cr-3Subjektivismus 
 
FRITZ MAUTHNER
Subjektivität
I -23

"Die Subjektivität unserer Welterkenntnis beschränkt sich also nicht auf Empfindungen, Gefühle u.s.w., die Subjektivität gehört zum Wesen unseres Denkens oder unserer Sprache."

Jede Vorstellung ist allein die Wirkung der Außenwelt auf das Ich, also eine äußere Bewegung, die sich in ein Bild verwandelt hat; jede Vorstellung ist real.

Jede Vorstellung ist aber auch die Reaktion der Innenwelt auf äußere Anregung, also einzig und allein eine innere Bewegung, also ideal.

Da werden von einem Subjekt "Vorstellung" entgegengesetzte Dinge ausgesagt, und die Sprache hat nichts dagegen. Aufmerksame Beobachtung wird zwar ergeben, daß es gar nicht ein und dasselbe Subjekt ist; daß daß eine Mal beim Worte Vorstellung unwillkürlich an die bewirkenden Außendinge gedacht wird, das andere Mal bei demselben Worte Vorstellung an die Gehirntätigkeit. Aber die Sprache ist voll von solchen feineren Zweideutigkeiten, und weil die Wirklichkeit ein Perpetuum mobile ist, so kann es eigentlich gar keinen Begriff geben, der nicht widersprechende Nüancen in sich enthielte. Und mit einer solchen Sprache kann man natürlich alles beweisen, wie z.B. beim Begriffe Vorstellung, daß Außenwelt und ihr psychisches Korrelat in der Gehirnbewegung identisch seien.

Was von den Vorstellungen gilt, das gilt auch von ihren untersten Voraussetzungen, den Empfindungen. Subjektiv ist unser Weltbild von seiner untersten Stufe, wo wir die Empfindungen nur metaphorisch eine Sprache nennen können, bis hinauf zu den dünnsten Abstraktionen des Denkens.

Ich muß das Wort subjektiv" gebrauchen, wie es die Sprache mir bietet. Die Sprache der Popularpsychologie. Denn einer ganz strengen philosophischen Sprache gehört das Wort nicht mehr an, oder noch nicht, und der Gemeinsprache gehört es eigentlich nicht an. Höchstens daß der Bildungsphilister und Fremdwörtersnob die Urteile (fast immer Werturteile aus dem Gebiete der Moral und der Ästhetik) subjektiv nennt, die aus einer Leidenschaft, aus einer Parteinahme geflossen, die darum nicht interesselos, nicht objektiv sind. Diesem verbreiteten Gebrauch nahe steht die Bedeutung von "subjektiv", wenn damit der begleitende Gefühlston jeder Erkenntnis, der Willensanteil an unseren Urteilen bezeichnet wird. Außerhalb der Welt der Werturteile. Abstrakter wird der Begriff, wenn er auf allen Bewußtseinsinhalt, auf unser gesamtes Innenleben ausgedehnt wird. Gegensatz: das einzig Objektive, das Ding-an-sich, von dem wir nichts wissen. Was wir etwa wissen, ist subjektiv. Der Mensch ist das Maß aller Dinge. "Der" Mensch, die Menschenart. Streng konsequent wäre "subjektiv" nur, wenn nicht "der" Mensch, wenn du Individuum zum Maß aller Dinge gemacht würde. Der einzige, dessen Eigentum die Welt ist. (Dabei sehe ich von dem scholastischen Gebrauch: subjektiv = wirklich oder objektiv - ganz ab, trotzdem dieser Gebrauch z.B. im grammatischen Subjekt fortlebt.)

Wir sehen uns also wieder einem Falle gegenüber, wo die Sprache der Psychologie uns verhindert, auch nur zum Anfang einer Psychologie der Sprache zu kommen, wo die Sprache der Psychologie aus dem circulus vitiosus nicht hinausgelangen kann, weil sie tautologisch ist. So subjektiv ist unser Weltbild, daß auch der Einteilungsgrund in die Begriffe "subjektiv" und "objektiv" selbst wieder subjektiv ist. Das Weltbild, das unser Denken oder unsere Sprache auf den Mitteilungen unserer Sinne aufbaut, hat nur insofern eine objektive Gültigkeit, als die Mitteilungen dieser Sinne irgendwie der Wirklichkeit ähnlich sind. Nun haben wir erfahren, daß unsere Sinne Zufallssinne sind, uns von irgend einem uranfänglichen Interesse gelenkt - bestimmte Ausschnitte der Weltvibrationen ordnen, klassifizieren, benennen, psychologisch bearbeiten gelehrt haben. Die Zufallssinne, welche durch Erblichkeit bei allen Menschen gleich oder ähnlich sind und sich mit gleichen oder ähnlichen Vibrationen beschäftigen. So könnte man die sinnliche Unterlage unseres Weltbildes ganz grob materialistisch auffassen, jede Mystik und jede Skepsis weit von sich weisen, und eine Erkenntnis der Welt von einer zukünftigen Steigerung und Vermehrung unserer Sinne erwarten. Unser Weltbild wäre aber auch in seiner Unvollständigkeit objektiv, relativ objektiv, wohlgemerkt.

