cr-2tb-3cr-1von AsterK. GroosP. SternG. PatzigW. T. Marvindow     
 
FRANZ von KUTSCHERA
Die falsche Objektivität
[4/4]

"Wir sind so Zeugen der letzten, hoffnungslosen Schlacht des Augenscheins, der in seinen letzten Reservaten aufgespürt und ausgeräuchert wird. Wenn sie vorüber ist, wird nichts unmittelbar sinnlich Erlebtes mehr gelten, wird die Augenscheinlichkeit des leibhaftig wahrgenommenen in allen ihren Formen endgültig als eine grandiose Jllusion entlarvt sein."


4 Erkenntnis als Produkt
der Evolution


4.1 Grundgedanken der
Evolutionären Erkenntnistheorie

Im Sinn des Objektivismus ist alles Reale so zu beschreiben, wie es ansich ist, nicht nur so, wie es uns in unserer spezifisch menschlichen Perspektive erscheint. Das gilt auch für die Vorgänge des Erkennens. Sie sind als Prozesse zu analysieren, an denen Vorgänge in der Umwelt wie solche im kognitiven Apparat des Menschen beteiligt sind. Da der Objektivismus vor allem in Form des Materialismus vertreten wird, stellt sich Erkenntnis insbesondere als Leistung des menschlichen Gehirns als eines physikalischen Systems dar, so daß Erkenntnisvorgänge physikalische Prozesse sind. Die Physik, bzw. allgemeiner: die Naturwissenschaften sind also auch für die Erforschung des Erkennens, des Wahrnehmens und Denkens zuständig, und daher muß die Erkenntnistheorie naturwissenschaftlich betrieben werden. Da der Mensch ein Produkt der Evolution des Lebens ist, hat sich die Biologie der Aufgabe angenommen, eine solche naturwissenschaftliche Theorie menschlichen Erkennens zu liefern. Das ist das Programm der  Evolutionären Erkenntnistheorie  (kurz EE), die zuerst von KONRAD LORENZ in "Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie"(1941) und "Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung" (Zeitschrift für Tierpsychologie, Bd. 5, Seite 235-409, 1943) entworfen wurde - die Bezeichnung stammt von D. T. CAMPBELL. Sie ist aber erst in den 70er und 80er Jahren ausführlich entwickelt worden. Die fundamentale Theorie der Biologie ist die Evolutionstheorie, und die EE hat ihren Namen daher, daß Erkenntnisleistungen mit deren Mitteln untersucht und erklärt werden sollen. Sie bildet neben den Forschungen zur Künstlichen Intelligenz den zweiten Ansatz zu einer exakten Theorie des Erkennens. Anders als bei der Computersimulation von kognitiven Leistungen geht es in ihr aber nicht nur um deren Beschreibung, sondern vor allem um ihre Erklärung.

Mit der Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden und Theorien, speziell der Evolutionstheorie, auf Phänomene des Erkennens wird es nach Ansicht der Vertreter der EE möglich, endlich die Unfruchtbarkeit der philosophischen Erkenntnistheorie zu überwinden und deren Probleme empirisch zu behandeln. Das Ziel ist die Ablösung philosophischer Spekulationen durch eine exakte naturwissenschaftliche Theorie des Erkennens. Darin sieht man oft eine kopernikanische Wende der Erkenntnistheorie: Struktur, Entstehung und Entwicklung der menschlichen Vernunft werden nun objektiv, von "außen" untersucht als Produkte, bzw. Prozesse in der physischen Natur. Die kopernikanische Wende der Erkenntnistheorie bei KANT wird damit freilich bewußt ins Gegenteil verkehrt: Es soll nicht die Struktur der Erfahrungswelt aus jener des menschlichen Wahrnehmens und Denkens abgeleitet werden, sondern umgekehrt soll die Struktur unseres Erfahrens und Denkens naturwissenschaftlich erklärt werden. Das, so sagt man, ist die eigentliche kopernikanische Wende, mit der der Mensch seine Rolle als Bezugspunkt der Welt verliert und zu einem keineswegs zentralen oder singulären Teil der Welt wird.

Die Vertreter der EE unterscheiden sich jedoch in ihren Konzeptionen von der Reichweite der EE. Was von ihr gerade im allgemeinen gesagt wurde, trifft genau genommen nur auf die Konzeption der "Maximalisten" zu, wie ich sie einmal nennen will. Nach ihrer Ansicht ist die EE eine naturwissenschaftliche Disziplin - RUPERT RIEDL spricht von einer "Biologie der Erkenntnis" -, die sich nicht nur mit Erkenntnisvorgängen befaßt, sondern auch mit ihren Produkten, also z. B. wissenschaftlichen Theorien, so daß selbst eine biologische Aufklärung der Evolution der EE in den Bereich des Möglichen zu rücken scheint. Für die "Minimalisten" hingegen ist die EE zwar ebenfalls eine rein naturwissenschaftliche Disziplin, sie stellt jedoch kein Konkurrenzunternehmen zur Philosophie dar, denn sie erhebt nicht den Anspruch, eine vollständige Erkenntnistheorie zu liefern. Konsequenterweise lehnen sie daher auch die Rede von einer "kopernikanischen Wende" der Erkenntnistheorie ab. Für sie beansprucht die EE nur die Relevanz ihrer Resultate für eine allgemeine Theorie des Erkennens. Für CAMPBELL ist die EE in "Evolutionary epistemology, in Paul Schilpp, Hg.: The philosophy of Karl Popper, Seite 413-63, 1974) sogar nur eine Erkenntnistheorie, die mit der Ansicht verträglich ist, daß der Mensch ein Produkt biologischer und sozialer Evolution ist. Weniger klar äußern sich die "Liberalen" - ich denke hier z. B. an GERHARD VOLLMER. Manchmal betonen sie den umfassenden Anspruch der EE, wobei die EE aber nicht als eine rein biologische Theorie aufgefaßt wird, sondern auch Resultate der Psychologie und Linguistik einbeziehen soll. So enthalte sie z. B. normative Aussagen über die Rechtfertigung oder Akzeptierbarkeit von Urteilen oder über die Korrektheit wissenschaftlicher Methoden, also auch Elemente der philosophischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Dann wird aber wiederum behauptet, die EE sei Teil der allgemeinen Evolutionstheorie, und sie wird als kopernikanische Wende gepriesen. Das setzt aber voraus, daß die EE eine rein naturwissenschaftliche Theorie ist, und von der "Wende" kann man nur reden, wenn sie die philosophische Erkenntnistheorie völlig ersetzt.

Nun ist die Forderung der Minimalisten, eine Erkenntnistheorie müsse biologische Einsichten über das Erkennen berücksichtigen, kaum kontrovers. Was immer als richtig erkannt wird, ist zu berücksichtigen - egal, aus welcher Disziplin die Einsicht kommt. Auch die Vertreter der EE werden sich ja hoffentlich nicht weigern, philosophische Einsichten zur Kenntnis zu nehmen, nur weil sie aus der Philosophie stammen. Kontrovers ist lediglich, ob eine umfassende naturwissenschaftliche Theorie des Erkennens möglich ist, ob das Programm der Maximalisten sinnvoll ist. Das soll hier diskutiert werden. Wir verstehen daher unter der EE eine rein biologische Disziplin. Da sich die philosophische Erkenntnistheorie traditionell nicht mit logisch-mathematischer Erkenntnis, mit der Entwicklung von Sprachen und Theorien oder mit Werterkenntnis befaßt, wollen wir diesbezügliche Ansprüche der EE hier nicht diskutieren.

Die EE geht von folgenden Voraussetzungen aus:
    1. Der Realismus.  Alle Naturwissenschaftlicher sind Realisten. Wie wir im 6. Kapitel sehen werden, besagt das freilich noch wenig, da es verschiedene Realismen gibt. Problematisch ist weniger die ontologische These von der Existenz einer bewußtseinsunabhängigen Außenwelt als spezielle Annahmen über die Erkenntnisrelation. So beziehen sich viele Vertreter der EE auf den kritischen Realismus, und  Vollmer  zählt das  projektive Erkenntnismodell  zu den Grundannahmen der EE. Danach ist Erkenntnis das Produkt einer Wechselwirkung zwischen dem Subjekt als einem physikalischen System und seiner Umwelt. Die Sinnesreize erzeugen "interne Projektionen" der Außenwelt, die mit einem gewissen Informationsverlust verbunden sind. Aus diesen Projektionen rekonstruiert der kognitive Apparat ein Bild der Umwelt, in diesem Sinn ist Erkenntnis eine "adäquate interne Rekonstruktion und Identifikation äußerer Objekte" (1). Es handelt sich also um so etwas wie eine materialistische Repräsentationstheorie. Solche speziellen erkenntnistheoretischen Thesen spielen in der EE aber, wie wir sehen werden, eine eher untergeordnete Rolle.

