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OTTO SÖHRING
David Humes Skeptizismus
[ein Weg zur Philosophie]
[1/2]

"Nehmen wir irgendeinen Band, aus der Theologie oder Schulmetaphysik z. B. zur Hand, so fragen wir: Enthält er einen abstrakten Schluß über Größe und Zahl? Nein. Enthält er einen Erfahrungsschluß über Tatsache und Existenz? Nein. Also ins Feuer damit; denn er kann nichts als Sophisterei und Täuschung enthalten!"

"Hume sucht sich über die Gründe klar zu werden, die zu den geltenden Dogmen geführt haben. Es reizt ihn zu verstehen und andere verstehen zu lehren, wie man denn dazu hat kommen können, sich im Besitz von Wahrheiten zu wähnen, über die doch in Wirklichkeit gar nichts Bindendes ausgesagt werden kann."

"Soll zur Wahrnehmung die ihr entsprechende Vorstellung treten; sollen weiter die Vorstellungen nicht in alle Ewigkeit als zusammenhanglose Einzelelemente nebeneinander bestehen bleiben, sondern miteinander verknüpft werden, so muß etwas im Geist sein, das diese Arbeiten verrichtet."

Es ist kein Zweifel: unsere Zeit steht in hervorragendem Maß unter dem Zeichen eines wiedererwachten philosophischen Interesses. Man ist des trockenen Tones satt, man will endlich bauen, nachdem man so lange Kärrnerdienste geleistet hat. Der Zoologe stellt das tote Werkzeug der Kleinarbeit in die Ecke und besteigt den geflügelten Wagen der Phantasie, um Welträtsel zu lösen. Der Chemiker ist es müde, den Elementen, daraus unsere Welt sich aufbaut, nur immer neue Seiten der äußeren Erscheinung abzugewinnen; er will ins Innere der Natur dringen, trotzalledem und alledem.

Dieses faustische Verlangen unserer besten Geister nach tieferer Erkenntnis, als sie die vollkommenste Wissenschaft zu geben vermag, dieser Drang, von einem wahren Weltbild den Schleier wegzuziehen, hat die Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit mit der in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Naturwissenschaft und Technik allen "metaphysischen Träumereien" gegenüberstanden, freilich noch nicht völlig überwinden können. Aber das Beispiel der wenigen wirkt auf die vielen, und so erleben wir es wohl noch, daß die Wissenschaft - wie PAULSEN einmal sagt - mehr und mehr aufhört, zentrifugal zu sein, um wieder zentripetal, philosophisch orientiert zu werden. Es ist wohl so: auch die geistige, die philosophische Bewegung in der Kulturmenschheit geht nicht geradlinig, sondern wellenförmig vor sich. Von einem Wellenberg hochgespannten philosophischen Interesses, auf dessen Gipfel sie das ausgehende 18. Jahrhundert getragen hatte, glitt sie, sich überschlagend, im zweiten Drittel des 19. in das tiefste Tal stumpfer Teilnahmslosigkeit hinab, das die Geschichte je gesehen hat. Werden wir fehlgehen, wenn wir glauben, daß es nun wieder bergauf geht?

Freilich, selbst Namen wie HÄCKEL und OSTWALD würden uns kaum berechtigen das anzunehmen, wenn sie ihre Stimmen als Propheten in der Wüste erschallen ließen. Die hat es immer gegeben, und ein Johannes ist keiner von beiden. Aber wir leben in keiner Wüste. Im Gegenteil: allzu üppig fast sprießt und blüht es im Garten unseres geistigen Lebens, und es ist manches Unkraut unter den guten und nützlichen Pflanzen und mancher Baum, der giftige Früchte trägt. Sehen wir auf dem Gebiet der theoretischen Wissenschaften Anzeichen für eine kräftigere Durchdringung aller Disziplinen mit philosophischem Geist, so sind wir mitten in einem sinnverwirrenden, ohrenbetäubenden Getriebe, sobald unser Fuß das weite Land des praktischen Lebens betritt. Kein Wunder; ist doch die Philosophie - auch die des größten Theoretikers, auch die KANTs - in erster Linie auf das Praktische gerichtet. Ethische Fragen sind es zunächst, durch welche die große Masse der Gebildeten, durch die schließlich jeder Mensch zur Beschäftigung mit den allgemeinen Dingen hingeführt wird; ist doch nach KANT "Philosophie die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft", d. h. in erster Linie auf das Handeln. Und so zimmert sich dann jeder seine Weltanschauung zurecht, in "neuen Gemeinschaften", Giordana-Bruno-Bünden und "ethischen Gesellschaften" sammeln sich die gleichgestimmten und gleichgesinnten Seelen, und Schlagworte wie Individualismus und Sozialismus, Egoismus und Altruismus hallen laut durch die Welt. Ganz zu schweigen von der "Herrenmoral" und der "Umwertung aller Werte"; denn NIETZSCHE, dessen Verehrung bei seiner Gemeinde nachgerade in einen echten und rechten Kult ausgeartet ist, hat sein gerüttelt Maß Verdienst und Schuld an dem regen und wirren Treiben auf dem Markt, da sittliche Werte gewürdigt, getauscht und - gemünzt werden. Wer wollte leugnen, daß auch den höchsten Fragen gegenüber, die das menschliche Herz bewegen, den religiösen, eine immer lebhaftere Anteilnahme zu verspüren ist? Neue Wege zu alten Wahrheiten werden gesucht, neue Schläuche für alten Wein feilgeboten. So bedeutend aber auch die Zahl derer ist, die heutzutage mit den Früchten ihres Denkens zu Markte ziehen, um sie mehr oder weniger laut anzupreisen: größer noch, wenn auch weniger gekannt, ist die Menge der stillen Naturen, die sich im verschwiegenen Kämmerlein in die Probleme des Lebens versenken. Die bloßen Tatsachen, daß PAULSENs "Einleitung in die Philosophie" allein im Jahr 1904 drei Auflagen erlebt hat, daß RIEHL für seine Vorträge in einer Handelsstadt ein großes Publikum gefunden hat und daß vor Jahresfrist ein Buch wie CHAMBERLAINs Kant von einem "Laien" für Laien geschrieben und mit Eifer gelesen werden konnte, sprechen beredt genug.

