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(1877-1940) Rechtswissenschaft und Soziologie
Meine Damen und Herren! Nun ist es von vornherein wahrscheinlich, und die folgende Untersuchung wird es erweisen, daß für die Rechtswissenschaft nur eine solche sozialwissenschaftliche Betrachtung etwas bedeuten kann, die die Einzelgebiete des sozialen Lebens - die Wirtschaft, die Technik, die Sitte, die Kunst, die Religion, die biologisch-psychologischen Grundlagen usw. - nicht ansich, sondern unter dem Gesichtspunkt ihrer Beziehung zum Recht betrachtet. Solche Beziehungen mehrerer Sozialgebiete untereinander gehören meinem Sprachgebrauch nach zu den soziologischen Beziehungen; ihre Untersuchung würde also ein Thema der Soziologie bilden. Und zwar der reinen "Soziologie"; unter "angewandter" Soziologie verstehe ich die Anwendung dieser Lehren auf die Betrachtung der gleichmäßig mehreren Seiten des sozialen Lebens angehörigen Erscheinungen, z. B. auf die Familie, die Großstadt, die öffentliche Meinung, die Presse, den Klassenkampf, die politischen Parteien, die Frauenfrage, den Sozialismus, das Vereinswesen usw., vor allen Dingen auf "die Gesellschaft" selber. Die Soziologie ist also die Wissenschaft, die die Gesamtheit des sozialen Lebens in seiner ungebrochenen Fülle betrachtet, und, weit entfernt von einer mechanischen Summierung der Ergebnisse der einzelnen Sozialwissenschaften, in eigenartiger synthetischer Untersuchung wieder vereinigt, was jene aus technischen Gründen isolieren müssen. Sie verhält sich also zu den einzelnen Gebieten der theoretischen Sozialwissenschaften wie sich die Kulturgeschichtsschreibung zu den einzelnen Gebieten der Geschichtsschreibung verhält (die in der Tat das historische Korrelat der Soziologie ist; ihr praktisches ist die Sozialpolitik im weitesten Sinne). Und zwar spreche ich von Rechtssoziologie dann, wenn das soziale Leben auf seine Beziehung zu den Rechtsnormen hin untersucht wird. Entsprechend würde ich, je nachdem das in seinen Beziehungen zu den übrigen Sozialgebieten untersuchte Kulturgut die Wirtschaft, die Religion, die Kunst usw. ist, von Wirtschafts-, Religions-, Kunstsoziologie usw. sprechen. Daß die Natur dieser Beziehungen, je nach der logischen Beschaffenheit der in Beziehung gesetzten Gebiete, eine ganz verschiedene ist, weiß ich wohl; es macht aber nichts aus, da die "Soziologie" in keinem Sinn eine homogene Wissenschaft werden kann. Nur ein Sonderfall der Rechtssoziologie liegt vor, wenn nicht ein Einzelgebiet, sondern die Gesamtheit des sozialen Lebens auf die Beziehung zu den Rechtsnormen hin untersucht wird. So untersucht z. B. die Kriminalstatistik das tatsächliche Vorkommen des Hochverrats, des Sittlichkeitsverbrechens, der Gotteslästerung, des Diebstahls, also Erscheinungen, die ihrer Tatsächlichkeit [nussbaum] nach dem politischen, dem erotischen, dem religiösen, dem wirtschaftlichen Leben angehören, nicht unter den Gesichtspunkten dieser Einzelgebiete, sondern unter dem gemeinsamen Gesichtspunkt ihres Verbotenseins durch das Strafrecht. Sie legt also einen neuen Schnitt durch die gesamte soziale Wirklichkeit und betrachtet diese nach der Methode eben der Disziplin, die ich "Rechtssoziologie" nannte. Diesen Sprachgebrauch habe ich zunächst zu rechtfertigen. Zwar nicht auf dem Weg, daß ich frage: Was ist Soziologie? Denn diese berüchtigte Frage ist unbeantwortbar. Beantwortbar wäre sie ja nur dann, wenn entweder alle, die von "Soziologie" reden, tatsächlich denselben Gegenstand meinten, von dem sie nur verschiedene Begriffe bildeten, oder wenn es nur einen Gegenstand überhaupt gäbe, der würdig wäre, den herrlichen Namen "Soziologie" zu führen. Beide Voraussetzungen treffen, was keines Beweises bedarf, nicht zu. Die Rechtfertigung meines Sprachgebrauchs kann deshalb erheblich einfacher sein: es genügt zu zeigen, daß der von mir bezeichnete Gegenstand überhaupt Gegenstand einer Wissenschaft werden kann; daß er nicht schon Gegenstand einer anderen Wissenschaft ist; und daß für diesen Gegenstand der Name Soziologie sich nicht etwa schon aus rein sprachlichen Gründen verbietet. Wer diesen drei Bedingungen genügt, dem will ich nicht verwehren, etwas ganz anderes "Soziologie" zu nennen. Daß meine Definition den ersten zwei Bedingungen genügt, zeigt ein Blick auf die genannten, unleugbar unter sie fallenden Erscheinungen (Familie usw.). Und daß der dritten Bedingung mehr als genügt ist, zeigt die Tatsache, daß ich mich hierin in Übereinstimmung befindet mit dem Sprachgebrauch der meisten anderen Herren Vorredner. Zwar nicht mit dem der Herren SIMMEL und GOTHEIN, die über die "Soziologie" der Geselligkeit und der Panik gesprochen haben - Themen, die aber auch bereits in das Gebiet einer anderen Wissenschaft, der Sozialpsychologie, gehören (wie überhaupt SIMMELs so bedeutende "soziologische" Untersuchungen zum größten Teil). Wohl aber mit dem der anderen Herren, die sich nicht mit dem "Recht" als solchem und nicht mit der "Wirtschaft" als solcher, nicht mit der "Technik" als solcher und nicht mit der "Kultur" als solcher, nicht mit der "Rasse" als solcher und nicht mit der "Gesellschaft" als solcher, sondern mit ihrem Verhältnis befaßt haben und eben deshalb weder juristische noch ökonomische, weder technologische noch biologische, sondern eigenartig soziologische Untersuchungen angestellt haben. Und zwar wird man die Eigenart dieser Untersuchungen auch dann anzuerkennen haben, wenn man (wie auch ich dies bin) der Meinung sein sollte, daß sie, wie bisher, so auch zukünftig von den Fachleuten der Einzelgebiete und zumal den Vereinigungen dieser Fachleute zu betreiben seien, nicht von "Soziologen vom Fach". Die Rechtssoziologie jedenfalls wird, das wird der Vortrag deutlich machen, fruchtbringend nur von Fachmännern der Jurisprudenz, gewissermaßen im Nebenamt, betrieben werden können. Meine heutige Untersuchung wird jedoch nicht auf dem Gebiet der Rechtssoziologie, überhaupt nicht auf dem der Soziologie liegen, sondern - ebenso wie die einleitende von Herrn TÖNNIES - auf dem Gebiet der Erkenntnis der Soziologie, also der allgemeinen Hilfsdisziplin, der Erkenntnistheorie, besser: Wissenschaftstheorie, angehören. Sie wird also Theorie der Theorie sein, und so werden gewisse unverbesserliche Weltverbesserer, die Soziologie mit Sozialpolitik verwechseln, und denen unsere rein theoretischen Verhandlungen die Langeweile selbst bedeuten, vom heutigen Schluß der Verhandlung die Langeweile in der zweiten Potenz zu befürchten. Eine "Panik" der hier versammelten "Soziologie" könnte die Folge sein! Aber wenn diese eintreten sollte, so würde dies die Schuld des Redners, nicht des Themas sein. Denn gerade weil wir heute nicht mehr Soziologie treiben, braucht uns auch die statutenmäßige Ausschließung aller Werturteile und Postulate nicht zu schrecken. Denn diese sind hier ausgeschlossen und müssen ausgeschlossen sein, soweit sie das soziale Leben selbst, nicht soweit sie seine Erforschung betreffen. Wir dürfen also unsere seit vier Tagen mit Mühe gebändigten Werturteile heute austoben lassen, und dennoch wird, so hoffe ich, der Herr Vorsitzende keinen Anlaß haben, die methodologische Guillotine in Gang zu setzen. In diesem Sinne also frage ich: Sollen und können wir die Rechtssoziologie für die Jurisprudenz nutzbar machen? Nein! würde hierauf die herrschende Auffassung vom Wesen der Rechtswissenschaft antworten. Diese Anschaung muß ich deshalb von Ihnen, die Sie nur zum kleinsten Teil Juristen sind, mit einigen Worten und unter Beiseitelassung all der Einzelheiten kennzeichnen, durch die man diese Theorie lebensfähiger zu machen gesucht hat. Ihr zufolge sind dem heutigen Juristen nur zwei Formen des Rechts gegeben: Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht. Vom letzteren können wir absehen, da ihm trotz der großen Bedeutung, die die richtige Rechtsauffassung enthüllt, in praxi fast gar keine Beachtung geschenkt wird; wir dürfen uns also auf das Gesetz beschränken. Es wird nun gelehrt, daß der Jurist jeden beliebigen Rechtsfall durch Subsumption unter das Gesetz entscheiden kann und eben deshalb auch allein aus ihm entscheiden muß. Das Gesetz ist, so hat man treffend diese Auffassung gekennzeichnet, hiernach ein Automat: oben steckt man den Fall hinein, unten zieht man die Entscheidung heraus. Entweder ist der Fall unmittelbar im Gesetz entschieden, dann fällt die Entscheidung beim ersten Zug heraus, oder er ist es nicht, dann muß man den Automaten etwas puffen und schütteln. Man interpretiert den Wortsinn bald enger, bald weiter, man hält den Fall bald diesem, bald jenem Rechtssatz zur Beleuchtung unter, man ordnet Sätze zu Systemen und sucht die Entscheidung dann aus den Obersätzen abzuleiten, man gebraucht bald die Analogie, bald das argumentum e contrario - immer aber bleibt man innerhalb der Sphäre der Gesetzesnormen. Kein Blick fällt über diese chinesische Mauer hinweg in die Gefilde des sozialen Lebens, zu deren Regelung diese Gesetze ergangen sind; sie bekümmern den orthodoxen Juristen so wenig, wie den reinen Mathematiker der Gebraucht, den der Maschinenbauer vielleicht einmal von seinen Formeln machen wird. Und ich zögere keinen Augenlick zu sagen: wenn diese Methode durchführbar wäre, wenn sich wirklich durch eine bloß verstandesmäßige Bearbeitung des Gesetzestextes alle Fälle entscheiden ließen, so wäre jener "sachverachtende Juristenstolz", wie LUDWIG KNAPP einmal gesagt hat (1), durchaus berechtigt. Aber dies ist eben nicht der Fall. Und zwar ist schon die herrschende Auffassung genötigt, an einigen Punkten ihrer Rechnung große Fragezeichen zu setzen. Einer dieser Punkte ist die Analogie, die Entscheidung eines Falles nach Maßgabe der Entscheidung ähnlicher Fälle. Ohne Anwendung der Analogie, das gibt auch der rückständigste Buchstabenjurist zu, würden wir fortgesetzt zu den unsinnigsten und verderblichsten Entscheidungen kommen müssen. Zum Beispiel - ich wähle absichtlich ein Beispiel aus dem Strafrecht, weil eine weitverbreitete Meinung