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Die falsche Objektivität [4/4]
4 Erkenntnis als Produkt der Evolution 4.1 Grundgedanken der Evolutionären Erkenntnistheorie Im Sinn des Objektivismus ist alles Reale so zu beschreiben, wie es ansich ist, nicht nur so, wie es uns in unserer spezifisch menschlichen Perspektive erscheint. Das gilt auch für die Vorgänge des Erkennens. Sie sind als Prozesse zu analysieren, an denen Vorgänge in der Umwelt wie solche im kognitiven Apparat des Menschen beteiligt sind. Da der Objektivismus vor allem in Form des Materialismus vertreten wird, stellt sich Erkenntnis insbesondere als Leistung des menschlichen Gehirns als eines physikalischen Systems dar, so daß Erkenntnisvorgänge physikalische Prozesse sind. Die Physik, bzw. allgemeiner: die Naturwissenschaften sind also auch für die Erforschung des Erkennens, des Wahrnehmens und Denkens zuständig, und daher muß die Erkenntnistheorie naturwissenschaftlich betrieben werden. ![]() Mit der Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden und Theorien, speziell der Evolutionstheorie, auf Phänomene des Erkennens wird es nach Ansicht der Vertreter der EE möglich, endlich die Unfruchtbarkeit der philosophischen Erkenntnistheorie zu überwinden und deren Probleme empirisch zu behandeln. Das Ziel ist die Ablösung philosophischer Spekulationen durch eine exakte naturwissenschaftliche Theorie des Erkennens. ![]() ![]() Die Vertreter der EE unterscheiden sich jedoch in ihren Konzeptionen von der Reichweite der EE. Was von ihr gerade im allgemeinen gesagt wurde, trifft genau genommen nur auf die Konzeption der "Maximalisten" zu, wie ich sie einmal nennen will. Nach ihrer Ansicht ist die EE eine naturwissenschaftliche Disziplin - RUPERT RIEDL spricht von einer "Biologie der Erkenntnis" -, die sich nicht nur mit Erkenntnisvorgängen befaßt, sondern auch mit ihren Produkten, also z. B. wissenschaftlichen Theorien, so daß selbst eine biologische Aufklärung der Evolution der EE in den Bereich des Möglichen zu rücken scheint. Für die "Minimalisten" hingegen ist die EE zwar ebenfalls eine rein naturwissenschaftliche Disziplin, sie stellt jedoch kein Konkurrenzunternehmen zur Philosophie dar, denn sie erhebt nicht den Anspruch, eine vollständige Erkenntnistheorie zu liefern. Konsequenterweise lehnen sie daher auch die Rede von einer "kopernikanischen Wende" der Erkenntnistheorie ab. Für sie beansprucht die EE nur die Relevanz ihrer Resultate für eine allgemeine Theorie des Erkennens. Für CAMPBELL ist die EE in "Evolutionary epistemology, in Paul Schilpp, Hg.: The philosophy of Karl Popper, Seite 413-63, 1974) sogar nur eine Erkenntnistheorie, die mit der Ansicht verträglich ist, daß der Mensch ein Produkt biologischer und sozialer Evolution ist. ![]() Nun ist die Forderung der Minimalisten, eine Erkenntnistheorie müsse biologische Einsichten über das Erkennen berücksichtigen, kaum kontrovers. Was immer als richtig erkannt wird, ist zu berücksichtigen - egal, aus welcher Disziplin die Einsicht kommt. Auch die Vertreter der EE werden sich ja hoffentlich nicht weigern, philosophische Einsichten zur Kenntnis zu nehmen, nur weil sie aus der Philosophie stammen. Kontrovers ist lediglich, ob eine umfassende naturwissenschaftliche Theorie des Erkennens möglich ist, ob das Programm der Maximalisten sinnvoll ist. Das soll hier diskutiert werden. Wir verstehen daher unter der EE eine rein biologische Disziplin. Da sich die philosophische Erkenntnistheorie traditionell nicht mit logisch-mathematischer Erkenntnis, mit der Entwicklung von Sprachen und Theorien oder mit Werterkenntnis befaßt, wollen wir diesbezügliche Ansprüche der EE hier nicht diskutieren. Die EE geht von folgenden Voraussetzungen aus:
![]() 2. Der Materialismus. Danach lassen sich mentale Ereignisse physikalisch beschreiben und erklären. Ohne diese Annahme ließe sich mit der EE als einer naturwissenchaftlichen Theorie, die es allein mit Physischem zu tun hat, keine zureichenden Aussagen über mentale Phänomene machen; das Projekt der EE hätte also von vornherein keine Chance. (2) 3. Die Evolutionstheorie als fundamentale biologische Theorie. Diese Voraussetzungen sind für die EE keine unbezweifelbaren Dogmen, sondern Hypothesen, von denen sie ausgeht, die sich aber in ihrer Arbeit bewähren müssen, also prinzipiell ebenso revidierbar sind wie andere naturwissenschaftliche Hypothesen. Daher wird der vorausgesetzte Realismus auch als "hypothetischer Realismus" bezeichnet. Der von Lorenz formulierte Grundgedanke ist: Wenn man in der EE, ausgehend von diesen Hypothesen zu einer Theorie des Erkennens gelangt, die die Phänomene korrekt beschreibt und sie