Es scheint, als wenn diese neue Bewegung im Reich des reinen Geistes tiefer und umfassender zugleich werden möchte als gar manche vorangegangene; als wenn sie sichs zutraut, nicht auf diese unsere Generation beschränkt bleiben zu müssen, sondern fortschwingen zu können in immer weiter werdenden Kreisen auch in die Zukunft hinaus. Nur wer die Jugend hat, hat die Zukunft. Und so sehen wir immer mehr Jünger der königlichen Wissenschaft dafür eintreten, daß auch auf der Schule ihre Herrin wieder einer Stätte bereitet wird. Bescheiden zwar, aber doch zumindest sicher genug, daß sie der böse Geist des Spezialistentum nicht so bald wieder daraus vertreiben kann. Denn Wissen und Können auf möglichst allen wichtigen Spezialgebieten unserer vielgestalteten Kultur in allen Ehren; aber unseren Primanern, auch denen, die später nicht die "vorgeschriebenen" Philosophiekollegs hören können oder wollen, würde es wohltun zu erkennen, daß es zwischen Physik und Religion, Geschichte und Mathematik, zwischen Sprach- und Naturwissenschaft ein geistiges Band gibt; daß man ein Standpunkt erklimmen kann, von dem gesehen alle diese scheinbar so har neben und gegeneinander stehenden Disziplinen eine Einheit bilden, ein Ganzes voller Harmonie und Schönheit. Wohltun würde es ihnen, sage ich. Und nützen würde es uns allen, der Allgemeinheit, der Gesellschaft. Ist es nicht wahr, daß unsere innere Zerrissenheit in Parteien und Wirtschaftsgruppen, unsere Härte und Unduldsamkeit gegeneinander nicht bedingt ist durch das völlige Auseinanderstreben unserer geistigen Interessen? Wo man aufhört, dieselbe Sprache zu sprechen, kann man einander nicht mehr verstehen. Wer sich nicht versteht, meidet sich, wird sich fremd; oder ersetzt Überzeugungen durch Schreien und Gestikulieren, wenn der äußere Zwang ihn mit seinem Widerpart zusammenhält. Wieviel wäre schon gewonnen, wenn recht viele wenigstens von denen, die einst Führer des Volkes werden sollen, schon in empfänglicher Jugendzeit gelernt hätten, den Blick auf das Ganze zu richten; wenn unsere großen Denker ihre Schätze zum Teil auch für sie gehoben hätten; wenn sie gelernt hätten, daß es nur wenige Dinge gibt, über die wir etwas wissen, sehr viele aber, bei denen all unser Wissen - so unendlich wichtig es auch für die praktische Lebensgestaltung ist - nur ein Meinen ist! Würden sie nicht später weniger hochmütig auf die Unwissenden und Ungebildeten herabsehen? Nicht fremdes Meinen neben dem eigenen eher verstehen und würdigen lernen? Man möchte annehmen, daß auch den maßgebenden Stellen ähnliche Erwägungen neuerdings nicht ganz fremd sind. Freilich, von heut auf morgen wird irgendein Schritt in der angedeuteten Richtung nicht zu erwarten sein. Zu groß sind zweifellos die praktischen Schwierigkeiten. Zu wenig Vorsprung hat bisher vielleicht auch die große Kulturbewegung, als daß die Schule jetzt schon daran denken könnte ihr zu folgen. Aber hier und da steigt Rauch auf, und so wird auch Feuer da sein.

Im Augustheft 1906 der "Monatsschrift für höhere Schulen", die dem Kultusministerium nahe steht, ist auf fünf kurzen Seiten mit offensichtlicher Parallele zu heutigen Bestrebungen auf eine Anregung verwiesen worden, die HERBART vor nahezu 90 Jahren gegeben hat. Auch damals handelte es sich um die Frage der Einführung eines philosophischen Unterrichts an den Schulen. Und der Vater der modernen Pädagogik empfahl für die Sekunda ein Vierteljahr Logik, für die Prima ein Halbjahr Psychologie, dazu dann 16-20 Stunden für eine kurze Übersicht über die Geschichte der Philosophie. Niemand wird daran denken, daß dieses vor fast einem Jahrhundert entworfene Programm ohne weiteres von uns würde angenommen werden sollen. Aber daß man, wenn es dazu kommten sollte, auch jetzt in erster Linie auf "Logik" und "Psychologie" und dann wohl etwas "Geschichte der Philosophie" verfallen würde, ist mehr als wahrscheinlich. Und dagegen muß mit aller Entschiedenheit Stellung genommen werden, schon jetzt, eher zu früh als zu spät.

