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Skeptizismus und Nihilismus
Was wir Leben und Dasein nennen, hat die Seiten der Realität, der Wertakzente, des Sinns für uns. Der vollendete Wille zum Nichts wäre ein Wille, der Sein, Wert, Sinn gleichmäßig nichtig erlebt und beurteilt und danach handelt in einem einzig übrigbleibenden "Sinn": aufzuhören, um Nichts zu sein. Ein solcher Nihilismus kommt empirisch kaum vor. Nihilismus heißt vielmehr der Prozeß, der in der Verlängerung zu diesem idealen Endzustand vollendeten Nihilismus führen müßte. In diesem Sinne sind Definitionen des Nihilismus zu verstehen: Er ist "radikale Ablehnung von Wert, Sinn, Wünschbarkeit" (NIETZSCHE), er ist der Zustand der Seele, in der ihr jedes Ziel fehlt, in der jede Antwort auf das Wozu? fehlt, in dem alle Werte entwertet sind. Über den vollkommenen Nihilismus ist nichts zu sagen; wie er das absolute Nichts will, ist er selbst nichts. Die Prozesse, die auf ihn hin als in ihrer Verlängerung liegend deuten, sind noch nicht beim absoluten Nichts, sondern halten irgendetwas fest, von dem aus sie das andere als nichtig sehen und wollen. Ein Typus des Nihilismus etwa verwirft allen Wert und Sinn und haftet an der Bejahung der bloßen wert- und sinnlosen Realität; der andere Typus findet die Realität unhaltbar, vernichtungswürdig, weil sie vom Standpunkt des Wertes und Sinns aus auf keine Weise zu rechtfertigen ist. Jener Wertnihilismus ist etwa repräsentiert durch en praktischen Materialisten, dieser Seinsnihilismus durch den Buddhismus. Beide sagen: ALles Schwindel, ist falsch, ist Täuschung; aber sie sagen es in entgegengesetzter Meinung: der Seinsnihilist in der Meinung, das Sein täuscht uns vor, daß irgendein Sinn, irgendein Wert darin ist, uns, denen es nur auf Wert und Sinn ankommt; der Wertnihilist in der Meinung, alle Phrasen von Wert und Sinn verdecken nur den einen Willen zum bloßen Dasein, der faktisch allein wirksam ist. Solange noch ein Seelenleben da ist, sind nur solche relativen Nihilismen möglich, der absolute Nihilismus ist unmöglich; denn irgendetwas will der Mensch immer noch; wenn er auch das Nichts will, hat er eben in diesem Willen noch einen Sinn. Der Seinsnihilismus ist einer ungeheuren Vehemenz, ja, wie der Buddhismus lehrt, in engen Grenzen der Weltgestaltung fähig; der Wertnihilismus dagegen ist auch im Effekt nichtig, chaotisch; er vermag auch keine irgendwie reichere Theorie seiner Weltanschauung zu entwickeln. - Diese Gegensätze, die ungefähr die Begriffssphäre des Nihilismus bestimmen, sind noch schematisch und grob. Die Gestalten des Nihilismus werden im besonderen zu entwickeln sein. Sie alle lehren uns immer wiederkehrende Zusammenhänge, die von jeder Form der Objektivität her die Seele zum Nihilismus treiben. Diese Zusammenhänge sind: Absichten habe und verfolge, so widerspricht immer wieder der ursprünglichen Meinung die tatsächliche Erfahrung bei der Verwirklichung. Man will den Menschen gleiche Rechte geben, damit niemand vergewaltigt wird, und alsbald bemächtigen sich einige dieser neuen Gleichberechtigten der Gewalt unter anderen Formen. Man will nur gelten lassen und tun, was klar und verständig ist, und erfährt, daß einem nur leere Formen bleiben. Man will sich mit anderen verständigen, glaubt sich völlig einig in Formulierungen, die beide für richtig halten und man erfährt, daß bei einer Änderung der äußeren Situation beide ganz verschiedenes meinen: aus dem Kosmopoliten wird ein Chauvinist, aus dem Sozialisten ein Despot. Man gestaltet sein Leben zielbewußt und erfährt, daß die angenommenen Grundsätze kein Leben ermöglichen, daß das, was für die Stunde und in der weltanschaulichen Theorie Schwung gibt und Billigung findet, nicht etwas ist, mit dem sich Tag für Tag, Jahr für Jahr die ganze Länge der Zeit hindurch leben läßt. - Nur wo alles vollkommen maschinenhaft ist, läßt sich berechnen und voraussagen, sofern man mit allem in einem isolierten geschlossenen System bleibt - ein Idealfall, der selten verwirklicht ist - und dann alsbald für den lebendigen Menschen kein anderes Interesse mehr hat, als eine Last zu sein zur Herstellung bloßer Lebensbedingungen. - Gerade die Erfahrung des Anstoßens, des Widersprechens von Meinung, Erwartung einerseits und Erfahrung andererseits, ist Leben. Diese Erfahrungen können in einem aufbauenden Prozeß fortschreiten oder aber jede dieser Erfahrungen führt zum Festhalten des Negativen daran, das sich in Urteilen ausdrückt wie: Alle Menschen sind nichts wert; ich bin unfähig, verwerflich; die Welt ist ein Chaos von Zufällen usw. Die Verzweiflung kann die Quelle eines seelischen Umschmelzungsprozesses werden (in der religiösen Sphäre: Bekehrung, Wiedergeburt). Die Verzweiflung jener immer erneuten Erfahrung des Sichwidersprechens sucht die Reflexion sich zurechtzufinden, doch mit dieser wird der Prozeß zum Nihilismus erst recht befördert. Diese Erfahrung des Wesens des Denkens wurde auf der Erde zuerst von den griechischen Sophisten gemacht. "Vor dem Begriff kann nicht bestehen; ... für ihn gibt es, um sich so auszudrücken, nichts Niet- und Nagelfestes ... Der Begriff ... findet sich als die absolute Macht, welcher alles verschwindet; - und jetzt werden alle Dinge, alles Bestehen, alles für fest Gehaltene flüssig. Dieses Feste - sei es nun eine Festigkeit des Seins, oder Festigkeit von bestimmten Begriffen, Grundsätzen, Sitten, Gesetzen - gerät ins Schwanken und verliert seinen Halt" (1). Die Reflexion entspringt aus dem Willen, sich selbst überzeugen zu wollen, nicht auf guten Glauben und Autorität das hinzunehmen, worauf es ankommt. Sie stellt in Frage, um Gewißheit zu bekommen, sie löst die Totalitäten, in denen sie unmittelbar steht, auf, isoliert "Seiten" und "Gesichtspunkte", und hält diese als isolierte fest; alsbald muß sie dieses Festhalten wieder aufgeben, weil andere "Seiten" zur Geltung kommen, und sie entwickelt nun eine Fülle von Gesichtspunkten, zunächst in der Meinung, damit zu gewissen Einsichten zu kommen. Aber sie erfährt, daß zu jedem Satz ein Gegensatz, zu jedem Grund ein Gegengrund existiert, daß sie sich in einer Sphäre befindet, wo alles Feste aufhört. Dies erreichten die Sophisten,