die Zulässigkeit der Analogie für das Strafgesetz in Bausch und Bogen verneint - wird in § 70 die Verjährung der rechtskräftig erkannten Strafen geregelt, und zwar sinkt die Verjährungsfrist von 30 Jahren für die Todesstrafe bis zu 2 Jahren für die Geldstrafe. Vergessen ist eine Bestimmung über die Verjährung der leichtesten Strafe, des Verweises. Würde man nun nicht, dem Buchstaben des Gesetzes zuwider, die Analogie aus der Ähnlichkeit des Verweises mit der nächst leichtesten Strafe anwenden, so käme man zu dem sinnlosen Ergebnis, daß unter allen Strafen gerade die leichteste, der Verweis, niemals verjähren kann. Aber mit der Ähnlichkeit der Fälle kommt man nicht aus. Denn was ist sich schließlich in einem, wenn auch noch so geringen, Grad nicht ähnlich? So käme man schließlich vom hundertsten ins tausendste, und so ist man dann auch einig, daß irgendwi eine Grenze gezogen werden muß. Dies kann nun aber auf keine andere Weise geschehen, als dadurch, daß man den Zweck des analog angewandten Gesetzes entscheiden läßt. Nur soweit der Zweck der gleiche bleibt, so weit "eadem ratio iuris" [gleicher Sinn der Rechtsprechung - wp] reicht, so weit gilt die Analogie. Aber wie soll man den Zweck erkennen? Dieses Problem ist sehr verwickelt, es hängt zusammen mit einem, das die modernste Erkenntnistheorie beschäftigt und das von seiner Lösung noch weit entfernt ist, mit der Frage, was wir meinen, wenn wir vom Sinn eines Zusammenhangs oder einer Norm sprechen (2). Ich kann deshalb hier nur Andeutungen bieten. Die populäre, aber rein psychologistische Auffassung, daß es einen im Gesetz nicht notwendig ausgedrückten individuellen "Willen des Gesetzgebers" zu erforschen gilt, ist heute fast allgemein überwunden. Ferner geben die Gesetze, wenigstens die modernen, ihre Zwecke nicht selbst an; die Gesetzesmaterialien enthalten zwar vieles darüber und haben sogar eine sehr hohe, hier nicht zu schildernde Bedeutung für die Rechtsanwendung, stellen aber doch nur Privatmeinungen dar, die nicht ohne weiteres mit dem sanktionierten staatlichen Willen gleichgesetzt werden dürfen; aus dem Zusammenhang der Vorschriften mit anderen läßt sich einiges entnehmen, insbesondere oft feststellen, was der Zweck nicht sein kann, nämlich nichts von dem, dessen Verfolgung mit jenen anderen Vorschriften in Widerspruch stünde; aber diese Feststellung wird bei weitem nicht immer ausreichen. So bleibt denn nur das Mittel, über die chinesische Mauer hinüberzugucken, in das Gebiet des sozialen Lebens, in dem irgendwelche Wirkungen zu entfalten die Aufgabe jedes Gesetzes ist (3). Hier gilt es nun zu untersuchen, welche Wirkungen im sozialen Leben das zu interpretierende Gesetz, genauer: die Anwendung dieses Gesetzes, im Durchschnitt der Fälle hervorruft oder hervorzurufen geeignet ist. Aus denjenigen unter diesen regelmäßigen Wirkungen, wobei es sich stets um den Schutz irgendwelcher Interessen handeln wird, welche im Sinne des Gesetzes als wertvoll anzusehen sind, müssen die Zwecke des Gesetzes erschlossen werden. Zweckforschung im Rechtssinn setzt also eine Tätigkeit auf dem Gebiet der Rechtssoziologie voraus. der Soziologie, wie wir im folgenden der Kürze halber sagen wollen. So wäre also schon die herrschende Auffassung genötigt, den Tatsachen des sozialen Lebens die größte Beachtung zu schenken: die Zweckforschung ist ein Lebensbedürfnis für die Jurisprudenz und diese würde, wenn sie dieses Bedürfnis nicht befriedigen würde, auf einer primitiven Entwicklungsstufe stehen bleiben, vergleichbar der der organischen Naturwissenschaften im Stadium der bloßen Klassifikation, vor der Erkenntnis aller tieferen biologischen Zusammenhänge. Im Einzelnen zu untersuchen, inwieweit die herrschende Jurisprudenz den Zweckgedanken und die soziologische Forschung überhaupt durchführt, würde den Rahmen dieses Vortrags überschreiten. Hier nun eine Skizze. Am besten steht es damit in der Wissenschaft des öffentlichen Rechts, die ja überhaupt in vieler Hinsicht den gesündesten Teil der Jurisprudenz darstellt und mit aller Kraft gegen die vielfach empfohlenen privatrechtlichen "Vorbilder" geschützt werden muß. Hier finden wir echt soziologische Untersuchungen zum Nutzen des Staatsrechts in der Soziallehre des Staates, zum Nutzen des Strafrechts in der sogenannten Kriminalstatistik, hier auch eins der wichtigsten Hilfsmittel der Soziologie, die Statistik, in reicher Abbildung. Mit guten Gründen nannte sich auch eine in Italien und Deutschland weit verbreitete Kriminalistenschule (FERRI, von LISTZ) die "soziologische". Wieviel aber auch im Strafrecht, so sehr es die stete Berücksichtigung des "Rechtsgutes" auszeichnet, der Zweckgedanke noch zu tun hat, zeigen gewisse immer wiederkehrende allzuharte Urteile, die bei einer Herausarbeitung und Heranziehung des Gesetzeszweckes hätten vermieden werden können. So erregt es immer Entrüstung, wenn gemäß der durchaus herrschenden Theorie und Praxis eine arme unbescholtene Witwe, die für ihre frierenden Kinder einige Holzscheite entwendet hat, wegen Diebstahls nach § 242 zu Gefängnis verurteilt wird. Die Juristen schieben dieses Ergebnis dann auf das Gesetz (4), das Volk teils auf dieses, teils auf die Hartherzigkeit der Richter, und so werden die kostbarsten Güter unseres staatlichen Lebens, die Autorität des Gesetzes und die Hochachtung vor dem Richterstand, untergraben. In Wahrheit ist der einzig Schuldige die schlechte Methode, die den Zweck des § 370, 5 nicht beachtet und deshalb verabsäumt, die nur auf Antrag verfolgbare und mit Geldstrafe abzumachende "Genußmittelentwendung" unter - fälschlich als unzulässig betrachteter analoger Ausdehnung auf den Tatbestand der Brennstoffentwendugn - als gegeben anzusehen. Weit ungünstiger aber steht es noch im Zivilrecht. Wer das nicht glauben will, dem rate ich, irgendeinen Abschnitt des BGB derart durchzulesen, daß er sich bei jeder einzelnen Bestimmung fragt: warum ist sie gerade so und nicht anders getroffen worden? Welchen Schaden würde das soziale Leben erleiden, wenn statt dieser Bestimmungen das Gegenteil angeordnet worden wäre? Und dann schlage er alle Lehrbücher, Monographien, Kommentare und Entscheidungssammlungen nach und sehe zu, wieviele Fragen dieser Art er beantwortet, wieviele er auch nur gestellt finden wird! Bezeichnenderweise fehlt es auch nahezu gänzlich an einer Zivilrechtsstatistik, sodaß wir über die soziale Funktion der bürgerlichen Rechtsnormen, insbesondere über das Maß ihrer Verwirklichung, gar nichts feststelle können. Zum Beispiel wissen wir nur, daß das BGB fünf Formen des ehelichen Gütterrechts regelt, haben aber nicht die leiseste Ahnung davon, in welchem zahlenmäßigen Verhältnis und in welcher geographischen Verteilung nun die einzelnen Formen im sozialen Leben vorkommen. Vielleicht bedeutet eine Wendung zum Besseren ein soeben erfolgter Beschluß des 30. deutschen Juristentages (5). Dieser hat auf Anregung des berühmten österreichischen Juristen und Staatsmannes FRANZ KLEIN beschlossen, die geplante Diskussion über gesetzgeberische Maßnahmen zur Behebung der Mißstände im Wohnungswesen dadurch vorzubereiten, daß er eine "Umfrage über das Wohnungswesen" veranstaltet (die bereits im Gange ist). Diese Umfrage trägt nun zwar noch nicht selbst rechtssoziologischen Charakter, denn sie will nicht erkunden, was im Wohnungswesen tatsächlich rechtens ist, z. B. inwieweit das gesetzliche Mietrecht durch die Mietverträge ausgeschaltet wird. Sie will vielmehr, wie der Fragebogen beweist, durch eine Befragung der Kenner des Wohnungswesens feststellen, welche Änderungen der geltenden öffentlichen und privaten Rechtsnormen nach Ansicht dieser Kenner erforderlich wären, um die Wohnungsreform zu fördern. Sie stellt also keine rechtssoziologischen Untersuchungen an, sondern setzt solche bei den Befragten voraus. Immerhin müßte also zumindest indirekt die folgerichtige Durchführung dieses Gedankens (nach Art der vom Verein für Sozialpolitik veranstalteten Umfragen) zu einer starken Belebung rechtssoziologischer Untersuchungen führen, die nicht nur den legislativpolitischen Arbeiten des deutschen Juristentages sehr zustatten kommen würden, sondern auch die Rechtsdogmatik befruchten müßten. Sie würden auch den Sinn für Beobachtung und Induktion, dessen Schärfung dem heutigen Buchjuristen dringend nottut, entwickeln, zugleich aber auch gewisse unklare Reformer lehren, daß man diese Gaben nicht aus den Naturwissenschaften zu beziehen braucht, wo sie vielmehr unter Voraussetzungen stehen, die für die Jurisprudenz in keiner Hinsicht zutreffen. Auch das "deutsche Institut für Rechtsphilosophie und soziologische Forschung", dessen Errichtung aus Mitteln der Kaiser-Wilhelm-Stiftung jüngst angeregt worden ist, würde sich zweifellos in erster Linie mit rechtssoziologischer Massenforschung befassen (falls nicht, wie ich befürchte, seine Errichtung ein frommer Wunsch bleibt) (6). Dagegen befindet sich bereits - seit dem Wintersemester 1909/10 - ein von EUGEN EHRLICH in Czernowitz als erster Versuch dieser Art gegründetes "Seminar für lebendes Recht" in Betrieb; seine Aufgabe ist die Erforschung der tatsächlichen Rechtsverhältnisse mit Bezug auf die sich in ihnen ausdrückenden gewohnheitsrechtlichen Normen, ist also soziologischer Natur (7). Wie weit wir aber noch von der Erkenntnis der Notwendigkeit solcher Forschungen entfernt sind, zeigt deutlich der Versuch eines im allgemeinen auf dem Boden der herrschenden Anschauungen stehenden Zivilrechtslehrers, der einen Fragebogen zur Beantwortung derartiger Probleme aufstellte und in der Begründung über den gegenwärtigen Zustand bekannte "es soll nicht behauptet werden, daß der zivilistischen Dogmatik das Studium der tatsächlichen Lebensverhältnisse gänzlich fremd" sei (8). Das Ergebnis der Umfrage, auf welche ganze 52 Antworten eingingen, war ein überaus dürftiges (9). Ihr Unglück war, daß sie durchaus die tatsächlichen Rechtsverhältnisse des gegenwärtigen Lebens feststellen wollte; hätte sie das hellenische Bürgschaftsrecht oder das