Denn die Zufallssinne bieten ja doch nur das Rohmaterial unseres Weltbildes. Selbst wenn wir davon absehen, daß die einfachste Wahrnehmung eines Tons, einer Farbe nicht zu stande kommen kann ohne Mitarbeit des Gedächtnisses, so ist jedenfalls unmittelbar hinter dem Siebe unserer Sinne das Gedächtnis an der Arbeit, alle Sinneswahrnehmungen aufzuspeichern, zu ordnen, zu benennen und bei jedem Akte des Denkens oder des Sprechens aus dem Speicher zu wählen, was es mag. Dieses Gedächtnis nun aber ist individuell. Was nicht individuell ist, gehört gar nicht zur Psychologie, gehört besten Falls als Artgedächtnis zu den Bedingungen der Psychologie. Wir kommen also abermals zu der Unterscheidung: Wir nennen die Leistungen des Artgedächtnisses objektiv, wir nennen alle Leistungen des individuellen Gedächtnisses subjektiv.

Die Subjektivität unserer Welterkenntnis beschränkt sich also nicht auf Empfindungen, Gefühle u.s.w., die Subjektivität gehört zum Wesen unseres Denkens oder unserer Sprache.

Das Wort Empfindung hat eine lustige Geschichte hinter sich. Vor hundert Jahren bezeichnete es irgend etwas sehr Hohes, wonach der Wert des Menschen gemessen wurde; man mußte ein Mensch von Empfindung sein, ein sentimentaler Mensch, wollte man nicht hinter seiner Zeit zurückbleiben. Heute wird das Wort "sentimental" in ähnlichem Sinne angewandt, um etwas Minderwertiges anzuzeigen.

Der wissenschaftliche Sprachgebrauch in Deutschland unterscheidet erst seit KANT, oder etwa seit TETENS, zwischen Empfindungen und Gefühlen. Unter Empfindungen will man verstehen: die durch einen Reiz hervorgerufenen, nach Qualitäten und Stärkegraden geschiedenen - ja was? welches Substantiv nehmen wir für die Definition? - also: Bewußtseinsinhalte. Ein noch genauerer Sprachgebrauch beschränkt das Wort Empfindungen auf die einfachen und einfachsten "Bewußtseinsinhalte". Unter Gefühl versteht man dann gern den Nebenton von Lust oder Unlust, der - wie sich immer klarer herausstellt - mit jeder Lebensäußerung des Menschen also auch mit jeder Empfindung verbunden ist. Alle diese Begriffe sind noch heute schwankend, wie jeder Übersetzungsversuch in eine der Sprachen lehren kann, die als Kultursprachen ebenfalls eine psychologische Wissenschaft besitzen. Wirklich fast jede Sprache hat ihre eigene Psychologie, was ein wenig mißtrauisch machen könnte gegen die Allgemeingültigkeit psychologischer Gesetze.