Was würde die Einführung dieser drei Unterrichtsgegenstände, noch dazu, wenn sie "wissenschaftlich" betrieben werden, anderes bedeuten, als daß die schon nach neun Seiten hin zersplitterten Interessen der Schüler nun noch in einer zehnten oder elften Richtung auseinander gezerrt werden würden? Wo man doch sagen kann: die Philosophie auf der Schule wird die bisher mangelnde Einheit zwischen den Gegenständen sein, oder sie wird nicht sein! Andererseits freilich wird man eine gewisse Vertrautheit mit dem Rüstzeug aller geistigen Arbeit aus mehr als rein praktischem Gebrauch für ebenso wünschenswert halten wie eine Einsicht in das Getriebe unseres Innern, die Vorbedingung für jedwedes Schauen und Denken, Fühlen und Schaffen. Und wenn man dann schon das Zauberland der Philosophie betreten hat, wer möchte da gern eine Vorstellung von dem entbehren, was es war, ist und - vielleicht - sein wird? Also keine Zersplitterung und doch Vielheit? Vielheit und zugleich Einheit? Wie soll das zugehen? Ich antworte: lernt nicht Philosophie, sondern lest den Philosophen. So habt ihr Vielheit in der Einheit - der Persönlichkeit zunächst. Und wenn ihr den richtigen wählt, so ist Logik, Psychologie und Geschichte in ihm enthalten, und zugleich habt ihr in ihm jenes geistige Band zwischen allen Wissenschaften in der Hand, das wir vor allem gesucht haben. Wenn man fragt: welcher Philosoph denn das sein soll, so antworte ich: "der kritische".

Daß logische und dialektische Studien keine unumgänglichen Voraussetzungen für die sein müssen, die sich der Weltweisheit befleissigen wollen, dafür haben wir das Urteil keines Geringeren als KANTs. Schon im Jahr 1756 sagt er einmal in einem Vorlesungsverzeichnis, jenes sei weniger nötig als "Übung in Erfahrungsurteilen" und "Achtsamkeit auf die verglichenen Empfindungen der Sinne". Ich möchte meinen, daß Ähnliches auch für die beiden anderen angeblich unentbehrlichen Disziplinen jeder philosophischen Propädeutik [Vorschule - wp] gilt. Sie sind Wissenschaften, die man auf hohen Schulen studieren mag, wie man Physiologie oder Sprachgeschichte auf hohen Schulen studiert, um dem weiteren Kreis der geistig Interessierten Augen und Ohren zu öffnen für die Grund- und Kernprobleme des Lebens, braucht man sie nicht. Was aber wäre dazu geeigneter, als eine Beschäftigung mit denjenigen Denkern, die eben diesen Fragen am unerschrockensten zu Leibe gegangen sind; die mit der hellen Fackel des Genius in den Nebel der Mystik und Spekulation hineingeleuchtet haben; die über das glatte, gefährliche Eis der Sophistik und Skepsis am weitesten nach jenem unbekannten, unerreichten Ziel, Wahrheit genannt, vorgedrungen sind; die Grenzen und Gliederung der terra cognita [bekanntes Land - wp] festgestellt und den Abgrund bezeichnet haben, der sie von der terra incognita scheidet und der vom Verstand nie überbrückt, wohl aber von Phantasie und Glauben überflogen werden kann? Niemand kann uns ein besserer Führer ins tätige Leben sein, niemand uns Richtung und Begrenzung unseres Denkens und Forschens richtiger weisen, als wer den Dichter sprechen lehrte: "Die Bestimmung des Menschen ist Handeln; in seinem Denken dagegen soll er sich bescheiden, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren." Diese GOETHE-Wort aber ist das Ergebnis derjenigen Richtung der Philosophie, die man sich gewöhnt hat, im engeren Sinne die kritische zu nennen. Es ist vielleicht unangebracht, von einer "Richtung" dieses Namens zu sprechen, sofern man darin eine Vielheit von Gleichgerichteten sehen möchte. Feldherr und Armee zugleich - so stand uns in einsamer Größe bisher IMMANUEL KANT vor Augen, wenn uns das Wort "kritische Philosophie" entgegentönte. Einen zweiten Ganzgroßen hat HOUSTON STEWART CHAMBERLAIN ihm an die Seite gestellt, und, soweit die allgemeine Denkrichtung in Betracht kommt, wohl mit Recht: PLATO nämlich, "den wir auch heute noch wegen seiner kritischen und praktisch-philosophischen Betrachtung der Wirklichkeit als Erretter vor dem drohenden Geisteschaos zu bewillkommnen allen Grund hätten." Nun denn, lesen wir PLATO, lesen wir KANT, um aus ihnen das Arkanum [Geheimnis - wp] zu schöpfen, das uns zu praktischer Lebensbetätigung und fruchtbringendem Denken stählt und uns gleichzeitig immun macht gegen den Dogmatismus und wissenschaftliche Romantik, uns bewahrt vor Unduldsamkeit und Engherzigkeit, Härte und Hochmut.