    2. Der Materialismus.  Danach lassen sich mentale Ereignisse physikalisch beschreiben und erklären. Ohne diese Annahme ließe sich mit der EE als einer naturwissenchaftlichen Theorie, die es allein mit Physischem zu tun hat, keine zureichenden Aussagen über mentale Phänomene machen; das Projekt der EE hätte also von vornherein keine Chance. (2)

    3. Die Evolutionstheorie als fundamentale biologische Theorie.  Diese Voraussetzungen sind für die EE keine unbezweifelbaren Dogmen, sondern Hypothesen, von denen sie ausgeht, die sich aber in ihrer Arbeit bewähren müssen, also prinzipiell ebenso revidierbar sind wie andere naturwissenschaftliche Hypothesen. Daher wird der vorausgesetzte Realismus auch als "hypothetischer Realismus" bezeichnet. Der von  Lorenz  formulierte Grundgedanke ist: Wenn man in der EE, ausgehend von diesen Hypothesen zu einer Theorie des Erkennens gelangt, die die Phänomene korrekt beschreibt und sie erklären kann, so bewähren sie sich und sind damit gerechtfertigt.
Die EE beansprucht nun, eine Reihe von erkenntnistheoretischen Problemen gelöst zu haben, oder jedenfalls über fruchtbare Lösungsansätze für sie zu verfügen, auf die die Philosophie im Verlauf ihrer 2½ Jahrtausende langen Geschichte keine befriedigenden Antworten gefunden hat. Eine Liste von erkenntnistheoretischen Fragen und Antworten der EE findet sich bei VOLLMER: "Woher kommen die subjektiven Erkenntnisstrukturen? (Sie sind Ergebnisse der biologischen Evolution.) - Warum sind sie bei allen Menschen (nahezu) gleich? (Weil sie teilweise genetisch bedingt sind und vererbt werden, dabei aber eine statistische Streuung wie jedes andere genetische Merkmal aufweisen.) - Warum passen die subjektive Strukturen (der Erkenntnis) auf die objektiven Strukturen (der realen Welt) und stimmen sogar teilweise damit überein? (Weil wir die Evolution sonst nicht überlebt hätten.) - Warum ist die menschliche Erkenntnis nicht ideal? (Weil biologische Anpassung nie ideal ist.) - Wie weit reicht menschliche Erkenntnis? (Sie ist zunächst einmal überlebensadäquat; d. h., soweit sie genetisch bedingt ist (Wahrnehmung und unmittelbare Erfahrung), paßt sie auf die Welt der mittleren Dimensionen, auf den Mesokosmos [Gegenstandsbereich anschaulich erfaßbarer Objekte - wp] ...; sie kann aber aus diesem uns umgebenden Mesokosmos hinausführen und tut das vor allem als wissenschaftliche Erkenntnis ...) - Ist objektive Erkenntnis möglich? (Ja, wahrscheinlich existiert sie sogar.) - Gibt es Grenzen für die menschliche Erkenntnis? (Ja; selbst wenn wir objektives Wissen erlangt hätten, könnten wir doch seiner Wahrheit oder Objektivität nie absolut sicher sein. Alle Erkenntnis ist hypothetisch.) - Gibt es apriorisches Wissen über die Welt? (Wenn "a priori" bedeutet "unabhängig von aller individuellen Erfahrung", ja; wenn es dagegen bedeutet "unabhängig von jeglicher Erfahrung", nein; wenn es darüber hinaus bedeutet "absolut wahr", nein)." (3)

Hier sollen nur einige der wichtigsten Antworten erläutert werden:


1. Die (zumindest partielle) Übereinstimmung von
subjektiven Erkenntnisstrukturen und objektiven
Strukturen in der Natur

Ist die Natur für uns erkennbar, so müssen unsere subjektiven Anschauungs- und Denkformen den objektiven Strukturen der Natur zumindest teilweise entsprechen. Die Frage, wie die Annahme einer solchen Übereinstimmung zu rechtfertigen und die Übereinstimmung selbst zu erklären ist, hat zuerst KANT gestellt (4). Seine Antwort war: Für eine Natur als Welt ansich, die unabhängig ist von menschlicher Erfahrung und menschlichem Denken, läßt sich die Annahme nicht rechtfertigen, wohl aber für die Natur als Welt, wie sie sich uns im Erleben und Denken darstellt, denn das ist eben die Welt, wie sie sich uns in unseren Anschauungs- und Denkformen zeigt; sie ist also schon von diesen subjektiven Formen geprägt. Die Antwort der EE ist sehr viel anspruchsvoller als die KANTs, denn es wird eine (partielle) Übereinstimmung zwischen unseren subjektiven Erkenntnisstrukturen und denen der Welt ansich behauptet - genauer: des Mesokosmos, in dem wir leben und handeln. Sie wird so begründet: Unser kognitiver Apparat ist das Produkt einer Anpassung an die Umwelt. Nur Organismen, deren kognitiver Apparat ihre Umwelt (in den Grenzen des für ihr Überleben Relevanten) richtig darstellt, haben eine Überlebenschance, und die natürliche Auslese fördert eine Entwicklung zu immer besser angepaßten Apparaten. Unser eigener ist das Produkt einer solchen Selektion. Er ist daher unserer Umwelt angepaßt und stellt sie im wesentlichen richtig dar. Kurz gesagt: Wir leben, sind also überlebensfähig, also auch kognitiv angepaßt.


2. Der Ursprung apriorischer Anschauungs-
und Denkformen

Wie KANT nimmt die EE apriorische Bedingungen möglicher Erfahrung an - freilich nicht aller denkbaren Sinnes- und Verstandeswesen, sondern unserer eigenen, gegenwärtigen menschlichen Erfahrung. Wie KANT wendet sie sich gegen das empiristische Erkenntnismodell, nach dem alle Begriffe, mit denen wir die Außenwelt beschreiben, aus der Erfahrung abstrahiert sind und alle empirischen Erkenntnisse aus Erfahrung gewonnen werden. Es gibt für sie Anschauungs- und Denkformen, die unabhängig von Erfahrungen sind und diese erst ermöglichen. Während solche Formen für KANT notwendige Bedingungen aller Erfahrung waren, sind sie für die EE jedoch kontingente Bedingungen: Sie ergeben sich aus den Eigenschaften unseres kognitiven Apparates und sind daher ontogenetisch apriori - Bedingungen der empirischen Erkenntnis durch das Individuum, das diesen speziellen Apparat hat -, phylogenetisch aber aposteriori, d. h. ein Produkt der Evolution.

Die folgenden beiden Beispiele sollen verdeutlichen, was die EE zu apriorischen Denkformen zu sagen hat:


a) Die Analyse des induktiven Schließens

HUME hat gezeigt, daß sich induktive Schlüsse weder logisch noch empirisch rechtfertigen lassen. Er hat darüber hinaus eine psychologische Theorie dieses Schließens entwickelt. Sie trägt zur Rechtfertigung dieses Schließens nichts bei, wie HUME betont, sondern beschreibt nur unser tatsächliches Verhalten und bietet eine Erklärung dafür an. Nach dieser Theorie verstärken Beobachtungen, daß Ereignisse vom Typ  A  in Verbindung mit solchen vom Typ  B  auftreten, unsere Erwartung, das werde auch in Zukunft so sein. Haben wir also viele solche Beobachtungen gemacht, so rechnen wir bei der nächsten Beobachtung eines A-Ereignisses fest damit, daß wiederum ein B-Ereignis stattfindet. NELSON GOODMAN hat in "The way the world is", Review of Metaphysics, Vol. 14, Seite 48-56,1960) jedoch gezeigt, daß das keineswegs generell gelten kann, sondern nur für manche Paare von Ereignistypen, die sich aber weder analytisch noch empirisch auszeichnen lassen. Man hat nun im Rahmen der EE versucht, das alte, HUMEsche Rätsel einer Rechtfertigung der Induktion durch eine Ergänzung seiner psychologischen Theorie zu lösen. Die Ergänzung besagt erstens, daß sich Erwartungen über die Korrelation von Ereignistypen nicht immer nur aus Beobachtungen ergeben, sondern teilweise auch angeboren sind. Daraus ergibt sich insofen ein Ansatz zur Lösung des neuen, GOODMANschen Rätsels der Induktion, als die angeborenen Erwartungen sich nur auf die Korrelation bestimmter Ereignistypen beziehen sollen. Unsere Praxis induktiven Schließens wird dann zweitens wieder durch die Annahme gerechtfertigt, unser kognitiver Apparat sei der Umwelt angepaßt, in der wir leben: Im großen Ganzen muß unsere Praxis zu richtigen Folgerungen führen, sonst hätten wir nicht überlebt.