Nach diesem jetzt in Deutschland üblichen Sprachgebrauche der Psychologie liegt es nahe, in den Gefühlen (wie eben an der zweiten Stelle der Bedeutungsschwankungen geschehen) die subjektive, in den Empfindungen die objektive Abteilung unseres Bewußtseins zu erblicken. Und doch ist der krasse Materialismus des Altertums, der die Empfindungen in der Seele durch materielle Teilchen der Außenwelt oder durch ihre Bilderchen entstehen ließ, durch den verfeinerten Materialismus so weit überwunden worden, daß keine Erkenntnistheorie mehr das subjektive Element auch der Empfindungen übersehen kann. Hat doch schon vor sechshundert Jahren der tapfere Nominalist OCKHAM die Subjektivität alle Sensationen (worunter er wahrscheinlich Empfindungen und Gefühle verstand) ausgesprochen: "Sensationes sunt, subjektive in anima sensitiva." Ich weiß wohl, daß der Begriff "subjektiv" wiederum für jene Zeit recht ungenau war. Aber in diesem Zusammenhange ist ein Mißverständnis unmöglich Und wenn OCKHAM seiner Erklärung noch die Worte auf "mediate vel immediate", so trifft er unsere Meinung noch besser. Alle Daten unserer Gefühle, insbesondere alle Gefühlstöne aller Empfindungen sind unmittelbar subjektiv aber auch unsere Empfindungen, aus denen wir ein objektive Weltbild aufzubauen glauben, wie sich die wirkliche Wirklichkeitswelt aus noch objektiveren Atomen oder Energien den ganz handgreiflichen und darum eben ganz unfaßbare Dingen-an-sich, aufgebaut haben soll, alle unsere Empfindungen von Farben, Tönen, Gewichten, Gerüchen u.s.w. sind mittelbar subjektiv, weil sie Mitteilungen unserer Zufallssinne sind, Mitteilungen also von Werkzeugen, die sie für die Not der Organismen, im Interesse der Organismen entwickelt haben.

Die Subjektivität unseres Weltbildes entsteht nun notwendig dadurch, daß einerseits die Empfindungen schon des subjektiven Zufallssinnen entstammen, anderseits die anerkannt subjektiven Gefühlstöne der Empfindungen sich an den Wahrnehmungen, Vorstellungen oder Erinnerungen erhalten und so bei allen Assoziationen mitklingen, aus denen sich unser Denken oder Sprechen zusammensetzt. Ich muß nur wieder einmal beklagen, daß mir für diesen Gedanken ein fester Sprachgebrauch der Worte nicht zur Verfügung steht. Denn ich kann nicht leugnen, daß die subjektiven Qualitäten und Stärkegrade der Empfindungen den Menschen im ganzen und großen gemeinsam sind, daß "der" Mensch das Maß aller Dinge ist, weil unsere Zufallssinne sich durch Vererbung mitgeteilt haben, und daß diese Gemeinsamkeit in einem gewissen Sinne wieder Objektivität heißt. Gemeinsam im großen und ganzen sind aber den Menschen auch die subjektiven Gefühlstöne der Empfindungen; und so läßt uns die Sprache immer im Stich, wenn wir nicht durch Bildung einer eigenen Sprache auf jede Verständigung verzichten wollen.

Was wir Gefühle nennen, sind also nur die subjektiven Begleitumstände der Empfindungen. Dieser Racker von Ich, der Zellenstaat des eigenen Leibes, wird durch gewisse Empfindungen oder Wahrnehmungen angenehm berührt, durch andere unangenehm, und zwar bald unmittelbar, bald aus der Erinnerung oder dem Bewußtsein her. Es ist das einzige an der Außenwelt, was er subjektiv empfindet, weil er ja alle Wahrnehmungen als Objekt nach außen projiziert. Eben darin aber, daß er die Gefühle nicht projizieren kann, sie nicht nach außen werfen, nicht äußern kann, daß er sie bei sich behalten muß, darin liegt das Eingeständnis, daß er sie nicht in die Welt der Wirklichkeit einzureihen vermag. Sie sind also zugleich die nächsten Symptome eines Ich, also das Wirklichste jedes Menschen, und zugleich das Nichtigste für die Erkenntnis.

Gefühle stehen wohl zu den Wahrnehmungen in demselben Verhältnis, wie der Wille zu unseren Bewegungen. Es sind Namen von Haltestellen, von Hemmungsstellen, die einen Namen gar noch nicht verdienen, solange wir sie nicht besser kennen.

(Gemeingefühl ist ein hübsches Wort, hinter dem nicht viel anderes steckt als die bessere oder schlechtere Gesundheit des Individuums. Die es erfunden haben, sollten gezwungen werden, einander so zu begrüßen: "Wie ist Ihr Gemeingefühl?")

Die Subjektivität der Gefühle ist so groß, daß die Frage der Kausalität (das Abc der Empfindungen) umsoweniger aufgeworfen wird, je stärker das Gefühl ist. Je stärker ein Schmerz, desto gleichgültiger ist dem Leidenden eigentlich die Ursache. Beim stärksten Schmerz schwindet endlich die Kausalität gänzlich: man verliert den Verstand.