Es scheint, als wenn diese Mahnung überflüssig wäre. PLATO liest jeder Gymnasialprimaner und auch der des Griechischen nicht Kundige versenkt sich wohl ab und zu in die Schönheit und Gedankentiefe der Dialoge. Und was KANT angeht, so erschallt seit der Mitte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, seit den Tagen des kritisch-wissenschaftlichen Dreigestirns HELMHOLTZ - HERTZ - ROBERT MAYER immer lauter und lauter der Ruf: Zurück zu Kant! In unseren Tagen ist das Interesse für dieses größte aller kritisch schaffenden Genies unstreitig nicht mehr auf die Kreise der zukünftigen Philosophiebeflissenen beschränkt; es gibt doch wohl manchen Gebildeten, der mehr von ihm weiß, als daß er den "kategorischen Imperativ" erfunden hat; Bücher wie PAULSENs "Biographie" oder jetzt CHAMBERLAINs "Einführung" haben ihr nicht hoch genug zu wertendes Verdienst daran; wie es dann andererseits kaum einen Vortrag, kaum einen allgemeineren Aufsatz philosophischen Inhalts geben wird, der am Grund- und Eckstein aller Philosophie achtlos vorübergeht. Kein Zweifel also: auch ich stimme mit in den Ruf ein: Zurück zu Kant!

Nur ein kleines Bedenken: Wer Bergtouren machen will, pflegt nicht mit dem Mont Blanc oder gar dem Gaurisankar anzufangen. Und wenn er einen noch so vortrefflichen Führer hätte und noch so vollkommen ausgerüstet wäre, er würde den Riesen nicht bezwingen. Enttäuscht würde er umkehren und zu Tal steigen, falls er nicht gar abstürzte und das tollkühne Unterfangen mit dem Leben bezahlen müßte. Um ohne Bild zu reden: CHAMBERLAINs Buch z. B. ist, was man auch dagegen gesagt hat, in hervorragendem Maße anregende: und dennoch glaube ich nicht, daß sehr viele wirkliche Laien unter seinen Lesern bei einem eindringlichen Studium KANTs dadurch erhalten werden, mögen sie auch immerhin den Weg zu dem großen Königsberger dadurch gefunden haben. Schon die scholastisch-abstrakte Terminologie der Kritiken stellt an den Anfänger schier unüberwindbare Anforderungen, gar nicht zu reden von der unendlichen Tiefe der Gedanken, die selbst von den Fachleuten noch nicht überall wirlklich ermessen sein dürfte. Sind aber KANTs Schriften für den gebildeten Laien mit reicher persönlicher Erfahrung eine schwer verdauliche Speise - wie sollen wir es wagen, sie einem schwachen Schülermagen zuzumuten? Mich dünkt, darüber wird kein Streit sein: KANT auf der Schule lesen, mit Nutzen lesen - unmöglich! Aber PLATO? Der wird doch gelesen! - Ja, freilich. Aber auch verstanden? In dem Sinne verstanden, daß dadurch ein für alle Mal ein Licht geworfen wird auf die auch mich noch bewegenden Grundprobleme des Denkens und Handelns? Hier und da vielleicht, wenn ein begnadeter Geist uns leitet, der seine Zeit und unsere Zeit, seine Gedanken und unsere Gedanken mit demselben hellen Blick umfaßt, mit derselben Liebe pflegt. Dann vielleicht ja. Sonst kaum. Sind doch gerade seine tiefsten Einsichten, die Erkenntnisse, in denen er sich mit KANT berührt, die ihn erst zum kritischen Philosophen stempeln, nur wenigen Wissenden aufgegangen.

Mit dem Gaurisankar also oder dem Mont Blanc ist es für den Anfang nichts. Seien wir bescheiden und üben wir unsere Kräfte erst an einem kleineren Berg. Von der Wolkenhöhe jener Gigangen mag er als ein Zwerg erscheinen. Wir aber stehen im Tal und sehen zu ihm empor - und uns dünkt er selbst ein Riese, und kein zu verachtender. Und die Aussicht von seinem Gipfel möchte uns lohnend genug erscheinen. Ich meine DAVID HUME, den ich hiermit in aller Bescheidenheit und in geziemendem Abstand in die erlauchteste Gesellschaft von Jahrtausenden bringe. Auch ihn möchte ich zu den "kritischen Philosophen" im Sinne KANTs gerechnet sehen. (1)