erklären kann, so bewähren sie sich und sind damit gerechtfertigt. ![]() ![]() ![]() ![]() Hier sollen nur einige der wichtigsten Antworten erläutert werden: subjektiven Erkenntnisstrukturen und objektiven Strukturen in der Natur Ist die Natur für uns erkennbar, so müssen unsere subjektiven Anschauungs- und Denkformen den objektiven Strukturen der Natur zumindest teilweise entsprechen. Die Frage, wie die Annahme einer solchen Übereinstimmung zu rechtfertigen und die Übereinstimmung selbst zu erklären ist, hat zuerst KANT gestellt (4). Seine Antwort war: Für eine Natur als Welt ansich, die unabhängig ist von menschlicher Erfahrung und menschlichem Denken, läßt sich die Annahme nicht rechtfertigen, wohl aber für die Natur als Welt, wie sie sich uns im Erleben und Denken darstellt, denn das ist eben die Welt, wie sie sich uns in unseren Anschauungs- und Denkformen zeigt; sie ist also schon von diesen subjektiven Formen geprägt. ![]() ![]() und Denkformen Wie KANT nimmt die EE apriorische Bedingungen möglicher Erfahrung an - freilich nicht aller denkbaren Sinnes- und Verstandeswesen, sondern unserer eigenen, gegenwärtigen menschlichen Erfahrung. Wie KANT wendet sie sich gegen das empiristische Erkenntnismodell, nach dem alle Begriffe, mit denen wir die Außenwelt beschreiben, aus der Erfahrung abstrahiert sind und alle empirischen Erkenntnisse aus Erfahrung gewonnen werden. Es gibt für sie Anschauungs- und Denkformen, die unabhängig von Erfahrungen sind und diese erst ermöglichen. Während solche Formen für KANT notwendige Bedingungen aller Erfahrung waren, sind sie für die EE jedoch kontingente Bedingungen: Sie ergeben sich aus den Eigenschaften unseres kognitiven Apparates und sind daher ontogenetisch apriori - Bedingungen der empirischen Erkenntnis durch das Individuum, das diesen speziellen Apparat hat -, phylogenetisch aber aposteriori, d. h. ein Produkt der Evolution. ![]() Die folgenden beiden Beispiele sollen verdeutlichen, was die EE zu apriorischen Denkformen zu sagen hat: HUME hat gezeigt, daß sich induktive Schlüsse weder logisch noch empirisch rechtfertigen lassen. Er hat darüber hinaus eine psychologische Theorie dieses Schließens entwickelt. Sie trägt zur Rechtfertigung dieses Schließens nichts bei, wie HUME betont, sondern beschreibt nur unser tatsächliches Verhalten und bietet eine Erklärung dafür an. Nach dieser Theorie verstärken Beobachtungen, daß Ereignisse vom Typ A in Verbindung mit solchen vom Typ B auftreten, unsere Erwartung, das werde auch in Zukunft so sein. Haben wir also viele solche Beobachtungen gemacht, so rechnen wir bei der nächsten Beobachtung eines A-Ereignisses fest damit, daß wiederum ein B-Ereignis stattfindet. NELSON GOODMAN hat in "The way the world is", Review of Metaphysics, Vol. 14, Seite 48-56,1960) jedoch gezeigt, daß das keineswegs generell gelten kann, sondern nur für manche Paare von Ereignistypen, die sich aber weder analytisch noch empirisch auszeichnen lassen. Man hat nun im Rahmen der EE versucht, das alte, HUMEsche Rätsel einer Rechtfertigung der Induktion durch eine Ergänzung seiner psychologischen Theorie zu lösen. Die Ergänzung besagt erstens, daß sich Erwartungen über die Korrelation von Ereignistypen nicht immer nur aus Beobachtungen ergeben, sondern teilweise auch angeboren sind. Daraus ergibt sich insofen ein Ansatz zur Lösung des neuen, GOODMANschen Rätsels der Induktion, als die angeborenen Erwartungen sich nur auf die Korrelation bestimmter Ereignistypen beziehen sollen. Unsere Praxis induktiven Schließens wird dann zweitens wieder durch die Annahme gerechtfertigt, unser kognitiver Apparat sei der Umwelt angepaßt, in der wir leben: Im großen Ganzen muß unsere Praxis zu richtigen Folgerungen führen, sonst hätten wir nicht überlebt. ![]() Wir haben schon in 2.1 auf HUMEs sachliche und psychologische Analysen von Kausalaussagen hingewiesen. Im Rahmen der EE haben RIEDL und KASPAR an die Gedanken HUMEs angeknüpft. (5) Sie gehen zunächst von seiner psychologischen Theorie aus, ergänzen sie aber durch die Behauptung, kausales Denken biete einen Selektionsvorteil, ließe sich also evolutionstheoretisch begründen. Ein Selektionsvorteil ergibt sich nur dann, wenn es in der Natur Kausalbeziehungen gibt, wenn also unsere genetisch bedingten Annahmen über solche Beziehungen eine kognitive Relevanz haben. ![]() Damit wollen wir unsere Skizze der EE abschließen und uns den Einwänden gegen sie zuwenden. Von den drei im letzten Abschnitt genannten Voraussetzungen der EE brauchen wir zwei hier nicht zu diskutieren: Die Evolutionstheorie hat sich in der Biologie zweifellos gut bewährt, und der Materialismus wurde schon im 1. Kapitel erörtert. Nach