b) Die Kategorie der Kausalität

Wir haben schon in 2.1 auf HUMEs sachliche und psychologische Analysen von Kausalaussagen hingewiesen. Im Rahmen der EE haben RIEDL und KASPAR an die Gedanken HUMEs angeknüpft. (5) Sie gehen zunächst von seiner psychologischen Theorie aus, ergänzen sie aber durch die Behauptung, kausales Denken biete einen Selektionsvorteil, ließe sich also evolutionstheoretisch begründen. Ein Selektionsvorteil ergibt sich nur dann, wenn es in der Natur Kausalbeziehungen gibt, wenn also unsere genetisch bedingten Annahmen über solche Beziehungen eine kognitive Relevanz haben. Da das wegen der Mängel der Regularitätstheorie nicht nur Beziehungen einer regelmäßigen Aufeinanderfolge von Ereignissen sein können, hat KONRAD LORENZ den Gedanken einer Energieübertragung von der Ursache auf die Wirkung entwickelt. Donner folgt zwar regelmäßig auf einen Blitz, aber er ist nicht Wirkung des Blitzes. Die optische Erscheinung des Blitzes wie die akustische des Donners sind vielmehr Wirkungen einer gemeinsamen Ursache, der elektrischen Entladung. Ein Ereignis vom Typ  A  soll also nur dann Ursache eines Ereignisses vom Typ  B  sein, wenn auf jedes A-Ereignis ein B-Ereignis zeitlich folgt und wenn dabei das A-Ereignis Energie auf das B-Ereignis überträgt.

Damit wollen wir unsere Skizze der EE abschließen und uns den Einwänden gegen sie zuwenden.


4.2 Einwände

Von den drei im letzten Abschnitt genannten Voraussetzungen der EE brauchen wir zwei hier nicht zu diskutieren: Die Evolutionstheorie hat sich in der Biologie zweifellos gut bewährt, und der Materialismus wurde schon im 1. Kapitel erörtert. Nach unseren Überlegungen ist mit ihm eine der wesentlichen Voraussetzungen der EE nicht haltbar. Da der Materialismus nur eine Version des Objektivismus ist, wollen wir im folgenden von diesem Punkt jedoch absehen, soweit das möglich ist. Es ist aber etwas zum projektiven Erkenntnismodell zu sagen. Zunächst ist festzustellen, daß in der EE ein Erkenntnisbegriff verwendet wird, der erheblich weiter ist als der normale. Im normalen Sinn setzt Erkenntnis Bewußtsein voraus, nach den Überlegungen in 3.4 sogar die Fähigkeit, sich von Gründen leiten zu lassen, so daß von ihr nur beim Menschen die Rede sein kann. Die EE schreibt sie hingegen schon einfachsten Organismen zu. Für die EE gilt: "Leben ist Erkennen", und LORENZ deutet jede Anpassung als Erkenntnisleistung. Wie man das Wort "Erkennen" verwenden will, ist zwar eine terminologische Frage, aber ein Abweichen vom normalen Sprachgebrauch birgt die Gefahr in sich, daß es zu einer Verwechslung der beiden Begriffe kommt. So will LORENZ z. B. die Erkenntnisfähigkeit mit der Angepaßtheit des Menschen an seine Umgebung erklären, aber das ist offenbar zirkulär, wenn "Erkenntnis" generell als Anpassung definiert wird. Man verfährt in der EE oft so, als ob mit der Umdefinition des Wortes schon erwiesen sei, daß menschliche Erkenntnis (im normalen Sinn) prinzipiell nichts anderes sei als das, was sich schon beim oft zitierten Pantoffeltierchen findet, das, wenn es auf ein Hindernis stößt, erst ein Stückchen zurück und dann in einer zufallsbestimmten anderen Richtung wieder vorwärts schwimmt.
    "Es weiß", schreibt  Lorenz,  "etwas im buchstäblichen Sinn  Objektives  über die Außenwelt ... Alles, was wir Menschen über die reale Welt wissen, in der wir leben, verdanken wir stammesgeschichtlich entstandenen ... Apparaten des Informationsgewinns, die zwar sehr viel komplexer, aber nach den gleichen Prinzipien gebaut sind wie jene, welche die Fluchtreaktion des Pantoffeltierchens bewirken." (6)
Bei dieser Reaktion handelt es sich jedoch nur um ein Verhalten, von Erkenntnis im normalen Sinn kann dabei keine Rede sein. Wie das Scheitern des Behaviorismus zeigt, kann man Erkennen nicht als Verhaltensdispositionen ansehen.

LORENZ hat die zentrale Annahme des projektiven Modells der Erkenntnis so formuliert,
    "daß alles menschliche Erkennen auf einem Vorgang der Wechselwirkung beruth, in dem sich der Mensch, als durchaus reales und aktives lebendes System ... mit den Gegebenheiten einer ebenso realen Außenwelt auseinandersetzt." (7)
Daß unsere Wahrnehmung auf physikalischen Wechselwirkungen der Umwelt mit unseren Sinnesorganen beruth, ist nicht weiter problematisch. Problematisch ist hingegen die Annahme, der gesamte Prozeß des Wahrnehmens ließe sich naturwissenschaftlich beschreiben. Etwas konkreter wird das Modell bei VOLLMER charakterisiert. Nach ihm ist Wahrnehmung ein Prozeß, der im menschlichen Gehirn Repräsentationen des Wahrgenommenen erzeugt. Er sagt aber nicht, welche Art von Entitäten diese Repräsentationen sind und was sie mit Erkenntnis zu tun haben. Sind es Objekte, Zustände oder Sachverhalte? Besteht Erkenntnis in der Wahrnehmung dieser Repräsentationen durch das Subjekt, oder besteht sie in deren bloßem Vorhandensein in dessen Kopf? Auch in einer  camera obscura  entsteht durch Projektion ein Bild der Außenwelt, wir würden aber nicht sagen, daß sie etwas erkennt. Ein Mensch soll offenbar etwas erkennen, wenn sich in seinem Gehirn eine Repräsentation, sagen wir: ein Gehirnzustand, einstellt, der durch Wahrnehmung erzeugt wird. Ist Erkenntnis, wie im Idealismus, eine Erkenntnis  von  Repräsentationen - dort werden sie als mentale Gegenstände, als Ideen oder Bilder aufgefaßt -, so stellt sich die Frage, wie wir denn diese Repräsentationen erkennen; normalerweise wissen wir ja nichts von den Zuständen unseres eigenen Gehirns. Faßt man Repräsentationen hingegen selbst als Erkenntnisse auf, so gerät man in die schon diskutierten Probleme der Identitätstheorien. Schließlich stellt sich die Frage, wie eine Repräsentationstheorie mit dem erkenntnistheoretischen Realismus zusammenpassen soll, nach dem die Gegenstände unserer Erfahrung Dinge der Außenwelt sind und der in Physik und Biologie vorausgesetzt wird. Die materialistische Projektionstheorie der Erkenntnis ist noch problematischer als die idealistische und jedenfalls vorläufig so vage, daß sich damit wenig anfangen läßt.