KANT selbst hätte es sich wohl gefallen lasen, dem Mann die Hand zu reichen, durch den er nach seinem eigenen Ausspruch erst "aus einem dogmatischen Schlummer gerissen wurde". Er, in dem HAMANN geglaubt hatte, "den preussischen Hume" freudig begrüßen zu können, empfindet selber lebhaft die Geistesverwandtschaft mit seinem schottischen Vorläufer; so wenig er sonst geneigt ist, anderen Philosophen die Ehre einer Polemik zu erweisen, ja sie auch nur zu nennen: HUME nennt er wiederholt und immer mit der größten Hochachtung und Anerkennung. Und im Grunde ist ja seine ganze Vernunftkritik, also seine gesamte Neugründung aller Philosophie, nichts als eine Polemik gegen DAVID HUME. Niemand wird verkennen wollen, daß der größte Denker der Deutschen unserem heimischen und überhaupt dem kontinentalen Gedankenschatz unendlich viel verdankt; die Kernfrage des Kritizismus aber, die ihn mit elementarer Kraft erfaßt und nicht losläßt, bis er sie beantwortet zu haben glaubt, die scholl ihm übers Meer herüber. Seine Frage: wie sind synthetische Urteile a priori über Tatsachen möglich? entpuppt sich bei näherem Zusehen als der Gegenstand von HUMEs "Neugierde", nur in einem feierlich logisch-scholastischen Gewand, als das "Woher oder Warum der notwendigen Verknüpfung", als die Frage nach der Begründung unseres Kausalbegriffs. Und so ganz Unrecht hat STIRLING nicht, der diese Frage als das Fundament nicht nur der kantischen Kritik, sondern auch der gesamten deutschen, nachkantischen Philosophie hinstellen möchte. KANT hätte es sich also kaum verbeten, mit HUME verglichen zu werden, und diesen Empiriker hätte er gegen den Vorwurf seines neuesten Propheten CHAMBERLAIN, ein Flachkopf zu sein, wohl energisch in Schutz genommen. Ihm ist er ein gar nicht flacher, sondern ein sehr ernst zu nehmender, achtenswerter Gegner, den zu überwinden er sich alle nur erdenkliche Mühe gibt.

Ein achtenswerter, hochgeschätzter Gegner, aber ein Gegner allerdings. Er würde ihm wohl als ehrlichen Kämpfer die Hand gereicht haben - ihn als einen Mitstreiter anzuerkennen, hätte er aber doch wohl abgelehnt. Geben wir das ruhig zu! Und geben wir auch zu, daß der einem HAMANN viel zu dogmatisch angelegte, zumindest aber in erster Linie auf das Aufbauen, Sichern, Befestigen gerichtete Deutsche in dem Briten mit seinem ererbten Widerwillen gegen die "high apriori road" und seiner von Natur rüchsichtslos kritischen Tendenz eine Art Antipoden hat sehen müssen. Gewiß, es hat so kommen müssen, daß er sich seines Gegensatzes zu dem schottischen Denker lebhafter bewußt wurde als seiner Verwandtschaft mit ihm; daß er in jenem nur oder doch vorwiegend das Negative gesehen hat, gegen das er ankämpfte und vor dem er unsere Erkenntnis zu retten unternommen hat. Das ist umso verständlicher, als HUME selbst seine Negationen mit Geflissenheit unterstreicht, seine Ansätze zu positiven Lösungen aber im Allgemeinen bescheiden im Hintergrund hält. Kann es da Wunder nehmen, wenn der vergebens einen festen Halt Suchende dem rücksichtslosen Zerstörer so mancher alten Wahrheit das Brandmal des Skeptikers aufgeprägt hat? Freilich nicht in fröhlicher Sicherheit, sondern mit einem gewissen Unbehangen; warnt er doch selbst gelegentlich davor, jenem fälschlich einen unbeschränkten Skeptizismus beizulegen, wie man bei RUNZE nachlesen mag.

