehr als bloß das menschliche Individuum als Individuum, sondern dieses gerade weil und insofern es Persönlichkeit ist. Es ist darum nichts anderes, als eine besonders glückliche Form, auf die KANT den bereits vom Christentum entdeckten Gedankengehalt gebracht hat, wenn er sagt: "der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein" oder "in der ganzen Schöpfung kann alles, was man will und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes". KANT hat selbst auf den Unterschied zwischen dem Menschen als Individuum und dem Menschen als Persönlichkeit nicht ausdrücklich hingewiesen. Und doch darf man ihn gerade in diesen Sätzen bezeichnet finden. Die Gegenüberstellung von "Mensch" und "Menschheit in seiner Person" drückt ihn aus und es wird deutlich, daß es gerade auf die Menschheit "in der Person" ankommt, daß der Mensch gerade als "vernünftiges Geschöpf" nicht "Mittel" sondern "Zweck ansich" ist, weil er eben "das Subjekt des moralischen Gesetzes" ist.

Er ist "Subjekt des moralischen Gesetzs" im vorhin bezeichneten Sinn des ethischen Potentialcharakters der sittlichen Persönlichkeit. Diese ist die Bedingung der Möglichkeit spezifisch sittlichen Handelns. Sie geht, wie LUTHER sagt, als "Werkmeister" immer dem "Werk" voran. Weil sie allein sittlich handeln  kann,  darum hat sie als Persönlichkeit selbst einen Wert, gleichviel ob sie sittlich handelt oder nicht. Denn daß sittlich gehandelt wird, das setzt immer schon sie voraus; und gerade sie als Persönlichkeit, nicht bloß als Individuum. Weil sie Subjekt des sittlichen Handelns ist, darum ist sie auch und eben das bezeichnet ihren eigenen Wertcharakter, daß sie "Zweck ansich" ist, zugleich Objekt sittlichen Behandelns, mögen wir sie als solches nun wie immer auch bezeichnen wollen, sei es als "Gegenstand der Achtung", als "Gegenstand der Liebe" oder wie immer sonst. Vielleicht ist der unter religiösem Gesichtspunkt gefaßte Name der "Liebe" der geeignetste Ausdruck auch für das in ethischer Beziehung jetzt in Frage kommende Verhältnis von Persönlichkeit als Subjekt ethischen Handelns und als Objekt ethischen Behandelns. Nur hat man sich dann des ursprünglichen Sinnes, in dem etwa das christliche Liebesgebot die "Liebe" faßte, bewußt zu bleiben und in dem etwa LUTHER die "Christenliebe" von der "Weltliebe" unterschied. Wenn man, wie NIETZSCHE, gegen diese Forderung geltend macht, sie sei sinnlos, weil sich Liebe eben nicht fordern lasse, so ist Liebe hier eben als "Weltliebe", als Neigung, Zuneigung verstanden. Sie zu fordern, ist in der Tat sinnlos. Sie läßt sich nicht fordern und gebieten. Sie ist immer abhängig von den individuellen Bestimmtheiten, die wir bald lieben, bald nicht lieben, bald hassen können. Im Sinn der "Weltliebe" können wir z. B. unsere Feinde nicht lieben. Das hat, wie je ein Mensch, gerade LUTHER mit besonderer Lebhaftigkeit erfahren. Und doch kann er der christlichen Liebesforderung ihren tiefen und echten Sinn zuerkennen, ja in seinem tiefsten Grund diesen erst aufdecken, indem er sie gerade der nicht zu fordernden "Weltliebe" gegenüberstellt. Während diese immer bestimmt und abhängig ist von ihrerseits individuellen Bestimmtheiten, bezieht sich die "Christenliebe" unabhängig von allen individuellen Unterschieden rein auf die Persönlichkeit als Persönlichkeit. Sie ist eine "quellende Liebe", eine "tätige Liebe" zum Unterschied von der "Weltliebe" als einer Liebe, die das Individuum durch die Eindrücke des anderen Individuums erleidet. Jene "quellende Liebe" geht nicht auf "die Unterschiede der Person", im Sinne des Individuums, sondern auf die Heilighaltung der Persönlichkeit als Subjekt ethischer Handelnsmöglichkeit und erkennt sie, weil sie dieses ist, auch als Objekt ethischen Behandelns an, ja sie ist eben dieses ethische Behandeln, das die Persönlichkeit rein als Persönlichkeit fordert.

Rein weil die Persönlichkeit Persönlichkeit, d. h. Subjekt der Möglichkeit sittlichen Handelns ist, darum ist sie schon als Persönlichkeit auch Objekt sittlichen Behandelns. In ihrer spezifischen ethischen Persönlichkeitsseite ist auch ihre ebenso spezifische ethische Objektsseite gesetzt. Beide stehen in unlöslicher Wechselbeziehung. Und diese Wechselbeziehung heißt sittliche Gemeinschaft. Es ist darum kein Zufall, daß das Christentum nicht allein den Gedanken vom "unendlichen Wert der Menschenseele", sondern mit ihm zugleich den Gedanken der Gemeinschaft und der Liebe, die das gemeinschaftsstiftende, gemeinschaftsbildende Band ist, aufgedeckt hat. Die Persönlichkeit fordert als Persönlichkeit "Liebe", "Heilighaltung", "Achtung" und damit die Gemeinschaft und die Gemeinschaft fordert die Persönlichkeit. Persönlichkeit und Gemeinschaft sind Wechselbegriffe. Personalismus und Sozialismus im ethischen Sinne schließen sich nicht aus, sie fordern einander wechselseitig und schließen sich ein. Es ist keine sittliche Gemeinschaft möglich, die nicht Gemeinschaft zwischen sittlichen Persönlichkeiten wäre. Ebenso ist keine sittliche Persönlichkeit möglich, die nicht in eine sittliche Gemeinschaft einbezogen wäre, weil sie in sich selbst sittliches Handeln und sittliches Behandeln aufeinander in Beziehung setzt.

Wie wir aber früher Persönlichkeit und Individuum voneinander unterscheiden mußten, so dürfen wir nun die sittliche Gemeinschaft nicht mit der realen Gesellschaft verwechseln. Individuum und Persönlichkeit verhalten sich zueinander wie Gesellschaft und Gemeinschaft. Wie dem Individuum gegenüber die Persönlichkeit selbst Aufgabe bleibt, so bleibt auch die Gemeinschaft der Gesellschaft gegenüber Aufgabe. Auch die Gesellschaft ist sittliche Gemeinschaft nur der Möglichkeit nach, wie das Individuum sittliche Persönlichkeit nur der Möglichkeit nach ist. Wie allein die Persönlichkeit spezifisch ethische Möglichkeitsbedingung der Darstellung des Sittengesetzes ist, so ist es auch die Gemeinschaft. Und das ethische Gesetz fordert nicht schon das Individuum, sondern gerade die Persönlichkeit zu seiner Darstellung und darum ebenso nicht schon die Gesellschaft, sondern die Gemeinschaft. Darum hat gerade diese, wie die Persönlichkeit, nicht Gesellschaft und Individuum, spezifisch ethischen Potentialcharakter. Im Realen mag sich gewiß die Gemeinschaft immer nur als Gesellschaft darstellen, so stellt sich doch die Gesellschaft noch nicht als Gemeinschaft dar, wie sich im Realen auch die Persönlichkeit immer nur als Individuum darstellte, ohne daß sich das Individuum schon als Persönlichkeit darstellte. Wie das Individuum personalen Potentialcharakter, die Persönlichkeit ethischen Potentialcharakter hat, so hat die Gesellschaft Gemeinschaftspotentialcharakter, die Gemeinschaft selbst aber ethischen Potentialcharakter. Auch dieser Unterschied wird wie derjenige der beiden Formen ethischer Gesetzesallgemeinheit von weittragender Bedeutung und zwar in genau demselben Sinne, in dem das schon vom Gedanken der sittliche Persönlichkeit aus bezeichnet wurde.


IX. Das sittliche Wertgesetz
und das System der Werte.

Das Sollen hatte das ethische Grundgesetz in seiner Subjektsbezogenheit charakterisiert. Dadurch war es als Wertgesetz deutlich geworden. Nicht aber konnte das bedeuten, daß damit seine Geltung als objekte Geltung verflüchtigt und ins Subjektive verwischt werden müßte. Wie nach RICKERTs klarer und scharfer Unterscheidung der Wert in seiner Subjektsbezogenheit sich zwar als  Sollen  darstellt, in seiner Geltung als Wert aber auch durchaus "subjektsunbezogen" bestehen bleibt, so bleibt auch das ethische Grundgesetz, mag es sich auch im Sollen subjektsbezogen darstellen, als Wert doch in durchaus subjektsunbezogener Geltung seinem eigentlichen Gesetzesinhalt nach objektiv bestehen.

Wie wenig es durch das Sollen subjektivistisch verflüchtigt wird, das kann man gerade an den subjektiven Mißverständnissen deutlich machen. Während die einen meinen, mit dem "Sollen" wollten wir befehlen und fordern, wenden die anderen dagegen gerade ein, mit dem Sollen des ethischen Grundgesetzes sei ja noch gar nicht gesagt, was man nun tun oder nicht tun solle. Beide fassen, um eine treffende SCHOPENHAUERsche Unterscheidung in diesem Zusammenhang aufzunehmen, das "Moralbegründen" als ein "Moralpredigen". Nur nehmen sie sodann eine entgegengesetzte Stellung dazu ein. Die einen lehnen es ab. Ihnen muß man recht, aber auch gleich zu bedenken geben, daß es in der Ethik als Wissenschaft nicht auf "Moralpredigen" ankommt. Die anderen können nun aber gerade von der Ethik nicht genug bekommen, weil sie von ihr eben keine Moralpredigt bekommen. Gegen beide ist also zu sagen, einmal daß "Gesetz", "Wert", "Imperativ", "Sollen" nicht bedeutet, daß "wir" etwa "fordern" und "befehlen", daß der "Ethiker" nicht "Moralgesetze" erläßt, sondern daß das Gesetz als Wertgesetz in seiner Subjektsbezogenheit eine "Forderung", einen "Imperativ" zum Inhalt hat, den nicht "wir" als Subjekte "befehlen", sondern lediglich in der Wissenschaft der Ethik mit dem Gesetz selber aufdecken und aufzeigen, der aber, wie das Gesetz selbst, dessen subjektsbezogener Inhalt er eben ist, von aller wissenschaftlichen Aufdeckung und Aufweisung unabhängig besteht. Sodann ist zu sagen, daß das Gesetz als ethisches Grundgesetz gar nicht besagen will, was man nun tun oder nicht tun solle, sondern allein, wie man wollen soll. Man möge sich also, ehe man seine eigenen Forderungen an die Ethik als Wissenschaft richtet, sich zunächst einmal erst darüber klar werden, was man ihrer wissenschaftlichen Aufgabe und ihrem Gegenstand gemäß von ihr eigenlich zu fordern hat und was nicht, und was man, sei es um es zu wünschen, sei es um es zu verwünschen, bei ihr auch nicht suchen darf, weil man es doch nicht finden kann.