"Ungebildete Menschen bestimmen sich aus Gründen. Im ganzen sind sie aber durch etwas anderes bestimmt (Rechtlichkeit), als sie wissen; zum Bewußtsein kommen nur die äußeren Gründe. Die Sophisten wußten, auf diesem Boden gibt es nichts Festes; das ist die Macht des Gedankens, er behandelt alles dialektisch, macht es wankend." (3) mit der sich alles machen läßt, sind Quellen des Nihilismus, die nur in ihrem Fließen beschränkt werden, wenn der Mensch sich trotz dieser Erfahrungen, mit ihnen bereichert, dem "Wesen", dem "Wahren", dem "Substantiellen", oder wie die Ausdrücke lauten mögen, zukehrt. Der Mensch will wahrhaftig, will wirklich, will echt sein. Dieses Pathos hat sich von jeher gegen die Reflexion gekehrt; daß aber in der Wahrhaftigkeit und dem Echtheitswillen selbst eine Tendenz liegt, zum Nihilismus zu kommen, hat NIETZSCHE entdeckt. Das Pathos des Lebenwollens fordert und behauptet, in jedem konkreten Fall die Sache selbst, das Wesen zu sehen, statt über abstrahierte Seiten, statt um dieses Wesen herum, an ihm vorbei zu räsonieren; es fordert und behauptet, wirklich zu leben, statt bloß darüber zu denken; echt zu sein, substantiell zu sein statt hinter allen Masken nichts, statt in scheinbarem Reichtum unecht zu sein. Wird aber einmal die Frage gestellt, ob etwas auch echt ist, wird aus einem Drang zur Echtheit geprüft und das Selbst erzogen, so tut sich der psychologischen Selbst- und Fremdzerfleischung eine unendliche Serie von Schalen auf, hinter jeder scheinbar letzten folgt eine weitere, hinter jeden Seelenregung, die einen Augenblick als letzte erschien, steckt etwas anderes, hinter dem anderen wieder etwas, alles ist Maske, alles Verhüllung, alles Vordergrund, und dahinter findet sich für das intensivste Suchen - nichts. Es scheint alles Täuschung von Täuschungen, hinter denen die Substanz fehlt:
zwischen hundert Spiegeln vor dir selber falsch, zwischen hundert Erinnerungen ungewiß, . . . in eigenen Stricken gewürgt, Selbstkenner! Selbsthenker!" Es scheint zum Verwundern, daß die Menschheit bei solchen Tendenzen zum Nihilismus überhaupt zu existieren vermag. Die Erfahrung lehrt uns, daß die allermeisten Menschen von einem solchen Nihilismus weit entfernt sind, und daß, im Falle daß die Prozesse zum Nihilismus wirksam werden, sie doch fast nie bis zum Ende führen, sondern daß sich auf dem Weg eine ganze Reihe von Stationen befinden, auf denen immer noch etwas Festes den zum Nihilismus Versinkenden hält. Dieses Feste ist jedenfalls nicht etwas, das die ratio begründen kann - das lehren die Eigenschaften der Reflexion -, es ist etwas im Menschen Gegebenes, z. B. das brutale Dasein seines Wesens, das eben ausgesagt, daß es nicht Nichts ist, wie der Nihilismus meint. Dieses Feste ist die letzte Kraft der menschlichen Seele, die nicht weiter zu erforschen, sondern nur zu konstatieren ist. An einem solchen Festen sind drei Typen zu unterscheiden:
2. Gleichsam ein festes, totes Knochengerüst oder ein hart gewordenes Gehäuse. 3. Das Leben in seiner Ganzheit und seiner Fülle selbst. sich der Mensch wehrt. Der Mensch wehrt sich, indem er irgendwohin, außer sich etwas Festes legt, das aber selbst nur Punktuelles ist, z. B. das Jenseits, etwas Negatives, das verneinende Tun. 1. Der Mensch empfindet sich als nichtig, hat allen Wert in ein Jenseits gelegt. Er findet seinen Sinn im Neinsagen und Neintun sich selbst gegenüber. Diesen Typus, sofern das Jenseits ernsthaft geglaubt wird, hat die europäische Religiosität immer wieder entstehen lassen. Er führt zum faktischen Nihilismus allen Realitäten gegenüber. HEGEL beschreibt ihn: Tun und Genuß in der Wirklichkeit verlieren alle Bedeutung, weil das Selbst und die Wirklichkeit nichtig sind. das Selbst muß zugrunde gehen, damit nur das allein Wesenhafte, das Allgemeine, das das Jenseits ist, besteht. "Seiner als dieses wirklichen Einzelnen ist sich das Bewußtsein in den tierischen Funktionen bewußt. Diese, statt unbefangen als etwas, das an und für sich nichtig ist, und keine Wichtigkeit und Wesenheit für den Geist erlangen kann, getan zu werden: da sie es sind, in welchem sich der Feind in seiner eigentümlichen Gestalt zeigt, sind sie vielmehr Gegenstand des ernstlichen Bemühens und werden gerade zum Wichtigsten. Indem sich dieser Feind aber in seiner Niederlage erzeugt, das Bewußtsein, da es sich ihn fixiert, vielmehr statt frei davon zu werden, immer dabei verweilt, und sich immer verunreinigt erblickt, zugleich dieser Inhalt seines Bestrebens statt eines Wesentlichen das Niedrigste, statt eines Allgemeinen das Einzelnste ist, so sehen wir nur eine auf sich und ihr kleines Tun beschränkte und sich bebrütenden, ebenso unglückliche, wie ärmliche Persönlichkeit" ... "Der Inhalt dieses Tuns ist die Vertilgung, welche das Bewußtsein mit seiner Einzelheit vornimmt." Das