altägyptische Grundbuchwesen erkunden wollen, so wäre ihr aufgrund der neuesten papyrologischen Forschungen, in denen unsere Zivilistik ihre soziologischen Bedürfnisse befriedigt, haarklein genaue Auskunft erteilt worden. Ich lebe daher der frohen Zuversicht, daß, falls die herrschende Schule sich bis dahin lebend erhalten sollte, wir bereits in 2000 Jahren über die tatsächlichen Rechtsverhältnisse des gegenwärtigen Lebens Bescheid wissen werden, und daß, wer sich im Jarhe 4000 für einen Lehrstuhl des dann geltenden bürgerlichen Rechts qualifizieren will, dies auf keine andere Weise tun wird können, als daß er etwa die Frankfurter Mietsverträge vom Jahr 1910 aufgrund der noch erhaltenen nach den Regeln der philologischen Kunst zu editierenden Papiere bearbeitet. Erheblich früher würde unser Wissensdurst befriedigt werden, wenn eine völlig andere Auffassung von der Rechtswissenschaft sich durchsetzen würde, welche den realen Tatsachen des Lebens und unter diesen (neben den individualpsychologischen) den soziologischen eine weit größere Bedeutung für die Rechtswissenschaft beilegt. Diese realistische Auffassung ist die von der freirechtlichen Bewegung vertretene, die sich unter mannigfachen Namen und Gestalten unaufhaltsam durchzusetzen scheint und der auch ich mich zuzähle. Auch für die Darlegung dieser neueren Ansicht muß ich auf einige Minuten Ihr Gehör erbitten. Denn nicht nur, daß über die wahren Ziele dieser Bewegung selbst unter ihren eigenen Vertretern manche Unklarheit besteht, muß ich noch mit der Möglichkeit rechnen, daß auch in diesen Saal die weitverbreitete Fabel gedrungen ist: die Freirechtler wollten einen freien Richter, d. h. bestritten die Verbindlichkeit der Gesetze, wollten unseren Richtern ein judizieren contra legem [gegen das Gesetz - wp] gestatten, und das sei der Kern der erstrebten Neuerungen. Ungezählte Male ist schon von unserer Seite gegen diese Unterstellung protestiert oder ihr vorzubeugen versucht worden (10). Aber das hat bei unseren durch Literaturunkenntnis gegen Belehrung immunisierten Gegnern gar nichts gefruchtet. Ich will daher auch diese Gelegenheit nicht ohne erneuten Protest vorübergehen lassen. Schon ein Blick auf die Vorläufer dieser Bewegung sollte sie vor jedem Verdacht eines derartigen rechtsphilosophischen Anarchismus bewahren. Ihre Gedanken haben während des ganzen 19. Jahrhunderts, oft in Anknüpfung an noch ältere Ideen, unter der Oberfläche der Herrschaft der historischen Schule rumort und sind in den späteren Schriften JHERINGs, ferner DERNBURGs, KOHLERs und vieler anderer nicht selten zur Tat geworden. Hier interessieren jedoch nur die methodologischen Arbeiten. Als einer der frühesten Versuche dieser Art sei gerade an dieser Stelle eine Schrift erwähnt, die schon 1872 erschienen ist unter dem Titel "Zur Lehre von den Rechtsquellen, insbesondere über die Vernunft und die Natur der Sache der Rechtsquellen". Die Schrift, deren Verfasser sich unvorsichtigerweise als Referendar bekannte, blieb demgemäß so gut wie ohne Zustimmung, soweit sie nicht gar als Nachfrucht des Naturrechts verhöhnt wurde. Erst die neueste Bewegung hat sie wieder ans Tagesleicht gezogen und mit Staunen in ihr viele der modernsten Gedanken vorweggenommen gefunden. Der Referendar, dessen Name seitdem einen vollen Klang gewonnen hat, der aber immer noch nicht die Gewohnheit abgelegt hat, seiner Zeit vorauszueilen, war FRANZ ADICKES, jetzt Oberbürgermeister dieser Stadt. Ans Licht der Sonne aber traten, wenn auch nicht immer in klaren Umrissen, diese Gedanken erst in einer Reihe von Werken aus JHERINGs zweiter Periode (1860-1892), unter denen in dieser Hinsicht am wichtigsten ist sein "Scherz und Ernst in der Jurisprudenz" (1861-1885) und, durch sein bedeutungsvolles - freilich unausgeführt gebliebenes - Programm, das Werk: "Der Zweck im Recht" (1877). Als wichtigster Zeitgenosse ist zu nennen W. ENDEMANN, aus späterer Zeit, aber meist nur für den einen oder anderen Punkt, seien aus der sehr großen Schar in Deutschland genannt SCHLOSSMANN, OSKAR BÜLOW, M. RÜMELIN, PHILIPP HECK, in gewisser Hinsicht auch RUDOLF STAMMLER; aus dem letzten Jahrzehnt JUNG, ZITELMANN, STERNBERG, MÜLLER-ERZBACH, STAMPE, RUMPF, RADBRUCH, FUCHS, DEINHARD; in Österreich OFNER, EHRLICH, WURZEL, in mancher Hinsicht auch UNGER; in der Schweiz HUBER und GMÜR; in Frankreich, wo diese Richtung völlig durchgedrungen ist, SALEILLES und GÉNY; die italienischen, belgischen, holländischen, russischen Namen darf ich als zu wenig bekannt übergehen. Seit einigen Jahren erscheint in diesen Ländern kaum eine Schrift über juristische Quellen- und Methodenlehre, die dem freirechtlichen Gedanken nicht die weitesten Zugeständnisse machte, was die meisten Schriftsteller freilich nicht hindert, gleichzeitig aufgrund jenes und anderer Mißverständnisse auf die Bahnbrecher loszuschlagen. Auch die Praktier, die in normalen Zeiten wenig Bedürfnis haben, ihre Tätigkeit zum Gegenstand methodologischer Spekulation zu machen, beginnen sich jetzt mit großem Eifer und sicherem Instinkt für die Methodenreform zu erwärmen. An diesem Ort kann es sich nur darum handeln, von dem weitverzweigten Gedankenbaum, der das ganze Gebiet der Philosophie und Dogmatik des Rechts, der Anwendung und Pädagogik des Rechts, ja auch seiner gesetzgeberischen Fortbildung überschattet, allein diejenigen Früchte zu ernsten, die das Verhältnis von Jurisprudenz und Sozialwissenschaft betreffen. Hierbei ist auszugehen von der Erkenntnis, daß die Jurisprudenz nicht wie bisher als Wortwissenschaft zu betreiben ist, ihr Geschäft sich nicht in der Auslegung von feststehenden Wörtern erschöpft, sondern eine Wertwissenschaft ist, im Dienste von Zwecken des sozialen Lebens steht. Das Gesetz hat hierbei die Bedeutung einerseits eines Wegweisers, d. h. die vom Gesetz verfolgten Zwecke sind es, die unweigerlich und in erster Linie verwirklicht werden müssen; andererseits die Bedeutung einer Schranke; d. h. diejenigen Aufgaben, deren Lösungen dem Gesetz nicht entnommen werden können - und die unvermeidliche Lückenhaftigkeit des Gesetzes wie die Vielgestaltigkeit und Veränderlichkeit des Lebens sorgen dafür, daß solcher Aufgaben zahllose sind - dürfen nicht in einer den Zwecken des Gesetzes zuwiderlaufenden Weise gelöst werden. Daraus ergibt sich nun: Erstens die Ablehung des Judizierens contra legem - zumindest in Ländern und zu Zeiten vigenter [kraftvoller, lebendiger - wp] Gesetzgebung, wie z. B. im heutigen Deutschland; die Frage ist übrigens sehr verwickelt und kann nicht mit aprioristischen Phrasen verneint, sondern nur auf dem Boden bestimmter Rechtsordnungen entschieden werden, interessiert aber an dieser Stelle nicht weiter. Zweitens: Für das Judizieren ex lege [laut Gesetz - wp], das selbstverständlich auch in Zukunft eine Hauptaufgabe der Jurisprudenz bleiben wird: die Ablehnung der um die Zwecke des Gesetzes und die Bedürfnisse des Lebens unbekümmerten, Buchstaben- und Begriffsjurisprudenz und damit der herrschenden Methoden, andererseits die Richtung auf die Erforschung eben dieser Zwecke und Bedürfnisse. Da diese Erforschung, wie gezeigt, auf soziologischem Weg geschehen muß, so ergibt sich, daß die Soziologie nicht nur gelegentlich herangezogen werden darf, wie dies stets geschah, sondern als die vornehmste Hilfswissenschaft der dogmatischen Jurisprudenz, deren Arbeit Punkt für Punkt vorbereiten und ergänzen muß. Diese Arbeit muß und wird geleistet werden und es leuchtet ein, daß die Jurisprudenz dadurch ein völlig anderes Gesicht erhalten wird, sowohl den Methoden als auch den Ergebnissen nach. Die wichtigsten Konsequenzen für das Verhältnis von Rechts- und Sozialwissenschaften liegen aber auch dem dritten Gebiet, dem des Judizierens sine lege [ohne Gesetz - wp]. Man begreift es heute kaum noch, wie dieses ungeheure Gebiet bisher kaum beachtet werden konnte, obwohl es der Richter doch täglich hundertmal betritt und die vorurteilsfreie logische Zergliederung jedes beliebigen Urteils auf die Prämissen hin das Vorhandensein dieses Elements hätte ergeben müssen. Um wieder ein einfaches Beispiel gerade aus dem Gebiet des Strafrechts zu entnehmen, auf dem das Judizieren ex lege eine weit größere Rolle spielt als irgendwo sonst: wenn der Richter einen Dieb zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, so muß das Urteil, wenn es mehr als Willkür sein soll, als eine seiner Prämissen die Norm besitzen, daß alle Diebstähle bei dieser Beschaffenheit von Tat und Täter mit drei Monaten Gefängnis zu bestrafen sind. Diese Norm ist zwar mit dem Gesetz vereinbar, da dieses lediglich einen Strafrahmen von einem Tag bis zu 5 Jahren Gefängnis aufstellt, aber eben deshalb nicht aus dem Gesetz auf logischem Weg ableitbar. Der Richter, der sich gerade für diese unter den 5 mal 365 = 1825 gesetzlichen Strafgrößen entscheidet, urteilt also insofern sine lege, aber nicht sine norm [ohne Norm - wp]. Seine Norm gehört nun offenbar nicht zu den außerrechtlichen Normen, etwa denen der Sittlichkeit oder des Anstands usw., und ebenso offenbar nicht zum Gewohnheitsrecht; sie gehört also zu den Normen des (von mir) sogenannten freien Rechts. Noch deutlicher wird vielleicht die Sache durch einen Hinweis auf den berühmten Artikel 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs vom 10. Dezember 1907, demzufolge der Richter, wenn die Entscheidung des Falles weder dem Gesetz noch dem Gewohnheitsrecht entnommen werden kann, entscheiden soll, "nach der Regel, die er als Gesetzgeber aufstellen würde". In diesen Regeln ist also eine Form des Rechts anerkannt, die weder Gesetzes- noch Gewohnheitsrecht ist, vielmehr als "freies Recht" in seine Lücken eintritt. Bei der Findung solcher Sätze freien Rechts hat sich nun der Richter - die Begründung hierfür, unter Bekämpfung der Idee eines absoluten Rechtswertes, gehört in eine noch nicht geschriebene Lehre von der Hierarchie der Rechtsformen - womöglich an die jeweilig im Volk herrschenden Werturteile zu halten. Diese Werturteil, im ersteren Fall