unseren Überlegungen ist mit ihm eine der wesentlichen Voraussetzungen der EE nicht haltbar. Da der Materialismus nur eine Version des Objektivismus ist, wollen wir im folgenden von diesem Punkt jedoch absehen, soweit das möglich ist. Es ist aber etwas zum projektiven Erkenntnismodell zu sagen. Zunächst ist festzustellen, daß in der EE ein Erkenntnisbegriff verwendet wird, der erheblich weiter ist als der normale. Im normalen Sinn setzt Erkenntnis Bewußtsein voraus, nach den Überlegungen in 3.4 sogar die Fähigkeit, sich von Gründen leiten zu lassen, so daß von ihr nur beim Menschen die Rede sein kann. Die EE schreibt sie hingegen schon einfachsten Organismen zu. Für die EE gilt: "Leben ist Erkennen", und LORENZ deutet jede Anpassung als Erkenntnisleistung. Wie man das Wort "Erkennen" verwenden will, ist zwar eine terminologische Frage, aber ein Abweichen vom normalen Sprachgebrauch birgt die Gefahr in sich, daß es zu einer Verwechslung der beiden Begriffe kommt. So will LORENZ z. B. die Erkenntnisfähigkeit mit der Angepaßtheit des Menschen an seine Umgebung erklären, aber das ist offenbar zirkulär, wenn "Erkenntnis" generell als Anpassung definiert wird. Man verfährt in der EE oft so, als ob mit der Umdefinition des Wortes schon erwiesen sei, daß menschliche Erkenntnis (im normalen Sinn) prinzipiell nichts anderes sei als das, was sich schon beim oft zitierten Pantoffeltierchen findet, das, wenn es auf ein Hindernis stößt, erst ein Stückchen zurück und dann in einer zufallsbestimmten anderen Richtung wieder vorwärts schwimmt. ![]()
![]() ![]() LORENZ hat die zentrale Annahme des projektiven Modells der Erkenntnis so formuliert,
![]() ![]() Zu den angeblichen Leistungen der EE ist folgendes zu sagen: Die evolutionstheoretische Lösung des Problems der Erkennbarkeit der Welt ist, philosophisch gesehen, doch recht naiv. Sie setzt erstens die Erkennbarkeit der Welt voraus, ![]() ![]() ![]() Die Verwendung der Termini "apriori" und "aposteriori" im Rahmen der EE ist, wie WOLFGANG STEGMÜLLER in "Evolutionäre Erkenntnistheorie, Realismus und Wissenschaftstheorie", in Spaemann, Koslowski, Löw: Evolutionstheorie und menschliches Selbstverständnis, Seite 5-34, 1984 hervorgehoben hat, schief, denn sie entspricht nicht dem Sinn, in dem sie seit KANT üblich sind. Davon kann man zwar absehen, da es der EE nicht um eine KANT-Interpretation geht. Eine Erklärung der apriorischen Strukturen unserer Erfahrung müßte jedoch von einer Konzeption der Welt ausgehen, die von ihnen unabhängig ist, und dann zeigen, aufgrund welcher Umstände Lebewesen mit dieser speziellen kognitiven Optik entstanden sind, welchen Selektionsvorteil das für sie bedeutete und wie gut diese Optik dem Mesokosmos angepaßt ist. Man müßte also die Funktionsweise unserer menschlichen Optik von einem externen Standpunkt aus erfassen. Das kann aber deswegen nicht gelingen, weil wir ohne unsere Optik nichts sehen. Wir sehen als Menschen immer nur mit Hilfe unserer Optik etwas, sie ist also immer auch Mittel, nie nur Gegenstand unserer Betrachtungen. Auch unser naturwissenschaftliches Weltbild ist ein Bild, das wir Menschen uns unter der Bedingung unseres Erkennens machen, keine getreue Widerspiegelung der Welt ansich in unserem Bewußtsein. LORENZ, der die "Rückseite des Spiegels" menschlicher Erkenntnis beleuchtete, hat vergessen, daß auch sein eigener Spiegel als Biologe eine Rückseite hat. Auch die EE sieht also die Welt durch die Brille unseres kognitiven Apparates. Kein Wunder, daß diese Brille dann als besonders gut angepaßt erscheint. Sie erscheint nur gut, weil ich durch sie die Welt so sehe, wie sie mir durch die Brille erscheint. Der naive Realismus des Alltags wird also lediglich durch einen naiven Realismus der Naturwissenschaften ersetzt. ![]() Wie wir gesehen haben, gehen die Gedanken der EE zum induktiven Schließen in zwei Punkten über die psychologische Theorie HUMEs hinaus. Zunächst einmal soll durch eine Zusatzannahme eine Rechtfertigung des induktiven Schließens geliefert werden. Unser kognitiver Apparat, so sagt man, ist durch Anpassung an die reale Welt hervorgegangen. Da uns die Erwartung gewisser Uniformitäten in der Natur - daß es in mancher Hinsicht so bleiben wird, wie es immer war - angeboren ist, muß sie zumindest im großen Ganzen zutreffen, sonst hätten wir nicht überlebt. Diese Art der Anwendung der Evolutionstheorie ist aber nicht akzeptabel: Ebenso könnte man ja auch schließen: "Die allermeisten Menschen glauben an die Existenz göttlicher Wesen, also muß dieser Glaube einen Selektionsvorteil darstellen, also ist er korrekt." Das ist kaum mehr als eine Umformulierung des alten Arguments e consensu