Wenn man von den Notizen unseres Bewußtseins diejenigen ausscheidet, die durch die Sinnesorgane verzeichnet worden sind, so wird der empfindende Mensch mit Schrecken gewahr, daß er für diese Stimmungen oder Zustände zwar das lebhafteste Interesse, aber keine Worte hat. Man nennt diese Notizen des Bewußtseins, diese uns unaufhörlich sprachlos beschäftigenden Stimmungen: die Gefühlstöne unserer Empfindungen oder die Gefühle. Wir haben eigentlich für die ganze Unzahl von Gefühlen nur einen Gattungsbegriff; ihre Beziehung nämlich zu unserem Wollen können wir allein ausdrücken. Wir mögen etwas oder wir mögen es nicht. Auf diese kleine Brutalität läuft schließlich alles hinaus, was unsere Gefühle gegen eine Farbe, einen Ton, eine Frucht, eine Blume, ein Klima, ein Weib, sonst einen Menschen, die Welt, das Leben ausdrücken können. Wenn wir Worte gebrauchen wie Liebe und Haß, Lust und Unlust u.s.w., so fügen wir dem Gefühl, daß wir etwas mögen oder nicht, durchaus keinen Gedanken hinzu. Und da unser Dasein oder richtiger unser Bewußtsein nur aus solchen Gefühlen besteht, da die benannten Empfindungen und Vorstellungen uns nur ihres Gefühlswertes wegen bewußt werden, so müssen wir uns auch von dieser Seite der Überzeugung nähern, daß der Kern unseres Wesens mit der Sprache oder dem Denken nichts zu tun habe, daß unsere gesamte benannte Welt, die Empfindungs- und Vorstellungswelt, nichts weiter sei als eine übersichtliche Registratur der Gefühlswelt.

Von hier aus erklärt sich durch Ähnlichkeit die Wortarmut unseres Geruchsinns. Wenn wir sagen: Apfelgeruch oder Veilchenduft, so heißt das eigentlich: Ich mag die Frucht essen. Es riecht, was mich an was Gutes erinnert, oder: Ich mag diese Luft hier einsaugen. Es riecht was, das mich an was Liebes erinnert. Als unmittelbarer Diener unseres Nahrungsbedürfnisses braucht der Geruchssinn nichts weiter zu sagen. Die mittelbaren Diener, wie Ohr und Auge, müssen wortreicher sein. So müssen die Beamten des Königs in den Provinzen gelehrte Schreibersleute sein; sein unmittelbarer Diener, der ihn vielleicht beherrscht, braucht nicht lesen und schreiben zu können. Der erste Minister braucht nur schweigen zu können und nichts zu tun. Was vor dem bekannten Scherzwort des Fürsten Hohenlohe schon HAMANN gewußt hat (Schriften, herausgegeben von ROTH, I, Seite 201.)

So wie der fast sprachlose Geruchsinn zum Magen des Menschen, so stehen die meist sprachlosen Gefühle zu seinem ganzen Leben. Und mit demselben Recht, mit welchem man Erdbeergeruch, Himbeergeruch, Reseda-, Veilchenduft für Worte, für Begriffe hält, mit demselben Recht könnte man jedes menschliche Begehren und jeden Trieb als einen Begriff bezeichnen. Die kritischere Sprache aber kennt solche Worte nicht, sie hat keine klaren Gefühlsausdrücke, eben weil unsere Gefühle das Leben selbst sind, unsere Natur selbst, und weil die Natur der Sprache unzugänglich bleibt.

Die "objektive", unpersönliche, stimmungsfreie Logik folgt hinter dem Denken drein, wie die Leichenöffnung hinter dem Leben. Der Mensch denkt, wie er will. Natürlich nicht freier, als sein Wille ist. Also nur wie er will, unfrei nach seinen Wünschen, nach seinem Temperament.  Les grandes pensées viennent du coeur.  (Die großen Gedanken kommen vom Herzen. / VAUVENARGUES) Lassen wir die sentimentale Ausdrucksweise fort, so heißt das: Unsere Gedanken, namentlich die für uns wichtigen, die uns die großen erscheinen, stammen aus unserem Willen, aus unseren Stimmungen. Deshalb können einander die Anhänger verschiedener Weltanschauungen nicht überzeugen. Wer seinen Gott behält, tut es aus Bedürfnis; wer die Wahrheit sucht, tut es ebenso aus Bedürfnis. Schläge verdient nur der Heuchler.