die Beurteilung der Schwere eines derartigen Diebstahls, sind aber, bis sie durch eine Verwertung als Prämissen des Urteils zu Normen (eines freien Rechts) umgeschaffen werden, selbst Tatsachen des sozialen Lebens, die Kenntnis dieser Tatsachen, die demgemäß zur Erfüllung der richterlichen Aufgabe unentbehrlich ist, aber leider manchen Richtern mangelt, ist also auf soziologischem Weg zu erlernen. Dabei ist aber wohl zu beachten, daß es hierbei mehr auf ein gesundes, volkstümliches, nicht "weltfremdes" Empfindden und geraden Verstand, als auf theoretische Kenntnisse ankommt: nicht alles, was man erlernen kann und erlernen muß, braucht und kann in der Form der Wissenschaft gelehrt werden. Lassen sich die im Volke herrschenden Werturteile nicht ermitteln oder sind sie widersprüchliche, so muß der Richter letztenendes durch eine eigene Aufstellung von Regeln des freien Rechts schöpferisch tätig werden, das Urteil nach der Regel fällen, "die er als Gesetzgeber aufstellen würde". Da es sich aber hierbei nie um eine Aufstellung letzter Ziele handeln kann, diese vielmehr dem Richter in den Zwecken der Rechtsordnung autoritativ und unantastbar gegeben sind, so handelt es sich in der Hauptsache um das Auffinden von Mitteln zu diesen Zwecken. Das ist also eine theoretische, auf die kausalen Zusammenhänge gerichtete Aufgabe, sie ist zu lösen mit den Mitteln der verschiedenen Wissenschaften des sozialen Lebens. Dabei hat der Richter, genau wie der wirkliche Gesetzgeber, das Verhältnis der ihm unterbreiteten Tatsachen zu den verschiedenen möglichen rechtlichen Regelungen genau zu erwägen. Auch die schöpferische Findung eines freien Rechts bedarf also der rechtssoziologischen Begründung. Da nun, wie sich nachweisen läßt, diese Findung freien Rechts als subsidiärer [unterstützender - wp] Rechtsform auf allen Gebieten der Rechtswissenschaft die allergrößte Rolle spielt, so reicht insofern auch die Bedeutung und Unentbehrlichkeit der soziologischen Untersuchung für die Beantwortung der Rechtsfrage. Von dieser Bedeutung war im bisherigen allein die Rede. Denn daß die Soziologie eine ganz entscheidende Bedeutung für die Tatfrage besitzt, kann natürlich überhaupt nicht im Ernst bestritten werden. Die Tatbestände, die der rechtlichen Beurteilung unterliegen, sind ja, soweit sie nicht individualpsychologischer Natur sind, wie vorwiegend im Strafrecht, solche des sozialen Lebens; ihr sachliches Verständnis ist die Voraussetzung einer zutreffenden juristischen Behandlung. Zu einem solchem sachlichen Verständnis genügt in sehr vielen Fällen wiederum ein gesunder Menschenverstand und die alltägliche Lebenserfahrung, und zu deren Erwerb ist die Richtertätigkeit wahrlich nicht hinderlich; der Vorwurf einer besonderen Weltfremdheit, die unseren Richtern so oft zur Last gelegt wird, beruth meines Erachtens in diesem Punkt nur auf einer Verallgemeinerung unvermeidlicher individueller Vollkommenheiten. Wohl aber fehlt es ihnen und unseren Juristen überhaupt häufig an genügender sozial wissenschaftlicher Ausbildung, an der Fähigkeit zumal im nationalökonomischen Denken, ohne welches die zutreffende Erfassung schwieriger Tatbestände z. b. des Handels- und Arbeitsrechts ganz unmöglich ist. Das nationalökonomische Denken allein tut es freilich nicht, seine Bedeutung ist nur die Grundlage des rechts soziologischen Denkens zu sein, das auf die für die rechtliche Beurteilung wesentlichen Elemente des Tatbestandes achtet, die mit den ökonomisch wesentlichen nicht notwendig zusammenfallen. Auch da, wo der Richter dauernd auf den kaufmännischen oder technischen Sachverständigen angewiesen sein wird, muß das Ziel sein, den Richter - nicht durch den Sachverständigen zu ersetzen, sondern - durch Übung im selbständigen rechtssoziologischen Denken aus kritikloser Abhängigkeit vom Sachverständigen zu befreien. Es kommt bedeutsam hinzu, daß in zahllosen Fällen die etwaigen Schwierigkeiten nicht auf dem Gebiet der Rechtsfrage, sondern der Tatfrage liegen; daher kann die noch so virtuose Beherrschung der juristischen Technik und des Gesetzesstoffes niemanden davor schützen, sich in all diesen Fällen als schlechten Richter zu erweisen. Die Kritik unserer lediglich auf Begriffstechnik und Gesetzeskunde eingestellten Rechtspädagogik, insbesondere unserer Studien- und Examensverhältnisse, ergibt sich daraus von selbst, ebenso die Forderungen, die die neue Auffassung auf diesem Gebiet zu stellen hat und die sie allein verwirklichen kann. Denn wenn auch die alte Begriffsjurisprudenz die Wichtigkeit der soziologischen Erforschung der Tatbestände zu leugnen gar keinen Anlaß hat, so ist doch das Interesse für diese Unternehmungen bei (hierfür besonders in Frage kommenden) Rechts lehrern nur auf dem Boden einer Anschauung zu erwarten, die die Wichtigkeit der Soziologie für die Rechts frage erkannt und festgestellt hat. Erst von einem Durchdringen freirechtlicher Auffassungen dürfen wir daher ein Verschwinden jener auf Sachunkenntnis der wirtschaftlichen Verhältnisse beruhenden Urteile erhoffen, die zwar unter der Masse der sachlich richtigen Urteile ganz verschwinden, aber dennoch infolge des sich in ihnen ausdrückenden Geistes genügt haben, um heute unsere Judikatur gerade in den an ihrer Blüte am meisten interessierten Kreisen beklagenswerterweise in Verruf zu bringen. Heute stehen wir vor der Tatsache, daß in diesen Kreisen, nämlich denen des Handels und der Industrie, vielfach ein Horror vor dem Anrufen der ordentlichen Gerichte besteht, daß man entweder das Schiedsgericht anruft, oder sich Unrecht gefallen läßt - tausende von Kaufleuten prozessieren überhaupt nie, es sei denn, daß es sich um sehr große Summen und eine ganz klare Rechtslage handelt, in denen die Anwendung von "Rechtswissenschaft" entbehrlich ist. Nachdem ein hervorragendes Mitglied des Reichsgerichts neuerdings bekannt hat (11), daß die Mehrzahl der Entscheidungen dieses Gerichtshofes von der überstimmten Minderheit der erkennenden Richter auch nach einem Studium der Begründung als unrichtig angesehen wird, die Entscheidungen also durchaus vom Zufall der Verteilung der Räte auf die einzelnen Senate beruhen, ist eine solche Skepsis nur allzu begreiflich. In der Tat hat die methodologische Kritik unserer Bewegung gezeigt, daß sämtliche heute angewandten Methoden nur Zufallsergebnisse liefern können, da sie die unbegrenzte Zahl der tatsächlichen Kombinationen mit den begrenzten Mitteln der Gesetzestexte entscheiden wollen, was nur durch Scheinmittel, also auf logisch verwerfliche Weise möglich ist. In diesem Zusammenhang gehört nun auch das heute so viel gehörte Schlagwort der Interessenwägung. Nicht wenige Schriftsteller glauben im Zeichen dieses Wortes die soziologische Forderung erfüllen zu können, und halten es gern den bösen Freirechtlern als das nicht umstürzlerische und doch wirksame Mittel entgegen, um die Mißstände der heutigen Jurisprudenz zu überwinden (12). Davon kann schon deshalb keine Rede sein, weil das freirechtliche System auf eine Umgestaltung der ganzen juristischen Tätigkeit geht und die Interessenwägung schon als ein Moment, aber nur als ein Moment in sich enthält; dann aber auch deshalb, weil die Interessenwägung zur Beantwortung nicht der Rechtsfrage, sondern lediglich der Tatfrage gehört. Freilich, soweit mit dem Schlagwort gemeint sein sollte, es gelte die vom Gesetzgeber geschützten Interessen zu erforschen, gehört die "Interessenjurisprudenz" in das Gebiet der Rechtsfrage; dann aber ist sie identisch mit der Zweckforschung - denn das Gesetz bezweckt stets Interessenschutz - und braucht uns nach dem Gesagten nicht weiter zu beschäftigen. Gleichzeitig aber pflegen die Vertreter der "Interessenjurisprudenz" (HECK, M. RÜMELIN, MÜLLER-ERZBACH, STAMPE u. a.) damit auch etwas ganz anderes zu meinen: nämlich eine Methode zur "Abwägung" und Schlichtung von Interessenkonflikten (sowohl abstrakter Art - Rechtsfragen, wie auch konkreter Art - Rechtsfälle) (13). Indem wir uns diesem Sprachgebrauch anschließen, erkennen wir also, daß die Interessenabwägung Interessenkonflikte zum Gegenstand hat, die Zweckforschung dagegen die ihrem Zweck ("Interessengehalt") nach erforschten Rechtsnormen selber, die erstere also zur Tatfrage, die letztere zur Rechtsfrage gehört. Beide sind also, was bisher nicht geschieht, streng zu trennen: die Zweckforschung ist Voraussetzung der Interessenabwägung, diese ist Anwendung jener. Denn die richtige Behandlung der "Interessenlage" setzt die Kenntnis des Gesetzeszwecks voraus, da ohne Rücksich auf ihn wohl entschieden werden kann, welche Interessen tatsächlich vorhanden sind, nicht aber, welche von Rechts wegen bevorzugt werden sollen. Die Methode der Interessenwägung ist nun eine verschiedene, je nachdem die beteiligten Interessen untereinander oder an einer außerhalb gelegenen dritten Größe abgewogen werden. Beide Operationen sind grundsätzlich möglich. Denn wir dürfen uns nicht durch den billigen Einwand abschrecken lassen, daß diese Abwägung, da es an Waage und Gewichten fehlt, auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt, zumal wenn sich öffentliche und private Interessen gegenüberstünden. Denn wenn wir nicht fortwährend das Imponderable [Unwägbare - wp] als ponderabel behandeln würden, so gäbe es weder eine politische noch kaufmännische, weder ethische noch künstlerische Abwägung und Berechnung, die doch unstreitig eine Tatsache ist. Diese Tatsache hat die Wissenschaft zu erklären, nicht hinwegzudisputieren. Die Abwägung der Interessen untereinander - wir wollen diese Form Interessenvergleich nennen - ist natürlich ein notwendiger Bestandteil in der Klärung des Tatbestandes. Wo das Gesetz es ermöglicht, eine Entscheidung zu finden, die beiden Interessen, so weit sie berechtigt sind, Genüge tut, da wird ein geschultes soziologisches Verständnis mit Sicherheit eine befriedigende Lösung finden. Beispiele bieten die Schriften der genannten Juristen in Fülle (14). Als Gegenbeispiele dienen viele unter den Urteilen, die namentlich