Wie dem auch sei, jenes Urteil KANTs war einmal gesprochen, und nur selten wagte es ein unbefangener Betrachtet, an einem Urteil zu zweifeln, das der Name des Gewaltigen gedeckt hat; die Einschränkung wurde natürlich vergessen. Nicht daß KANT der einzige Denker des 18. Jahrhunderts gewesen wäre, der über die Philosophie HUMEs derart geurteilt hätte; im Gegenteil! Aber - man kann die Behauptung wagen - er war der einzige, der das Problem des Schotten verstanden und doch so geurteilt hat. Denn jene Grundfrage jeder kritischen Philosophie - wir können sie auch so mit STIRLING ausdrücken: "Wie kann der Geist des Individuums über sich selbst hinausgelangen? Wie können wir wissen?" jene Grundfrage allein, ganz abgesehen von ihrer Lösung, gehört zu den Wahrheiten, für welche die Welt noch nicht reif war, als sie entdeckt wurden. In wie hohem Grad das zutrifft, zeigt die Aufnahme und die Wertschätzung, die den tiefsten, eben den philosophischen Werken eines Mannes zuteil wurden, von dem CARLYLE sagt, er sei der wahre geistige König des 18. Jahrhunderts gewesen. Ein Werk wie der Treatise of human Nature, jene fundamentalen Untersuchungen, die der 21-Jährige begonnen, der 25-Jährige vollendet und der 28-Jährige in den Druck gegeben hat; eine Schöpfung, von welcher der erste Biograph des Philosophen, BURTON, mit Recht rühmt, niemals sei das Werk eines Genius zweifelloser und vollständiger die Frucht eines einzigen Geistes gewesen, hätte von Rechtswegen einen Wendepunkt in der Geschichte des Gedankens bilden müssen; "als ein totgeborenes Kind verließ es die Druckerpresse und erregte nicht einmal den lärmenden Protest der Zeloten [Fanatiker - wp]", berichtet der Verfasser selbst in seiner nüchternen, anspruchslosen und gerade darum so charakteristisch ehrlichen Selbstbiographie; über 50 Jahre hat es gedauert, bis die erste deutsche Übersetzung (von LUDWIG HEINRICH JACOB) erschienen ist! Freilich, als er ein Jahrzehnt nach jenem tiefgründigen, aber formal schwerfälligen Werk seine elegant und leicht geschriebenen "Enquiries" veröffentlichte, die den Extrakt des Treatise, besonders jene "Kernfrage", auch den literarischen Helden der Kaffeehäuser genießbar machen sollten, da ging der Erfolg wohl über eine lauwarme Kritik in der "History of the Works of the Learned" hinaus, worin er anno 1739 bestanden hatte; schon 1755 erschien SULZERs Übersetzung. Aber zu der Bedeutung des Werks stand er in keinem Verhältnis. Diese Tatsache hätte ihn gegen sein älteres Kind, das er später am liebsten von der Welt hätte tilgen mögen, milder stimmen sollen. Zeigte sie doch, daß der damalige Mißerfolg nicht an den stilistischen Mängeln, nicht am positiven Ton des Jugendwerks gelegen hat, wie er später dachte (BURTON I, 98), sondern daß er schon in jenem Jahr der Enttäuschungen den wahren Grund eingesehen hatte, wenn er am 13. Februar 1739 an HENRY HOME schrieb: "Diejenigen, die es gewöhnt sind, derart abstrakte Themen zu reflektieren, sind gemeinhin voller Vorurteile; und diejenigen ohne Vorurteile sind nicht geübt im metaphysischen Argumentieren." (BURTON I, 105). Die Fachleute stecken voller Vorurteile, den Vorurteilslosen mangelt es an Verständnis: wer sollte da dem einsamen Wanderer, der völlig neue Wege ging, folgen können oder wollen? Sein literarischer Ruhm, die Befriedigung seiner einzigen Leidenschaft, wurde HUME zuteil nicht als Philosoph, sondern als politischer Essayist und Historiker. Soweit der Erfolg auf seinem allereigensten Gebiet ihm lächelte, geschah das - man kann das Paradoxon wagen - nicht, weil man seine Philosophie verstanden und gebilligt, sondern weil man sie mißverstanden hat. In den sechziger Jahren jubelten die Pariser radikalen Materialisten dem "bon David", dem "gros philosophe Ecossais" zu, weil sie ihn fälschlich zu den ihren zählten! Auf welcher Höhe des Verständnisses aber die maßgeblichen literarischen Kreise des eigenen Vaterlandes standen, zeigt der Ausspruch des Literaturpapstes Dr. SAMUEL JOHNSON, HUMEs philosophische Arbeit sei eine Art Bullenmelken, und BEATTIE habe ihn vollkommen widerlegt (LESLIE STEPHEN). BEATTIE, der das in Frage kommende Problem ebensowenig verstanden hat, wie die anderen Common-sense-Philosophen!

Es bleibt dabei: KANT war der erste, der den Wegen des Schotten zu folgen vermochte. Desto schwerer fällt sein Wort ins Gewicht. HUME ist ein Skeptiker, sagt er; einer von jener gefährlichen Sorte Menschen, die "jeden beständigen Anbau des Bodens verschmähen" und von deren Lehre CHAMBERLAIN sagt, sie sie aus schalem Denken entsprungen, und habe zur Frivolität geführt. Und einen solchen Mann sollen wir uns als Führer wählen für unsere ersten Schritte auf dem Weg zur Wahrheit? Einen Mann, für den das Wort Wahrheit gar keinen Sinn hat? Einen Skeptiker, für den alles gleich wahr und gleich falsch ist?

Freilich, wäre DAVID HUME ein solcher, zu nichts wäre er ungeeigneter als zu einem Begleiter der Jugend und der philosophischen Laien. Alles Streben, alles Forschen und Fragen, das im warmen Lenzhauch zu blühendem Leben erweckt werden soll, würde der kalte Winterwind der Skepsis töten. Aber ist DAVID HUME wirklich ein solcher Skeptiker? Oder anders ausgedrückt: müssen wir ihn ebenso sehen, wie ihn KANT gesehen hat, als seinen Widerpart, als ein Gespenst, wie VICTOR COUSIN einmal sagt, das ihn immer wieder zurückscheucht, wenn er auf den alten Weg achtlos einlenken möchte? Gibt es - bei allen Unterschieden - nicht eine gemeinsame Basis für die beiden "Gegensätze", von der KANT freilich nicht redet, weil er sich dauernd ihrer bewußt ist, die aber für uns gerade das Wesentliche am Lebenswerk der beiden Männer ist: eben jene kritische Frage? Und ferner: Begnügt sich HUME wirklich damit, der Menschheit Knüppel zwischen die Beine zu werden, und bemüht er sich gar nicht um eine Wegräumung der Schwierigkeiten, die er selbst auf dem Weg zur Wahrheit entdeckt hat?