Das alles liegt auf der Hand. Nun lehrt aber eine traurige Beobachtung, daß diese Subjektivität aller unserer Gedanken nicht etwa eine störende Beigabe, sondern daß die Subjektivität und Relativität allem unserem Denken wesentlich ist, wie vielleicht unser ganzes Denken nichts weiter ist, als der Umschaltungsapparat zwischen unserem subjektiven Empfinden und unseren subjektiven Handlungen; wobei dann die Sprache freilich nichts wäre als das Geräusch des Umschaltungsapparates.

Von der Geburt bis zum Tode hat jede Empfindung eines jeden unserer Sinnesorgane für uns ein persönliches Verhältnis zu unserem Wohlsein, zu Lust oder Unlust. Vor unserer Geburt hat das subjektive Interesse der Organismen die relativen Dinge-ansich, die Weltvibrationen, geordnet, nicht  nach  unseren Sinnen, sondern  zu  unseren Sinnen. Subjektiv, relativ ist die Möglichkeit unserer sinnlichen Wahrnehmung, das Verhältnis zwischen unseren Zufallsinnen und der Welt, eine Relation. Unser Gedächtnis trifft dann die weitere Auslese und füllt den Speicher der latenten Vorstellungen mit dem, was ihm subjektiv wichtig scheint. So bleibt das Denken subjektiv, von den einfachsten Sinnesreizen angefangen bis zu den kompliziertesten Begriffen, bis hinauf zu Raum, Zeit und Kausalität. Unser Kopf ist der subjektive Kreuzungspunkt der Koordinaten des Raums. Unser Herzschlag ist die Wehr der Zeit, die subjektive Schleuse, bis zu welcher die Zukunft langsam und unaufhaltsam heranfließt, um hinter ihr jählings hinunter zu stürzen. Und auch unsere Vorstellungen von Grund und Folge, von der Kausalität alles Geschehens, sind und bleiben subjektiv. Nicht nur der grobe Verstand denkt so, als ob die Welt um des Menschen willen geschaffen sei, d.h. natürlich für jeden einzelnen um seines Ich willen, sondern auch dem schärferen Verstand wird es schwer, sich von der Relativität aller gegenseitigen Wirkungen zu überzeugen, Die menschliche Sprache, welche vom gemeinsten Egoismus des Ich oder des Stamms erfunden ist, hindert zumeist, die Relativität aller Wirkung zu durchschauen. Sie beachtet die Dinge nach dem Erhaltungstrieb des Ich.

Da kommt z.B. irgend eine Frucht mit dem Magensaft zusammen. Es ist vollkommen relativ, ob man sich da Magensaft oder Frucht aktiv denkt. Beide Stoffe wirken aufeinander und es ist ihnen ganz gleichgültig, was die Chemie aus ihnen machen wird, fast so gleichgültig, wie Liebesleuten ihr künftiges Kind ist. Für den Menschen aber ist der Magensaft ein Teil seines Ich, die Frucht das Fremde, das er sich einverleiben will. Und so heißt dann die Frucht subjektiv, d.h. relativ: nahrhaft, unverdaulich oder giftig. So wird der Cholerabazillus, je nachdem er im Blute eines menschlichen Individuums umkommt oder sich entwickelt, je nachdem also der Mensch gesund bleibt oder krank wird - so wird der Cholerabazillus seinerseits das Blut krank oder gesund nennen, vorausgesetzt, daß der Kommabazillus existiert und reden kann. (Zu nicht geringer Freude finde ich die gleiche Relativität des Begriffs "Giftigkeit" bei MONTAIGNE; er erzählt nach PLINIUS von einer Art indischer Fische, die giftig seien für den Menschen, während der Mensch wieder für sie so giftig sei, daß seine bloße Berührung sie töte.

Schade daß MONTAIGNE LESSINGs Wort "für den Menschen" nicht kannte.

So relativ sind ganz deutlich alle Bewegungen. Auf dem Flußschiffe glaubt der Mensch, die Ufer bewegten sich in entgegengesetzter Richtung an ihm vorüber; viel scheinbarer wird diese Bewegung, wenn man sich auf einem großen Floß mit den Wellen treiben läßt. Hätte die Flintenkugel Intelligenz, sie müßte sich ruhend wähnen und die Welt an sich vorüberfliegend sehen. Hätte der Kreisel Intelligenz, er stände still und würde wissen, daß die Erde mit den Bäumen und mit den Wolken, mit der Sonne und mit dem ganzen Weltall sich mehrere Male in jeder Sekunde um den Kreisel herumdreht. Es wäre das der kreiselgemäße, tropozentrische Standpunkt. Auf diesem steht die menschliche Sprache.