Immerhin ist doch auch unter rein ethisch-wissenschaftlichen Gesichtspunkten bereits deutlich geworden und wird nun von neuem deutlich, daß das ethische Grundgesetz als solches nicht die Totalität des ethischen Gesetzes- und Wert-Gehaltes darstellt oder erschöpft, nicht etwa weil es nicht besagt, was man tun oder nicht tun soll. Dieses "Was" gerade ist nicht objektiv, sondern subjektiv und muß subjektiv bleiben. Und es ist gerade die charakteristische Bedeutung, daß jedes Subjektivität durch das Gesetz ihre Sanktion empfangen kann. Aber trotz der unendlichen subjektiven Materialität, trotz der Inhaltlichkeit des ethischen Grundgesetzes bleibt dennoch eine Leerheit bestehen, die auszufüllen, die zu beseitigen ist, sofern überhaupt von einer sittlichen Bestimmung zu reden ist. Das ist das Eigenartige, daß diese zwar auf dem ethischen Grundgesetz ruht, von ihm allein aber nicht begründet werden kann. Und was wir soeben als Leerheit bezeichneten, das ist zwar nicht Inhaltslosigkeit, aber doch das, was man bei KANT "Formalismus" genannt und bisher mehr gefühlt als begriffen hat, weil man nicht begriffen hat, daß damit nichts gegen Recht und Notwendigkeit des ethischen Grundgesetzes als solchen gesagt sein kann, sondern nur gegen die Versuche, dieses mit der Totalität ethischer Wertgesetzlichkeit gleichzusetzen.

Grundsätzlich war die Synthese von Universalität und Einseitigkeit im ethischen Grundgesetze selbst bereits der bezeichnende Ausdruck für die Notwendigkeit, von der Einseitigkeit zu einer ethischen Werttotalität fortzuschreiten. Diese Notwendigkeit wurde uns sodann im Konkreten des sittlichen Lebens deutlich. Die Ideen der Persönlichkeit und der Gemeinschaft bezeichneten bereits Stufen jenes notwendigen Fortgangs. Aber nun gerade kann deutlich werden, daß dieser selbst noch weitergeführt werden muß und in welcher Weise diese Weiterführung zu erfolgen hat. Gerade die Idee der Gemeinschaft kann das zeigen. Sie liegt, so sahen wir, in der Wechselbeziehung der Persönlichkeit als Subjekt sittlichen Handelns und als Objekt sittlichen Behandelns. Aber worin liegt nur wiederum dieses Wechselbeziehung? Gewiß ist die Gemeinschaft geradezu diese Wechselbeziehung als Gemeinschaft zwischen Persönlichkeiten. Aber gerade weil diese Wechselbeziehung noch nicht voll bestimmt ist, ist es auch die Gemeinschaft nicht. Auf dem ethischen Grundgesetze gründen sich zwar Persönlichkeit und Gemeinschaft, aber es läßt die Richtung in der Gemeinschaftsbeziehung der Persönlichkeiten noch unbestimmt. Daher ist es möglich, daß eine Persönlichkeit sittlich handeln kann, ohne doch in dieser selben Handlung eine andere Persönlichkeit auch schon als Objekt sittlichen Behandelns zu behandeln, daß sie also gerade im Konkreten die in der Idee gesetzten Momente, die die Idee der Gemeinschaft konstituieren, nicht beide, sondern nur eines erfüllt, also eigentlich zugleich sittlich und unsittlich handelt, wie wir das früher am Beispiel des Ketzerrichters verdeutlicht haben. Daß der Ketzerrichter aus Achtung für das sittliche Grundgesetz, also aus dem Bewußtsein der Pflicht und damit sittlich habe handeln können, das haben wir eingeräumt. Und doch haben wir diese selbe Handlung auch als sittlich verwerflich bezeichnet, weil sie auch ein Verbrechen gegen die sittliche Freiheit des Gewissens sein kann, indem auch das Opfer des Ketzerrichters in eben dem Handeln, für das es geopfert wird, sittlich gehandelt haben kann. Wir können nun sagen: in derselben Handlung hat die Persönlichkeit des Ketzerrichters zwar als Subjekt sittlichen Handelns, also sittlich gehandelt, aber doch nicht die Persönlichkeit ihres Opfers als Objekt sittlichen Behandelns behandelt, darum also unsittlich gehandelt. Wir können im Kantischen Sinne ihre Handlung zwar als "gut", aber diese Sittlichkeit zugleich doch als leer bezeichnen. Vielleicht könnte man auch sagen: sie sei zwar moralisch wertvoll, weil sie dem ethischen Grundgesetz entspreche, aber sie sei darum noch nicht überhaupt ethisch wertvoll. Damit wird der Grundwert des ethischen Grundgesetzes wiederum für das Wollen als Wollen deutlich. Ebenso aber wird deutlich, daß für die Richtung auch des Wollens noch andere Richtmaße als Werte gefordert sind als allein der für das Wollen bestehende, die aber zugleich von ethischer Relevanz sein müssen, um das Ethos des Willens selbst zu bestimmen, so daß die ethische Relevanz reicher sein muß als die der reinen Moralität, moralisch und ethisch der Sache nach nicht dasselbe besagen, obwohl sie terminologisch dasselbe zu bezeichnen scheinen, daß der ethische Grundwert noch nicht ohne weiteres  der  ethische Wert ist.

In diesem Sinne gründet der ethische Grundwert als sittliches Grundgesetz zwar die Gemeinschaft, aber er läßt, wie wir vorhin sagten, die Richtung in der Gemeinschaftsbeziehung noch unbestimmt, er erfüllt die Gemeinschaft nicht mit einem Inhalt, sowenig auch das ethische Grundgesetz etwa ohne Inhalt ist. Zwar ist, wie wir sahen, die Gemeinschaft eine Gemeinschaft zwischen Persönlichkeiten. Aber um Gemeinschaft zu sein, muß sie doch noch etwas mehr sein. Es muß den Persönlichkeiten als Gliedern der Gemeinschaft notwendig nicht bloß Gemeinschaft zwischen Persönlichkeiten, sondern auch Gemeinschaft von einem gemeinsamen Inhalt sein. Auf die Frage nun, was dieser Inhalt sei, scheint man antworten zu können, er sei das ethische Grundgesetz selbst. Aber diese Antwort wäre richtig und falsch zugleich, je nach der Beziehung, in der sie gehalten ist. Und das wiederum beweist, daß das ethische Grundgesetz zwar die Gemeinschaft gründet, aber sie noch nicht in einem vollkommenen Sinn erfüllt. Es wäre gewiß richtig, zu sagen, das ethische Grundgesetz ist das, was den Gliedern der Gemeinschaft gemeinschaftlich ist, so daß diese eben auch, wie es in ihrem Begriff liegt, Gemeinschaft von einem gemeinsamen Inhalt ist. Aber falsch wäre es doch, zu meinen, daß damit nun auch ein Inhalt der Gemeinschaft in dem Sinne umschrieben wäre, in dem allein eine Richtungsbestimmtheit der Gemeinschaftsbeziehung verstanden werden könnte. Der Inhalt des ethischen Grundgesetzes für sich allein besagt für die Gemeinschaft ja nur, daß die Persönlichkeit als Subjekt sittlichen Handelns und die Persönlichkeit als Objekt sittlichen Behandelns in einer unlöslichen Wechselbeziehung in der Idee, verfehlt werden kann, besagt jener noch nichts über einen Inhalt in dem Sinne, daß  sie  zu ihm in der Gemeinschaft verbunden sein kann, mag sich in der Subjektsbezogenheit auch das Band,  durch  das sie verbunden sind, sich genauer als "Achtung", als "Liebe" oder wie immer sonst bezeichnen lassen. Der Inhalt des ethischen Grundgesetzes würde also doch nur die Gemeinschaft als Gemeinschaft von Persönlichkeiten, nicht auch schon als Gemeinschaft von einem gemeinsamen Inhalt charakterisieren. Und es ist für ihn gerade selber charakteristisch, daß er den Unterschied zwischen jenem "Zwischen" und diesem "Von" auftut, jenes "Zwischen" erfüllt, dieses "Von" unerfüllt läßt, aber auch schon von sich aus diese Erfüllung fordert.