Zu den angeblichen Leistungen der EE ist folgendes zu sagen: Die evolutionstheoretische Lösung des Problems der Erkennbarkeit der Welt ist, philosophisch gesehen, doch recht naiv. Sie setzt erstens die Erkennbarkeit der Welt voraus, kann sie also nicht zirkelfrei begründen. Geht man davon aus, daß die Evolutionstheorie richtig ist, so nimmt man an, daß sich die Welt jedenfalls in diesem Punkt erkennen läßt, braucht das also nicht mehr zu beweisen. Zweitens geht die EE ohne weiteres davon aus, Erkenntnisfähigkeit sei ein selektiver Vorteil. Das kann man aber durchaus bezweifeln. Was ein Lebewesen zum Überleben braucht, ist zunächst nur, daß es auf die Situationen, in die es in seiner Lebenswelt gerät, in passender Weise reagiert. Dafür sind Bewußtsein und Erkennen unnötig, das können auch Roboter. Man könnte vielleicht einen Vorteil darin sehen, daß die Vermittlung zwischen Sinnesreizen und Reaktionen über irgendeine Art von Repräsentation läuft, und vielleicht fällt einem evolutionären Erkenntnistheoretiker auch noch ein, welchen Vorteil bewußte Repräsentationen, etwa Vorstellungen haben könnten. Für das Angepaßtsein des Organismus ist es aber keineswegs erforderlich, daß seine Repräsentationen richtig sind, daß er sich also die Welt so vorstellt, wie sie tatsächlich beschaffen ist. Es genügt irgendeine Repräsentation, sofern sie nur Umständen, in denen sich das Lebewesen zweckmäßigerweise unterschiedlich verhalten sollte, unterschiedliche Repräsentanten zuordnet. Ein einfaches Beispiel: Da sich der dreidimensionale Raum in den zweidimensionalen umkehrbar eindeutig abbilden läßt, könnten wir die Welt im Prinzip ohne Verlust an Überlebensfähigkeit als zweidimensional sehen. Es ist auch nicht gesagt, daß die einfachste - nämlich die von der Natur am einfachsten auszubildende - Abbildung die richtige ist.

Die Verwendung der Termini "apriori" und "aposteriori" im Rahmen der EE ist, wie WOLFGANG STEGMÜLLER in "Evolutionäre Erkenntnistheorie, Realismus und Wissenschaftstheorie", in Spaemann, Koslowski, Löw: Evolutionstheorie und menschliches Selbstverständnis, Seite 5-34, 1984 hervorgehoben hat, schief, denn sie entspricht nicht dem Sinn, in dem sie seit KANT üblich sind. Davon kann man zwar absehen, da es der EE nicht um eine KANT-Interpretation geht. Eine Erklärung der apriorischen Strukturen unserer Erfahrung müßte jedoch von einer Konzeption der Welt ausgehen, die von ihnen unabhängig ist, und dann zeigen, aufgrund welcher Umstände Lebewesen mit dieser speziellen kognitiven Optik entstanden sind, welchen Selektionsvorteil das für sie bedeutete und wie gut diese Optik dem Mesokosmos angepaßt ist. Man müßte also die Funktionsweise unserer menschlichen Optik von einem externen Standpunkt aus erfassen. Das kann aber deswegen nicht gelingen, weil wir ohne unsere Optik nichts sehen. Wir sehen als Menschen immer nur mit Hilfe unserer Optik etwas, sie ist also immer auch Mittel, nie nur Gegenstand unserer Betrachtungen. Auch unser naturwissenschaftliches Weltbild ist ein Bild, das wir Menschen uns unter der Bedingung unseres Erkennens machen, keine getreue Widerspiegelung der Welt ansich in unserem Bewußtsein. LORENZ, der die "Rückseite des Spiegels" menschlicher Erkenntnis beleuchtete, hat vergessen, daß auch sein eigener Spiegel als Biologe eine Rückseite hat. Auch die EE sieht also die Welt durch die Brille unseres kognitiven Apparates. Kein Wunder, daß diese Brille dann als besonders gut angepaßt erscheint. Sie erscheint nur gut, weil ich durch sie die Welt so sehe, wie sie mir durch die Brille erscheint. Der naive Realismus des Alltags wird also lediglich durch einen naiven Realismus der Naturwissenschaften ersetzt.

Wie wir gesehen haben, gehen die Gedanken der EE zum induktiven Schließen in zwei Punkten über die psychologische Theorie HUMEs hinaus. Zunächst einmal soll durch eine Zusatzannahme eine Rechtfertigung des induktiven Schließens geliefert werden. Unser kognitiver Apparat, so sagt man, ist durch Anpassung an die reale Welt hervorgegangen. Da uns die Erwartung gewisser Uniformitäten in der Natur - daß es in mancher Hinsicht so bleiben wird, wie es immer war - angeboren ist, muß sie zumindest im großen Ganzen zutreffen, sonst hätten wir nicht überlebt. Diese Art der Anwendung der Evolutionstheorie ist aber nicht akzeptabel: Ebenso könnte man ja auch schließen: "Die allermeisten Menschen glauben an die Existenz göttlicher Wesen, also muß dieser Glaube einen Selektionsvorteil darstellen, also ist er korrekt." Das ist kaum mehr als eine Umformulierung des alten Arguments  e consensu omnium  [die Übereinstimmung aller - wp]. Um nachzuweisen, daß unsere Annahme von Uniformitätsprinzipien durch Anpassung entstanden sein können, müßte man vielmehr zeigen, daß diese Prinzipien tatsächlich gelten. Woher will der Biologe das aber wissen? Er kann solche Uniformitäten ja selbst nur induktiv erschließen, und dabei setzt er sie schon voraus.

Die Aussagen der EE bleiben auch weit hinter dem gegenwärtigen Diskussionsstand in der Wissenschaftstheorie zurück. Induktive "Schlüsse" sind bedingte Wahrscheinlichkeitsaussagen. In der Theorie der subjektiven Wahrscheinlichkeit kann man HUMEs psychologische Theorie als Theorie rationaler Erwartungen rekonstruieren. In ihr gelten induktive Prinzipien. Hat man z. B. festgestellt, daß unter den  n  bisher untersuchten Objekten der Art  F  genau  r  die Eigenschaft  G  hatten, so liegt die Wahrscheinlichkeit, daß das nächste F-Objekt die Eigenschaft  G  hat, für große Zahlen  n nahe  bei  r/n.  Man kann daher induktive "Schlüsse" rational rechtfertigen. Das angegebene Prinzip gilt jedoch nur unter gewissen Voraussetzungen, von denen wir schon in 2.4 die Vertauschbarkeit genannt haben. Wie das Argument von NELSON GOODMAN zeigt, kann man aber nicht für alle Eigenschaften  G  eine Vertauschbarkeit annehmen, weil sich sonst Inkonsistenzen ergeben. Die Diskussion dieses Arguments hat nun gezeigt, daß es keine logischen oder empirischen Kriterien für die Verwendbarkeit einer Eigenschaft in induktiven Schlüssen, d. h. für Vertauschbarkeit gibt. Die Erwartungen oder Wahrscheinlichkeiten, von denen wir ausgehen, bestimmen, welche Ereignisse vertauschbar sind, und damit, was wir induktiv aus der Erfahrung lernen können. Es gibt aber keine Kriterien dafür, welche Anfangserwartungen vernünftig sind. Das alte, HUMEsche Rätsel der Induktion, die Legitimation induktiven Schließens, ist also bereits gelöst. Offen ist nur das neue, GOODMANsche Rätsel der Induktion: Von welchen Erwartungen sollen wir ausgehen? Hier kommt nun der zweite Gedanke der EE ins Spiel: Die Ausgangserwartungen sind uns - jedenfalls zum Teil - angeboren, und sie sind insofern "vernünftig", als sie aus einem Prozeß der Anpassung hervorgegangen sind. Die Vermutung, manche Erwartungen seien angeboren, ist nicht unplausibel. Erwartungen haben freilich propositionale Inhalte, können sich also beim einzelnen erst im Zusammenhang mit dem Spracherwerb herausbilden und allgemein im Verlauf der kulturellen Evolution. Der kritische Punkt ist aber, daß aus einer intersubjektiven Übereinstimmung in vielen Erwartungen auf deren Angeborensein, daraus auf ihr Angepaßtsein und damit auf ihre Korrektheit geschlossen wird.

Entsprechendes gilt für die Aussagen der EE zur Kausalität. Selbst wenn man annimmt, daß sich der Gedanke der Energieübertragung von der Ursache auf die Wirkung so präzisieren läßt, daß sich eine adäquate Explikation der Wörter "Ursache" und "Wirkung" ergibt, hat man damit für eine evolutionstheoretische Erklärung unseres kausalen Denkens noch nichts gewonnen. Das Kausalprinzip, nach dem jedes Ereignis eine Ursache hat, ist damit noch nicht als ein angeborenes Denkschema erwiesen. Erstens spielt Energieübertragung als wissenschaftliches Konzept im vorwissenschaftlichen Denken kaum eine Rolle, und zweitens bleibt offen, welchen Selektionswert ein solches Denkschema hätte. Es müßte jedenfalls ein speziellerer Vorteil sein als der, sich aufgrund von Beobachtungen Erwartungen über künftige Ereignisse bilden zu können. Diese Fähigkeit genügt aber wohl für ein zweckmäßiges Verhalten. Im übrigen sehen die Physiker heute das Kausalprinzip als ungültig an. Die Grundgesetze der Physik sind statistischer Natur, und bei Zufallsereignissen gibt es keine Ursache dafür, daß sie gerade so und nicht anders ausfallen. Da Physiker vermutlich denselben kognitiven Apparat haben wie andere Menschen, kann das Kausalprinzip kein angeborenes Denkschema sein.