Eigentlich haben, seitdem es Versuche einer Welterklärung gibt, alle Denker die Relativität der menschlichen Welterkenntnis gelehrt, lachend oder traurig, priesterlich oder höhnisch gelehrt. Es ist ein Irrtum, diese Lehre bloß für die Skeptiker in Anspruch zu nehmen.

Alle haben so gedacht: daß das Gegenteil des Relativen, das Absolute, unerkennbar sei (SPENCER: unknowable), im Grunde eine negative Idee (HAMILTON). Nur daß jeder Systematiker von den Lasten des Relativismus gern ein kleines, wertvolles, unveräußerliches Fideikommiß ausschloß, sein persönlich subjektives Absolutes, wie KANT seine aprioristischen Ideen. Nur den alten und neuen Hegelschülern war es vorbehalten, so monströse Sätze zu bilden wie: "Was wahr ist, ist absolut, ist an sich wahr." Ein Unzünftiger, der weise GOETHE, hat für immer darauf geantwortet:
"Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiße ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige."
Die Philosophen tun sich nicht wenig darauf zu gute, daß sie die Wahrheit ohne Nebenmotive suchen, daß ihre Einsicht von keiner Nebenabsicht, von keinem Interesse geleitet werde; und SCHOPENHAUER hat gar dem willenlosen Intellekt nicht nur die Welt der Vorstellung, sondern auch besonders das Reich der Kunst zugewiesen. Nun ist es ja gewiß richtig, daß der Forscher nicht weiter kommt, wenn er bei seinen Bemühungen nebenher nach einer seiner drei großen Absichten der Verdauung, der Artvermehrung und der Eitelkeit schielt. Also es gibt wirklich einen sonst mächtigen Willen, der schweigen muß, wenn wir was wissen wollen. Aber wissen  wollen  wir eben auch. Das Wollen des Wissens ist auch ein Wollen; und der Forscher will nicht überhaupt etwas wissen, wie junge Leute glauben; er will etwas Bestimmtes wissen, er will wissentlich wissen, was er zu wissen glaubt. Jedes Wort erhält unwillkürlich eine Tönung durch sein Wollen.

Dies dürfte selbst für die dunklen Abgründe der ursprünglichen Wahrnehmungen richtig sein, die wir unseren Zufallssinnen verdanken. In unendlicher Abtönung gehen in der Welt die unzähligen möglichen Farben der Palette ineinander über, in unendlicher Abtönung gibt es in einer Oktave unzählige mögliche Töne. Wir aber sehen und benennen nur sieben Grundfarben, wir hören und benennen nur sieben Grundtöne, und wie wir im Naturreich trotz der unendlichen Mannigfaltigkeit der Varietäten auch nach DARWIN Arten benennen gemäß unserer Bequemlichkeit und sonstigem Nutzen, so entsprechen die sieben Wahrnehmungsfarben ohne Zweifel der Bequemlichkeit, also dem Nutzen, also dem Willen, dem Urzeitwillen unserer Sinnesorgane. Wer weiß, was für Farben die Fliege sieht.

Ist so schon bei der unmittelbaren Wahrnehmung (und wie erst bei der Wahl des Gesichtsfeldes und Gesichtswinkels!) unser Wollen färbend und tönend beteiligt, um wie viel mehr beim Denken, d.h. beim inneren Auftauchen der Worte oder Erinnerungsbilder. Sonst wäre auch das Denken keine Anstrengung. Willenloses Denken ist Traum. Die Psychologie hat fast keinen ihrer Teile so oft und so eingehend behandelt, wie die Assoziation der Gedanken; und doch hat sie dabei den Einfluß des unbewußten Willens fast immer vernachlässigt.

Die Gedanken oder Worte, die aus dem Vorrat auftauchen, entsprechen immer unserer Bequemlichkeit oder unseren Zwecken. Und wenn ich in diesem Augenblicke den Einfluß des Willens auf das Denken beweisen will, so fallen mir schneller die Gründe als die Gegengründe ein.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906