Bloß auf das Bewußtsein der Pflicht, dem ethischen Grundgesetz entsprechend, kann sich nach den PICHLERschen Beispielen ebenso der berufen, der sich für sein Vaterland opfert, wie der, der es aus Pazifismus verrät, ebenso das Opfer des Ketzerrichters, wie der Ketzerrichter selbst. Aber wir konnten angesichts dieser Beispiele zwischen erkennendem und irrendem Pflichtbewußtsein unterscheiden. Eine Unterscheidung, die sich mit einer solchen des täglichen Lebens deckt, dessen Sprache ja zwischen "erkennendem und irrendem Gewissen" unterscheidet. So richtig es darum auch bleiben mag, daß das ethische Grundgesetz das ethische Wertzentrum ist, daß der Handlung "innere Prinzipien, die man nicht sieht, nicht die äußeren Handlungen, die man sieht", die erste und ursprüngliche sittliche Wertentscheidung bringen, daß, populär gesprochen, das "Gewissen" über den Wert des Tuns entscheide, Gesichtspunkte, die alle GOETHE in wundervoller Form dahin zum Ausdruck gebracht hat:
    Sofort nun wende dich nach Innen,
    Das Zentrum findest du da drinnen,
    Woran kein Edler zweifeln mag;
    Wirst keine Regel da vermissen,
    Das selbständige Gewissen
    Ist Sonne deinem Sittentag!
so richtig also alles dies sein mag, so wird doch auch mehr und mehr deutlich, daß das noch nicht das All der ethischen Wertbestimmung ist. Das ethische Grundgesetz ist zwar das "Zentrum" des "Ethos", aber noch nicht das ganze Ethos; subjektsbezogen heißt das: die "inneren Prinzipien" der Handlungen sind die "Prinzipien" des sittlichen Handelns, aber noch nicht das ganze sittliche Handeln, das "selbständige Gewissen" zwar die "Sonne" unseres "Sittentags", aber noch nicht der ganze Sittentag selbst. Das "Zentrum" fordert von sich aus, mag es auch eben Zentrum sein, das Gefüge mit seiner ganzen Figuration und Peripherie, dessen Zentrum es ist, die "inneren Prinzipien der Handlungen" fordern die Handlungen, deren Prinzipien sie sind, das "selbständige Gewissen" als "Sonne" unseres "Sittentags" eben den "Sittentag", dessen "Sonne" es ist. Wenn wir von erkennendem und irrndem Pflichtbewußtsein reden können, so bemerken wir, daß das ethische Grundgesetz sofort über sich selbst hinausweist und übergreift auf den Erkenntniswert, wie es, etwa im Fall unseres Beispiels vom Ketzerrichter, übergreift auf den religiösen Wert, im politischen Beispiel auf den Rechts- und Staatswert usw. Alle diese Werte sind also solche zwar keine ethischen Werte. Aber gerade weil sie als solche nicht isoliert zu bleiben brauchen und in den ethischen Grundwert einbezogen werden können, erweitern sie zugleich dessen Sphäre. Sie sind Wertrichtungen, in die jner eigentlich ethische Grundwert sich weitet und ausstrahlt und die er so zugleich in sich und sich in sie einbezieht und durch die nun Persönlichkeit und Gemeinschaft selbst ihre wertinhaltliche Richtung erhalten. Das ethische Grundgesetz fordert von sich aus als ethischer Zentralwert seine Einbezogenheit in das Ganze und das System der Werte überhaupt. Und in ihrer Verbindung mit dem ethischen Grundgesetz sind diese, so selbständig und eigenbestimmt auch der Inhalt eines jeden für sich sein mag, selbst von ethischer Bedeutung. Freilich, ihres selbständigen objektiven Eigeninhalts wegen können sie sich nun in ihrer Subjektsbezogenheit nicht an "jeden vernünftigen Willen überhaupt" wenden. So annerkennungsnotwendig ihr objektiver Wertgehalt auch in seiner Subjektsbezogenheit ist, so ist in dieser doch die Vollbringungsmöglichkeit an bestimmte Bedingungen gebunden, die innerhalb der Gemeinschaft, der sie selbst erst ihren bestimmten Richtungs- und Beziehungsgehalt zwischen den Persönlichkeiten geben, am Individuellen der Persönlichkeit und am Gesellschaftlichen der Gemeinschaft ihren bestimmten Ausdruck finden. Damit gewinnt die zweite Form der Allgemeinheit ethischer Gesetzlichkeit, von der wir früher sprachen und die wir mit KANTs "hypothetischen Imperativen" in Beziehung setzten, ihren bestimmten Gehalt. Darauf beruth in der Tat die von KANT mehr geahnte als klar erkannte Zwischenstellung der "hypothetischen Imperative" zwischen den "kategorischen Imperativen" und den "subjektiven Maximen", daß diese in ihrem Wertcharakter als Gesetze objektiv, aber in ihrer Subjektsbezogenheit nicht universell, sondern, weil aufs Vollbringen durch die "äußere Handlung", nicht allein auf das Wollen als Wollen bezogen, in der Vollbringungsmöglichkeit subjektiv bedingt sind. An einigen Stellen, an denen KANT in den "hypothetischen Imperativen" die ethische Bestimmung mit der "Kultur der Geistestalente" gelegentlich, in Verbindung bringen zu wollen scheint, scheint auch jene seine Ahnung bestimmtere Gestalt gewinnen zu wollen. Denn in der Tat sind jene Werte, die wir in ihrer Bezogenheit auf das ethische Wertzentrum des ethischen Grundgesetzes nun von Rechts wegen als "hypothetische Imperative" bezeichnen können, die Werte, aufgrund deren wir überhaupt erst von Kultur sprechen können und auf denen der  Wert charakter auch in dem, was wir Kultur werte  nennen, beruth. Freilich gleitet KANT gerade in seinen wenigen Bemerkungen über die "Kultur der Geistestalente" wieder so ganz ins Subjektive, daß er auf das objektive Wertmoment in dieser "Kultur" überhaupt nicht achtet, nur auf die subjektive Bedingtheit der "Geistestalente" reflektiert und gar nicht bemerkt, daß sich auch von subjektiven "Geistestalenten" gerade als Talenten ohne die Voraussetzung objektiver Werte gar nicht reden läßt. Merkwürdig genug bei einem "Geistestalent" vom Rang KANTs, das sein ganzes persönliches konkretes Leben ganz in den Dienst der Idee der Pflicht stellte, entgeht, ganz im Gegensatz etwa zu GOETHE und SCHILLER, zu FICHTE und HEGEL, seiner Theorie der eigentliche ethische Aufgabencharakter jener "Kultur der Geistestalente" und damit auch der objektive Wertsinn der "hypothetischen Imperative" so sehr, daß sich ihm an die Stelle des eigentlichen Aufgaben- und objektiven Wertcharakters ein bloßer Gegenstand "feineren Freuden und Ergötzungen" unterschiebt.

Durch die Verflechtung des Zentralwerts des ethischen Grundgesetzes in ein System der Werte überhaupt können dem allgemeinen Pflichtbewußtsein erst konkret bestimmte Pflichten erwachsen, kann die Persönlichkeit ins Individuum eingehen, individuelle konkrete Wertgestalt gewinnen und das Individuum Persönlichkeit werden, wie die Gemeinschaft in die Gesellschaft eingehen und die Gesellschaft Gemeinschaft werden kann. Gewiß bleibt die Persönlichkeit Aufgabe für das Individuum, wie die Gemeinschaft Aufgabe für die Gesellschaft bleibt, und ebenso gewiß fordert die ethische Grundgesetzlichkeit noch nicht bloß Individuum und Gesellschaft, sondern gerade Persönlichkeit und Gemeinschaft für ihre Darstellung. Aber nicht etwa nur, weil, wie wir sagten, sich im Realen die Persönlichkeit nur als Individuum und die Gemeinschaft sich nur als Gesellschaft darstellt, sondern weil sich die Gemeinschaft auch ihrer Idee und ihrem Gesetz nach nur als Gemeinschaft von Werten darstellt und damit auch die Persönlichkeit erst bestimmte Aufgabengegenstände erhält, verflechten sich in der subjektsbezogenen Sphäre auch Individuum und Persönlichkeit, Gesellschaft und Gemeinschaft. Nicht das Individuum als Individuum, nicht die Gesellschaft als Gesellschaft, sondern das Individuum, gerade soweit sich in ihm im Realen die Persönlichkeit darstellt und das Individuum selber Persönlichkeit werden kann und die Gesellschaft, gerade soweit sich in ihr im Realen die Gemeinschaft darstellt und sie selber Gemeinschaft werden kann, sind in den ethischen Grundwert und das System der Werte einbezogen. Diese gehen in sie und sie gehen in diese zu lebendiger Darstellung ein.


X. Geschichte und Freiheit.

Die lebendige Darstellung der Werte durch individuelle Persönlichkeiten innerhalb der wiederum konkret gesellschaftlich bestimmten Gemeinschaft vollzieht sich im geschichtlichen Leben und Werden und ist selber geschichtlich lebendiges Werden. Der Wertinhalt als "Form" und der Erlebnisinhalt als "Material" gehen hier ihre konkrete Einheit ein. Das kann und soll nicht heißen, daß die Geschichte schon als Geschichte wertvoll oder werterfüllt wäre, wohl aber, daß sie, um RICKERTs grundlegende Unterscheidung hier anzuwenden, wertbezogen ist. Es ist nicht notwendig, daß jeder Ketzerrichter auch nur aus dem Bewußtsein der Pflicht gehandelt hat, obwohl mancher auch so gehandelt haben mag. Die überwiegende Mehrzahl wird ihre Opfer um des eigenen Plätzchens im Himmel willen verbrannt haben. Notwendig aber steht die ganze Geschichte der Ketzerprozesse in Beziehung auf einen Wert, den Wert der Religion. Wir werden, die Religion in ihrem tiefsten Sinn gefaßt, diese Beziehung sogar als eigentlich religionsfeindlich auffassen können. Aber diese Feindlichkeit gegen echte Religion ist und bleibt eben doch eine Beziehung auf den religiösen Wert. Weil aber im geschichtlichen Leben überhaupt Wert und Wirklichkeit aufeinander bezogen sind, darum ist die Geschichte die Stätte, in der Werte in die Wirklichkeit eingepflanzt werden  können,  nicht schon naturnotwendig eingepflanzt  sind  oder eingepflanzt sein  müssen. 