Abschließend wollen wir auf die wichtigsten generellen Einwände gegen das Programm der EE eingehen.


1. Die EE kann keine umfassende
Erkenntnistheorie sein

Dieser Einwand besagt, daß die EE als empirische Tatsachenwissenschaft allenfalls Aussagen zu einer deskriptiven Erkenntnistheorie machen kann, nicht aber zu einer normativen. Sie kann also nur sagen, wie wir tatsächlich denken, aber nicht, wie wir denken sollten; sie kann keine Kriterien für rationales Denken rechtfertigen. STEGMÜLLER hat in (a. a. O., 1984) diesen Einwand noch verstärkt: Für ihn ist die Wissenschaftstheorie die moderne Nachfolgedisziplin der traditionellen philosophischen Erkenntnistheorie, und sie ist rein normativ; also hat die EE zum Problem der modernen Erkenntnistheorie gar nichts zu sagen. Man kann aus einer biologischen Theorie keine wissenschaftstheoretischen Kriterien für brauchbare Theorie ableiten, nicht mit ihr selbst begründen, daß sie diesen Kriterien genügt. Nun kann man zwar kaum sagen, die Wissenschaftstheorie habe die Erkenntnistheorie im traditionellen Sinn abgelöst; sie diskutiert ja zentrale Probleme dieser Disziplin gar nicht, wie z. B. die Frage "Was können wir wissen?" oder die Realismus-Idealismus-Kontroverse. Es bleibt aber der Einwand, daß der EE als Tatsachenwissenschaft ein wichtiger, nämlich der normative Teil der Erkenntnistheorie verschlossen bleibt. Daher sah sich VOLLMER genötigt, der EE normative Elemente zuzuschlagen, um an der Verheißung einer kopernikanischen Wende festhalten zu können. Er hat diese Elemente aber weder spezifiziert, noch gezeigt, daß sie sich anders rechtfertigen lassen als auf einem philosophischen Weg. Sein Hinweis, sinnvolle Normen ließen sich nur mit Blick auf Tatsachen angeben, ist zwar  cum grano salis  [mit einem Augenzwinkern - wp] richtig, greift aber zu kurz: Aus Normen und Tatsachen kann man andere Normen ableiten, aber nicht aus Tatsachen allein.


2. Die EE ist erkenntnistheoretisch naiv.

Dieser Einwand besagt: Die EE läßt die philosophische Grundeinsicht außer acht, daß es keine Erkenntnistheorie "von außen" geben kann. Wir können unseren kognitiven Apparat nicht von einem externen Standpunkt aus betrachten und so tun, als verwendeten wir ihn nicht auch in der Erkenntnistheorie. Davon war schon oben die Rede. Die Berechtigung dieses Vorwurfs sei durch ein Zitat belegt. RIEDL sagt in "Biologie der Erkenntnis" (1980), die Geschichte der philosophischen Erkenntnistheorie zeige, daß sich Vernunft nicht durch sich selbst erhellen läßt. Hier weise die Biologie, speziell die EE, den Ausweg - offensichtlich ist sie also nicht vernünftig. Der Biologe, so RIEDL, "besitzt jenen Standpunkt, der es ermöglicht, die Vernunft von außen her zu begründen. Dies ist die evolutionäre Erkenntnistheorie." Und weiter: Wir beziehen damit zur Erforschung des Erkenntnisprozesses einen Standpunkt außerhalb unseres eigenen Erkenntnisvorgangs; einen biologisch objektiv beschreibbaren."

Die EE setzt die Evolutionstheorie und darüber hinaus die Methoden und Resultate der Naturwissenschaften als gültig bzw. zuverlässig voraus - wenn auch nicht als unfehlbar -, schließt sie also aus dem Bereich jener Verfahren und Annahmen aus, die sie auf ihre Verläßlichkeit hin prüft. Sie beantwortet daher nicht die generelle Frage "Welche Annahmen über die Welt lassen sich als richtig oder wahrscheinlich rechtfertigen?", sondern nur die Frage "Welche Annahmen über die Welt lassen sich unter der Voraussetzung rechtfertigen, daß die Theorien, Ergebnisse und Methoden der Biologie uns ein korrektes Bild von ihr liefern?" Dabei ist zu beachten, daß Biologen in ihrer Arbeit auch vieles verwenden, was nicht zum Themenkreis der Biologie gehört. Sie verwenden z. B. Logik, Mathematik und Physik. Praktisch fällt damit ein großer Teil wissenschaftlicher Erkenntnis aus dem Horizont der EE heraus. KONRAD LORENZ schreibt:
    "Diese erkenntnistheoretische Haltung [der EE] entspringt dem Wissen, daß unser Erkenntnisapparat selbst ein Ding der realen Wirklichkeit ist, das in Auseinandersetzung mit und in Anpassung an ebenso wirkliche Dinge seine gegenwärtige Form erhalten hat. Auf dieses Wissen gründet sich unsere Überzeugung, daß allem, was unser Erkenntnisapparat uns über die äußere Wirklichkeit mitteilt, etwas Wirkliches entspricht." (8)
Dieses "Wissen", von dem LORENZ ausgeht, steht erkenntnistheoretische ebenfalls in Frage.

Ein weniger naives Programm hat LORENZ, wie erwähnt, an anderer Stelle angedeutet. Er sieht dort die EE als Teil eines größeren Forschungsprogramms, in dem sowohl unser kognitiver Apparat wie die Welt untersucht werden soll. Wir beginnen mit Annahmen über die Welt, den Voraussetzungen der EE und naturwissenschaftlichen Theorien, und ziehen daraus gewisse Schlüsse über die Beschaffenheit unseres kognitiven Apparates. Die sich dabei ergebenden Annahmen darüber, wie er die Welt darstellt, müssen zu den ursprünglichen Annahmen über die Welt passen, denn die sind ja auch Produkte unseres kognitiven Apparates. Dadurch ergeben sich eventuell Modifikationen der Ausgangshypothesen. Mit den modifizierten Hypothesen wiederholt sich dann der Kreislauf, bis wir zu einer kohärenten Theorie sowohl des kognitiven Apparats wie der Welt gelangen. Ein solches Programm nähme sich nicht schlecht aus, wenn da nicht die leidige Rede vom "kognitiven Apparat" wäre. Im Sinn des Materialismus bestimmt er unser Denken, wir können also gar nicht anders denken, als wir das tatsächlich tun, und damit sind erkenntnistheoretische Reflexionen von vornherein gegenstandslos. Alles Denken ist Betätigung des Apparats und sein Resultat ist vorgezeichnet, sei es nun richtig oder falsch. Wir haben so gar nicht die Fähigkeit, vernünftigen Gründen zu folgen. Im übrigen haben wir im letzten Kapitel gesehen, daß es keine vollständige Theorie menschlichen Denkens gibt, wie sie die EE anzielt.


3. Die EE ist zirkulär.

Der Einwand der Naivität wird oft zu einem Vorwurf der Zirkularität verschärft. Gegenüber Zirkularitätsbehauptungen ist zwar eine gewisse Vorsicht am Platz, auch der philosophischen Erkenntnistheorie könnte man ja den Vorwurf machen, eine Kritik der Vernunft durch diese Vernunft selbst sei zirkulär. Es gibt aber in der EE Argumente, die man als eindeutig zirkulär bezeichnen muß. So wird, wie schon betont wurde, die Annahme einer Erkennbarkeit der Welt mit ihr selbst begründet: Es wird vorausgesetzt, daß wir in der Biologie die Welt - jedenfalls in gewissen Grenzen - so erkennen, wie sie ist, und mit dieser Voraussetzung wird dann auf dem Weg über den evolutionistischen Gedanken der Anpassung gezeigt, daß unser kognitiver Apparat (also auch der des Biologen) unserer Umwelt angepaßt ist, diese also (wiederum in gewissen Grenzen) so darstellt, wie sie ist. Anders ausgedrückt: die Angepaßtheit des Biologen ist die Prämisse, aus der die Angepaßtheit des Menschen deduziert wird.