Solange man es nur mit dem Vorläufer KANTs zu tun hatte, den dieser zu seinem Sprung in eine neue, bisher völlig unbekannte Welt der Metaphysik nur als Sprungbrett benutzt hätte, lag kein Grund vor, KANTs Urteil zu mißtrauen. Kam noch ein Mißverständnis wie bei den französischen Freunden oder den schottischen Gegnern hinzu, so mochte es wohl geschehen, daß ein STÄUDLIN, der verdiente, noch zu KANTs Lebzeiten tätige Geschichtsschreiber des Skeptizismus, unseren Philosophen für den Hauptvertreter dieser Weltanschauung neben SEXTUS EMPIRICUS erklären konnte. Und dabei ist es dann auch lange Zeit geblieben. Ließ sich doch der "Allzermalmer" (wie MENDELSSOHN eher ihn als KANT hätte nennen können) bei dieser Anschauung hübsch in die Konstruktion der Geschichte der Philosophie einordnen: Wie im Altertum Pyrrhoniker und Akademiker die aristotelische Dogmatik auflösten, wie im Mittelalter WILHELM von OCKHAM mit seinem extremen Nominalismus das Ende der Scholastik bedeutete, so ist HUME mit seiner Skepsis der Vollender und Zerstörer der empirischen, vorkantischen Philosophie (PFLEIDERER).

Das war um die Mitte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts eine unbestrittene Tatsache. Zwar hatte das in den sechziger Jahren verstärkt einsetzende Interesse für KANT sich zu einem kleinen Teil auch dessen "skeptischem Liebling" zugewendet. FEUERLEIN hatte ihn, auf BURTONs Biographie gestützt, 1863 und 1864 durch Aufsätze in der Zeitschrift der Gedanke" von den Toten erweckt, zu denen ihn FICHTE, HEGEL und SCHELLING in Deutschland ein für alle Mal gelegt zu haben glaubten; PAPILLON erkannte in ihm einen Ahnherrn COMTEs (1868), SJOHOLM in Uppsala untersuchte ein Jahr später zum ersten Mal den Zusammenhang zwischen HUMEs Skeptizismus und KANTs Kritizismus (2), JODLs Preisschrift erschien und PFLEIDERERs Buch. Aber immer noch blieb der Schotte der Skeptiker par excellence: Gerade PFLEIDERERs von einem ausgesprochen rationalistisch-idealistischem Standpunkt aus geschriebene Untersuchung ist dafür charakteristisch.

Genau um diese Zeit jedoch ertönte - soweit ich sehe - zum ersten Mal, und zwar von jenseits der Vogesen, der Ruf: "Ihr seid auf der falschen Fährte; ihr tut dem Manne unrecht; der Vater des modernen Positivismus ist, bei Lichte besehen, nichts weniger als ein waschechter Skeptiker! Es scheint mir das Verdienst von GABRIEL COMPAYRÉ, dies zuerst ausgesprochen zu haben; anfangs - in seinem Buch "La philosophie de David Hume", Paris 1873 - noch zögernd und nicht ohne gelegentliche Widersprüchef, dann aber mit aller wünschenswerten Deutlichkeit in einem Aufsatz, der im 8. Band der "Revue philosophique" (1879) erschien und dessen Titel "Du prétendu scepticisme de David Hume" schon unverkennbar das thema probandum [Gegenstand, der zu beweisen ist - wp] und den Standpunkt des Verfassers zeigt. Von nun an vergeht kaum ein Jahr, ohne daß es zumindest eine Publikation über unseren Philosophen bringt; Biographie und Gesamtdarstellungen wechseln mit fleißigen Einzeluntersuchungen in deutscher, englischer, französischer, italienischer und neuerdings auch in russischer Sprache; besonders seit sich in den neunziger Jahren BENNO ERDMANN der Sache anzunehmen beginnt. Aber obwohl die Frage nach dem Skeptizismus von vielen gestreift und nicht selten in einem verneindenden Sinn beantwortet wurde, ist sie jedoch, soviel mir bekannt ist, seither nicht zum Hauptgegenstand der Betrachtung gemacht worden (3).

Immerhin, auch so ist es klar, daß in den Kreisen derer, die tiefer in HUMEs Denken eingedrungen sind, die Überzeugung von der Unangemessenheit der kantischen Rubrizierung sich immer weiter ausbreitet. Und die zusammenfassenden Darstellungen der Geschichte der Philosophie oder ihrer Probleme haben sich zum großen Teil, soweit sie aus der neueren Zeit stammen, den Ergebnissen der Kleinarbeit nicht verschlossen. Die Benennung HUMEs als eines Skeptikers schlechthin beginnt von vielen aufgegeben zu werden; man erkennt die Unmöglichkeit, das gesamte philosophische Lebenswerk des genialen Mannes mit einem Schlagwort abzutun, seine Erkenntnistheorie, Ethik und Religionsphilosphie unter den einen Hut des Skeptikers zu bringen. Nur für seine Stellung zur Religion wird die alte, lieb gewordene Bezeichnung ziemlich allgemein noch beibehalten. Das ist der Eindruck, den man z. B. aus WINDELBANDs, FALCKENBERGs und VORLÄNDERs Darstellungen, aus RIEHLs Vorträgen über die Philosophie der Gegenwart, aus der neuen Bearbeitung von EISLERs "Wörterbuch" gewinnt; dem schon GRIMMs "Geschichte des Erkenntnisproblems" (1890) trotz ihrer im Ganzen anders gearteten Tendenz durch ihr Schlußkapitel vorarbeitet, und der endgültig befestigt wird, wenn man in PAULSEN (Einleitung und Kantbuch) einen warmherzigen Verteidiger HUMEs sogar KANT gegenüber kennen lernt.