omnium [die Übereinstimmung aller - wp]. Um nachzuweisen, daß unsere Annahme von Uniformitätsprinzipien durch Anpassung entstanden sein können, müßte man vielmehr zeigen, daß diese Prinzipien tatsächlich gelten. Woher will der Biologe das aber wissen? Er kann solche Uniformitäten ja selbst nur induktiv erschließen, und dabei setzt er sie schon voraus. ![]() Die Aussagen der EE bleiben auch weit hinter dem gegenwärtigen Diskussionsstand in der Wissenschaftstheorie zurück. ![]() ![]() ![]() Entsprechendes gilt für die Aussagen der EE zur Kausalität. Selbst wenn man annimmt, daß sich der Gedanke der Energieübertragung von der Ursache auf die Wirkung so präzisieren läßt, daß sich eine adäquate Explikation der Wörter "Ursache" und "Wirkung" ergibt, hat man damit für eine evolutionstheoretische Erklärung unseres kausalen Denkens noch nichts gewonnen. Das Kausalprinzip, nach dem jedes Ereignis eine Ursache hat, ist damit noch nicht als ein angeborenes Denkschema erwiesen. Erstens spielt Energieübertragung als wissenschaftliches Konzept im vorwissenschaftlichen Denken kaum eine Rolle, und zweitens bleibt offen, welchen Selektionswert ein solches Denkschema hätte. Es müßte jedenfalls ein speziellerer Vorteil sein als der, sich aufgrund von Beobachtungen Erwartungen über künftige Ereignisse bilden zu können. Diese Fähigkeit genügt aber wohl für ein zweckmäßiges Verhalten. ![]() ![]() Abschließend wollen wir auf die wichtigsten generellen Einwände gegen das Programm der EE eingehen. Erkenntnistheorie sein Dieser Einwand besagt, daß die EE als empirische Tatsachenwissenschaft allenfalls Aussagen zu einer deskriptiven Erkenntnistheorie machen kann, nicht aber zu einer normativen. Sie kann also nur sagen, wie wir tatsächlich denken, aber nicht, wie wir denken sollten; sie kann keine Kriterien für rationales Denken rechtfertigen. ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() Dieser Einwand besagt: Die EE läßt die philosophische Grundeinsicht außer acht, daß es keine Erkenntnistheorie "von außen" geben kann. Wir können unseren kognitiven Apparat nicht von einem externen Standpunkt aus betrachten und so tun, als verwendeten wir ihn nicht auch in der Erkenntnistheorie. Davon war schon oben die Rede. Die Berechtigung dieses Vorwurfs sei durch ein Zitat belegt. RIEDL sagt in "Biologie der Erkenntnis" (1980), die Geschichte der philosophischen Erkenntnistheorie zeige, daß sich Vernunft nicht durch sich selbst erhellen läßt. Hier weise die Biologie, speziell die EE, den Ausweg - offensichtlich ist sie also nicht vernünftig. Der Biologe, so RIEDL, "besitzt jenen Standpunkt, der es ermöglicht, die Vernunft von außen her zu begründen. Dies ist die evolutionäre Erkenntnistheorie." Und weiter: Wir beziehen damit zur Erforschung des Erkenntnisprozesses einen Standpunkt außerhalb unseres eigenen Erkenntnisvorgangs; einen biologisch objektiv beschreibbaren." ![]() Die EE setzt die Evolutionstheorie und darüber hinaus die Methoden und Resultate der Naturwissenschaften als gültig bzw. zuverlässig voraus - wenn auch nicht als unfehlbar -, schließt sie also aus dem Bereich jener Verfahren und Annahmen aus, die sie auf ihre Verläßlichkeit hin prüft. Sie beantwortet daher nicht die generelle Frage "Welche Annahmen über die Welt lassen sich als richtig oder wahrscheinlich rechtfertigen?", sondern nur die Frage "Welche Annahmen über die Welt lassen sich unter der Voraussetzung rechtfertigen, daß die Theorien, Ergebnisse und Methoden der Biologie uns ein korrektes Bild von ihr liefern?" Dabei ist zu beachten, daß Biologen in ihrer Arbeit auch vieles verwenden, was nicht zum Themenkreis der Biologie gehört. Sie verwenden z. B. Logik, Mathematik und Physik. Praktisch fällt damit ein großer Teil wissenschaftlicher Erkenntnis aus dem Horizont der EE heraus. KONRAD LORENZ schreibt:
![]() Ein weniger naives Programm hat LORENZ, wie erwähnt, an anderer Stelle angedeutet. Er sieht dort die EE als Teil eines größeren Forschungsprogramms, in dem sowohl unser kognitiver Apparat wie die Welt untersucht werden soll. Wir beginnen mit Annahmen über die Welt, den Voraussetzungen der EE und naturwissenschaftlichen Theorien, und ziehen daraus gewisse Schlüsse über die Beschaffenheit unseres kognitiven Apparates. Die sich dabei ergebenden Annahmen darüber, wie er die Welt darstellt, müssen zu den ursprünglichen Annahmen über die Welt passen, denn die sind ja auch Produkte unseres kognitiven Apparates. Dadurch ergeben sich eventuell Modifikationen der Ausgangshypothesen. Mit den modifizierten Hypothesen wiederholt sich dann der Kreislauf, bis wir zu einer kohärenten Theorie sowohl des kognitiven Apparats wie der Welt gelangen. Ein