Diese Verpflanzung der Werte in die Wirklichkeit bleibt eine Aufgabe, die nur gerade in der Form geschichtlichen Lebens die Bedingung ihrer Möglichkeit hat. Sofern ja die Gemeinschaft nicht allein eine Gemeinschaft zwischen Persönlichkeiten, sondern auch eine Gemeinschaft von Werten ist, erwachsen aus den Werten der Persönlichkeit innerhalb der Gemeinschaft Aufgaben. Sie geben der Persönlichkeit in der Gemeinschaft erst ihre konkret bestimmte Stelle, verbinden die Persönlichkeiten zur Gemeinschaft selbst erst in einem konkreten Sinn und geben jeder Beziehung von Persönlichkeit zu Persönlichkeit, die allgemein als "Liebe" oder als "Achtung" zu bezeichnen ist, selbst erst eine bestimmte Gestaltung. Insofern sie auf objektiven Werten gründen, sind sie von subjektivem Nutzen und Interessen scharf zu unterscheiden. Diese lägen in der Sphäre des Individuums bloß als Individuum und der Gesellschaft bloß als Gesellschaft. Auch sie haben im geschichtlichen Leben ihre bestimmte Bedeutung. Als Inbegriff der Realisationsbedingungen der eigentlichen Wertdarstellungen bildet das Wirtschaftsleben mit ihnen den Unterbau des Kulturlebens im eigentlichen Sinne, im Sinne der Kultur des ganzen Geisteslebens. Im Verhältnis zu diesem ist jenes aber nur Mittel zum Zweck. Und nur durch dieses Mittel-Zweck-Verhältnis ist es selbst wertbezogen und kann Aufgaben darbieten, die ihrerseits ihre letzten Grundlagen in den objektiven Werten haben, die als solche niemals Mittel, sondern immer Zweck ansich sind. Diese Rangordnung bestimmt alles geschichtliche Leben, wenn und sofern es überhaupt geschichtlich ist. Und dieses müßte sich selber aufgeben, wenn es jene Rangordnung aufgäbe oder umgekehrt. Wie also zuletzt alle echten Aufgaben als Bindungen der Persönlichkeiten an objektive Werte und zur Gemeinschaft die Persönlichkeit erst zur Persönlichkeit und die Gemeinschaft zur Gemeinschaft machen, so führen sie auch erst das Individuum ein in die Region der Persönlichkeit und die Gesellschaft in die Region der Gemeinschaft. Aufgaben aber fordern Arbeit und Tätigkeit. Und so können wir von der Arbeit sagen, daß sie es im konkretesten Sinne ist, die Persönlichkeiten zur Gemeinschaft verbindet, indem sie beide an Aufgaben und durch Aufgaben an Werte bindet und im geschichtlichen Leben Individuum und Gesellschaft in die Region von Persönlichkeit und Gemeinschaft emporführt und Persönlichkeit und Gemeinschaft in die Region von Individuum und Gesellschaft verflößt.

Hier erwachsen dem ethischen Grundgesetz und subjektiv dem Pflichtbewußtsein nicht bloß die von Augenblick zu Augenblick wechselnden Materialien, sondern im System der Werte überhaupt Richtpunkte, auf die jedes Material vom Pflichtbewußtsein, dem ethischen Grundgesetz entsprechend, bezogen werden kann. So sehr also das ethische Grundgesetz für sich selber auch nicht besagen kann, was man tun solle, sondern nur, wie man wollen solle, so werden nun ethisches Grundgesetz wie Pflichtbewußtsein und damit Tun und Wollen nicht durch das Material, in dem auch jetzt nie Objektivität liegen kann, sondern durch das ganze Gefüge der Werte inhaltlich objektiv bestimmt und die Pflicht bleibt nun nicht mehr bloß eine  Pflicht gegen wen,  sondern wird eine  Pflicht wozu.  So beständig ihr Material wechselt, so konstant werden nun ihre Richtungen bestimmt. Der Persönlichkeit kann nun erst das erwachsen, was SCHILLER im Gegensatz zur "einseitig moralischen Schätzung" die "Totalität des Charakters" nannte. Sie ist es, die auch in die Gemeinschaft selbst erst Inhalt und Fülle bringt.

"Charakter" ist also kein konstantes Ding. Das ist er ebensowenig, wie die Persönlichkeit. Er ist, wie diese, selbst eine Aufgabe und soweit er nicht Aufgabe ist, ist er doch kein Ding, sondern die Richtungsbezogenheit von Tun und Wollen auf Werte, konstante Richtungsbestimmtheit des Tun und Wollens durch Werte bei beständigem Wechsel und Wandel im Werke, im Material, die damit zugleich den Fortgang zu immer und immer wieder Neuem der Wertgestaltung des Wirklichen bestimmt. Im Charakter vereinigen sich Sein und Sollen, Wirklichkeit und Wert und gerade diese Vereinigung "prägt" ihn zum "Charakter". Denn damit werden "Sein" und Wirklichkeit" der Vollendetheit und Starrheit entrückt und bleiben doch konstant als zum Wollen sich entwickelndes, werdendes Sein, als nach Werten wirkende Wirklichkeit, nicht als ruhendes Sein, nicht als bewegungslose Wirklichkeit: der Charakter ist im Wechsel des Gewollten konstant bleibender Wille zum Wert und als solcher das Strukturkonstitutiv der Gemeinschaft, so daß nicht in einem Beharrungszustand, sondern im unvollendbar stetigen Fortgang zu immer wieder Neuem auch deren Konstanz liegt.

Daraus begreift sich zweierlei: Einmal ist der Wandel und Wechsel im geschichtlichen Leben keine Instanz gegen die Ethik, wie es einer oberflächlichen Ansicht scheinen könnte. Im Gegenteil, er ist selbst ethische Forderung. Gerade weil Wert und Sollen von sich aus nicht ruhendes, sondern tätiges Sein, Tun und Wollen fordern, fordern sie auch keine Phase des Tuns als letzte und endgültige festzusetzen, sondern sie wiederum für neues Tun zum Ausgang zu nehmen. Zweitens wird damit nun aber eine Phase, soweit sie wahrhaft geschichtlich ist, nicht durch die folgende entwertet. Sofern sie zeitliche Darstellung eines überzeitlichen Wertes ist, stellt sie innerhalb der Geschichte selbst einen kulturellen Wertgehalt dar. Alle allgemeinen Kulturwerte gründen im System der Werte schlechthin und ohne dieses wäre Kultur nicht möglich. Jede im eigentliche Sinne kulturelle Leistung innerhalb des geschichtlichen Lebens, die einem bestimmten Kulturgebiete angehört, ist ein Ausdruck dieses Kulturwertes und hat in ihrer Zeitlichkeit selbst den überzeitlichen Gehalt eines objektiven Wertes zur Darstellung gebracht, mag sie als wissenschaftliche Leistung dem Kulturwert Wissenschaft angehören und im Wahrheitswert gründen, als künstlerisches Werk dem Kulturwert Kunst angehören und im religiösen Wert gründen oder wie immer sonst wertbestimmt sein. Mag sie im geschichtlichen Prozeß auch von einer anderen "überwunden" werden, so bedeutet solche "Überwindung" nicht ihre Verungültigung und Nichtigkeitserklärung, sondern im guten Sinne HEGELs ihr "Aufgehoben"-Werden in und durch die folgende, so daß sie in diese selbst mit eingeht: "Im Gebirge der Wahrheit", so macht NIETZSCHE das am Erkenntnisbeispiel deutlich, "kletterst du nie umsonst: entweder du kommst schon heute weiter hinauf oder du übst deine Kräfte, um morgen höher zu steigen". Aber auch ganz abgesehen von solchem "Überwunden" - und "Aufgehoben"-Werden hat jede Kulturleistung in der Geschichte ohne Rücksicht auf das, was auf sie und aus ihr folgt, ihren unüberwindbaren und unaufhebbaren Wert in sich selbst, sofern sie überhaupt zeitlicher Ausdruck eines überzeitlichen Wertes ist. Mag sie immerhin auch eingegliedert sein in den geschichtlichen Zusammenhang, nie eine Vollendung und immer über sich hinausweisend, so ist sie zugleich doch auch in sich selbst geschlossen. Sie stellt, wenn sie nur eine echte Leistung ist, immer auch die zeitliche Lösung eines überzeitlichen Aufgabegehaltes dar, einer Aufgabe, die nur einmal gelöst zu werden braucht und auch bei der Einmaligkeit alles Wirklichen nur einmal gelöst werden kann. Diese Bedeutung bliebe ihr, auch wenn nichts aus ihr und auf sie folgte und wenn mit ihr aller geschichtlicher Zusammenhang abrisse, die Kultur abbräche und verlöschte, sie selbst also die letzte Kulturerscheinung wäre. Sie wäre ein Ende, aber doch keine Vollendung, ein Ende in der Zeit, aber keine Vollendung im Gehalt. Im Gehalt ist ja jede echte Leistung in sich geschlossen und doch nicht abgeschlossen. Denn sie hat ihre Bedeutung in sich, indem sie über sich hinausweist, nicht so notwendig auf etwas, das auf sie zeitlich folgt, wie auf etwas, das ihr zeitlich vorangeht, immer aber auf etwas, das ihr zeitlos vorangeht, einen Wert.