Bewußtseins befreit sich vom eigenen Selbst, indem es gehorcht und handelt auf fremden Befehl (der Kirche, des Priesters), indem es die Frucht seines Handelns, seiner Arbeit, und den Genuß abstößt, darauf Verzicht tut, durch Fasten und Kasteien diesen Verzicht aufs Äußerste steigert. "Durch diese Momente des Aufgebens des eigenen Entschlusses, dann des Eigentums und Genusses und schließlich durch das positive Moment des Treibens eines unverstandenen Geschäfts nimmt es sich in Wahrheit und vollständig das Bewußtsein der inneren und äußeren Freiheit ... es hat die Gewißheit, in Wahrheit seines Ichs sich entäußert ... zu haben." (5) 2. Ist auch der Glaube an das Jenseits geschwunden oder unkräftig, so bleibt doch und wird noch deutlicher dieser Typus des Nihilismus. Der sich als wesenlos Empfindende macht sich durch Akte der Selbstvernichtung substantiell. Der Sinn, das Positive, der Halt liegt gerade in diesem Negativen, das allein übrig bleibt. Das Erlebnis der Unechtechtheit, der Wirkungslosigkeit der Erlebnisse auf die Dauereinstellungen der Persönlichkeit, der inneren Haltlosigkeit lassen den Menschen verzweifeln am Aufblühen einer substantiellen Anlage. Er findet in sich einen Abgrund bodenloser Tiefe, die doch nichts ist. Nur der Wille kann helfen, wenn gegen alle Wesenlosigkeit des Ich noch ein Begreifen der Wesenhaftigkeit vorhanden ist. Der Wille macht den Menschen gewaltsam gegen sich selbst. Er verbietet sich und gebietet sich - aber nicht instinktiv, sondern aus dem Begreifen dessen, worauf es ankommt, aus irgendeiner bejahten Weltanschauung, die jenen Punkt als Formel, Grundsatz, Imperativ, Pflicht bezeichnet. Sieht man den Lebenslauf eines solchen Menschen an, so fällt immer das Schwergewicht auf die Akte des Verzichtens, des Opferns, des Büßens - das Positive wirkt auf den Beobachter chaotisch, roh, zufällig und scheint nur dazu da, jene Akte des Opferns, Büßens, Verzichtens hervorrufen zu können. Aber diese Akte der Verneinung haben Sinn und Zusammenhang, sie sind konsequent und gewaltsam. Ihren Gipfel erreichen die Akte der Selbstvernichtung im Hinwerfen des Lebens - sei es aus "Pflicht", selbst für eine dem Wesen des Ich, weil wesenlos, fremde Sache, die ein Imperativ gebietet, sei es in Selbstmord ohne "Sache". So entsteht das Paradoxe, daß ein Mensch im Selbstmord seine Substanz des Substanzlosen ist vielleicht die einzige, von der man sagen könnte, sie beruht auf Verdienst. Sie ist durch Willensakte allein errungen. Gegenpole bezüglich der Art der Erlebnisse, die zum Bewußtsein der Substanzlosigkeit führen und in einem Sinn der Selbstvernichtung zusammenkommen, sind der Erlebnisreiche und der Erlebnisarme. Der Reiche findet, Echtheit und Wesen suchend, vor der Fülle der Schalen nirgends seinen Kern. Aus Fülle bei tiefstem Substanzbedürfnis, von dem aus jene Fülle als nichtig gesehen wird, aus diesem Gegensatz entspringt der Selbstmord. Würde der Mensch ärmer sein, so würde er vielleicht Substanz fühlen und lebensfähig bleiben. Der Arme dagegen der sich schon in der Armut substanzlos fühlt, führt sein ganzes Leben einen gewaltsamen Kampf um Substanz. Die ratio hilft; die Akte der Selbstverneinung, ohne sich zu gestalten, nur um sich eine Pönitenz [Buße - wp] aufzuerlegen, machen das Leben aus, das nur, wenn die Situation eine "Pflicht" heranbringt, im Tod für "eine Sache" sein Ende findet. Bei jenem Reichen dagegen ist ein Leben in Fülle, in tiefen, aber immer nachträglich als unecht empfundenen Substanzerlebnissen, ein Leben in lawinenartiger Bereicherung und Hingabe, ein Leben, in dem noch immer bejahend gesucht und gerungen wird. Doch dieses Leben begleitet die Ahnung des einzig möglichen Ausgangs, der dann als Selbstmord nicht der Gipfel eines verneinenden Lebens, sondern der einmalige Sprung zur Substanz ist. (Daß die Mehrzahl der faktischen Selbstmörder nicht so zu verstehen ist, liegt auf der Hand.) Ob das Sein nihilistisch ist, oder ob der Nihilismus gesehen ist, ob im Tun faktisch Nihilismus da oder ob Nihilismus gemeint ist, das bedeutet einen die ganze Gestalt der Erscheinungen umwandelnden Gegensatz. Der Typus, der sich nihilistisch fühlt, ohne es klar zu wissen, wehrt sich in der Selbstabtötung, in der Negativität des Handelns. Die Einsicht in den Nihilismus als solchen führt - sofern Ernst dabei ist - zum Selbstmord. Sonst ist bei Einsicht in den Nihilismus ein Weiterleben nur möglich, indem man mit dem Nihilismus einig wird, ihn zu seinem Element macht. Das sich Wehren bei uneingestandenem, instinktivem, jedenfalls nicht ernsthaft gesehenen Nihilismus kann sich aber, statt Sein in Negativitäten zu finden, gewaltsam Positivitäten zuwenden. Es entwickelt sich ein Suchen im Äußeren, das uns die typische Gestalt des modernen Durchschnittsnihilismus zeigt: 3. Was je in der Welt positiv war, was je echt erlebt wurde, wird Gegenstand der Sensation des nihilistischen Menschen. Jede Weltanschauung der Vergangenheit, jede Religiosität, jede Kunst, alles versucht er einmal. Jedes soll ihm die "Substanz" bringen. Der Rausch - im Genuß der Dichtung, der Musik, der Mysterien, der Sinnlichkeiten, der Hingabe, der Enthusiasmen, die leicht zu haben sind - die immer wechselnde Schwärmerei für verschiedene Geistestypen, für Zeiten, für Menschen, die leere Bewunderung der Form in der Artistik, in der bloß kritischen leeren Erkenntnis, das Sichwegwerfen an Mystik, an Kirchengemeinschaften, an Kreise und Meister, all das gibt ein buntes, chaotisches Bild sehr verschiedener