solches Programm nähme sich nicht schlecht aus, wenn da nicht die leidige Rede vom "kognitiven Apparat" wäre. Im Sinn des Materialismus bestimmt er unser Denken, wir können also gar nicht anders denken, als wir das tatsächlich tun, und damit sind erkenntnistheoretische Reflexionen von vornherein gegenstandslos. Alles Denken ist Betätigung des Apparats und sein Resultat ist vorgezeichnet, sei es nun richtig oder falsch. Wir haben so gar nicht die Fähigkeit, vernünftigen Gründen zu folgen. Im übrigen haben wir im letzten Kapitel gesehen, daß es keine vollständige Theorie menschlichen Denkens gibt, wie sie die EE anzielt. ![]() Der Einwand der Naivität wird oft zu einem Vorwurf der Zirkularität verschärft. Gegenüber Zirkularitätsbehauptungen ist zwar eine gewisse Vorsicht am Platz, auch der philosophischen Erkenntnistheorie könnte man ja den Vorwurf machen, eine Kritik der Vernunft durch diese Vernunft selbst sei zirkulär. Es gibt aber in der EE Argumente, die man als eindeutig zirkulär bezeichnen muß. So wird, wie schon betont wurde, die Annahme einer Erkennbarkeit der Welt mit ihr selbst begründet: Es wird vorausgesetzt, daß wir in der Biologie die Welt - jedenfalls in gewissen Grenzen - so erkennen, wie sie ist, ![]() ![]() Ein Gegeneinwand lautet: Ein fehlerhafter Zirkel ergäbe sich nur dann, wenn es darum ginge, eine Letztbegründung für erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis zu liefern, und dabei biologische Theorien mit sich selbst begründet würden. Nun fasse die EE aber all ihre Aussagen und Voraussetzungen nur als Hypothesen auf und wolle keine Begründungen liefern, die irgendwelche Aussagen als definitiv wahr und unwiderleglich ausweisen; diese Hypothesen müßten sich vielmehr an der Erfahrung bewähren. Tatsache bleibt aber doch, daß die EE beansprucht, die Passung zwischen unserer Erkenntnisstruktur und der Natur zu erklären - darin sieht sie ja gerade einen ihrer wesentlichen Erfolge. Diese Passung wird aber mit den naturwissenschaftlichen Theorien schon vorausgesetzt. Das ist ein einwandfreier Zirkel. Es ist auch gar nicht denkbar, daß wir erkennen könnten, daß unsere Erkenntnisstrukturen nicht zu denen der Wirklichkeit passen; die Hypothese der Passung läßt sich also nicht empirisch falsifizieren. Eine petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] wird im übrigen auch nicht dadurch zu einem korrekten Argument, daß man das begründete und zugleich begründende Prinzip zur Hypothese erklärt. ![]() Ein weiterer Gegeneinwand von VOLLMER lautet: Die Strukturen des kognitiven Apparats, die in der EE untersucht werden, sind nur für Wahrnehmungen konstitutiv, nicht aber für wissenschaftliche Erkenntnis; die Existenz verschiedener Erkenntnisstufen ermöglicht die Kontrolle und Kritik der tieferen durch die höheren. Dann bleibt aber die naturwissenschaftliche Stufe unkontrolliert. Das gesteht auch VOLLMER zu, der sogar betont, es gebe keine letzte, "subjektfreie" Erkenntnisstufe - er verwendet das freilich nur für den Hinweis, die philosophische Erkenntnistheorie habe der EE nichts vorzuwerfen. Bei der Kritik naturwissenschaftlicher Erkenntnis läßt uns also die EE im Stich. Da deren Aussagen über die untere Stufe der Erkenntnis, die Wahrnehmung, aber auf naturwissenschaftlichen Einsichten beruhen, bleiben auch sie ohne ausreichende Legitimation. Man kann es also drehen und wenden wie man will: Ist die EE nicht zirkulär, so kann sie ihre Versprechungen doch nicht erfüllen. ![]() Mit diesen kritischen Bemerkungen soll in keiner Weise bestritten werden, daß die Biologie etwas zum Thema "Erkenntnis" beisteuern kann. Daß jede Theorie des Erkennens mit biologischen wie sonstigen Tatsachen verträglich sein muß, wurde schon betont und ist ohnehin trivial. In der philosophischen Erkenntnistheorie geht es aber nicht darum, wie Erkenntnisprozesse tatsächlich ablaufen, sondern um das Problem einer Rechtfertigung unserer Erkenntnisansprüche, und dazu kann die Biologie als Tatsachenwissenschaft nichts beitragen. ![]() Viele evolutionären Erkenntnistheoretiker sind Anhänger des kritischen Realismus, aber das ist nicht der Grund, warum wir hier auf ihn eingehen. Für die Grundgedanken der EE spielt er kaum eine Rolle, wohl aber für die des Objektivismus. Wir haben schon im Vorwort darauf hingewiesen, daß dieser im Übergang vom Weltbild des Alltags zu dem der Naturwissenschaften eine Bestätigung für die Möglichkeit einer objektiven, von der spezifisch menschlichen Perspektive freie Sicht der Wirklichkeit sieht. ![]() Der kritische Realismus setzt den wissenschaftlichen Realismus voraus. Dieser besagt, daß nicht nur das existiert, was wir unmittelbar beobachten können