ERNST FUCHS gesammtelt hat (15), die, ohne irgendwie in zwingenden Gesetzesbestimmungen begründet zu sein, durch irgendwelche Haarspaltereien und Begriffskonstruktionen zu Entscheidungen gelangen, die alle berechtigten Interessen verletzen. Hierher gehören u. a. jene im Zivilprozeß häufigen Formalismen, die zu niemandes Vorteil gereichen, wohl aber unerträgliche Verschleppungen mit sich bringen, z. B. wenn wegen läppischer Formfehler die Klage zunächst einmal "abgeschmettert" wird. Aber in der Regel muß man sich für eines der beiden Interessen entscheiden und da ist es nun zunächst unerfindlich, inwieweit die durch eine Abwägung ermittelte Größe der einzelnen Interessen für ihre rechtliche Beachtlichkeit ausschlaggebend sein soll. Wenn ein auf der Straße überfahrener Arbeiter den schwerreichen Automobilbesitzer auf die ihm angeblich geschuldete Rente verklagt, so wird sein Interesse tausendmal größer sein als das des Gegners, trotzdem ist selbstverständlich die Schuld und Rechtsfrage ohne Rücksicht auf die "Interessenlage" aus Tatbestand und Gesetz zu entscheiden. Allerdings wird sich, wie wir heute wissen, auf lautere, logische Weise, dem Gesetz eine Antwort in zahllosen Fällen nicht entnehmen lassen, und es fragt sich nun, welche Bedeutung die Interessenwägung für die Entscheidung solcher Zweifelsfragen haben kann. Man würde nun den Vertretern des Interessenvergleichs Unrecht tun, wenn man meint, sie wollten einfach mechanisch das quantitativ Größere der beiden konkreten Interessen bevorzugen. Ein solches rein mechanisches Verfahren, das freilich als letzter Rettungsanker nicht zu verachten ist und z. B. für gewisse Probleme des Notstandsrechts (BGB §§ 228 und 904) stets angewandt worden ist, das aber mit Jurisprudenz schlechterdings nichts zu tun hat, ist nicht gemeint. Gemeint ist vielmehr eine Betrachtung der abzuwägenden Interessen in ihrer typischen, sozialen Bedeutung, also eine Art der Interessenwägung, die zugleich eine Interessentenwägung ist. Aber auch die beiden dann gegebenen Möglichkeiten sind, als Rechtsmethoden betrachtet, abzulehnen. Abzulehnen ist zunächst der Vorschlag, ohne weiteres gemäß dem sogenannten "sozialen Empfinden", also zugunsten des Interesses des sozial schwächeren Teils zu entscheiden. Den dieses "soziale Empfinden" ist Sache eines Parteistandpunktes und hat mit objektiver soziologischer Erwägung selbstverständlich nichts weiter gemein als eine gewisse Ähnlichkeit des Namens. "Soziale" Justiz ist Klassenjustiz. Dennoch wird sie oft genug mit "Soziologie" verwechselt. Der klassische Vertreter dieses Standpunktes ist der "bon juge" [gute Richter - wp] MAGNAUD, Präsident des Tribunal de Château-Thierry (16). Dagegen ist die "soziale Rechtswissenschaft", der ANTON MENGER sein Lebenswerk zum guten Teil gewidmet hat, für ihn nur ein Zweig der "legislativ-politischen Jurisprudenz" und nur für den Gesetzgeber, nicht für den Richter bestimmt (17). Ebenso abzulehnen ist die umgekehrte Meinung, in dubio sei zugunsten des sozial mächtigeren Teils zu entscheiden, wie dies im Sinne eines gewissen juristischen Übermenschentums liegt. Im Recht sind wir von dieser Methode bisher ziemlich verschont geblieben. Doch tritt diese Auffassung außer in gelegentlichen Äußerungen KOHLERs z. B. hervor in der geistreichen Schrift eines österreichischen Freirechtlers, des Wiener Anwalts LAZARSFELD über "Das Problem der Jurisprudenz" (18). Ihmzufolge muß die Jurisprudenz oder die Justiz "wissen, welche Gruppe die stärkere, die bedeutsamere ist, welche mehr Zukunft, mehr lebende Energie" in sich hat; in der Übermittlung dieses für die Entscheidung maßgebenden Wissens besteht für diesen - wie man sieht, stark von GUMPLOWICZ beeinflußten - Autor die Aufgabe der Soziologie im Dienste der Jurisprudenz. Demgegenüber brauchen wir nur daran zu erinnern, daß zwar für die Rechtsphilosophie Recht und Macht in einem engeren Verältnis stehen mögen - was freilich bei weitem nicht das plumpe Verhältnis der Identität ist - daß aber die juristische Betrachtung Recht und Macht so scharf zu sondern hat, wie die ethische Betrachtung das Gute und das Nützliche. Die richtige Antwort auf die Frage, was in den uns beschäftigenden Fällen die soziologische Untersuchung für die Jurisprudenz leisten kann, erhalten wir erst, wenn wir die Interessenwägung im zweiten Sinn verstehen, im Sinne einer Abwägung der Interessen also nicht gegeneinander, sondern im Vergleich zu einer dritten, außerhalb des konkreten Rechtsfalles gelegenen Größe. So ein Größe kann nur ein Wert, ein Kulturwert sein, da sonst nicht zu entscheiden wäre, welches Interesse das wertvollere und also das zu bevorzugende ist. Der Kulturwert nun, an dem die ganze Jurisprudenz in allen ihren Teilen (Rechtsdogmatik und Rechtssoziologie, Rechtshistorie und Rechtspolitik) orientiert ist, ist, wie aus dem Vorangegangenen deutlich, die Gesamtheit der von einer bestimmten Rechtsordnung verfolgten Zwecke. An diesem Kulturwert muß sich daher auch die Rechtssoziologie orientieren. Die Interessenwägung als soziologische Methode kann also nichts anderes bedeuten, als die Beurteilung der Interessen daraufhin, inwieweit die Förderung des einen oder des anderen den Zwecken der Rechtsordnung gemäß ist. (Dies wird sich freilich durchaus nicht immer ausmachen lassen; die Interessenwägung ist eben nicht, wie manche zu meinen scheinen, die Methode der Jurisprudenz). Diese Beziehung der konkreten Interessenlage auf den maßgeblichen Kulturwert der Rechtszwecke wird aber nicht am Einzelfall, sondern nur durch eine Betrachtung erkannt, die von den Zufälligkeiten der Sachlage absieht und den Fall in seiner typischen, sozialen Bedeutung erfaßt, was nur auf dem Weg soziologischer Erkenntnis möglich ist. Auf diesem Weg muß man versuchen, die konkreten Interessenkonflikte von Fabrikherren und Erfinder, von Vater und Kind, von Ehemann und Ehefrau, von Gemeinde und Grundbesitzer zu entscheiden. Nun haben wir schon oben die Soziologie als erforderlich erkannt, um die Zwecke der Gesetze selbst herauszupräparieren. Es tritt also von oben wie von unten, von der Rechts- wie von der Tatfrage her, in der richtig verstandenen Interessenwägung, der Interessenbeurteilung, wie wir diese zweite Form nennen können, das soziologische Moment zutage und wir erkennen es auch von diesem Gesichtspunkt aus als aller Jurisprudenz wesentlich. Hier ist nun auch der Punkt erreicht, an dem wir die wissenschaftstheoretische Stellung der Rechtssoziologie bestimmen können. Geschehen kann dies meines Erachtens nur auf dem Boden der RICKERTschen Wissenschaftstheorie (19). Ihre fundamentale Bedeutung tritt nämlich auch auf dem Feld solcher Wissenschaften hervor, denen, wie der Jurisprudenz, RICKERT bisher nur beiläufige wenn auch stets förderliche Beachtung geschenkt hat (20). Wenn wir nun diese Theorie, die für die Jurisprudenz bisher wenig fruchtbar gemacht worden ist (21) (im Gegensatz zur Nationalökonomie, für die sie mit so vielem Erfolg MAX WEBER verwertet hat (22), in aller Kürze und unter starker Schematisierung darstellen sollen, so ist zu sagen, daß RICKERT anstelle der von ihm vielleicht allzu ungünstig beurteilten (23), aber zweifellos methodologisch nur nach wenigen Richtungen hin ergiebigen Einteilung der empirischen Wissenschaft in Natur- und Geisteswissenschaften eine doppelte, materiale und formale Einteilung setzt. Die materiale ist die in Natur- und Kulturwissenschaften, je nachdem sie ihren Gegenstand grundsätzlich ohne eine Beziehung auf Kulturwerte oder grundsätzlich mit Bezug auf Kulturwerte betrachten. Die formale Einteilung ist die in Wissenschaften mit überwiegend generalisierender und die mit überwiegend individualisierender Begriffsbildung. RICKERT selbst bevorzugt freilich, besonders in den älteren Schriften, und hat dadurch das Verständnis seiner Lehren erschwert, die Ausdrücke "naturwissenschaftliche" und "historische" Begriffsbildung; der erste Ausdruck aber ist doppelsinnig: "Natur" ist hiernach bald die wertfrei, bald die generalisierend betrachtete Wirklichkeit; der zweite Ausdruck drückt eine sachliche, nicht logische Kategorie aus und ist auch zu eng: die "historische" Begriffsbildung ist nur ein Sonderfall der individualisierenden (man denke an die rein topographischen aber doch nicht als bloße "Materialsammlung" abzutuenden Teile der Geographie). Das Verhältnis der beiden Einteilungen ist nun nicht das des Sich-Deckens (so ist RICKERT oft mißverstanden worden, eine Folge jener Terminologie), sondern (wenigstens in der Hauptsache) das des Sichkreuzens. Man darf also nicht im System der Wissenschaften zwei "Extreme" trennen, nämlich die "naturwissenschaftlichen Naturwissenschaften" und die "historischen Kulturwissenschaften", und zwei "Mittelgebiete", die "historischen Naturwissenschaften" und die "naturwissenschaftlichen Kulturwissenschaften" (wobei letztere dann schon durch ihren hybriden namen den Verdacht erregen könnten, daß sie logisch nicht ganz sauber sind (24). Vielmehr ergeben sich, wie nach einer Berichtigung der obigen Terminologie unschwer einzusehen ist, einfach vier logisch ganz gleichwertige Klassen von theoretisch-empirischen Wissenschaften. Es sind dies:
2. solche mit individualisierender Begriffsbildung, wie z. B. die Geographie, 3. Kulturwissenschaften mit individualisierender Begriffsbildung, wie z. B. die Rechtsgeschichte, 4. solche mit generalisierender Begriffsbildung, wie z. B. die Wirtschaftstheorie und die Soziologie, also auch die Rechtssoziologie. Ihr Wortführer ist der schon mehrfach erwähnte ERNST FUCHS, Rechtsanwalt in Karlsruhe. Augenblicklich ist er bei den Gegnern die bête noire [Gespenst - wp] der freirechtlichen Bewegung. Früher bekleidete ich unter dem Namen GNAEUS FLAVIUS diesen angenehmen Posten (28). Dankbar für die mir gewährte Entlastung, möchte ich zugunsten seiner vielgeschmähten Schriften sagen, daß sie ihren so großen und heilsamen Einfluß der unerhörten Leidenschaft verdanken, mit der - darin liegt seine Originalität - dieser Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit unserer Justiz und Jurisprudenz zuleibe geht. Und wenn auch die nicht eben akademische und oft übertreibende Art seiner Polemik der guten Sache insofern geschadet hat, als sie ihr manche Juristen, besonders Gelehrte, entfremdet hat, so wird doch dieser Nachteil sehr weit aufgewogen dadurch, daß er zahlreichen Richtern nach ihrem eigenen, zum Teil öffentlichen Zeugnis überhaupt erst die Pforte zu einer methodologischen Selbstbesinnung geöffnet und ihnen zumindest gezeigt hat, wie sie es nicht zu machen haben (29). Weniger glücklich ist FUCHS in seinen positiven Vorschlägen; hier macht sich der Mangel an wissenschaftstheoretischer Einsicht bemerkbar. Das Heilmittel soll nämlich in der Ersetzung der von ihm "philologisch", "konstruktionistisch" oder "pandektologisch" genannten Jurisprudenz durch eine "soziologische", wobei (nach einem verwerflichen Sprachgebrauch) "soziologisch" bei ihm soviel wie "sozialwissenschaftlich", besonders nationalökonomisch bedeutet, während ihm die spezifische Bedeutung der "Rechtssoziologie" ganz fern liegt. Nun geht es zwar keineswegs an, die Ersetzung der juristischen Methode durch die soziologische schon deshalb abzulehnen, weil die erstere generalisierend, die letztere individualisierend verfährt (30). Denn - von anderem abgesehen - die Jurisprudenz verfährt, wie schon oben bemerkt, individualisierend nur als Rechtshistorie, im übrigen generalisierend, auch - was einzig in Frage käme - bei der Rechtsanwendung. Denn auch dann ordnet sie den Fall allgemeinen Normen unter, sonst wäre sie keine Anwendung von Recht, d. h. Anwendung von - allgemeinen Rechtssätzen. Wohl aber verkennt FUCHS völlig den Charakter der angewendeten Sätze als Normen. Nur daraus erklärt sich ein Satz wie:
Welchen Gebrauch FUCHS von ihm macht, soll ein Beispiel lehren: Auf dem vorigen Juristentag in Karlsruhe hat man lebhaft debattiert über die rechtliche Bedeutung des Boykotts, z. B. über die Verpflichtung zum Ersatz des durch Verrufserklärung angerichteten Vermögensschadens (32). Man bemühte sich, die Frage durch die Untersuchung zu entscheiden, ob das Recht auf einen ungestörten Gewerbebetrieb zu den in § 823 Abs. 1 BGB geschützten "besonderen Rechten" gehört oder nicht und inwieweit § 826 BGB eingreift, der gegen die "wider die guten Sitten verstoßenden" Handlungen gerichtet ist. Diese Debatte tadelt FUCHS als pandektologisch", als "haarspalterisch" usw. (33) Das Richtige wäre nach ihm, die Debatte "würden von Soziologen [N. B.!] offen nach nationalökonomischen [N. B.!] Gesichtspunkten geführt, d. h. [?] nach Interessenwägung und nicht nach der Formulierung von Paragraphen". Ich fürchte nun, unsere Nationalökonomien und Sozialwissenschaftler überhaupt werden sich dafür bedanken, als Zeugen für die rechtliche Erlaubtheit oder Unerlaubtheit des Boykotts angerufen zu werden. Sie können, als Vertreter theoretischer Wissenschaften, ausschließlich lehren, was der Boykott ist, welche Wirkungen er tatsächlich entfaltet und welche er entfalten würde, wenn ihn der Staat sich ungehemmt entfalten ließe, sie können schließlich die beteiligten Interessen darlegen und das Material für ihre Abwägung beschaffen. Die am Rechtswert orientierte Rechtssoziologie kann dann noch einige Schritte weiter gehen: kann die für die rechtliche Regelung wesentlichen Seiten des Boykottphänomens herausarbeiten, kann zeigen, welche tatsächlichen Wirkungen die auf den Boykott tatsächlich angewandten Normen des Zivil- und Strafrechts haben, wohl auch, welche Wirkungen die vorgeschlagenen Auslegungen der Gesetze voraussichtlich haben würden. Aber nur der Dogmatiker kann den letzten Schritt tun, kann - gestützt auf diese Lehren - untersuchen, wie die Gesetze ausgelegt und ihre Lücken ausgefüllt werden sollen, damit die Regelung des Boykotts im Einzelfall den Zwecken des Gesetzes gemäß ist. Und dies kann wieder, falls überhaupt, nicht ohne "Konstruktion" des Einzelfalles als Fall einer allgemeinen Norm, und ohne Studium der "Formulierung" dieser Norm erkannt werden. Umgekehrt läßt sich die Abhängigkeit der Rechtssoziologie von der dogmatischen Rechtswissenschaft an einem sehr einfachen Beispiel illustrieren. Unter allen rechtssoziologischen Untersuchungen werden heute als die nützlichsten die kriminalsoziologischen anerkannt, unter diesen wieder die kriminalstatistischen. Aber dieser ganze Nutzen würde mit einem Schlag entfallen, sobald es etwa dem Kriminalstatistiker einfiele, die Straftaten, statt nach strafrechtlichen (aus der Dogmatik in das Gesetz gelangten) Begriffen, nach moralisierenden oder wirtschaftlichen zu gruppieren. Die Rechtssoziologie kann sich also von der Rechtsdogmatik ganz und gar nicht emanzipieren, muß also auch, wie schon eingangs angedeutet, stets die Aufgabe eines Juristen vom Fach bleiben. Das System der Rechtsdogmatik braucht sie freilich nicht übernehmen und kann alsdann Bedürfnisse befriedigen, die auf dem Gebiet jener unbefriedigt bleiben müssen. Es kommt dem dogmatischen Juristen nämlich infolge der technisch notwendigen Zerreißung des Rechtsstoffes in einzelne Rechtsdisziplinen das Ineinandergreifen der verschiedenen Gebieten angehörigen Normen nicht genügend zum Bewußtsein. So wird er, wenn er an den Begriff des Grundeigentums denkt, zwar sofort an die geringfügigen Einschränkungen erinnert, die das bürgerliche Recht der Herrschaft des Eigentümers entgegensetzt, nicht aber an die ganz gewaltigen Beschränkungen, die diese Herrschaft durch das öffentliche Recht, insbesondere die Baupolizei, erfährt. Hier würde vermutlich die rechtssoziologische Methode, getreu dem synthetischen Geist der Soziologie überhaupt, die Lebensverhältnisse in ihrer ungebrochenen Einheit darzustellen haben, und so ließe sich dann in der Tat abwägen, ob nicht für den rein praktischen Rechtsunterricht an den sogenannten Fachhochschulen eine solche Methode den Vorzug verdient (34). Natürlich würde es sich dabei nicht um eine Ausschaltung der dogmatischen Begriffe, sondern um eine eigenartige Kombination derselben handeln. Mit vollem Recht hat daher in seiner anregenden Schrift über "Die soziologische Methode in der Privatrechtswissenschaft" Rechtsanwalt SINZHEIMER in Frankfurt a. M. ausgeführt, daß die soziologische Methode die Dogmatik so wenig ersetzen kann, daß vielmehr deren "Ergebnisse" - besser: Begriffe - bei der Anwendung schon voraussetzt (35). Und wenn hierbei auch die im Volk lebenden Werturteile eine große Rolle spielen und, wie bereits bemerkt, selbst Tatsachen des sozialen Lebens sind, so ist doch die Forderung, daß nun diese Werturteile zur berücksichtigen sind, nicht selbst ein Satz der theoretischen Wissenschaft wie der Soziologie, sondern aus der Wissenschaft eines positiven Rechts und der Rechtsphilosophie zu begründen, im einzelnen auszugestalten und einzuschränken. Diese Bemerkungen gelten auch gegen gewisse Bestrebungen EUGEN EHRLICHs, des um die Sache der Rechtswissenschaftsreform so hochverdienten österreichischen Romanisten. EHRLICH erwartet nämlich, daß die Jurisprudenz, wenn sie nur die einseitige Befassung mit den "Entscheidungsnormen" aufgäbe und die "Organisationsformen" des gesellschaftlichen Lebens studierte und berücksichtigte, sich eben dadurch nach dem Vorbild anderer Wissenschaften "aus einer praktischen Disziplin zu einem Zweig der Soziologie" "entwickeln" würde (36). Man wird jedoch anhand des eben Ausgeführten leicht erkennen, daß in seinem Begriff der "Organisationsformen" Tatsachen und Normen, hauptsächlich solche des Gewohnheitsrechts, durcheinanderfließen. Insofern er das Studium des Gewohnheitsrechts dem heutigen Juristen ans Herz legt, hat er freilich gegenüber seiner gegenwärtigen Vernachlässigung durchaus Recht; nur darf man nicht vergessen, daß das Gewohnheitsrecht, obwohl seine Geltung vielleicht nur eine tatsächliche ist, genauso wie das Gesetzesrecht als Komplex von Normen aufzufassen ist (und zwar zum Teil von Normen, die als solche noch in niemandes Bewußtsein getreten sind, erst auf dem Weg der "Rechtsfindung" herausgeschält werden müssen: "freies Gewohnheitsrecht", ein Zweig des "freien Rechts"). Es kann also gar nicht Gegenstand der auch nach EHRLICHs Ansicht nur mit tatsächlichen Zusammenhängen befaßten Soziologie sein. Gerade der Anhänger der Freirechtstheorie, die das praktische ("wertende") Element aller Dogmatik so scharf herausgearbeitet hat, sollte vor Rückfällen in die Auffassung der Jurisprudenz als einer rein theoretischen ("wertbeziehenden") Disziplin geschützt sein. Übrigens sind das Unterscheidungen, die deutschen Juristen geläufig sein könnten, seit JELLINEK - freilich (ebenso wie PACHMANN) die wechselseitige Bedingtheit beider Gebiete nur ungenügend erkennend und deshalb unter äußerlicher Isolierung beider - den "Methodendualismus" eingebürgert und seine "Allgemeine Staatslehre" auf dem Unterschied des Rechts als Norm und des Rechts als sozialer Tatsache aufgebaut hat (37). Ja, es liegt in diesen Strömungen, so modern sie manchem scheinen, ein Rückschritt vor gegen die schon von KANT gewonnene Grunderkenntnis, daß "es höchst verwerflich ist, die Gesetze über as, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen oder dadurch einzuschränken, was getan wird." (38) Der richtige Weg ist also auch hier der kritische: der sich gleich weit entfernt hält von der alten Buchjurisprudenz, die den Tatsachen des Lebens überhaupt keine Beachtung schenkt, alle Jurisprudenz als totes Rechnen mit starren Begriffen auffaßt, und von modernen Übertreibungen, die den Charakter der Jurisprudenz als einer Normwissenschaft verkennen. Dogmatik ohne Soziologie ist leer, Soziologie ohne Dogmatik ist blind. Eines aber müssen wir doch noch der historischen Schule, deren Vertreter so vornehm auf solche "naturalistischen" Übertreibungen herabsehen, ins Stammbuch schreiben: diese Anwandlungen sind Geist von ihrem Geiste. Sie lehrt ja, daß eine richtige Anwendung unserer Gesetze ausgeschlossen ist ohne eine Kenntnis der Dogmengeschichte bis ins