Arten und Grade des faktischen, aber nicht wahrgenommenen Nihilismus. Von der Philosophie verlangt dieser Mensch nicht Klärung, nicht Einsicht, nicht klares, kaltes Betrachten, sondern etwas Positives, eine Weltanschauung, die Wiederherstellung der verlorenen Substanz, die Ausfüllung der nihilistischen Seele. Der Mensch will sich begeistern und verlangt irgendetwas, er will verehren und ist zufrieden, nur einen Gegenstand dafür geboten zu bekommen. Schließlich wird er routiniert und in irgendeiner Technik, einer Kirche, einer Gemeinschaft, einer Mystik, einer Persönlichkeit, einem Gegenstand beruhigt er sich. Hier hat er eine Substanz gefunden, fremd, zufällig, durch Gewohnheit und Zeit ihm tief eingeprägt, und ist doch noch in der Gefahr, von neuem diesem künstlichen Gebäude zu entgleiten; und bleibt immer für den Betrachter eine Gestalt nihilistischen Wesens. Es ist das überall Analoge, daß in der Wissenschaft nicht Einsicht, sondern Erbauung, in der Kunst nicht Idee, sondern Ekstase, in der Mystik nicht Kraft, sondern Auflösung ("Erlösung") gesucht wird. In dem reichen Mantel unverantwortlicher Gemütsbewegungen steckt überall das Nichts. 4. In diesem Typus tritt leicht eine faktische Substanz hervor, der ganz arme, auf das momentane Ego, auf die eitle Existenz in der Umgebung beschränkte Selbstbewußtsein, dem alle Welt der Bildung bloß Mittel ist, und das gerade darum hemmungslos, allseitig die im Geistigen rein formal liegenden Möglichkeiten entwickelt und rezeptiv diese Welt des Geistigen auffrißt, wiederkäut, glänzen läßt, aber nie assimiliert. Unendlich reich in der Erscheinung, nichts im Wesen ist dieser Typus. Man erlaubt sich ein Denken ad libitum [nach Belieben - wp], ganz willkürlich nach Einfällen. Die Geselligkeit ist das Element, die Zeitung, überhaupt die Gegenwart, in welcher das Ich sich seiner gewiß werden kann im Spiegel der Wirkungen trotz aller Nichtigkeit. Die Schamlosigkeit des Denkens führt zu barocken, erstaunlichen Gedankenverbindungen. Aber man vergißt, was man gesagt hat, weil man nichts glaubt, weil einem keine Sache wesentlich ist. Unvermeidlich produziert man Heterogenes (während der substantielle Mensch, auch wenn er vergiß, doch aus seinem gleichbleibenden Wesen analoge Gedanken, Zusammengehöriges produzieren wird). Ein scheinbarer Reichtum dieser assoziativen Zufallsdenker blendet; es kommen nicht nur Richtigkeiten, sondern Tiefen des Gedankens vor, aber zufällig, vom Produzierenden nicht empfunden, und nicht festgehalten. Sie tauchen im Chaos wieder unter und bleiben sinnlos, wenn sie nicht jemand aufgreift. Die Angst vor Trivialitäten führt zu einem umständlichen und geschraubten Ausdruck. Es verschwindet der einfache, kurze und natürliche Ausdruck, das Aussprechen der Selbstverständlichkeiten, wo es zweckvoll ist. Worte und Wendungen steigern und häufen sich. Mit zur Schau getragenem Ernst wird "Erleben" und "Tiefe" vorgebracht, aber ohne Scham - da sie subjektiv faktisch unwirklich sind - öffentlich prostituiert. Bei Wohlmeinenden, Gutgläubigen, Seelenblinden und bei Hysterischen macht man sich interessant. Diesen Typus hat HEGEL gezeichnet, wie er in immer neuen Kostümen erscheint. Er schildert die "Eitelkeit, immer noch gescheiter zu sein als alle Gedanken, welche man aus sich selbst oder von anderen hat; diese Eitelkeit ... weidet sich an diesem eigenen Verstand, der alle Gedanken immer aufzulösen und statt allen Inhalts nur das trockene Ich zu finden weiß .." - Das "zerrissene Bewußtsein" hat sein Element in der "Sprache". "Sein Dasein ist das allgemeinen Sprechen und zerreißende Urteilen ... Dieses Urteilen und Sprechen ist das Wahre und Unbezwingbare, während es alles überwältigt ..." Das fürsichseiende Selbst, seine eigene Eitelkeit ist es, die "alles nicht nur zu beurteilen und zu beschwatzen, sondern geistreich die festen Wesen der Wirklichkeit, wie die festen Bestimmungen, die das Urteil setzt, in ihrem Widerspruch zu sagen weiß ... Es weiß also jedes Moment gegen das andere, überhaupt die Verkehrung aller richtig auszusprechen ... Indem es das Substantielle nach der Seite der Uneinigkeit und des Widerstreits, den es in sich einigt, aber nicht nach der Seite dieser Einigkeit kennt, versteht es das Substantielle sehr gut zu beurteilen, aber hat die Fähigkeit verloren, es zu fassen. - Diese Eitelkeit bedarf dabei der Eitelkeit aller Dinge, um aus ihnen sich das Bewußtsein des Selbst zu geben ... Macht und Reichtum sind die höchsten Zwecke dieser Anstrengung." Aber diese Mächte sind ihm selbst eitel. "Daß es so in ihrem Besitz selbst daraus heraus ist, stellt er in der geistreichen Sprache dar, die daher sein höchstes Interesse und die Wahrheit des Ganzen ist." (6) In diesem Typus hat sich im Nihilismus als das einzig Feste ein primitives, egoistisches Selbst entwickelt, das jenes nihilistischen Elements der Bildung und der geistreichen Sprache sich einerseits als Mittel bedient, andererseits aber es selbst wesentlich findet. Ist das Selbst wirklich fest, so entsteht der erste gröbste Typus, der sich mit dem Nihilismus eint. Der Nihilismus, vollendet gedacht, kann nicht bestehen, er bedarf immer eines Festen: dies kann etwas Allgemeines sein, wie jene früheren Negativitäten oder die Willkür, die Substanz des Subjekts in seiner Einzelheit. mit dem Nihilismus einig wird. 1. Der Mensch ist ganz sicher in sich trotz aller nihilistischen Reden und Formeln. Er ist nicht mehr angekränkelt, er ist fern von aller Verzweiflung. Er hat die ganze