wie Steine und Sterne, sondern auch das, wovon die naturwissenschaftlichen Theorien sprechen, also z. B. Quarks und Gravitationsfelder. Wissenschaftliche Theorien sind danach nicht nur Instrumente, mit denen wir aufgrund vergangener Beobachtungen künftige voraussagen können, sondern Aussagen über die Beschaffenheit der Welt. Sie zeigen uns eine Realität hinter den Erscheinungen, und die bildet die Grundlage für die Erklärung der Phänomene. Wir erklären z. B. die Eigenschaften des Goldes mit seiner atomaren Struktur und die Temperatur von Körpern durch eine Bewegung ihrer Moleküle. In diesem Sinn ist die Realität hinter den Erscheinungen die grundlegende Realität. Der kritische Realismus geht nun einen entscheidenden Schritt über den wissenschaftlichen hinaus, indem er die Realität der Phänomene leugnet. Für ihn ist die Welt unserer sinnlichen Erfahrung eine Jllusion, hinter der sich die wahre Wirklichkeit, die der Atome und elektromagnetischen Felder, verbirgt - eine Jllusion, die durch die Natur unserer Sinnesorganisation erzeugt wird. Die Welt ist nicht so, wie die Physik uns das schildert. Grob gesagt behauptet also der wissenschaftliche Realismus: Es gibt nicht nur Steine und Tische, sondern auch Neutrinos und Quarks, während der kritische Realismus sagt: Es gibt nur Neutrinos und Quarks. ![]()
![]() ![]() Die Kritik am naiven Realismus setzt schon in der antiken Philosophie mit DEMOKRIT ein, der einen Materialismus vertrat und eine Atomtheorie. Die Atome haben nur Form und Masse, die Körper als Verbindungen von Atomen haben darüber hinaus auch Härte, die davon abhängt, wie dicht die Atome im Körper gelagert sind. Ebenso lassen sich auch alle anderen wahrnehmbaren Qualitäten der Dinge auf Eigenschaften von Atomen und ihren Aggregaten zurückführen. DEMOKRIT hat eine Theorie der Wahrnehmung entwickelt, nach der die Sinnesempfindungen von den objektiven Qualitäten der Dinge, also der Komplexe von Atomen, abhängen und von der Organisation unseres Wahrnehmungsapparates. Schon bei ihm findet sich die Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten. Primäre Qualitäten wie Form, Härte und Gewicht, sind solche, die den Dingen selbst zukommen und ihre objektive Beschaffenheit charakterisieren. ![]() ![]() Der wissenschaftliche Realismus sieht die Beobachtungssprache als Teil der Wissenschaftssprache an und behauptet keineswegs, ihre Sätze drückten keine Tatsachen aus. In MAXWELLs Gleichungen der Elektrodynamik kommen zwar keine Terme der normalen Sprache vor, aber die metrischen Größen in ihnen erhalten nur dadurch einen empirischen Sinn, daß man festlegt, wie sie zu messen sind. ![]() Am Beginn der Neuzeit setzt die Kritik am naiven Realismus wiederum mit der Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten ein. Sie findet sich bei DESCARTES und LOCKE. Bei BERKELEY werden dann alle beobachtbaren Eigenschaften zu sekundären, und daraus ergibt sich für ihn ein Argument für den Idealismus. Nach DESCARTES kann man nur von klaren und distinkten Perzeptionen behaupten, daß sie uns die Welt so zeigen, wie sie ist. Distinkte Perzeptionen sind solche, deren Inhalt sich mit exakten Begriffen beschreiben läßt, und exakte Begriffe sind für ihn metrische Begriffe. Im Effekt sind das zwar physikalische Begriffe, aber er gibt doch ein generelles Kriterium für primäre Qualitäten an und identifiziert sie nicht einfach mit den Grundbegriffen der zeitgenössischen Physik, wie das im kritischen Realismus oft geschieht. Der übliche systematische Ansatz geht jedoch von einer Unterscheidung von intrinsischen und extrinsischen Qualitäten aus: Intrinsisch sind jene Eigenschaften eines Objekts, die ihm unabhängig von seinen Beziehungen zu anderen Objekten zukommen, extrinsisch sind jene, die es nur aufgrund seiner Beziehungen zu anderen Objekten hat. Primäre Qualitäten sollen nun intrinsische Eigenschaften sein, denn sie charakterisieren das Objekt, wie es ansich ist. Sekundäre Qualitäten sollen hingegen all jene extrinsischen Eigenschaften sein, die der Gegenstand aufgrund seiner Beziehungen zu einem Betrachter hat, bzw. die Eigenschaften, die es für den Betrachter zu haben scheint. Sie sollen sich aus den intrinsischen Eigenschaften des Objekts und jenen des Betrachters ergeben - vor allem aus der Beschaffenheit und Funktionsweise seines Wahrnehmungsapparates. Diese Annahme war eine Folge der These der traditionellen Logik, Relationen ließen sich durch Eigenschaften der Relata definieren. Die sekundären Qualitäten der Dinge hängen also von den Eigenschaften des Betrachters ab; ein Objekt hat sie nicht als solches, sondern nur für uns. Daher wird der sekundäre Charakter von Eigenschaften