Persönlichkeit und Gemeinschaft erhalten also in der Geschichte ihre Bestimmung, insofern sie durch diese in den Dienst von übergeschichtlichen Werten treten, weil ihnen in dieser allein konkrete Aufgaben erwachsen. Und das ist, so sagten wir, der Sinn der Arbeit und ihr Segen, ihre Weihe und Würde, daß sie die Persönlichkeiten zur Gemeinschaft verbindet, indem sie sie an Aufgaben und durch Aufgaben an Werte bindet. Diese Bindung aber ist im tiefsten ethischen Sinne zugleich die Freiheit, so daß die Geschichte, in der allein die Darstellung und Erfüllung der Aufgaben in der Wertgestaltung der Wirklichkeit durch Persönlichkeit und Gemeinschaft aufgrund ihres Strukturkonstitutivs des Willens zum Wert möglich ist, zugleich das Reich der Freiheit ist. Aber es gilt auf gerade diesen Sinn der Freiheit zu achten. Nicht alles, was man Freiheit nennt, ist wahre Freiheit. Nicht auf Freiheit in jedem Sinne kommt es an. Nicht nur ist Freiheit nicht immer höher als Gebundenheit, sondern Freiheit ist im höchsten und tiefsten Sinn gerade Gebundenheit, nicht die Gebundenheit der Knechtesseele freilich, sondern die Selbstbindung an Aufgabe und Wert, die aber auch die Gebundenheit der Knechtsseele, die die Selbstbindung nicht kennt und nicht achtet und nach bloßer Willkür verlangt, nicht zu verneinen und aufzuheben braucht, weil diese ja nur die echte und wahre Freiheit durch Willkür stören müßte.
    Nach seinem Sinne leben, ist gemein; der Edle strebt nach Ordnung und Gesetz.
So hat GOETHE, der wußte, daß "nur das Gesetz und Freiheit geben kann", die beiden Bedeutungen der "Freiheit" unterschieden, die dem gewöhnlichen Denken durcheinandergehen: die Scheinfreiheit des "nach seinem Sinne Lebens" und die echte und wahre Freiheit des "nach Ordnung und Gesetz Strebens". In der Geschichte des deutschen Idealismus von LEIBNIZ und KANT über FICHTE und HEGEL bis zu NIETZSCHE und die unmittelbare Gegenwart sind diese beiden Bedeutungen der Freiheit als negative Freiheit und als positive Freiheit immer schärfer und bestimmter geschieden worden. Die negative Freiheit versteht sich selbst bloß als ein Freisein von einem Zwang. Sie ahnt nicht, daß der Zwang selbst ein Mittel sein kann im Dienst der positiven Freiheit. Sie bleibt Willkür des bloßen Individuums und damit Sklaverei unter Launen und Trieben, unter bloßen Nützlichkeitsrücksichten und Interessen. Diese will sie in "Freiheit setzen. Aber sie sind es gerade, die im konkreten lebendigen Gemeinschaftsleben des Zwangs, des Zaumes und Zügels bedürfe, um in den Dienst von Ordnung und Gesetz, in den Dienst der positiven Freiheit gestellt zu werden. Diese positive Freiheit ist gerade das Freisein zu Gesetz und Ordnung innerhalb des Gemeinschaftslebens. Der negativen Freiheit als einem bloßen Freisein vom Zwang tritt diese gegenüber gerade als ein Freisein zum Ziel, zu Aufgaben und Wert. Sie ist nicht Willkür des Individuums bloß als Individuum, sondern der Wille zum Wert selbst, Wille der Persönlichkeit, auch in ihrer individuellen Besonderheit und durch ihre individuelle Besonderheit Wertfülle und Wertleben zu bringen in das Leben der Gemeinschaft. Denn das bezeichnet Inhalt und Fülle des geschichtlichen Lebens selber, daß die Besonderheit durch den persönlichen Willen auf objektive Werte bezogen ist und die Allgemeinheit und diese auf sie. Ohne diese Beziehung wäre die Allgemeinheit leer und die Besonderheit nichtig und die Werte blieben abgesondert von der Wirklichkeit, dieser fremd. Das Wertewollen, das in der individuellen Besonderheit die Werte zur Darstellung-bringen-wollen bezeichnet, historisch gesprochen, die Bestimmung der Persönlichkeit in der Gemeinschaft. Wie diese konkrete geschichtliche Gestalt nur durch die Persönlichkeit gewinnt, so gewinnt diese konkrete geschichtliche Bestimmung nur durch die Gemeinschaft. Ihre unlösliche und unaufhebbare Wechselbeziehung findet in der Geschichte also derart ihren Ausdruck, daß die Gemeinschaft nicht etwa nur die besondere Bestimmung der Persönlichkeit gewähren lassen darf, sondern sie geradezu fordern und gewährleisten muß und daß die Persönlichkeit ihre besondere Bestimmung nicht bloß innerhalb der Gemeinschaft darstellen darf, sondern gerade allein innerhalb der Gemeinschaft darstellen kann. Das Freisein zu dieser Darstellung ist eben das Freisein zu Ziel und Aufgabe, zu Sinn und Wert, die Freiheit im positiven und echten SInn. Hier findet auch das "Glück" in der Form von "Lust und Liebe", die "die Fittiche zu großen Taten" sind, seine ethisch berechtigte Stelle. KANT hat in allem recht, was er  gegen  das "Glück" als Ziel und Zweck, also gegen den Eudämonismus sagt. Nur darin hat er unrecht, daß er alles nur  gegen,  nichts  für  das "Glück" zu sagen weiß, weil er zu wenig über das Ethos der Geschichte und die hypothetischen Imperative als Kulturimperative zu sagen weiß, obwohl ihn darauf deren von ihm bereits vorgeahnte Mittelstellung zwischen "kategorischem Imperativ" und "Maxime" hätte hinweisen können. Gerade in der Lust und Liebe zu Aufgabe und Tat wirkt sich auch die Freiheit im echten und positiven Sinn aus.

Sie ist zugleich der Wille zur Selbstverantwortlichkeit gegenüber der Allgemeinheit der Werte, durch die das Wollen im Sollen auch das konkret Gesollte ergreift. Das soll nicht heißen, daß das konkret Gesollte auch als gesollt erkannt sein müßte. Diese Erkenntnis ist lediglich Sache der Ethik als Wissenschaft; und wie die Wissenschaft nur ein Kulturwert unter Kulturwerten, so ist der objektive Wahrheitswert als ihr Grund und Ziel nur ein Wert unter den Werten im System der objektiven Werte überhaupt. Die subjektsbezogene Erkenntnis des Gesollten zum Alleinbestimmenden machen, hieße nicht nur einem einseitigen Intellektualismus verfallen, sondern zugleich auch verkennen, daß der Logos der Werte inhalts- und umfangreicher ist als irgendeiner der Werte für sich. Wohl aber wird in jenem Willen zur Selbstverantwortlichkeit vor der Instanz der Allgemeinheit der Werte überhaupt noch einmal deutlich, daß das ethische Grundgesetz im Zentrum der Werte überhaupt steht, aber, weil es eben nur Zentrum des ganzen Wertgefüges ist, durch dieses Gefüge erst selbst bestimmte Wertgehalt empfängt. Im subjektbezogenen, konkreten, geschichtlichen Leben bedeutet das, daß die konkrete Sittlichkeit ihre konkreten Inhalt immer nur empfangen kann aus konkreten kulturellen Wertgehalten selber, daß aber umgekehrt auch solche ihrerseits nur zur Darstellung gelangen können durch konkrete sittliche Selbstverantwortlichkeit zum allgemeinen Wertleben. Die wahrhafte sittliche Freiheit als Freisein zum Ziel ist nichts ohne das Ziel, wie das Ziel nichts ist ohne die sittliche Freiheit, die es sich eben als Ziel setzt in sich selbst bestimmender Verantwortlichkeit und verantwortlicher Selbstbestimmung nach einem Wert. Der selbstverantwortliche Wille zum Wert wird auf dem Weg zu immer Neuem innerhalb des geschichtlichen Lebens auch oft genug als im engsten Sinne sittlicher Neuerer auftreten müssen. Ob er gegen das Alte, ob das Alte gegen ihn im einzelnen Falle recht hat, darauf kommt es nicht an. Aber das ist das Entscheidende in der Geschichte als dem Reich der Freiheit im positiven Sinn, daß ohne sittliche Selbstverantwortlichkeit ein Gesamtleben der Kultur überhaupt unmöglich und jene ohne dieses leer ist. Beide stehen geschichtlich in so unlöslichem Zusammenhang wie die übergeschichtlichen subjektunbezogenen Werte selbst.

Beachten wir das, so verstehen wir auch unsere unmittelbare Gegenwart. Diese "Kultur der Gegenwart" ist so leer an kulturellem Gehalt, wie und weil sie leer ist an ethischem Gehalt und sie ist so leer an ethischem Gehalt, wie und weil sie leer ist an kulturellem Gehalt. Wie im positiven Sinn eine Wechselwirkung besteht zwischen konkret geschichtlichem sittlichen Leben und Kulturleben, so besteht auch eine Wechselbeziehung in ihren Negationen.

Kulturpflichten gibt es konkret nicht ohne  die  Pflicht und  die  Pflicht kann sich nur darstellen in Kulturpflichten.


XI. Pflicht und Recht.

Gleich als das philosophische Denken sich auch auf das geschichtliche Bewußtsein zu beziehen begann, da faßte es die Geschichte als eine "Geschichte der Freiheit". Welcher Sinn diesem Gedanken bleibt, wird nun deutlich geworden sein. Er kann nicht besagen, daß die Freiheit selber geschehe, wohl aber, daß das Geschehen, soweit es nun gerade im besonderen geschichtlich ist, ein Geschehen zur Freiheit ist. Dies freilich wiederum nicht, als ob auch in allem Geschichtlichen notwendig mehr als überhaupt eine Beziehung auf die Freiheit läge, wohl aber so, daß diese Beziehung, soweit sie im positiven Sinne eine wertbestimmte Bedeutung hat, ein Freisein zur Erfüllung der jedem aus dem geschichtlichen Leben "anhebenden", d. h. erwachsenden, in übergeschichtlichen Werten "entspringenden", d. h. begründeten Aufgaben ist. Sie sind es, in denen  die  Pflicht in Pflichten konkrete Gestalt gewinnt. Freisein zur Pflichterfüllung in einem zugleich umfassenden wie konkreten Sinn selber Recht. Dieser tiefste und letzte Sinn des Rechts fließt also selbst aus der Idee der Pflicht. Alles Recht ist in seinem tiefsten und letzten Sinn ein "Recht auf Pflichterfüllung". So ist der eigentliche Rechtssinn gerade juristischerseits von RADBRUCH im engen Anschluß an KANT treffend gekennzeichnet worden. Und dieser Gedanke verliert an seine Kraft und Bedeutung, genau wie der Kantische Gedanke der Pflicht selber, auch dadurch nichts, daß er, wie dieser, auch dem gemeinen Bewußtsein leicht einleuchtet, ohne darum auch schon leicht befolgt zu werden. Mag mancher auch auf seine sogenannten "Rechte" einfach pochen wollen, er weiß dennoch, daß sie, wenn sie nicht bloß sogenannte "Rechte" bleiben wollen, sich selber erst rechtfertigen müssen und daß es Rechte im eigentlichen Sinne nur so weit gibt, als es Pflichten gibt, daß ohne Pflicht auch kein Recht besteht. Und in der Tat erhält das Recht seine eigene Rechtfertigung allein aus der Idee der Pflicht. Es steht in deren Dienst, insofern es als Recht auf Pflichterfüllung die Pflichterfüllung, das Freisein zur Pflichterfüllung zu gewährleisten hat. Es stellt, wie KANT richtig hervorgehoben hat, den Inbegriff der Bedingungen dar, unter denen die Freiheit eines jeden mit der aller übrigen zusammen bestehen kann.