Sphäre des Nihilismus begriffen und sich zu eigen gemacht. Aber sie ist ihm Mittel. Der Mensch ist unbedingt von seinen Trieben beherrscht, er will sich nichts versagen, er bleibt in der Sphäre des sinnlichen Genießens und des Ringens um Macht und Geltung. Hier ist aller Nihilismus ungefährlich. Wenn dieses vom Menschen als Substanz genommen wird, ist er unproblematisch und lebensfähig. Nun kann er alle skeptischen Gedankengänge, alle nihilistischen Entwicklungen als Mittel benutzen, um z. B. in sophistischer Weise seine Handlungen und Eigenschaften je nach Bedürfnis vor sich selbst oder vor anderen dadurch zu rechtfertigen, daß sich etwa entgegenstehende Forderungen als höchst zweifelhaft und unbegründet darstellen. Die treibende psychologische Kraft ist die Vitalität, ist der unbedingte Wille, den Trieben und Neigungen zu folgen, sich als ganz individuelles, subjektives Ego durchzusetzen, das heute Begehrte, und seie es das Gegenteil vom Gestrigen, zu verlangen. - Die Sophisten in Athen lehrten zum Teil diesen Geistestypus ausdrücklich: die schwächere Sache zur stärkeren zu machen, durch Kunst der Rede Macht zu erlangen, alle objektive Geltung zu leugnen, das war der Sinn des Unterrichts. 2. Diese subjektive Willkür, die den Nihilismus sich zum Element als Mittel macht, stürzt selbst in die Unruhe und in die Verzweiflung der fortdauernden Wandlungen, in denen ihr Vernichtung droht und schließlich wird. Sie ist zugleich durch die Erfahrung der geistigen Bewegungen, die zum Nihilismus führen, aufs höchste gebildet, bewußt geworden. Nun tritt als das Haltgebende, als das Punktuelle nicht mehr der Machttrieb, der Wille des Sichdurchsetzens auf, der vielmehr selbst in den Strom des Nihilismus verwickelt wird, sondern das bloße Gefühl der Unerschütterlichkeit des Selbst, die Ataraxie, die ansich inhaltslos ist. Denn aller Inhalt ist gleichgültig und wird hingenommen, gewiß ist nur, daß diesem Selbst nichts mehr Unruhe machen kann. Man erzählte sich von PYRRHON die Anekdote: auf dem Schiff während eines Sturmes zeigte er seinen Gefährten, die voller Angst waren, ein Schwein, das ganz gleichgültig blieb und ruhig fortfraß, mit den Worten: in solcher Ataraxie müsse auch der Weise stehen. Diese Gleichgültigkeit, die das Tier unwissend von Natur hat, soll der Weise wissend aus Vernunft haben. Der Weise läßt alles, was das Leben, die Bildung, die Situation bringt, an sich heran, reagiert nach der Art, wie es "natürlich" ist, wie es ihm gerade gemäß ist, ohne das irgendwie verbindlich oder auch nur wichtig zu finden. Er erfüllt sich mit feinster Bildung, wenn es seine Art ist, ohne sich irgendwie festzulegen, ohne sich um Weiteres, als dieses sein zufällige Ich zu kümmern, ja ohne sich ernsthaft um dieses Ich, was den Inhalt angeht, zu bemühen, sondern es geschehen lassend. Nichts ist erheblich, des Ernstes, der Verantwortung wert, weder in der Welt, noch in sich selbst. Alles wird mit leichter Geste getan, wie es Situation, gewohnte Form, Sitte bringt, wie es "gemäß" ist, wie "es sich gehört", oder wie diese inhaltslosen, vieldeutigen Formeln lauten. Unerschütterlichkeit des punktuellen Selbst ist die Hauptsache, alles andere ist gleichgültig. Der Stoiker hat diese Unerschütterlichkeit mit dem Glauben an die Objektivität und Geltung des Gedankens, an "die Richtigkeit", der Skeptiker gerade im Element allseitiger Verneinung oder Bezweiflung. Dieser Typus des Skeptikers als reiner Typus im Altertum faktisch und theoretisch von PYRRHON entwickelt. Wir lernen ihn aus den Schriften des SEXTUS EMPIRICUS kennen (7). Aus neuerer Zeit ist MONTAIGNE der eindrucksvollste Repräsentant. Der Typus ist einer der klarsten und verführerischsten für jeden Nihilisten. Hier gewinnt er Ruhe. Er kann allerdings faktisch nur existieren durch eine günstige individuelle Veranlagung. Dieser aber hat er alle Schwungkraft und alle Verzweiflung genommen. Der Typus ist der folgende:
- Wie müssen wir uns zu ihnen verhalten? (Einstellungen) - Was erwächst für uns aus diesem Verhalten? (Wertehierarchie) (8) Auf die zweite Frage (wie müssen wir uns zu den Dingen verhalten?), die Frage der Einstellungen, ist daher die Antwort: unentschieden, nicht verneinend, nicht bejahend; "nur spähend (= skeptisch), immer forschend (zelotisch), niemals überzeugt (dogmatisch), stets verlegen (aporetisch)". Eine Reihe typischer skeptischer Redensarten dient zum Ausdruck dieses Verhaltens, z. B."es erscheint mir so", nie "es ist so"; ich sehe die Erscheinung nur jetzt und hier. Auch diese Redensarten sollen nicht ansich und für alle Zeiten gelten, sondern nur relativ für den Skeptiker und in diesem Augenblick (denn die Skeptiker sind nicht dogmatische Negativisten). Das Resultat dieses Verhaltens ist aber nicht Sprachlosigkeit und Hindämmern, vielmehr ist der Skeptiker im Beruf tätig (viele als Ärzte). Denn der Skeptiker erkennt die Tatsächlichkeit der gar nicht allgemeingültigen, augenblicklichen Erlebnisse an und verhält sich zu ihnen, indem er "nach Anleitung der Natur" lebt (danach, was die Erlebnisse, Triebe, Situationen usw. herbeiführen) und sich "der Nötigung durch die Zustände" fügt. Er lebt in den Phänomenen, wie sie jeweils gegeben sind. Das würde richtungslos und chaotisch sein, das Handeln würde als gleichgültig ganz aufgegeben, wenn zu diesen Nötigungen der Zustände nicht auch Sitten und Gebräcuhe und die politische Verfassung gehörten. Der Skeptiker fügt sich hier wie überall. So war PYRRHON Opferpriester, MONTAIGNE katholisch-orthodox. Die