dadurch nachgewiesen, daß sie von subjektiven Parametern beeinflußt werden. Ein solches Argument findet sich schon bei DESCARTES: Wir empfinden ein Ding als hart, wenn es dem Druck unserer Hände Widerstand leistet. Würde es vor diesem Druck zurückweichen, würden wir es nicht als hart empfinden. Nun kann aber die Bewegung relativ zu unseren Händen nicht die Natur der Dinge verändern, also können wir Härte nicht den Dingen selbst zuschreiben. ![]() Solche Argumente ignorieren jedoch den Unterschied, den wir zwischen den Aussagen "Ich empfinde etwas als hart bzw. warm" und "Es ist hart bzw. warm" machen. In LOCKEs Beispiel werde ich nicht sagen: "Das Wasser im zweiten Eimer ist warm und kalt zugleich", sondern: "Ich empfinde das Wasser mit der linken Hand als warm, mit der rechten als kalt". Der letztere Satz enthält im Gegensatz zum ersten keinen Widerspruch. Warm ist eine Eigenschaft, die wir den Dingen selbst zuschreiben, nicht unseren Empfindungen. Es gibt objektive Kriterien für Wärme, die nicht auf Empfindungen Bezug nehmen; wir messen sie z. B. mit Thermometern. ![]() Ferner bedeutet "intrinsisch" etwas anderes als "ansich". Rund sein ist eine intrinsische Eigenschaft, aber keine Eigenschaft eines Dings-ansich, wie z. B. KANT es versteht. Umgekehrt ist nicht gesagt, daß Eigenschaften, die den Dingen ansich zukommen, immer nur intrinsisch sind. Die traditionelle These von der Definierbarkeit von Beziehungen durch Eigenschaften ist falsch. Die Beziehung z. B. die zwischen zwei Zeitpunkten besteht, wenn der erste früher liegt als der zweite, läßt sich nicht durch intrinsische Eigenschaften der Zeitpunkte definieren. Relationen sind für die Bestimmung der Realität ebenso grundlegend wie Eigenschaften, und daher kann man nicht behaupten, die Dinge stünden ansich zueinander nicht in Beziehungen. Beschreiben aber Beziehungen die Dinge, wie sie ansich sind, so auch die mit ihnen definierbaren relationalen Eigenschaften. Ist Früher als eine objektive Relation zwischen Zeitpunkten, so auch die Eigenschaft Früher als Christi Geburt. Selbst wenn wir also annähmen, sekundäre Qualitäten seien relationale Eigenschaften der Dinge, könnten sie diesen ansich zukommen. Jede Eigenschaft eines Objekts kommt ihm selbst zu. Auch von mir als warm empfunden werden ist eine Eigenschaft von Dingen und kommt ihnen selbst, wenn auch nicht ansich zu. ![]() Schon BERKELEY hat LOCKEs Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten angegriffen. Ihm ging es jedoch darum zu zeigen, daß alle Qualitäten sekundär sind, und so brachte er für die Subjektivität der von LOCKE als primär bezeichneten Qualitäten analoge Argumente vor, wie dieser für die von ihm als sekundär angesehenen Qualitäten. So sagte er, wir könnten den Dingen selbst keine Größe zuschreiben, denn ein Gegenstand erscheint uns umso größer, je näher wir ihm sind. Wir können also die beobachteten Größen nicht den Dingen selbst zuschreiben, ohne in Widersprüche zu geraten. Nun hat LOCKE sich auch oft so ausgedrückt, daß die sekundären Qualitäten nicht den Dingen zukommen, sondern unseren Eindrücken, Vorstellungen oder Idee von ihnen. Demgegenüber betonte BERKELEY zurecht, daß man von miteinander zusammenhängenden Eigenschaften nicht einige den Dingen selbst, die anderen aber nur ihren mentalen Bildern zusprechen kann. Was farbig ist, ist z. B. auch ausgedehnt; man kann also nicht sagen, ein Ding selbst sei ausgedehnt, farbig sei hingegen nur die Vorstellung ![]() Die Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten führt also zu keinem brauchbaren Einwand gegen den naiven Realismus, gegen die Ansicht, Aussagen über die Farbe, Wärme oder Härte von Dingen beziehen sich ebenso auf objektive Tatsachen wie die der Mikrophysik. Als Argument für den kritischen Realismus bleibt dann nur folgender Gedanke: Das Weltbild der Wissenschaften ist das genaueste, detaillierteste und am besten überprüfte, über das wir verfügen. Es widerspricht aber in vielen Punkten dem Bild, das wir uns aufgrund unserer alltäglichen Erfahrung von der Welt machen. Nach diesem ist meine Tabaksdose z. B. ein solides, kompaktes Ding, physikalisch betrachtet ist sie hingegen ein Aggregat von Molekülen, das vorwiegend aus leerem Raum besteht. Für die Dose als Substanz und als Aggregat gibt es verschiedene Identitätskriterien: Das Aggregat wird ein anderes, wenn Moleküle diffundieren [sich gegenseitig durchdringen - wp], die Dose bleibt dieselbe. Die Nachbarschaft von Rot und Violett im phänomenologischen Kreis der Farben hat keine Entsprechung im linearen Spektrum der elektromagnetischen Strahlung, denn Rot und Violett liegen an entgegengesetzten Enden des sichtbaren Bereichs. Nun