Darin liegt zugleich seine gemeinschaftsregelnde Bedeutung. Darin liegt aber auch der eigentümliche Charakter der Rechtsgesetzgebung als Zwangsgesetzgebung, der das Recht von der eigentlich ethischen Gesetzgebung ebenso unterscheidet, ihm, wie FRITZ MÜNCH sagt, seinen "Eigen-Sinn" gibt, wie seinen Zusammenhang mit dieser bezeichnet. Der Zwangscharakter, die Erzwingbarkeit des Rechts ist gerade das, was auch schon dem unbefangenen, weder philosophisch noch juristisch vorgebildeten Denken als der bestimmendste Grundzug des Rechts erscheinen mag. Es wird aber, so sehr es auch seine Beziehung zur Pflicht anerkennen mag. Es wird aber, so sehr es auch seine Beziehung zur Pflicht anerkennen mag, doch zunächst eine gewisse Schwierigkeit darin finden, daß die Rechtsgesetzgebung als Zwangsgesetzgebung nun gerade das Freisein zur Pflichterfüllung gewährleisten soll. Allein diese Schwierigkeit besteht nur scheinbar. Um das zu verstehen, müssen wir uns nur daran erinnern, daß Freiheit nicht Freisein vom Zwang, sondern Freisein zum Ziel, zu Aufgabe und Wert ist. Freiheit und Zwang stehen nicht ohne weiteres im Gegensatz, der Zwang kann selbst der Freiheit dienen, ein Mittel zum Zweck der Freiheit sein, insofern er sich nicht gegen die Freiheit, sondern gegen alles das richtet, was die echte Freiheit, als Freisein zur Pflichterfüllung, zu Aufgabe, Ziel und Wert stört und hindert. Und das nun ist in der Tat das Verhältnis von Recht und Pflicht. Als Zwang unterscheidet es das Recht von der eigentlich ethischen Gesetzlichkeit. Als Zwang, der sich gegen die Störung und Hinderung der sittlichen Freiheit richtet, steht es mit der ethischen Gesetzgebung im engsten Zusammenhang. Der Zwang hebt nicht die Freiheit auf. Wohl aber schränkt er die bloß subjektive Willkür ein und indem er diese behindert, dient er gerade der echten und wahren Freiheit in dem von uns bezeichneten Sinne. Wenn KANT darum das Recht bestimmt als "Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit" und wenn er sagt, es sei "mit der Befugnis, zu zwingen, einerlei", so sind das Bestimmungen, die an Präzision schlechterdings nicht übertroffen werden können. Das Recht ist nicht nur ein Zwingherr, sondern der Zwingherr schlechthin zur Freiheit.

Das Recht ist kein Zwang gegen die Freiheit, sondern gegen die bloß individuelle Willkür, indem es diese gerade im Dienst der Freiheit beschränkt. Damit aber wird deutlich, daß es zugleich der eigentliche Hebel ist, der das bloße Individuum in die Sphäre der Persönlichkeit und die bloße Gesellschaft in die Sphäre der Gemeinschaft emporhebt. Sahen wir früher, daß allein aufgrund der Verflechtung des Zentralwerts des ethischen Grundgesetzes in ein System der Werte überhaupt dem allgemeinen Pflichtbewußtsein erst konkrete Pflichten erwachsen können, durch die die Persönlichkeit selbst individuell konkrete Wertgestalt gewinnen und das Individuelle persönlich werden, die Gemeineinschaft in die Gesellschaft eingesenkt, die Gesellschaft ihrerseits Gemeinschaft werden kann, woraus sich dieses Werden in der Geschicht als ziel- und aufgabebestimmtes Wert-Werden in der Richtung auf das ganze System der selber nicht werdenden, sondern zeitlos geltenden Werte entwickelt, so wird innerhalb dieses Systems der Werte die Stellung des Rechtswertes und zugleich seine Bedeutung für die Geschichte deutlich. Wie im Gefüge der Werte das ethische Grundgesetz der Zentralwert, so ist der Rechtswert die Wertzentralisation, die Wertfügung im Gefüge der Werte. Und im geschichtlichen Leben ist er zugleich die Zentralisation der Wertverwirklichungen. Erwies sich im geschichtlichen Leben die Arbeit als das, was Persönlichkeit und Gemeinschaft an Aufgaben und Ziele durch diese an Werte bindet, dadurch die Wechselbeziehung zwischen Persönlichkeit und Gemeinschaft selbst erst zur konkreten Darstellung bringt und sie mit der Wechselbeziehung von Individuum und Gesellschaft wertbestimmend verflicht, so erweist sich nun das Recht als das Leitmaß, das die ordnungsstiftende Regelung der Arbeit selber vollzieht im geschichtlichen Rechtsleben selber. Um wahrhaftes Rechtsleben zu sein, hat es in stetigem geschichtlichen Wandel gerichtet zu sein auf die Idee des Rechts selber, die sich aus der Idee der Pflicht rechtfertigt. Und ist es danach gerichtet, dann allein ist auch das Recht nicht tot in Paragraphen gebannt, sondern eben lebendiges Recht und gerechtes Recht. In der Wägung von Sein und Sollen, von werdendem, tätigem Sein als einer Leistung nach Werten, liegt seine Gerechtigkeit. Das  Maß  des Seins nach dem Sollen, der Leistung nach ihrem Wert ist die Gerechtigkeit selbst.  Ihre Maße  sind Wertfernen und Wertnähen: die Distanzen zwischen Wirklichkeit und Wert und damit auch zwischen Individuum und Persönlichkeit, zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft. Wenn wir schon einmal von der Rangordnung des geschichtlichen Lebens sprechen konnten, als wir im Individuellen und Gesellschaftlichen, sofern es sich im Wirtschaftsleben darstellt, den Unterbau zum Persönlichen und Gemeinschaftlichen bezeichneten, insofern es sich im eigentliche Kulturleben darstellt, durch das allein auch jenes wertbezogen sein und Aufgaben darbieten kann, so stand der Gedanke der Gerechtigkeit schon in jenes früheren Gedankens Hintergrund. Gerechtigkeit fordert diese Rangordnung für das ganze Gemeinschaftsleben: das Unterscheiden des individuellen Wirklichen nicht bloß als Wirklichem, da ja alles Wirkliche sowieso individuelle verschieden ist, sondern nach seinem Wertgehalt. Die Phrase von der ausgleichenden Gerechtigkeit kehrt allen Wertsinn in dem Maße um, daß man von Rechts wegen gerade nur von ausgleichender Ungerechtigkeit und ungerechtem Ausgleich reden darf. Die rangordnende Differenzierung der Glieder innerhalb des sozialen Ganzen und demnach ihre Zusammenfassung eben als Glieder des sozialen Ganzen, das gerade ist zugleich die Forderung der Gerechtigkeit, die in der Idee des Rechtes selber und damit in der Pflicht ihre eigene Rechtsgrundlage hat.

Nun wird auch deutlich, in welchem Sinne Recht und Gerechtigkeit der Geschichte selber immanent sind, die Geschichte wirklich das "Weltgericht" ist: nicht in dem Sinne, als ob jene Rangordnung in allem differenten Einzelnen durchgeführt wäre, wohl aber in dem Sinne, daß, wie der Charakter der bei allem Wechsel des gewollten konstante Wille zum Wert ist, so alles eigentlich geschichtliche Leben als Ganzes der bei allem Wechsel im Geordneten konstante Wille zur Wertordnung überhaupt ist, daß gerechterweise geschichtliches Leben nur so lange lebt, als der gerechte Wille zur Rangordnung lebt, zur Differenzierung nach Recht und Pflicht, daß die Kultur zu sterben beginnt, wenn der Wille zur Differenzierung nach Recht und Pflicht zu sterben beginnt und daß der Tod dieses Willens zugleich der Tod der Kultur ist. Mit dem Urteil über Sein und Nicht-Sein eines solchen Willens wäre auch das Urteil über Leben und Tod der Geschichte und Kultur gesprochen. Würde erst einmal der wirkliche Wille zur Differenzierung nach Recht und Pflicht sich in das Gegenteil des illusionären willens zur Gleichheit des Rechtes und der Pflicht aller verkehrt haben, dann wäre an die Stelle wirklichen geschichtlichen Lebens Jllusion und Tod, Recht- und Pflichtwidrigkeit getreten. Bei der Verschiedenheit aller, die, schon der durchgängigen Individualität alles Wirklichen nach, notwendig bestehen muß, kann die zum Willensziel erhobene "Gleichheit der Rechte und Pflichten aller" nur Jllusion bleiben und lediglich zur Entrechtung und Pflichtwidrigkeit aller führen. Die vollendete Demokratie wäre auch das Ende wahrer Geschichte und Kultur. Zugleich aber schwebt jene demokratische Gleichheitsillusion als notwendiges Schicksal über aller kulturellen Differenzierung. Das Kulturleben trägt sin sich selbst auch den Keim des Todes, wie in der Natur der Keim des Lebens auch der Todeskeim ist. Und auch diesen Kulturtod will das Recht, denn er ist nichts anderes als eine Folge des Abfalls von der Pflicht. Darin liegt die Gerechtigkeit der Geschichte in Leben und Sterben der Kultur, die Gerechtigkeit der Geschichte nach Pflicht und Recht als Wägung und Messung vom Sein am Sollen.