dritte Frage (was erwächst aus dem skeptischen Verhalten?), die Frage des höchsten Werts, beantwortet PYRRHON durch Leben und Lehre: aus dem letzthin passiven Verhalten erwächst ataraxia, apatheia, adiaphoria (Unerschütterlichkeit, Apathie, Gleichgültigkeit). Leiden muß der Mensch, was die Zustände ihm abnötigen. Aber es ist ein maßvolles Leiden. Denn doppelt leidet, wer das Leid auch noch für ein Übel hält. Fassen wir den Typus mit früherer Terminologie zusammen: der Skeptiker hat das philosophische Weltbild des leeren Denkens, die anderen Richtungen des Weltbildes hat er allseitig als Erlebnis (der Möglichkeit nach hochgebildet, aber unverantwortlich), ihm mangeln die enthusiastischen Einstellungen, ihm mangeln die Ideen - wie ihm das philosophische Schauen mangelt -, alle anderen Einstellungen macht er nach Zufall und Bedürfnis durch. Er treibt Wissenschaft mit dem Vorbehalt, er wisse aber nichts, und bleibt dabei gern in der Aufzählung von Beobachtungen, in der Form der Wiedergabe von Impressionen, oder in der Anwendung formaler Methoden. Er hat ein Verhältnis zur Kunst, bleibt aber beim "ästhetischen" im engsten Sinne, beim "Geschmack". Er lebt ohne Grundsätze nach Tradition, Herkommen, Sitte, wie es seine zufällige Stellung in der Welt erfordert. Er wird nirgends aktiv über die Nötigung der realen, durch reale Situationen gegebenen Erlebnisse hinaus. Der Skeptiker kann seinem Wesn anch kein objektives Werk der Sache wegen schaffen, er kann kein philosophisches System entwickeln, er kann keine Schule gründen wollen. Er kann und will nur sich zum Ausdruck bringen, ohne Verbindlichkeit. Er zeigt sich, wie er ist, nur für das Punktuelle der Ataraxia und einige technische Mittel dazu scheint er Geltung zu beanspruchen, dann aber läßt er auch das. MONTAIGNE wollte in all seinen Essays nur sich selbst malen; nur er selbst sei der Gegenstand seines Buches, sagt er. Der Skeptiker kann so alles mögliche sagen, sprachlich unvermeidlich in der Form von Behauptungen, aber er legt keinen Wert darauf, widerspricht sich ruhig. Es ist ja alles nur Ausdruck seines Wesens, nicht mehr und nicht weniger (10). 3. Der Sophist braucht das nihilistische Medium als Mittel für Zwecke der Macht und des Sichdurchsetzens, der Skeptiker bewegt sich in einem nihilistischen Element weder verneinend noch bejahend, nur besorgt um seine Ataraxie, der Nihilist der Tat legt sich auf das Verneinen schlechthin, ohne Zweck. Er zweifelt nicht mehr im Sinne des in der Schwebelassens, sondern er verneint dogmatisch. Was ihm in den Weg kommt, wird mit den Mitteln des Nihilismus zerstört. Er ist der Zerstörer von allem: was ist, ist nichts wert, was gilt, ist Täuschung. Er schwelgt im Zerschlagen. Im Grunde ist es nur ein Unterschied der soziologischen Situation, ob er sich theoretisch, literarisch zerschlagend beschäftigt oder aktiv, praktisch. Wohl spürt man immer in diesem Typus den Machtinstinkt, der aber nicht assimilierend, nicht unterwerfend, sondern absolut formal, vernichtend ist; man spürt irgendeine tiefste Enttäuschung, einen Ekel im eigenen Dasein, der sich als Zerstörungswut gegen alles kehrt. Es ist dieser Nihilismus das Korrelat zur Verzweiflung. Die absolute Haltlosigkeit löst sich hier nicht in Verzweiflung auf, sondern tobt sich in der Zerstörung alles Geltenden und Objektiven aus. Statt im Punktuellen der Selbstabtötung, des Selbstmords, des negativen Handelns gegen sich, wird hier im Versinken ein letzter Halt durch negatives Handeln nach außen gesucht. Es ist also das Resultat, daß die Typen des nihilistischen Geistes entweder letzthin in ihrem individuellen Sein, ihrer charakterologischen Anlage einen unbemerkten Halt haben und dann mehr oder weniger dem Typus der Individualisten als Ästheten und Epirkureer angehören, oder daß sie ein Punktuelles auffinden, an dem sie sich halten, bewußt halten, während alles andere im nihilistischen Strom versinkt. Der absolute Nihilismus erscheint psychologisch nicht möglich. Die allernächsten Annäherungen daran kann man gelegentlich aber in psychotischen Zuständen als ein Erleben beobachten. 1. Es gibt melancholische Zustände - mit heftigstem, nur von außen künstlich zu hinderndem Selbstmorddrang -, in denen der Mensch in wahrhafter, hoffnungsloser Verzweiflung dasteht. Alles ist nicht mehr vorhanden, ist bloße Täuschung, bloß vorgemacht. Alle Menschen sind tot. Die Welt ist nicht mehr. Was an Ärzten und Angehörigen herantritt, das sind bloß "Figuranten". Der Kranke allein muß existieren. Er ist "der ewige Jude". Aber er existiert nicht wirklich. Auch er ist eine bloße Scheinexistenz. Nichts hat irgendeinen Wert. Kein Gefühl kann der Kranke haben, wie er sagt, und dabei hat er die maßlosesten Affekte der Verzweiflung. Er ist nicht der alte Mensch. Er ist nur ein Punkt. In Gefühlen und Wahngedanken spezifiziert sich dieses Erleben im einzelnen auf das reichste: der Körper ist verfault, hohl, das Essen purzelt durch einen leeren Raum, wenn es geschluckt wird. Die Sonne ist erloschen usw. In diesem Zustand ist nur die Intensität des Affekts, die Verzweiflung als solche. 2. In einem ganz anderen Typus von Psychosen kann man die Bewegung des Nihilismus beobachten. Im Geistigen gehen die Entwicklungen vor sich, die immer von einem Halt fort zum Nichts schreiten. Gegenüber jenen verzweifelten schweren Zuständen der Melancholie sind diese Kranken im Beginn eines Krankheitsprozesses noch relativ besonnen. Im Nihilismus bleibt der Mensch doch lebensfähig, solange einer jener Haltepunkte noch da ist. Die furchtbarste Erschütterung tritt aber ein, wenn die Selbstverständlichkeiten dem Menschen gleichsam unter den Füßen weggezogen werden - in unserem Fall durch den Krankheitsprozeß -, und nun doch ein Halt gesucht wird und nicht gefunden werden kann. Nun wird es erst recht deutlich, daß der Skeptiker trotz allem einen Halt an seinen individuellen Anlagen, seinen Erlebnissen und Nötigungen hatte. Er ist im letzten Kern doch ein substantieller Individuelist und gehört nur in seiner inhaltlichen Erscheinungsform zum skeptischen Geistestypus. Er hat den skeptischen Geis, aber er ist nicht dieser Geist. Wie das Bild aussieht, wenn ein Mensch den skeptischen Geistestypus nicht nur hat, sondern im Wesen ist, soll ein konkreter Fall zeigen (11):