gibt es aber nur eine Realität und diese Realität hat eine eindeutige Beschaffenheit. Sie kann also nicht so sein, wie uns das die Physik lehrt, und zugleich auch so, wie sie sich uns in unseren Wahrnehmungen darstellt. In diesem Konflikt spricht aber alles für das wissenschaftliche Weltbild. ![]() Die Kritik dieser Überlegung ergibt sich schon aus der früheren Bemerkung, daß die Beobachtungssprache ein unverzichtbarer Teil der Sprache der Physik ist, daß man also ihren Aussagen kognitive Relevanz nicht absprechen kann. Im übrigen besteht aber auch kein ernsthafter Konflikt zwischen dem wissenschaftlichen und dem vorwissenschaftlichen Weltbild. Man kann nicht davon ausgehen, daß dasselbe Wort im alltäglichen und im wissenschaftlichen Gebrauch denselben Sinn hat. Kompaktheit im normalen Sinn heißt vollständige Erfüllung des Volumens mit einem Material wie z. B. Blech, aber auch ein Physiker wird nicht sagen, zwischen den Molekülen meiner Tabaksdose befinde sich kein Blech; Blech ist von vornherein nichts, was sich zwischen seinen Molekülen befinden könnte. Die Nachbarschaft von Rot und Violett im Farbkreis ist eine Farbähnlichkeit, die Nachbarschaft im Spektrum der elektromagnetischen Strahlung ist hingegen eine geringe Differenz in den Wellenlängen. Das sind verschiedene Relationen, so daß sich kein Widerspruch aus der Feststellung ergibt, daß zwei Farben in einem, aber nicht in einem anderen Sinn benachbart sind. Aus der Tatsache, daß es für Dosen und Aggregate unterschiedliche Identitätskriterien gibt, folgt nicht, daß wir nicht von jeder Dose in jedem Moment ihrer Existenz sagen könnten, sie sei ein Aggregat von Molekülen. ![]() Die Wahrheit der Aussagen der Physik steht so nicht in einem Konflikt mit der Wahrheit der Sätze unserer Alltagssprache über Physisches. Die Welt wird nicht nur durch die wahren Sätze der Physik richtig beschrieben, sondern jede wahre Aussage über die Natur beschreibt sie richtig. Man kann nicht behaupten, der Satz "Dieser Körper reflektiert bei Bestrahlung mit physikalisch weißem Licht elektromagnetische Strahlung vorwiegend im Wellenlängenbereich um 0.7 µm" sei wahrer als der Satz "Dieser Körper ist rot". Für exakte Beschreibungen eignet sich die physikalische Sprache sicher besser als die normale, aber nicht nur exakte Aussagen sind richtig. Kein Realist wird den Erkenntniswert der Physik bestreiten; die Behauptung, erst sie zeige uns, wie die Welt wirklich beschaffen ist, ist jedoch Unsinn. Historisch gesehen steht der kritische Realismus in der Tradition des erkenntnistheoretischen Idealismus. Er sieht die Welt hinter den Phänomenen, wie sie die Physik mit ihren theoretischen Aussagen beschreibt, als die Welt ansich an, während wir es in unseren schlichten Wahrnehmungen nur mit Phänomenen zu tun haben, die lediglich für uns existieren. Wie der Idealismus desavouiert er Erfahrung als Brücke zur Außenwelt, und steht dann vor dem Problem, wie sich Aussagen über die Welt noch legitimieren lassen. ![]() ![]() ![]() Anmerkungen 1) vgl. z. B. VOLLMER, "Evolutionäre Erkenntnistheorie", 1983, Seite 30 2) Das hat VOLLMER in a. a. O. sehr deutlich betont. LORENZ spricht in "Die Rückseite des Spiegels", 1973, Seite 13 von einer "geheimnisvollen Identität" von subjektivem Erleben und physiologischen Vorgängen, bezeichnet dann aber in VIII.1 das *Leib-Seele-Problem* als unlösbar und verwendet vage Begriffe wie "Fulguration" oder "Emergenz". Emergenz - das Auftreten neuer Phänomene an komplexen Systemen - besagt aber, daß diese Phänomene prinzipiell mit denselben Gesetzen erklärbar sind, die für die Elemente der Systeme einschlägig sind, zumindest, daß die Eigenschaften der komplexen Systeme supervenient sind bezüglich jener ihrer Elemente. 3) VOLLMER, a. a. O., Seite 45. VOLLMER sagt dort, das seien Antworten der "projektiven Erkenntnistheorie", der Evolutionstheorie in Verbindung mit dem Materialismus und dem projektiven Erkenntnismodell, erweitert durch Resultate von Psychologie und Physiologie. Diese Voraussetzungen rechnen wir aber - wie VOLLMER in "Evolution und Erkenntnisfähigkeit", Dialektik 8, 1984 - zur EE. 4) vgl. KANT, Kritik der reinen Vernunft (Ausgabe B) Seite 167f. 5) vgl. RIEDL, a. a. O., Kap. 4 und KASPAR "Die biologischen Grundlagen der evolutionären Erkenntnistheorie", in LORENZ/WUKETIS (Hg.), Die Evolution des Denkens, 1983, Seite 137f 6) vgl. LORENZ, "Die Rückseite des Spiegels", 1973, Seite 16 7) LORENZ, a. a. O., Seite 9 8) LORENZ, Rückseite des Spiegels, Seite 16f 9) HOIMAR von DITFURTH, Zusammenhänge, 1974, Seite 88 10) vgl. LEWIS, "New work for a theory of universals, Australasian Journal of Philosophy, Vol. 61, 1983, Seite 361 |