XII. Die ethische Bedeutung des Staates.

Ist das Recht im tiefsten Grund Recht auf Pflichterfüllung, so fordert es auch, und das liegt in seinem Charakter, Zwinger und Zwingherr zur Freiheit zu sein, auch die Macht, das Recht durchzusetzen. Alle rechtliche Regelung zum Gemeinschaftsleben ist also nur durchzuführen und im Wirklichen darzustellen durch den Staat, durch staatliche Regelung des Gesellschaftslebens als durch erzwingende Macht zum Recht. Nur ein politisches Kind oder ein kulturloser Wilder kann bei dem Wort "Machtpolitik" erschrecken und meinen, Politik könne je etwas anderes als "Machtpolitik" sein. Denn Ohnmachtspolitik ist lediglich ein von Gedankenohnmacht begangener Widerspruch in sich selber. Aber auch nur ein Barbar kann glauben, daß die Macht ansich schon Zweck sei. Sie muß sich erst rechtfertigen aus der Idee des Rechts, wie dieses sich rechtfertigen mßte aus der Idee der Pflicht. Und sein Recht empfängt im Dienste der Pflicht. Die Macht als gerechtfertigte Macht ist immer die Macht, das Recht durchzusetzen, wie das Recht als gerechtfertigtes Recht das Recht auf Freisein zur Pflichterfüllung ist. Nie also kann von Rechts wegen Macht vor Recht gehen. Wann und wo sie es auch immer tun möge, tut sie es zu Unrecht. Nur wo und wann sie ihren Grund im Recht hat, besteht sie zu Recht.

Wenn das Recht sich systematisch als Wertfügung und Wertzentralisation im Gefüge der Werte und historisch als Zentralisation der Wertverwirklichungen und damit als Hebel erwies, der das bloße Individuum in die Region der Persönlichkeit und die Gesellschaft in die Region der Gemeinschaft emporhebt, so ist die Macht als staatliche Ordnung die Kraft am Hebelarm, die die Arbeit leistet, aller Einzelnen Arbeiten im Staate zum geordneten Ganzen zu fügen und so jener Arbeit Freiheit zu bahen, die wir als Bindung der Persönlichkeiten  zur  Gemeinschaft  durch  Aufgaben und Ziele  an  Wert erkannten. So tritt durch den Staat in sichtbare Erscheinung, was uns im Geist einer Wertgemeinschaft als unsichtbare Bestimmung eint. Er ist, im religiösen Bild gesprochen, die sichtbare Gemeinde als Bild und Ausdruck der unsichtbaren Gemeinde wertwollender Willen. Das ist seine Idee und seine sittliche Bestimmung, daß er die Glieder der Gemeinde zur Einheit bilde und füge nach der besonderen Bestimmung eines jeden zum allgemeinen Ganzen, so daß diesem alle Besonderheit diene und jede Besonderheit jede andere Besonderheit als ihre eigne und sich selbst als deren Ergänzung eben zum Ganzen verstehe. Die kulturelle Differenzierung und Rangordnung nach Wertfernen und Wertnähen, die das Recht als Gerechtigkeit fordert, hat die staatliche Ordnung darzustellen. Damit der wirkliche Staat diese seine eigene Idee und Bestimmung erfülle, dazu gehört, daß er es als zu dieser Bestimmung gehörig erkenne, jene Rangordnung auszuprügen, seine Ordnung zu empfangen nur aus der Hand der Besten, die die Gerechtigkeit als des Staates oberstes Leitmaß für die Stufenleiter und den geschichtlich stetigen Gang zu den Werten in Kultur und Geschichte am sichersten verbürgen und die dem bloßen Individuum und der bloßen Gesellschaft am fernsten, aber der Persönlichkeit, der Gemeinschaft und dem Wert am nächsten sind. Unter einem ethischen Gesichtspunkt wird für das soziale Leben des Staates hier auch der tiefe Sinne dessen deutlich, daß diese nicht, wie NIETZSCHE meint, der Gegensatz der "Nächstenliebe" ist, der diese zu verdrängen und zu entrechten habe. Im Gegenteil, die in ihrem tiefsten Sinne verstandene "Nächstenliebe" ist gerade auch "Fernstenliebe". Dieser Einsicht hat sich NIETZSCHE nur darum verschlossen, weil er in der "Nächstenliebe" nicht selber die tätige Liebe zum Wert und in ihrem Gebot nur den Widersinn gebotener Neigung zu sehen vermochte. Auf die gerecht differenzierende Ordnung nach dem Leitmaß der Werte kommt aber auch alles für den Staat an. Diese in der Aristokratie der Gesinnung und der Bildung eingebettete kultursoziale Gerechtigkeit ist des Staates höchste Bestimmung. Sie war erstmals von PLATON gefordert worden und der tiefste Sinn seiner ethisch-politischen Forderung, wie sehr sie auch zu seiner Zeit mißverstanden worden sein mag und noch heute mißverstanden werden mag. Und immer und immer wieder ist sie ihrem Gehalt nach von allen Geistern hoher Rangordnung auf politischem und philosophischem Gebiet wiederholt worden, in wie verschiedene Form sich auch der Gehalt jener Forderung gekleidet haben mag. Und mag auch der wirkliche Staat vielleicht nie weiter von dieser seiner Bestimmung entfernt gewesen sein als der Staat der Gegenwart in allen gegenwärtigen Staaten, so besagt das nichts gegen die Bestimmung des Staates, aber alles gegen den gegenwärtigen Staat, in dem die Politik dem Wert fremd geworden ist, ebenso wie der Wirklichkeit.

Darin freilich liegt ihre ungeheure Schwierigkeit, der nur die Besten gewachsen sein können, daß es nicht allein darauf ankommt, die Werte im Denken zu erfassen, sondern sie durch Wille und Tat in die Wirklichkeit zu versenken, daß in dieser Wirklichkeit aber nicht nur die "Menschheit in der Person des Menschen heilig", sondern der Mensch als Mensch "unheilig genug" ist. Ja, der Mensch, dem die Menschheit in der Person heilig sein soll, ist so unheilig, daß er einen heiligen Menschen in Person nach dem Urteil KANTs auch nicht einmal zu ertragen und zu dulden vermöchte. Ist er zwar ein "Vernunftwesen", so mißbraucht er doch oft genug die Vernunft, um "tierischer als jedes Tier zu sein." Darin bekundet sich die echte staatsmännische und zugleich philosophische Größe eines der größten Staatsmänner aller Zeiten, daß er sich im Bewußtsein der "Humanität" selber mit Recht als den "ersten Diener seines Staates" bezeichnen durfte und doch einem seiner Professoren, dessen Auffassung vom Menschen in Abstraktionen hing, mit gleich starkem Recht sagen durfte: "Er kennt die Kanaille nicht." "Humanität" und "Kanaille", das sind in der Tat die Pole, zwischen die in der Spannung zwischen Wert und Wirklichkeit die staatliche Wirksamkeit selber eingespannt ist und zwischen denen die rechtliche Freiheitsregelung durch den Staat, hingegeben an den Wert und zugleich fußend in der härtesten Wirklichkeit, sich bewegen muß. Das Recht hatte sich erwiesen als Zwinger zur Freiheit. Auch die Freiheit hat ihre Stufen. Um gegen die Willkür auch nur ein Minimum von positiver Freiheit zu sichern und durchzusetzen, wird der Staat aoft genug ein Maximum von Zwang anwenden müssen, damit seine Macht das Recht durchsetze. So wenig ist nach SCHILLER schon jede Sprengung von Ketten und Fesseln wahre Freiheit, daß im Gegenteil wahre Freiheit oft nur durch Ketten und Fesseln erzwungen, daß sie manchmal nur durch diese überhaupt ertragen werden kann.


XIII. Das Ethos des Volkes

Die Bedeutung des Staates für Sittlichkeit, Kultur, Geschichte und das ganze Wertleben der Freiheit ist offenbar geworden. Aber trotzdem ist er nur die Form und das Gefäß für das Wertleben, das in der Geschichte der Freiheit konkrete Gestalt gewinnt. Der Gehalt aber in jener Form, das, was innerhalb der Form des Staates das lebendige Leben in der Geschichte lebt, an dem sich die Geschichte als Vermittlerin von Wert und Wirklichkeit erweist, ist das Volk. In ihm allein ist jenes Wachstum des Wirklichen den Werten entgegen möglich, das wir Kultur nennen, so daß jede echte und wahre Kulturleistung vom Charakter des Volkes, aus dessen Schoß sie gewachsen ist, ihre eigene Prägung empfängt; und daß sie überhaupt gezeugt und gewachsen, nicht bloß gemacht ist, das zeigt auch schon diese ihre eigentümliche Prägung an. Daß man sich GOETHE nur auf deutschem, SHAKESPEARE nur auf englischem, DANTE nur auf italienischem Boden überhaupt denken kann, versteht sich schon daraus, daß jeder in der Sprache seines Volkes geschrieben und diese Sprache zu seinem Werk selbst gehört. Das Volk ist die konkreteste Gestalt, die die Gemeinschaft in der Geschichte gewinnt. Hier erwachsen dem Einzelnen überhaupt erst konkrete Aufgaben und Ziele und Pflichten, durch deren Darstellung im menschlichen Leben das Übermenschliche, Göttliche der Werte durchbricht. Darum kann FICHTE das Volk bestimmen als ein "Ganzes der in Gemeinschaft miteinander fortlebenden und sich aus sich selbst natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen Gesetz der Erzeugung des Göttlichen aus ihm steht".