Altertum hinauf, und hat auf dem Körnchen Wahrheit, das in diesem, bezeichnenderweise nie einem Beweisversuch unterzogenen Vorurteilt steckt, die ganze juristische Vorbildung aufgebaut, z. B. - was auch in pädagogischer Hinsicht ganz verwerflich ist - die historischen Fächer an den Anfang gestellt (39). Sie hat mit all dem ein schweres Unheil in der Rechtsliteratur und Rechtspraxis angerichtet, auch gerade echt juristische Köpfe dem Studium entfremdet und die übrigen nicht das zu leisten gelehrt, was sie bei einer zweckmäßigen Ausbildung leisten könnten. Sie verkennt eben, intellektualistisch befangen und deshalb blind gegen das Stück Handlung, das aller juristischen Tätigkeit wesentlich ist, daß Sätze eines nicht mehr geltenden Rechts für unser Handeln nicht mehr als Normen, sondern nur noch als Tatsachen in Betracht kommen; und es ist selbstverständlich methodologisch betrachtet eins, ob es Tatsachen der Gegenwart oder solche der Vergangenheit sein, aus der man das Seinsollende zu erschließen unternimmt. Historismus und Naturalismus erweisen sich auch hier als gleiche Brüder trotz verschiedener Kappen. Wer einmal die freirechtliche Methodologie begriffen, wer erkannt hat, daß das juristische Denken "keine kausale, sondern eine teleologische, nicht eine empirisch-soziologische, sondern eben eine juristisch-normative Operation darstellt, nicht nach dem Warum, sondern nach dem Wozu fragt" (40), der ist für immer gegen hypermoderne Extravaganzen wie auch gegen historisierende Allotria gefeit. Und damit kommen wir noch kurz auf einen letzten Punkt zu sprechen: auf die Bedeutung der Soziologie nicht für Rechtsdogmatik und Rechtsanwendung, sondern für die rechtsgeschichtliche Forschung. Dieser Punkt ist besonders schwierig, weil die methodologische Struktur dieser Forschung ebenso verwickelt wie ungeklärt ist und die außerordentlichen Schwierigkeiten hier erst unterhalb des von WINDELBAND, SIMMEL und RICKERT bekanntlich nur für die Geschichtsforschung im allgemeinen gelösten Problems beginnen. Nur ein Spezialproblem, die Frage der Anwendbarkeit der Dogmatik auf nicht mehr geltendes Recht, ist mehrfach besprochen worden (41). Auf der anderen Seite werden von hervorragenden Rechtshistorikern alle derartigen Untersuchungen als "unfruchtbar" und "überflüssig" bezeichnet. Diese Stimmen bedenken aber nicht, daß diese ihre Behauptung auf der Voraussetzung ruht, daß schon die jetzige, ohne strenges methodologisches Bewußtsein betriebene rechtsgeschichtliche Forschung die bestmöglichen Ergebnisse liefert, daß aber diese Voraussetzung doch selbst nur auf methodologischem Weg erwiesen werden kann. Ohne uns daher durch diese captatio malevolentiae [Ruf nach Böswilligkeit - wp] abschrecken zu lassen, gehen wir von dem hier nicht zu beweisenden Grundsatz aus: Der Methodendualismus durchzieht auch die rechtsgeschichtliche Forschung. Die uns beschäftigende Frage, was die Soziologie für sie bedeutet, muß daher getrennt werden für die Normengeschichte des Rechts (wozu auch die Dogmengeschichte insoweit gehört, als sie nicht in die Geschichte der Rechts-Wissenschaft gehört) und für die Sozialgeschichte des Rechts. Die Normengeschichte des Rechts wird richtig betrieben, wenn sie drei Fehler vermeidet. Der erste Fehler besteht darin, daß, unter Verkennung des unschätzbar hohen Eigenwerts der Geschichte, diese lediglich als das Mittel zur Auslegung des geltenden Rechts mißbraucht wird. Wie häufig dieser Fehler ist und welche Folgen er zeitigt, haben wir soeben angedeutet; ein näheres Eingehen verbietet sich, weil es sich hierbei ja nicht um einen Verstoß gegen die soziologische Forderung handelt. Wohl aber ist dies bei den beiden anderen Fehlern der Fall. Der zweite Fehler wird nämlich dann begangen, wenn die Rechtsgeschichte isolierend behandelt wird, wenn die Ursachen der Veränderungen immer nur in den vorangegangenen rechtlichen Erscheinungen gesucht werden. Denn da, wie die historische Schule gelehrt hat, das Recht nur als Teil der Kultur, der es jeweilig angehört, zu begreifen ist, so ist diese Isolierung willkürlich und unwissenschaftlich. Leider ist dieses Programm der historischen Schule Programm geblieben; von den meisten, auch sehr berühmten, Rechtshistorikern gilt noch immer, was ihnen schon JHERING vorgeworfen hat: sie gleichen "dem Mann, der ein Kind über die Uhr zu belehren gedenkt, indem er es darauf aufmerksam macht, daß der Zeiger aus der Stelle rückt" (42). Fast niemals empfängt der Leser den Eindruck: so und nicht anders mußte es kommen, und sein Kausalbedürfnis wird so wenig befriedigt wie beim Lesen einer mittelalterlichen Chronik. Der Zusammenhang mit der geistigen Kultur wird gelegentlich allerdings gestreift. Dagegen geht der Rechtshistoriker, im Gegensatz zum Wirtschaftshistoriker, der so eifrig die Einwirkung der Rechtsordnung auf das Wirtschaftsleben erforscht, nur allzuwenig den umgekehrten Beziehungen nach. Und doch hat die Rechtsgeschichte allen Anlaß, den verhältnismäßig geringen, aber gerade für sie bedeutsamen Wahrheitskern der materialistischen Geschichtsauffassung sich nutzbar zu machen, am Faden dieses heuristischen Prinzips zu untersuchen, inwieweit dem "ökonomischen Unterbau" (wozu für den richtig verstandenen Marxismus außer den "Produktionsverhältnissen" auch die tatsächlichen Rechtsverhältnisse, insbesondere die Eigentumsverteilung gehört) der "ideologische Überbau" an Rechtsnormen in "funktioneller" Abhängigkeit entspricht. Erst wenn die Rechtsgeschichte durch soziologische Untersuchungen die dürren Fakten, in deren minutiöser Feststellung sie heute schwelgt, belebt haben wird, wird sie den heutigen Ansprüchen an eine Wissenschaft genügen können. Bis dahin können ihre Erzeugnisse, obwohl sie durch formale Exaktheit und durch die Schärfe der Quellenkritik vorbildlich sind, zumeist nicht als Geschichtswerke im modernen Sinne, sondern nur als Vorarbeiten zu solchen gelten. Der dritte Verstoß gegen die rechtsgeschichtliche Methode würde in der dogmatischen, hier genauer: systematisch-konstruktiven Behandlung der nicht mehr geltenden Normen liegen, in dem Bestreben, auch dem vergangenen Recht auf jede Frage eine systematisch begründete Antwort zu entlocken, gerade als wäre es ein lücken- und widerspruchsloses System. Denn die Auffassung eines Rechts als ein solches System hat nur den Zweck, das Recht für den Richter zu einer sicheren und sofortigen Anwendung zuzubereiten. Dieser Zweck entfällt eine vergangenen Recht gegenüber, nicht nur deshalb, weil es eben nicht mehr praktisch anzuwenden ist, sondern weil es eine bloße Tatsache geworden ist; "es gibt kein Sein-Sollendes nach rückwärts" (JELLINEK). Alsdann sind die Normen eben auch als bloße Tatsachen wie andere in den sozialen Zusammenhang einzustellen, nicht als ein sich selbst genügendes Ganzes aufzufassen. Auch hier hat also die soziologische Fundierung einzusetzen. Insbesondere dürfen keine Folgerungen aus Rechtssätzen gezogen werden, die tatsächlich von den damals Lebenden nicht gezogen wurden und nicht gezogen werden konnten, und dürfen die Widersprüche nicht mit Hilfe der juristischen Technik hinwegdisputiert werden, sondern müssen aus den historischen Bedingungen, zumal aus den in ihnen sich oftmals ausdrückenden Interessengegensätzen, erklärt werden. Nur für die etwa die Geschichtsforschung interessierenden Einzelfälle praktischer Anwendung muß die Norm dogmatisch bearbeitet werden, freilich mit größter Zurückhaltung und ohne Anwendung juristischer Technik. An der Geschichte FRIEDRICHs des Großen z. B. interessiert nicht nur, wie er den MÜLLER-ARNOLDschen Prozeß entschieden hat, sondern auch, ob er nach dem Recht der Zeit ihn so hätte entscheiden dürfen; wie ja auch die Kriegsgeschichte die Handlungen der Feldherrn nicht nur erzählt, sondern auch vom Boden der Strategie der fraglichen Zeit beurteilt. Es sind das eben die in der Rechtsgeschichte nur ausnahmsweise auftretenden Fälle, in denen sie Anlaß hat, statt wertbeziehend, wertend zu verfahren. Außerdem hat die Dogmatik in der Rechtsgeschichte noch eine gewisse "provisorische" Bedeutung als "heuristisches oder Darstellungs-Mittel" (MAX WEBER), die aber nicht überschätzt werden darf und im Einzelfall leicht zu einer Überschreitung der der Geschichte als reiner Tatsachenwissenschaft gezogenen Grenzen führt. Es muß anerkannt werden, daß dieser dritte Fehler, der früher besonders die Romanistik entstellte, zu verschwinden beginnt, seitdem das römische Recht keine praktische Geltung mehr besitzt, wenigstens bei den Rechtshistorikern vom Fach; dagegen findet er sich recht häufig noch bei den Ausflügen der Dogmatiker in das Gebiet des römischen Rechts. Herrschend ist diese Behandlung der Rechtsgeschichte nur noch in der Germanistik, die sich ja seit jeher gegen die Rechtsphilosophie und besonders die Methodologie spröde verhalten hat und nun die Folgen tragen muß. Noch viel bedeutsamer ist natürlich die Soziologie für das Studium der Sozialgeschichte des Rechts. Darunter ist zu verstehen das Studium der Entwicklung des sozialen Lebens im Hinblick auf sein Verhältnis zu den Rechtsnormen, die es beherrschen. Dieses Studium ist schon nach Definition gar nichts anderes als ein durch methodische Gesichtspunkte konstituierter Ausschnitt aus der historischen Soziologie oder Kulturgeschichte (obwohl sie aus leicht ersichtlichen Gründen durch eine Personalunion mit der Jurisprudenz verbunden bleiben muß). Daraus folgt dann z. B. ohne weiteres, daß auch das Unrecht in der Sozialgeschichte des Rechts betrachtet werden muß. Eine Geschichte des Strafrechts im 19. Jahrhundert ohne Berücksichtigung der Wandlungen des Verbrechertums infolge der technischen und sozialen Umwälzungen, oder des preußischen Verwaltungsrechts ohne Schilderung der Beamtenkorruption unter FRIEDRICH I., wäre einseitig. Wer dies bestreitet, versuche die Geschichte des Unrechts in einer anderen Disziplin unterzubringen; er wird dann bald an die Kulturgeschichte im Sinne von Sittengeschichte denken und so Recht und Sitte