Der Skeptizismus war von vornherein der adäquate Ausdruck seiner Lebensstimmung. Er hatte auf der einen Seite den Trieb zur Weltanschauung, hielt sich aus Unfähigkeit zum Stellungnehmen an rein intellektuelle, rationale Methoden, klammerte sich gleichsam an diese bis zum Äußersten, studierte den eminent schwierigen HUSSERL - dessen Inhalte seinen Bedürfnissen auch keine Spur entgegenkamen, - weil er hier die größte Sicherheit, die größte kritische Schärfe fand, bis er nun endgültig auch das intellektuelle Fiasko erlebte. Schon vorher hatte er gefühlt, daß er nichts endgültig für wahr halten konnte, daß er nicht bloß in der Wissenschaft, sondern auch in der Lebensführung und der Kunst gegenüber keiner zuverlässigen Stellungnahme fähig war. Er besaß gewissermaßen die Werkzeuge (kritische Intelligenz, Eindrucksfähigkeit, Einfühlungsfähigkeit usw.), aber er war unfähig, das Willensmäßige in allem Stellungnehmen mit einem regelmäßigen Bewußtsein der Sicherheit zu erleben. Besonders zwei Punkte pflegte er in philosophischen Gesprächen zu betonen, die auf intellektuellem Gebiet immer das Ende seiner Denkarbeit wurden. Er hatte in KANTs Dialektik den unendlichen Regressus kennen gelernt, die Unendlichkeit der Kausalketten, in denen wir empirisch nie zum Unbedingten, zum Letzten kommen. Und bei allen logischen Erwägungen fand er größere oder kleinere Zirkel, durch deren Erkenntnis ihm die Gebäude zusammenfielen. Unendlicher Regress und Zirkel fand er überall, und niemals fand er die Fähigkeit, in der Unendlichkeit des fließenden Regressus willkürlich einen Pfahl einzuschlagen, an dem er sich zu wirklichen Untersuchungen im einzelnen halten könnte, oder eine selbstverständliche Voraussetzung mit voller Einsichtigkeit hinzunehmen, wodurch der Zirkel erledigt wäre. Als völlige Unsicherheit in der Stellungnahme blieb dem Kranken der Skeptizismus auch gegenüber seinen Wahnbildungen, denen er nicht mit voller Einsicht, aber eben mit diesem zweifelnden Schwanken gegenüberstand. Die Skepsis unseres Kranken ist qualvolles tägliches Erleben, für das die theoretische Formulierung - die sich in nicht von altbekannten Gedankengängen der Philosophen unterscheidet - bloß Ausdruck ist. Es geschieht wohl, daß der Mensch aus Unsicherheit und Haltlosigkeit in einem Gehäuse, wie einer systematischen philosophischen Weltanschauung, Zuflucht sucht und findet. Etwas mit dieser Entwicklung Vergleichbares geschieht auch bei den allermeisten schizophrenen Prozessen. Auf die Zeit der qualvollen Unsicherheit folgt die Zeit einer gewissen Zufriedenheit mit dem Wahn. Der Wahn nimmt bei Begabteren dann auch objektive Form an, als Weltsystem und dergleichen. Er tritt nicht bloß als subjektiver Wahn auf, der es allein mit der eigenen Person zu tun hat. Das ist nun das Besondere an unserem Kranken, daß er zur Zeit der Beobachtung die außerordentliche Unsicherheit durch einen Prozeß bekommen, aber nicht den gewöhnlichen Weg zum Wahnsystem eingeschlagen hat. Er ist außerordentlich gequält. Dabei hat er sich aber ein Maß an Einsicht und Diskussionsfähigkeit erhalten, daß er - ein ungewöhnlicher Fall - noch Fühlung mit Gesunden besitzen kann, daß man sich mit ihm gern unterhält und sich an der Beweglichkeit seines Geistes, der Eindrucksfähigkeit und relativen Weite, dem Bestreben nach Ehrlichkeit freut; während es das Gewöhnliche ist, daß man das Wahnsystem registriert, Diskussionsunmöglichkeit feststellt und mit der gänzlich "verrückten" Welt des Kranken keine Fühlung gewinnt. Was beim "Normalen" die Verengung im System bedeutet, dem ist beim Prozeß der Absonderung und Einschließung in den Wahn zu vergleichen. Dieses gewöhnliche Resultat, der systematisch fixierte Wahn, ist bei unserem Kranken anfangs ausgeblieben. Die Wahneinfälle des Kranken sind nirgends zum System verarbeitet, beziehen sich nicht auf seine Weltanschauung. Er steht ihnen durchaus schwankend und unsicher gegenüber. Aber in den Inhalten seiner akuten Psychose, die reaktiv auf dem Boden einer Examensenttäuschung entstand, hat der Trieb zum Ganzen sowohl die skeptische Verzweiflung wie eine konkrete Gestalt gewonnen. In dieser Psychose, die ihn in die Irrenanstalt brachte, erlebte er eine Fülle von Weltereignissen; ein neues Zeitalter bricht an, göttliche und menschliche Gestalten verkehren mit ihm; er selbst kämpft um die neue Welt, und dergleichen. Aus diesen Erlebnissen berichten wir nur eine Linie: für die Erlebnisse war zum guten Teil die Qual des Skeptizismus, den er durchgemacht hatte, bestimmend. Dieser Zusammenhang wird vom Kranken nach Ablauf der akuten Psychose selbst wiederholt betont. Im Beginn der Psychose verfluchte er den Herrgott, daß er ihm den Skeptizismus gab und entschloß sich: "Ich will es mal zwingen, er soll mich vernichten, oder er soll mir die Einsicht geben." Aus seiner skeptischen Verzweiflung, wie er selbst sagt, entsprang geradezu ein Bedürfnis zum Fluchen: "Unser Herrgott, ich verfluche ihn." "Hätte Gott nicht gesündigt, so gäbe es kein Elend." Seinem philosophisch-metaphysischem Bedürfnis entsprach es, daß jetzt das goldene Zeitalter anbrach, daß er teilnahm an der "übersinnlichen Welt", wenn er auch noch verdammt war, in einer Scheinwelt zu leben. Er erlebte es, daß alle Gott beschworen, auch ihn zu erlösen. Aber das geschah nur nach einem Kampf. Er seinerseits stellte Forderungen, von deren Erfüllung er seine Zustimmung, in die übersinnliche Welt einzugehen, abhängig machte. Diese Forderungen waren der Ausdruck seiner skeptischen und nihilistischen Anschauungen: alle Wesen sollen Gott gleich sein, alle Wertunterschiede sollen aufhören, der Teufels selbst soll in die übersinnliche Welt. Im Kampf siegte er. Er hatte nun alle Götter und Genien in sich. Er mußte jetzt die Einheit und die Ordnung schaffen, die er vorher gefordert hatte. Das Ganze soll eine Einheit sein, es soll aufhören, der Gegensatz von Ja und Nein, der Kampf, das Schwanken, die Zerrissenheit, der Gegensatz von Gott und Teufel. Einheit des Ganzen war jetzt das Problem. Es gelang nicht. Immer bliebe Uneinigkeit und Streit. Als schließlich die irdischen Welten zur Einheit geordnet waren, kam die außerirdische Welt. Dieser gegenüber, der Unendlichkeit gegenüber fühlte er sich hilflos. Es ist dasselbe wie im Skeptizismus, so erlebte er es jetzt, es ist derselbe unendliche Regress hier in der übersinnlichen Welt, der früher meine Gedanken vernichtete. In der Psychose gelang aber die Lösung durch den Willen, die in der Wirklichkeit nicht gelang. Er beschränkte sich willkürlich, Gott der irdischen Welt zu sein, und setzte zum Gott der außerirdischen Unendlichkeit den alten Herrgott ein. So fühlte er sich glücklich und heimatlich. Mit diesem Zusammenhang gingen nun dauernd Zweifel einher. Er litt darunter, hatte eine "gepreßte Stimmung", daß die Zweifel ihn auch hier nicht verlassen. Er konnte sich gar nicht genug tun, in lauter Wiederholung energischer Behauptungen: "Und es gibt doch Gedankenzeugung," "ich bin doch der Sohn des Königs Otto" usw. Die Einheitsbildung gelingt auch in der Psychose tatsächlich nie. Er gerät in Raserei, daß es nicht gelingt. "Und die Zweiheit ist doch die Einheit", behauptet er energisch. "Nein es geht nicht", folgt sofort. Es ist unmöglich, die Widersprüche aufzulösen, Gott und Teufel können nicht identisch sein. Hieraus entwickelt sich dann eine neue Stellung gegen den Schluß der Psychose: Er hält es nicht mehr aus und will zur Scheinwelt, wenn sie auch nur Schein ist, zurück. Stehen wir vor den Wirkungen des Nihilismus, so drückt sich das entsetzte und ratlose Wesen in der Frage aus: wo ist denn noch ein Halt? oder wo ist der Halt? Wir als Betrachter sehen, daß die Menschheit trotz allen Nihilismus lebt, sie muß also überall Halt haben. ![]()
1) HEGEL, Werke, Bd. 14, Seite 5 2) HEGEL, Werke, Bd. 14, Seite 24f 3) HEGEL, Werke, Bd. 14, Seite 26 4) NIETZSCHE Werke, Bd. 9, Seite 7 - 12 5) HEGEL, Phänomenologie des Geistes 6) HEGEL, Phänomenologie des Geistes 7) SEXTUS EMPIRICUS, Pyrrhonische Grundzüge, deutsch in der philosophischen Bibliothek. 8) Man hat diese Fragen im Vergleich zu den drei kantischen Fragen gestellt: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? z. B. ERDMANN, Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Seite 162 9) Später wurde im Altertum der Skeptizismus als Geistestypus vielfach verlassen und umgebogen zum bloßen intellektuellen Skeptizismus in der Lehre von der "Wahrscheinlichkeit", die dem Standpunkt des modernen wissenschaftlichen Empirismus als wissenschaftlicher Einstellung, nicht als Geistestypus entspricht. Der Skeptizismus als bloß theoretische Stellung ist kein Geistestypus. Er ist etwa Skepsis als Methode (in jeder Wissenschaft). Er verselbständigt sich hier im Rationalen auch auf spezifische Weise: der vorsichtige Kritiker aus Mangel an Ideen; die Armut wird zur Stärke gemacht, der Mangel an Gedanken soll dem Gedankenvollen - dem leicht Einwände zu machen sind - überlegen sein - und ist es für den ersten Augenblick scheinbar oft. Es gibt die Neinsager gegenüber den Schaffenden. Sie sind aber auch die kritische Säure, die das Gold des Geschaffenen reinigt. - Wenn das Wort "Skeptizismus" zur Bezeichnung einer jeden zweifelnden Stellung verwendet wird, so verliert es allen eigentlichen Sinn zugunsten einer ganz äußerlichen Benennung. Im Gegensatz zum Zweifel im Einzelfall (= Kritik, intellektuelle Vorsicht) ist zum Begriff ein allgemeines Zweifeln erforderlich, im Gegensatz zum bloßen intellektuellen Zweifel ein Zweifeln (Nichtentscheiden) auf allen Lebensgebieten. 10) Wem das Objektive, irgendein Geltendes Alles ist, dem gegenüber das Individuum nichtig dasteht, der muß einen solchen Skeptiker frevelhaft, verworfen, anmaßend, eitel finden. Er wird ihm Widersprüche vorwerfen, aber mit allem rührt er nicht an die Substanz des Skeptikers: die Punktualität der Ataraxia und die inviduellen Anlagen der zufälligen Subjektivität. Vgl. z. B. die Kritik des MALEBRANCHE über MONTAIGNE: Recherche de la vérité, Buch II, Seite 3 und 5. 11) Der Fall ist sehr gekürzt einer früheren Arbeit von mir entnommen (Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 1913). Die Formulierungen stammen größtenteils vom Kranken selbst. |