Ein Gegeneinwand lautet: Ein fehlerhafter Zirkel ergäbe sich nur dann, wenn es darum ginge, eine Letztbegründung für erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis zu liefern, und dabei biologische Theorien mit sich selbst begründet würden. Nun fasse die EE aber all ihre Aussagen und Voraussetzungen nur als Hypothesen auf und wolle keine Begründungen liefern, die irgendwelche Aussagen als definitiv wahr und unwiderleglich ausweisen; diese Hypothesen müßten sich vielmehr an der Erfahrung bewähren. Tatsache bleibt aber doch, daß die EE beansprucht, die Passung zwischen unserer Erkenntnisstruktur und der Natur zu erklären - darin sieht sie ja gerade einen ihrer wesentlichen Erfolge. Diese Passung wird aber mit den naturwissenschaftlichen Theorien schon vorausgesetzt. Das ist ein einwandfreier Zirkel. Es ist auch gar nicht denkbar, daß wir erkennen könnten, daß unsere Erkenntnisstrukturen nicht zu denen der Wirklichkeit passen; die Hypothese der Passung läßt sich also nicht empirisch falsifizieren. Eine  petitio principii  [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] wird im übrigen auch nicht dadurch zu einem korrekten Argument, daß man das begründete und zugleich begründende Prinzip zur Hypothese erklärt.

Ein weiterer Gegeneinwand von VOLLMER lautet: Die Strukturen des kognitiven Apparats, die in der EE untersucht werden, sind nur für Wahrnehmungen konstitutiv, nicht aber für wissenschaftliche Erkenntnis; die Existenz verschiedener Erkenntnisstufen ermöglicht die Kontrolle und Kritik der tieferen durch die höheren. Dann bleibt aber die naturwissenschaftliche Stufe unkontrolliert. Das gesteht auch VOLLMER zu, der sogar betont, es gebe keine letzte, "subjektfreie" Erkenntnisstufe - er verwendet das freilich nur für den Hinweis, die philosophische Erkenntnistheorie habe der EE nichts vorzuwerfen. Bei der Kritik naturwissenschaftlicher Erkenntnis läßt uns also die EE im Stich. Da deren Aussagen über die untere Stufe der Erkenntnis, die Wahrnehmung, aber auf naturwissenschaftlichen Einsichten beruhen, bleiben auch sie ohne ausreichende Legitimation. Man kann es also drehen und wenden wie man will: Ist die EE nicht zirkulär, so kann sie ihre Versprechungen doch nicht erfüllen.

Mit diesen kritischen Bemerkungen soll in keiner Weise bestritten werden, daß die Biologie etwas zum Thema "Erkenntnis" beisteuern kann. Daß jede Theorie des Erkennens mit biologischen wie sonstigen Tatsachen verträglich sein muß, wurde schon betont und ist ohnehin trivial. In der philosophischen Erkenntnistheorie geht es aber nicht darum, wie Erkenntnisprozesse tatsächlich ablaufen, sondern um das Problem einer Rechtfertigung unserer Erkenntnisansprüche, und dazu kann die Biologie als Tatsachenwissenschaft nichts beitragen.


4.3 Kritischer Realismus

Viele evolutionären Erkenntnistheoretiker sind Anhänger des kritischen Realismus, aber das ist nicht der Grund, warum wir hier auf ihn eingehen. Für die Grundgedanken der EE spielt er kaum eine Rolle, wohl aber für die des Objektivismus. Wir haben schon im Vorwort darauf hingewiesen, daß dieser im Übergang vom Weltbild des Alltags zu dem der Naturwissenschaften eine Bestätigung für die Möglichkeit einer objektiven, von der spezifisch menschlichen Perspektive freie Sicht der Wirklichkeit sieht.

Der kritische Realismus setzt den  wissenschaftlichen Realismus  voraus. Dieser besagt, daß nicht nur das existiert, was wir unmittelbar beobachten können wie Steine und Sterne, sondern auch das, wovon die naturwissenschaftlichen Theorien sprechen, also z. B. Quarks und Gravitationsfelder. Wissenschaftliche Theorien sind danach nicht nur Instrumente, mit denen wir aufgrund vergangener Beobachtungen künftige voraussagen können, sondern Aussagen über die Beschaffenheit der Welt. Sie zeigen uns eine Realität hinter den Erscheinungen, und die bildet die Grundlage für die Erklärung der Phänomene. Wir erklären z. B. die Eigenschaften des Goldes mit seiner atomaren Struktur und die Temperatur von Körpern durch eine Bewegung ihrer Moleküle. In diesem Sinn ist die Realität hinter den Erscheinungen die grundlegende Realität. Der  kritische Realismus  geht nun einen entscheidenden Schritt über den wissenschaftlichen hinaus, indem er die Realität der Phänomene leugnet. Für ihn ist die Welt unserer sinnlichen Erfahrung eine Jllusion, hinter der sich die wahre Wirklichkeit, die der Atome und elektromagnetischen Felder, verbirgt - eine Jllusion, die durch die Natur unserer Sinnesorganisation erzeugt wird. Die Welt ist nicht so, wie die Physik uns das schildert. Grob gesagt behauptet also der wissenschaftliche Realismus: Es gibt nicht nur Steine und Tische, sondern auch Neutrinos und Quarks, während der kritische Realismus sagt: Es gibt nur Neutrinos und Quarks. Um nicht in den Verdacht zu geraten, wir bauten mit dem, was wir hier als kritischen Realismus beschreiben, einen Strohmann auf, ein Zitat:
    "Wir sind so Zeugen der letzten, hoffnungslosen Schlacht des Augenscheins, der in seinen letzten Reservaten aufgespürt und ausgeräuchert wird. Wenn sie vorüber ist, wird nichts unmittelbar sinnlich Erlebtes mehr gelten, wird die Augenscheinlichkeit des leibhaftig wahrgenommenen in allen ihren Formen endgültig als eine grandiose Jllusion entlarvt sein." (9)
Der kritische Realismus ist die Gegenposition zum  naiven Realismus Der behauptet, die Welt sei tatsächlich so, wie wir sie wahrnehmen. Das soll keine Anlehnung des wissenschaftlichen Realismus implizieren, ist also nicht so gemeint, daß die Welt nur so ist, sondern daß sie unter anderem auch so ist, wie wir sie wahrnehmen. Sie ist insbesondere nicht immer so, wie sie uns erscheint, aber jeder wahre Satz der Alltagssprache oder der Beobachtungssprache, mit dem wir äußere Dinge beschreiben, drückt eine reale Tatsache aus. Meine Tabakdose ist tatsächlich rot, das heißt: In der realen Welt gibt es Tabakdosen und die Eigenschaft, rot zu sein. Das klingt nun zwar höchst trivial, der kritische Realismus ist aber anderer Meinung. Wie die Welt beschaffen ist, welche Objekte, Attribute und Tatsachen es in ihr gibt, sagen uns nach ihm allein die Wissenschaften, speziell die Physik. Nach DAVID LEWIS ist die Welt so, wie uns das die Physik sagt, und mehr gibt es nicht zu sagen. (10) Die Physik spricht aber nach einer verbreiteten Meinung nicht von Tabaksdosen und Farben, sondern von Aggregaten von Atomen und elektromagnetischen Wellen. Die Welt, wie wir sie wahrnehmen, ist also eine Jllusion. Die reale Welt sieht ganz anders aus.