verwechseln, oder an Kulturgeschichte im Sinne einer Gesamtgeschichte der einzelnen Zweige der Kultur und dann, nur unter einem Sammelnamen, doch auch Rechtsgeschichte treiben. Die Erkenntnis der sozialen Tatsachen der Rechtsgeschichte, sowohl der rechtmäßigen wie der rechtswidrigen, ist auf dem Gebiet des materiellen Rechts in erster Linie den Urkunden zu entnehmen, die damit als Erkenntnisquellen der Sozialgeschichte des Rechts bestimmt sind. Für das Gebiet des Prozeßrechts bildet die zu erforschende Sozialtatsache der tatsächliche Zustand des Prozeßwesens, der zu allen Zeiten vom gesetzlich vorgeschriebenen gewaltig abweicht; die Erkenntnisquellen sind hier (nicht etwa die Urteile, sondern) die Prozeßakten. In der tatsächlichen Schätzung steht, wie von der herrschenden Anschauung nicht anders zu erwarten, das Studium der Sozialgeschichte des Rechts weit unter dem der Normengeschichte; demgemäß sind dann auch die bisherigen Ergebnisse hier bei weitem dürftiger. Immerhin hat zumindest die Sozialgeschichte des Strafrechts eine zusammenfassende und gerade dadurch für die Erkenntnis der "Aufgaben der Strafrechtspflege" fruchtbar gewordene Leistung aufzuweisen (43), und besonders eifrig werden diese Studien, auf Vertragsurkunden und Urteile gestützt, seit längerer Zeit im germanistischen Zweig betrieben; jedoch auch in die Romanistik sind sie, durch das Medium der Papyrologie, neuerdings eingedrungen. Freilich werden sie nicht genügend in ihrer selbständigen Bedeutung gewürdigt, sondern mehr als Hilfsmittel gewertet, in der Hoffnung, die Normengeschichte des Rechts, die man früher allein betrieb und aus Literatur und Gesetzgebung erschloß, zu ergänzen, zu kontrollieren und zu berichtigen. Dann sind freilich Enttäuschungen unvermeidlich. Die Sozialgeschichte des Prozeßrechts liegt noch sehr darnieder, es ist bezeichnend, daß, als vor drei Jahren eine Sammlung mittelalterlicher Prozeßakten editiert wurde, dies das erste Unternehmen der Art war und hierbei als Hilfsmittel die Diplomatik des Prozesses überhaupt erst in Angriff genommen werden mußte. Dieser Zweig der Forschung wird bei dem überreichen Material noch schöne Früchte zeitigen; dagegen ist der Sozialforscher der Zukunft übel dran, da aus fiskalischen Gründen in den meisten Bundesstaaten, zumal in Preußen, von Zeit zu Zeit fast die ganzen abgelegten Prozeßakten eingestampft werden. Hiergegen, als gegen eine viel zu weitgehende Zerstörung kostbaren Quellenmaterials, möchte ich auch an dieser Stelle protestieren (44). Ich bin damit am Ende meiner Ausführungen angelangt, möchte aber nicht schließen, ohne zu erklären, daß die Rechtssoziologie nicht nur durch ihre Unentbehrlichkeit für die Jurisprudenz, sondern auch, wie jede Wissenschaft, ansich Wert besitzt. Wenn in meinen Ausführungen hauptsächlich von ersterem die Rede war, so geschah dies nur deshalb, weil das letztere selbstverständlich ist. ![]() ![]()
1) LUDWIG KNAPP, System der Rechtsphilosophie, 1857, Seite 228 2) Vgl. RICKERT, Vom Begriff der Philosophie, in "Logos", Bd. 1, 1910, Seite 19f. 3) Ebenso VANDER EYCKEN, Méthode positive de l'interpretation juridque (1909), Seite 109f: Recherche personelle du but social. 4) Vgl. JOHANNES LEEB, Zum Geleit, Deutsche Richterzeitung, Bd. 1, 1909, Spalte 3. 5) Vgl. nunmehr: Verhandlungen des 30. deutschen Juristentages (1910) Bd. 2 (1911), Seite 583f und 589f. 6) Vgl. nunmehr die von KOHLER, von LISZT und BEROLZHEIMER veranstaltete Umfrage im Archiv für Rechtsphilosophie, Bd. 4 (1911), Seite 190f. 7) Vgl. nunmehr EHRLICH, Die Erforschung des lebenden Rechts, in "Schmollers Jahrbuch", Bd. 35 (1911), Seite 129. 8) M. WOLFF, Juristische Wochenschrift, Bd. 35 (1906) Seite 697. 9) Vgl. SEGALL, Archiv für bürgerliches Recht, Bd. 32 (1908), Seite 410f. 10) Vgl. z. B. EHRLICH, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft (1903), Seite 25f und 29; RADBRUCH, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 27, (1907), Seite 243; FUCHS, Recht und Wahrheit (1908) Seite 11, Deutsche Juristenzeitung, Bd. 15 (1910), Seite 284; KANTOROWICZ, Monatsschrift für Kriminalpsychologie, Bd. 4 (1907) Seite 77, Bd. 7 (1910), Seite 325; usw.; nunmehr ausführlich: Die Contra-legem-Fabel, Deutsche Richterzeitung, Bd. 3 (1911) Seite 256f. Über alles weitere siehe meine demnächst erscheinende Darstellung der Ziele und Literatur der Bewegung. 11) DÜRINGER, Eine neue Methode der Rechtsprechung und der Kritik, in: Das Recht, Bd. 12 (1908), Seite 263f; Richter und Rechtsprechung (1909), Seite 74; Zur Kritik der Rechtsprechung, in: Deutsche Richterzeitung, Bd. 2 (1910), Seite 85. 12) Neuestens z. B. von THUR, Der allgemeine Teil des bürgerlichen Rechts, Bd. I, (1910), Seite VIIIf. 13) Zur Literatur siehe die in Note 10 angekündigte Schrift. 14) Neuestes Beispiel: HEINRICH LEHMANN, Der Prozeßvergleich (1911). 15) ERNST FUCHS, Recht und Wahrheit in unserer heutigen Justiz, 1908; Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz, 1909; Soziologie und Pandektologie in der neuesten Judikatur des Reichtsgerichts, in "Monatsschrift für Handelsrecht", Bd. 19 (1910) Seite 229f. 16) Vgl. H. LEYRET, Les jugements du Président Magnaud, erste Auflage, Paris 1900. 17) ANTON MENGER, Über die sozialen Aufgaben der Rechtswissenschaft, Wiener Rektoratsrede 1895, zweite Auflage 1905. 18) ROBERT LAZARSFELD, Das Problem der Jurisprudenz, 1908, Seite 27. 19) HEINRICH RICKERT, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, (besonders Seite 589f); Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 1899; Geschichtsphilosophie, in: Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhundertss (Kuno-Fischer-Festschrift) 1905, Seite 321f. 20) Vgl. RICKERT, Zur Lehre von der Definition, 1888, Seite 29f. 21) Vgl. jedoch STAFFEL, in: Jahrbücher für Dogmatik, Bd. 50 (1906), Seite 315f und mehrfach R. WASSERMANN, z. B. Archiv für Rechtsphilosophie, Bd. 3 (1910), Seite 363f. 22) MAX WEBER, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in Schmollers Jahrbuch, Bd. 27 (1903), Seite 1180f; Bd. 29/30 (1905), Seite 1323f und 1381f. 23) Vgl. MAX WEBER, a. a. O., Seite 1192. 24) Vgl. RICKERT, Grenzen, a. a. O., Seite 291f; Kulturwissenschaft a. a. O., Seite 106, 110, 116f, 136f 25) AUGUSTE COMTE, Cours de philosophie positive, 1839-1842, Teil IV. 26) LORENZ von STEIN, Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands, besonders Seite 112f, 117 und 146. 27) vgl. z. B. ALEX, Du droit et du posivisme (1876); St. MARC, Droit et Sociologie, in: Revue critique de législation, Bd. 17 (1888), Seite 51f; ALVAREZ, Une nouvelle conception des études juridiques (1904); R. BRUGEILLES, Le droit et la sociogie (1910); BRUGI, Di un fondamento filosofico della cosidetta interpretazione storica delle leggi, in der Festgabe für CICCAGLIONE, Bd. 2 (1910), Seite 1f. Ferner die italienischen Anhänger der "soziologischen" Strafrechtsschule, FERRI, GAROFALO usw. Russische Arbeiten (MUROMZEW) bei PACHMANN, a. a. O., Seite 37. 28) GNAEUS FLAVIUS, Der Kampf um die Rechtswissenschaft (1906). 29) Vgl. z. B. GMELIN, Quousque? Beiträge zur soziologischen Rechtsfindung (1910). ZACHARIAS, Gedanken eines Praktikers zur Frage des "Juristischen Modernismus" (1910), Seite 10, Anm. 30) So z. B. von ROHLAND, Die soziologische Strafrechtslehre (1911) Seite 128f. 31) FUCHS, Gemeinschädlichkeit, a. a. O., Seite 68 32) Verhandlungen des 29. Deutschen Juristentages, Bd. 5 (1909), Seite 173f. 33) FUCHS, Gemeinschädlichkeit, a. a. O., Seite 172. 34) Dafür WIMPFHEIMER, Der Rechtsunterricht an den Technischen und Fachhochschulen, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 66 (1910), Seite 734f; dagegen C. KOEHNE, in: Technik und Wirtschaft (1910), Seite 627f. 35) 1909, Seite 24 36) Soziologie und Jurisprudenz, in HARDENs "Zukunft", Bd. 14 (1906), besonders Seite 239; Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts, Czernowitzer Rektoratsrede 1907. Ähnlich: KARNER, Die soziale Funktion der Rechtsinstitute, in: Marxstudien, Bd. 1 (1904), vgl. bes. Seite 72; LUDWIG SPIEGEL, Jurisprudenz und Sozialwissenschaft, in "Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart, Bd. 36 (1909), Seite 1f; ROLIN, Prolégoménes á la science du droit. Esquisse d'une sociologie juridique (1911). 37) JELLINEK, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, zweite Auflage 1905. Allgemeine Staatslehre, 1900, zweite Auflage 1905. 38) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Dialektik, I. Buch, I. Abschnitt, bei KEHRBACH Seite 277f. 39) Vgl nunmehr auch GERLAND, Die Reform des juristischen Studiums (1911), Seite 102f und die dort Zitierten. 40) KANTOROWICZ, Der Strafgesetzentwurf und die Wissenschaft, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie, Bd. 7 (1910), Seite 337. 41) SEELIGER, Juristische Konstruktion und Geschichtsforschung, "Historische Vierteljahrsschrift", Bd. 7 (1904), Seite 161f; RADBRUCH, Über die Methode der Rechtsvergleichung, "Monatsschrift für Kriminalpsychologie", Bd. 2, (1905), Seite 424f. Derselbe, Rechtswissenschaft als Rechtsschöpfung, Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 22 (1906), Seite 368; JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, Bd. 1, Seite 51f, Zusatz der 2. Auflage von 1905; MAX WEBER, Rudolf Stammler Überwindung der materialistischen Geschichtsauffassung, Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 24 (1907), Seite 148, Note 16; LASK in der Nr. 19 der genannten Festschrift, Seite 317; vgl. ferner KANTOROWICZ am Nr. 28 genannten Ort, Seite 33, an Nr. 40 gen. Ort, Seite 331f. 42) Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts (1894), Seite 7, vgl. auch seinen Nachruf auf: Friedrich Carl von Savigny, Jahrbücher für die Dogmatik, Bd. 5 (1861), Seite 367. 43) RICHARD SCHMIDT, Aufgaben der Strafrechtspflege (1895), zweite (geschichtliche) Abteilung. 44) Vgl. KANTOROWICZ, Albertus Gandinus und das Strafrecht der Scholastik, Bd. 1: Die Praxis. Ausgewählte Strafprozeßakten des 13. Jahrhunderts nebst diplomatischer Einleitung (1907), Seite 86. |