Die Werte als Werte sind gewiß von allem Volkstum unabhängig. Aber die subjektbezogene Wertverwirklichung hat allein in diesem ihre erste Verwirklichungsgrundlage. WEil aus ihm dem Einzelnen überhaupt erst Pflichten erwachsen, darum und gerade darum hat er auch gegen dieses Pflichten; nicht nur gegen seine einzelnen Glieder, wie gegen jeden Menschen, welchem Volk er auch angehören möge, sondern gerade gegen das Volk als Volk in seiner Ganzheit und in der allgemein geschichtlichen kulturellen Sonderbestimmung seiner Ganzheit. Nennen wir die sittliche Grundbeziehung zwischen den Gliedern der Gemeinschaft überhaupt Liebe, so können wir die Grundbeziehung zwischen den Gliedern der Volksgemeinschaft, soweit sich in ihr die Pflicht zu geschichtlich inhaltlich bestimmten Pflichten verdichtet, Vaterlandsliebe nennen. Diese ist also, als was wiederum FICHTE sie bestimmt hat, "das Erfassen seines irdischen Lebens als eines ewigen und des Vaterlandes als des Trägers dieser Ewigkeit".

Hier liegen die Wurzeln unserer Kraft, aus denen zugleich die Ziele unserer Kraft emporschießen. Hier münden Natur und Kultur zusammen. Von Natur in unsere Nation, wie schon dieser Name sagt, hineingeboren, erschließt uns die Familie schon in der Kindheit den Bereich unserer sittlichen Bestimmung, führen uns Erziehung und Bildung dieser entgegen, damit wir sie uns dereinst in freier Selbstverantwortlichkeit selbst und mit ihr einen Sinn unseres Lebens erarbeiten können. Hier wird die Pflicht in der konkreten Füller ihrer Bezüge auf die Kulturwerte auch ihrerseits Bedingung sowohl wie Ziel allen Gemeinschaftslebens der Persönlichkeit.


XIV. Menschheit.

Die Gemeinschaft aber ist doch mehr, ist größer als allein die nationale Gemeinschaft. Die Persönlichkeit hat ja doch nicht bloß Pflichten gegen ihre "Mitgeborenen", ihre "cognati" [Schwager und Schwägerinnen - wp], die Glieder ihrer Nation, sondern, das charakterisierte sie ja gerade als Persönlichkeit, in der als Subjekt sittlichen Handelns und als Objekt sittlichen Behandelns bereits die Gemeinschaftsbeziehung liegt, gegen die Gemeinschaft als Ganzes der Persönlichkeiten. Und die Werte gelten doch nicht bloß für diese oder jene Nation, sondern weil sie in sich und an sich selber gelten, auch für alle Nationen. Konkreter gewendet faßt man den Menschen als den uns einzig bekannten Repräsentanten des "vernünftigen Wesens" überhaupt und sagt: der Mensch hat Pflichten gegen jeden Menschen und über der gesamten Menschheit und für sie erhebt sich das Reich der Werte, um von der Menschheit auf den Gebieten der Kulturwerte als Kulturwerke in die Wirklichkeit überführt zu werden. Die "Menschheit" ist es ja, die uns "heilig" sein soll.

Aber was ist diese "Menschheit" selbst? Die menschliche Gattung im bloß biologischen Sinne kann es nicht sein. Diese ist nicht allein "unheilig". Der Mensch bloß als biologisches Lebewesen ist das furchtbarste aller Raubtiere. Er opfert seinem Leben mehr Lebewesen einer anderen Gattung, als jede dieser anderen Gattungen das ihrerseits tut. Er vernichtet nicht allein, wie manche von diesen, fremdes Leben, das er zu seiner Nahrung braucht. Auch um sich kleiden zu können, muß er fremdes Leben dem seinigen opfern. Und nicht allein raubt er, was er zur Nahrung und Kleidung an deren braucht, alles was ihn stört, in seiner Behaglichkeit hindert oder beunruhigt, beseitigt rücksichtslos. Und kein Tier sonst kann furchtbarer gegen seine eigene Gattung wüten wie das biologische Tier Mensch, so daß biologisch betrachtet das homo homini lupus [Der Mensch ist des Menschen Wolf. - wp] geradezu als schönfärberische Abschwächung, als ein verhüllendes Schonwort für die wirkliche Schonungslosigkeit erscheinen muß. Der Mensch bloß als Lebewesen ist dem Menschen durchaus nicht heilig und die menschliche Gattung kann ihm bei ihrer Unheiligkeit ebensowenig heilig sein, wie sie sich selber heilig sein kann.

Die Menschheit muß also in einer ganz anderen Sphäre liegen als die biologische Gegebenheit Mensch. Sie kann nicht dessen Gattung sein. Sie ist keine Gegebenheit, sondern eine Aufgegebenheit, ein Ziel. Und nur dieses als solches kann dem Menschen heilig sein, aber auch nur, soweit er nicht ein bloßes biologisches Lebewesen ist, sondern bereits die Anlage zu seinem Ziel in sich trägt und darum, "die Menschheit in seiner Person" ihm selber heilig sein kann. Sie kann als solches Ziel also nur der Inbegriff der aus den objektiven Werten erwachsenden Aufgaben sein, die der Pflicht die Inhalte der Pflichten und dem menschlichen Leben selber Sinn und Inhalt geben.

Aber konkretes Leben in der Geschichte gewinnt die Menschheit doch nur in der Sonderbestimmung der Völker. Ohne die konkrete geschichtliche Gestaltung des Volkstums ist und bleibt die Menschheit leerer Name, Abstraktion. Erst in der Beziehung von Volk zu Volk ohne lebendiges Volkstum, ohne die Völker, kein inter nationes ohne die nationes ipsae. Und so übervölkisch die Werte als solche sind, so doch konkretes Wertwerden, Wertdarstellung immer nur durch die Geschichte und in der Geschichte der Kulturen der besonderen Völker. Zwischen diesen Kulturen lassen sich gewiß Brücken bauen, weil die Werte, auf denen sie ruhen, in sich selber und ansich Geltung haben unabhängig von den einzelnen Nationen. Aber diese Brücken liegen so hoch über dem Durchschnittsmaß, daß dieses von ihnen aus gesehen als Abgrund erscheint und es selbst sich weder zu ihrem schwindelerregenden Hochbau aufraffen noch auch nur die Brücken selber betreten kann. Nur die Wertnächsten und Wertvertrautesten, die fest im eigenen Volkstum wurzeln, zugleich aber auch die Eigenart anderer Völker verstehen und die Eigenart ihrer geschichtlich werdenden Kulturen kennen, die wenigen Besten, können diese Beziehungen inter nationes, die wirklich Wertgemeinschaftsbeziehungen sind, gewinnen und auf ihren Wegen Führer sein.

Wiederum erkennen wir jene Rangordnung der Gerechtigkeit als Messung vom Sein am Sollen, die Wertordnung von Rechten und Pflichten auch im Sinn der "Menschheit" eingeschlossen. Daß der Mensch die Werte über sich erkennt und seine Aufgaben und Ziele, daß er der Menschen Distanzen nach diesen Aufgaben und Zielen, nach Pflichten und Rechten anerkennt, das gehört so sehr zum Sinn der Menschheit, daß die Jllusion von gleichen Pflichten und gleichen Rechten, die unter dem Namen der "Menschheit" umgeht und ihr verhängnisvolles Wesen treibt, das Unmenschlichste ist, das sich ausdenken läßt. Ließe sich diese Jllusion in die Wirklichkeit überführen, dann wäre es mit der Menschheit zuende. Das Unmenschliche würde dem Menschen seinen Stempel aufdrücken. Und so wenig sich diese Jllusion auch in die Wirklichkeit überführen läßt, weil der Versuch einer solchen Überführung schon an der durchgängigen Individualität alles Wirklichen scheitern müßte, es genügt, daß an ihr die Menschen kranken, um den Menschheitstod herbeizuführen. Tödlicht ist die Jllusion. Und man wird soviel sagen können: sie wird sich zur Krankheit in dem Umfang auswachsen, daß an ihr die Menschheit stirbt, auch wenn noch Menschen leben. Solange sie als echtes Ziel aber über diesen schwebt, wird ihre Darstellung ihren Grund immer nur im Volkstum finden können und als Ziel wird sie immer hindurchgehen müssen durch die besonderen Volkstumsziele. Volkstumsgrund und Volkstumsziel sind die Bedingungen für Menschheitsgrund und Menschheitsziel. Hier gründet sich in ihrem ganzen ethischen Umfang die Bestimmung des Menschen in der Geschichte. Aber es ist in dieser Bestimmung der Sinn der "Menschheit" im ganzen ethischen Umfang und Inhalt zugleich dahin charakterisiert, daß er das bloß "allgemein Menschliche" unter sich und hinter sich lassen muß.
LITERATUR - Bruno Bauch, Ethik in Paul Hinneberg (Hg) - Kultur der Gegenwart / Systematische Philosophie, Berlin 1921
    Anmerkungen
    1) Man wird darauf gewissen Versuchen gegenüber zu achten haben, die aus einer gewiß anerkennenswerten Gutmütigkeit, aber zugleich auch aus Mangel an scharfem Denken, tierischen Individuen gegenüber eine gänzlich verfehlte Stellung einnehmen. Bedenkt man die Unterschiede, die wir im Text bezeichnet haben, dann wird man z. B. begreifen, daß Vivisektion [Obduktion am lebenden Tier - wp] keine willkürliche Tierquälerei ist, daß man die Vivisektion vertreten und die Tierquälerei verwerfen kann und zwar, wie PAUL HENSEL betont, dieses nicht aus Pflicht gegen die Tiere, sondern aus Pflicht gegen uns selbst. Wer aus vermeintlich sittlichen Gründen die Vivisektion verwerfen wollte, der müßte konsequenterweise auch die animalische Nahrung ablehnen und um konsequent zu bleiben, dürfte er sich auch nicht vegetarisch ernähren, ja nicht einmal einen Schluck Wasser trinken und die Luft einatmen. Seine vermeintlich sittlichen Gründe würden also alle Möglichkeit eigentlich sittlichen Lebens unterbinden.