Die Kritik am naiven Realismus setzt schon in der antiken Philosophie mit DEMOKRIT ein, der einen Materialismus vertrat und eine Atomtheorie. Die Atome haben nur Form und Masse, die Körper als Verbindungen von Atomen haben darüber hinaus auch Härte, die davon abhängt, wie dicht die Atome im Körper gelagert sind. Ebenso lassen sich auch alle anderen wahrnehmbaren Qualitäten der Dinge auf Eigenschaften von Atomen und ihren Aggregaten zurückführen. DEMOKRIT hat eine Theorie der Wahrnehmung entwickelt, nach der die Sinnesempfindungen von den objektiven Qualitäten der Dinge, also der Komplexe von Atomen, abhängen und von der Organisation unseres Wahrnehmungsapparates. Schon bei ihm findet sich die Unterscheidung von  primären  und  sekundären Qualitäten.  Primäre Qualitäten wie Form, Härte und Gewicht, sind solche, die den Dingen selbst zukommen und ihre objektive Beschaffenheit charakterisieren. Sekundäre Qualitäten, wie Farbe oder Geschmack, sind hingegen solche, die sie aufgrund ihrer Wechselwirkung mit unserem Wahrnehmungsapparat für uns zu haben scheinen. Daraus ergibt sich freilich ein erkenntnistheoretisches Problem, das DEMOKRIT schon sehr klar gesehen hat: Die Sinne sind unser einziger Zugang zur Erkenntnis der Welt, diese wird aber vom Verstad so gedeutet, daß das, was uns die Sinne zeigen, als illusionär erscheint. Damit sägt der kritische Realismus den Ast ab, auf dem er sitzt. So sagen im Fragment B 125 die Sinne zu Verstand: "Du armseliger Verstand, von uns hast du deine Gewißheiten genommen, und nun willst du uns damit niederwerfen! Dein Sieg ist dein Fall!" Die Berichte über DEMOKRITs erkenntnistheoretische Ansichten sind widersprüchlich, vermutlich hat er aber die Ansicht vertreten, die Sinneswahrnehmungen seien zwar insofern unzuverlässig, als sie uns die Welt nicht so zeigen, wie sie wirklich ist, ausgehend von ihnen kann der Verstand aber doch über sie hinausgelangen und ein Bild der Wirklichkeit hinter den Phänomenen entwerfen, mit dem es auch möglich ist, zu erklären, warum wir die Welt so wahrnehmen, wie wir das tun.

Der wissenschaftliche Realismus sieht die Beobachtungssprache als Teil der Wissenschaftssprache an und behauptet keineswegs, ihre Sätze drückten keine Tatsachen aus. In MAXWELLs Gleichungen der Elektrodynamik kommen zwar keine Terme der normalen Sprache vor, aber die metrischen Größen in ihnen erhalten nur dadurch einen empirischen Sinn, daß man festlegt, wie sie zu messen sind. Dabei ist dann von beobachtbaren Dingen wie Meßinstrumenten die Rede, und die werden in der Beobachtungssprache beschrieben. Ein Meßinstrument läßt sich auch als Aggregat von Atomen bezeichnen, aber das heißt nicht, nur diese Beschreibung handelt von einem realen Objekt, oder ein Meßinstrument zu sein sei keine reale Eigenschaft von Objekten. Wissenschaftliche Rekonstruktion ist keine Elimination. Leugnet der kritische Realismus hingegen die Realität der Phänomene, so entzieht er in der Tat den physikalischen Theorien ihre Grundlage.

Am Beginn der Neuzeit setzt die Kritik am naiven Realismus wiederum mit der Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten ein. Sie findet sich bei DESCARTES und LOCKE. Bei BERKELEY werden dann alle beobachtbaren Eigenschaften zu sekundären, und daraus ergibt sich für ihn ein Argument für den Idealismus. Nach DESCARTES kann man nur von klaren und distinkten Perzeptionen behaupten, daß sie uns die Welt so zeigen, wie sie ist. Distinkte Perzeptionen sind solche, deren Inhalt sich mit exakten Begriffen beschreiben läßt, und exakte Begriffe sind für ihn metrische Begriffe. Im Effekt sind das zwar physikalische Begriffe, aber er gibt doch ein generelles Kriterium für primäre Qualitäten an und identifiziert sie nicht einfach mit den Grundbegriffen der zeitgenössischen Physik, wie das im kritischen Realismus oft geschieht. Der übliche systematische Ansatz geht jedoch von einer Unterscheidung von intrinsischen und extrinsischen Qualitäten aus: Intrinsisch sind jene Eigenschaften eines Objekts, die ihm unabhängig von seinen Beziehungen zu anderen Objekten zukommen, extrinsisch sind jene, die es nur aufgrund seiner Beziehungen zu anderen Objekten hat. Primäre Qualitäten sollen nun intrinsische Eigenschaften sein, denn sie charakterisieren das Objekt, wie es ansich ist. Sekundäre Qualitäten sollen hingegen all jene extrinsischen Eigenschaften sein, die der Gegenstand aufgrund seiner Beziehungen zu einem Betrachter hat, bzw. die Eigenschaften, die es für den Betrachter zu haben scheint. Sie sollen sich aus den intrinsischen Eigenschaften des Objekts und jenen des Betrachters ergeben - vor allem aus der Beschaffenheit und Funktionsweise seines Wahrnehmungsapparates. Diese Annahme war eine Folge der These der traditionellen Logik, Relationen ließen sich durch Eigenschaften der Relata definieren. Die sekundären Qualitäten der Dinge hängen also von den Eigenschaften des Betrachters ab; ein Objekt hat sie nicht als solches, sondern nur für uns. Daher wird der sekundäre Charakter von Eigenschaften dadurch nachgewiesen, daß sie von subjektiven Parametern beeinflußt werden. Ein solches Argument findet sich schon bei DESCARTES: Wir empfinden ein Ding als hart, wenn es dem Druck unserer Hände Widerstand leistet. Würde es vor diesem Druck zurückweichen, würden wir es nicht als hart empfinden. Nun kann aber die Bewegung relativ zu unseren Händen nicht die Natur der Dinge verändern, also können wir Härte nicht den Dingen selbst zuschreiben. Am bekanntesten ist LOCKEs Argument, mit dem er den sekundären Charakter der Wärme nachweisen wollte: Vor mir stehen drei Eimer mit Wasser. Der erste enthält Wasser von 5° Celsius, der zweite Wasser von 25° C, der dritte Wasser von 50° C. Wenn ich nun einige Zeit die linke Hand in den ersten, die rechte in den dritten Eimer stecke und dann beide Hände in den zweiten, so empfinde ich das Wasser in diesem zweiten Eimer mit der linken Hand als warm, mit der rechten dagegen als kalt. Daraus schließt LOCKE: Da das Wasser im zweiten Eimer nicht zugleich warm und kalt sein kann, kommt dem Wasser selbst keine der beiden Qualitäten zu; Warm und Kalt sind nicht primäre Qualitäten, nicht Eigenschaften der Dinge selbst, sondern sekundäre Qualitäten.

Solche Argumente ignorieren jedoch den Unterschied, den wir zwischen den Aussagen "Ich empfinde etwas als hart bzw. warm" und "Es ist hart bzw. warm" machen. In LOCKEs Beispiel werde ich nicht sagen: "Das Wasser im zweiten Eimer ist warm und kalt zugleich", sondern: "Ich empfinde das Wasser mit der linken Hand als warm, mit der rechten als kalt". Der letztere Satz enthält im Gegensatz zum ersten keinen Widerspruch. Warm ist eine Eigenschaft, die wir den Dingen selbst zuschreiben, nicht unseren Empfindungen. Es gibt objektive Kriterien für Wärme, die nicht auf Empfindungen Bezug nehmen; wir messen sie z. B. mit Thermometern.

Ferner bedeutet "intrinsisch" etwas anderes als "ansich". Rund sein ist eine intrinsische Eigenschaft, aber keine Eigenschaft eines Dings-ansich, wie z. B. KANT es versteht. Umgekehrt ist nicht gesagt, daß Eigenschaften, die den Dingen ansich zukommen, immer nur intrinsisch sind. Die traditionelle These von der Definierbarkeit von Beziehungen durch Eigenschaften ist falsch. Die Beziehung z. B. die zwischen zwei Zeitpunkten besteht, wenn der erste früher liegt als der zweite, läßt sich nicht durch intrinsische Eigenschaften der Zeitpunkte definieren. Relationen sind für die Bestimmung der Realität ebenso grundlegend wie Eigenschaften, und daher kann man nicht behaupten, die Dinge stünden ansich zueinander nicht in Beziehungen. Beschreiben aber Beziehungen die Dinge, wie sie ansich sind, so auch die mit ihnen definierbaren relationalen Eigenschaften. Ist  Früher als  eine objektive Relation zwischen Zeitpunkten, so auch die Eigenschaft  Früher als Christi Geburt Selbst wenn wir also annähmen, sekundäre Qualitäten seien relationale Eigenschaften der Dinge, könnten sie diesen ansich zukommen. Jede Eigenschaft eines Objekts kommt ihm selbst zu. Auch  von mir als warm empfunden werden  ist eine Eigenschaft von Dingen und kommt ihnen selbst, wenn auch nicht ansich zu.

Schon BERKELEY hat LOCKEs Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten angegriffen. Ihm ging es jedoch darum zu zeigen, daß alle Qualitäten sekundär sind, und so brachte er für die Subjektivität der von LOCKE als primär bezeichneten Qualitäten analoge Argumente vor, wie dieser für die von ihm als sekundär angesehenen Qualitäten. So sagte er, wir könnten den Dingen selbst keine Größe zuschreiben, denn ein Gegenstand erscheint uns umso größer, je näher wir ihm sind. Wir können also die beobachteten Größen nicht den Dingen selbst zuschreiben, ohne in Widersprüche zu geraten. Nun hat LOCKE sich auch oft so ausgedrückt, daß die sekundären Qualitäten nicht den Dingen zukommen, sondern unseren Eindrücken, Vorstellungen oder Idee von ihnen. Demgegenüber betonte BERKELEY zurecht, daß man von miteinander zusammenhängenden Eigenschaften nicht einige den Dingen selbst, die anderen aber nur ihren mentalen Bildern zusprechen kann. Was farbig ist, ist z. B. auch ausgedehnt; man kann also nicht sagen, ein Ding selbst sei ausgedehnt, farbig sei hingegen nur die Vorstellung von ihm - ganz abgesehen davon, daß die Rede von der Farbe von Vorstellungen schlicht unsinnig ist. BERKELEYs Ausweg aus diesen Konfusionen war, daß er die qualitätslosen Dinge der Außenwelt überhaupt leugnete und sich auf einen Idealismus zurückzog, nach dem nur Ideen realiter existieren.

Die Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten führt also zu keinem brauchbaren Einwand gegen den naiven Realismus, gegen die Ansicht, Aussagen über die Farbe, Wärme oder Härte von Dingen beziehen sich ebenso auf objektive Tatsachen wie die der Mikrophysik. Als Argument für den kritischen Realismus bleibt dann nur folgender Gedanke: Das Weltbild der Wissenschaften ist das genaueste, detaillierteste und am besten überprüfte, über das wir verfügen. Es widerspricht aber in vielen Punkten dem Bild, das wir uns aufgrund unserer alltäglichen Erfahrung von der Welt machen. Nach diesem ist meine Tabaksdose z. B. ein solides, kompaktes Ding, physikalisch betrachtet ist sie hingegen ein Aggregat von Molekülen, das vorwiegend aus leerem Raum besteht. Für die Dose als Substanz und als Aggregat gibt es verschiedene Identitätskriterien: Das Aggregat wird ein anderes, wenn Moleküle diffundieren [sich gegenseitig durchdringen - wp], die Dose bleibt dieselbe. Die Nachbarschaft von Rot und Violett im phänomenologischen Kreis der Farben hat keine Entsprechung im linearen Spektrum der elektromagnetischen Strahlung, denn Rot und Violett liegen an entgegengesetzten Enden des sichtbaren Bereichs. Nun gibt es aber nur eine Realität und diese Realität hat eine eindeutige Beschaffenheit. Sie kann also nicht so sein, wie uns das die Physik lehrt, und zugleich auch so, wie sie sich uns in unseren Wahrnehmungen darstellt. In diesem Konflikt spricht aber alles für das wissenschaftliche Weltbild.

Die Kritik dieser Überlegung ergibt sich schon aus der früheren Bemerkung, daß die Beobachtungssprache ein unverzichtbarer Teil der Sprache der Physik ist, daß man also ihren Aussagen kognitive Relevanz nicht absprechen kann. Im übrigen besteht aber auch kein ernsthafter Konflikt zwischen dem wissenschaftlichen und dem vorwissenschaftlichen Weltbild. Man kann nicht davon ausgehen, daß dasselbe Wort im alltäglichen und im wissenschaftlichen Gebrauch denselben Sinn hat. Kompaktheit im normalen Sinn heißt vollständige Erfüllung des Volumens mit einem Material wie z. B. Blech, aber auch ein Physiker wird nicht sagen, zwischen den Molekülen meiner Tabaksdose befinde sich kein Blech; Blech ist von vornherein nichts, was sich zwischen seinen Molekülen befinden könnte. Die Nachbarschaft von Rot und Violett im Farbkreis ist eine Farbähnlichkeit, die Nachbarschaft im Spektrum der elektromagnetischen Strahlung ist hingegen eine geringe Differenz in den Wellenlängen. Das sind verschiedene Relationen, so daß sich kein Widerspruch aus der Feststellung ergibt, daß zwei Farben in einem, aber nicht in einem anderen Sinn benachbart sind. Aus der Tatsache, daß es für Dosen und Aggregate unterschiedliche Identitätskriterien gibt, folgt nicht, daß wir nicht von jeder Dose in jedem Moment ihrer Existenz sagen könnten, sie sei ein Aggregat von Molekülen.

Die Wahrheit der Aussagen der Physik steht so nicht in einem Konflikt mit der Wahrheit der Sätze unserer Alltagssprache über Physisches. Die Welt wird nicht nur durch die wahren Sätze der Physik richtig beschrieben, sondern jede wahre Aussage über die Natur beschreibt sie richtig. Man kann nicht behaupten, der Satz "Dieser Körper reflektiert bei Bestrahlung mit physikalisch weißem Licht elektromagnetische Strahlung vorwiegend im Wellenlängenbereich um 0.7 µm" sei wahrer als der Satz "Dieser Körper ist rot". Für exakte Beschreibungen eignet sich die physikalische Sprache sicher besser als die normale, aber nicht nur exakte Aussagen sind richtig. Kein Realist wird den Erkenntniswert der Physik bestreiten; die Behauptung, erst sie zeige uns, wie die Welt wirklich beschaffen ist, ist jedoch Unsinn. Historisch gesehen steht der kritische Realismus in der Tradition des erkenntnistheoretischen Idealismus. Er sieht die Welt hinter den Phänomenen, wie sie die Physik mit ihren theoretischen Aussagen beschreibt, als die Welt ansich an, während wir es in unseren schlichten Wahrnehmungen nur mit Phänomenen zu tun haben, die lediglich für uns existieren. Wie der Idealismus desavouiert er Erfahrung als Brücke zur Außenwelt, und steht dann vor dem Problem, wie sich Aussagen über die Welt noch legitimieren lassen.
LITERATUR - Franz von Kutschera, Die falsche Objektivität, Berlin - New York 1993
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    Anmerkungen
    1) vgl. z. B. VOLLMER, "Evolutionäre Erkenntnistheorie", 1983, Seite 30
    2) Das hat VOLLMER in a. a. O. sehr deutlich betont. LORENZ spricht in "Die Rückseite des Spiegels", 1973, Seite 13 von einer "geheimnisvollen Identität" von subjektivem Erleben und physiologischen Vorgängen, bezeichnet dann aber in VIII.1 das *Leib-Seele-Problem* als unlösbar und verwendet vage Begriffe wie "Fulguration" oder "Emergenz". Emergenz - das Auftreten neuer Phänomene an komplexen Systemen - besagt aber, daß diese Phänomene prinzipiell mit denselben Gesetzen erklärbar sind, die für die Elemente der Systeme einschlägig sind, zumindest, daß die Eigenschaften der komplexen Systeme supervenient sind bezüglich jener ihrer Elemente.
    3) VOLLMER, a. a. O., Seite 45. VOLLMER sagt dort, das seien Antworten der "projektiven Erkenntnistheorie", der Evolutionstheorie in Verbindung mit dem Materialismus und dem projektiven Erkenntnismodell, erweitert durch Resultate von Psychologie und Physiologie. Diese Voraussetzungen rechnen wir aber - wie VOLLMER in "Evolution und Erkenntnisfähigkeit", Dialektik 8, 1984 - zur EE.
    4) vgl. KANT, Kritik der reinen Vernunft (Ausgabe B) Seite 167f.
    5) vgl. RIEDL, a. a. O., Kap. 4 und KASPAR "Die biologischen Grundlagen der evolutionären Erkenntnistheorie", in LORENZ/WUKETIS (Hg.), Die Evolution des Denkens, 1983, Seite 137f
    6) vgl. LORENZ, "Die Rückseite des Spiegels", 1973, Seite 16
    7) LORENZ, a. a. O., Seite 9
    8) LORENZ, Rückseite des Spiegels, Seite 16f
    9) HOIMAR von DITFURTH, Zusammenhänge, 1974, Seite 88
    10) vgl. LEWIS, "New work for a theory of universals, Australasian Journal of Philosophy, Vol. 61, 1983, Seite 361