Freilich wäre es voreilig anzunehmen, daß damit die Frage erledigt ist, was man denn von HUME zu halten und nicht zu halten hat. Ganz zu schweigen von manchen populären Darstellungen kommen auch wissenschaftlich aufs Höchste zu schätzende Bücher von der alten Betrachtung nicht los. Es möchte hingehen, daß etwa KIRCHNERs "Wörterbuch" auch in der Neubearbeitung von MICHALIS (1903) den großen Briten als einen der Hauptvertreter der Skepsis anführt; allenfalls auch, daß eine der neuesten englischen Biographien, die von CALDERWOOD für die "Famous Scots Series" bearbeitete (1898), als Endergebnis seines Denkens nichts als philosophischen Skeptizismus sieht. Aber daß auch die neueste Auflage des "Grundriss der Geschichte der Philosophie" von ÜBERWEG-HEINZE von seinem Skeptizismus schlechthin spricht, ja daß auch KUNO FISCHER ihn zu jenen "Nomaden der Philosophie" rechnet, erscheint doch beachtenswert. Und nun kommt gar noch CHAMBERLAIN und behauptet, daß HUME grundsätzlich auf eine Weltanschauung verzichtet hat, weswegen er zu den Skeptikern gehört "deren Philosophie darin besteht keine zu haben" (a. a. O. Seite 619)!

Dieses allerneueste Zeugnis eines ungeheuer belesenen und gewiß doch urteilsfähigen Mannes zeigt, daß gerade auch unter den "Laien" trotz der Arbeit vieler Fachphilosophen der Glaube an die "gefährliche Skepsis" HUMEs noch heute besteht. Wir können nicht darum herum; wollen wir Klarheit schaffen in den Köpfen der "Vorurteilslosen", um mit HUME zu reden, so müssen wir nun dem großen, gefährlichen Mann mutig ins Gesicht schauen und der Frage zu Leibe gehen: Ist Hume wirklich ein Skeptiker? Und wenn beim Eindringen in die Geisteswerkstatt eines der schärfsten Denker und Beobachter aller Zeiten "einige Übung in Erfahrungsurteilen" und "Achtsamkeit auf die verglichenen Empfindungen der Sinne" für uns abfallen sollte, so wüßte ich nicht, wer etwas dagegen haben könnte.


Es liegt von vornherein nahe, unseren Philosophen selbst danach zu befragen, wofür er denn gehalten werden will. Sparsam ist er mit Bezeichnungen seines Systems - beiläufig ein Ausdruck, der fast nur im Treatise, kaum im Enquiry vorkommt - durchaus nicht. Und wenn wir nun nachschauen, dann finden wir allerdings, daß er mit Vorliebe von seinem "moderate" oder "mitigated [gemäßigtem - wp] scepticism", zuweilen auch von einer "academical philosophy" spricht, natürlich im Hinblick auf die neuere Akademie und seinen Lieblingsautor CICERO; ja dann und wann - sehr selten freilich - läßt er sogar jeden einschränkenden Zusatz weg und sagt gerade heraus: "Wenn wir Philosophen sein wollen, dann sollten wir uns auf skeptische Prinzipien berufen"; so in dem wichtigen, aber mit Vorsicht zu betrachtenden Schlußabschnitt des Treatise (4). Aber sonst scheint es, als ob er das Adjektiv stärker betont zu sehen wünscht als das Substantiv. Zumindest ist er sich des Gegensatzes seines Skeptizismus zu dem anderer Leute bewußt. Wendet er sich doch gar nicht selten gegen den von ihm Pyrrhonismus genannten Skeptizismus schlechthin: man braucht nur den letzten Abschnitt des Enquiry zu lesen, um sich davon zu überzeugen; aber auch schon die Einleitung zum Treatise, in der er die geringe Neigung der Zeit für abstrakt-philosophische Spekulationen beklagt und die einzige Rechtfertigung dafür in der Indolenz [Gleichgültigkeit - wp] und dem ausgeprägten Skeptizismus seiner Zeitgenossen sieht. Und wenn er - scheinbar paradox genug - im Enquiry von BERKELEYs System behauptet, seine einzige Wirkung sei, jenes augenblickliche Staunen, jene Verwirrung und Unentschlossenheit hervorzurufen, welche die Ergebnisse eines Skeptizismus sind (IV, 127), so soll das gewiß keine Anerkennung bedeuten. So ließen sich noch mehr Belege dafür anführen, daß er die extreme Skepsis verwirft, weil nichts skeptischer oder mehr voller Zweifel und Schwanken sein kann als sie; ja daß er ihr wie KANT in der Methodenlehre nicht nur die Daseinsberechtigung, sondern sogar die Daseinsmöglichkeit abstreitet; Leute, "die keine Meinung oder Prinzipien zu irgendeinem Thema haben, weder in Form einer Handlung oder einer Spekulation" habe es nie gegeben und kann es auch nicht geben, belehrt der Schlußabschnitt des Enquiry.

Heillos scheint die Verwirrung. Auf der einen Seite nennt der Denker seine eigenen philosophischen Prinzipien wiederholt skeptisch - auf der anderen behauptet er, eine skeptische Weltanschauung kann es gar nicht geben. Wir erfahren hier am eigenen Leib, wie recht die haben, welche HUME vorwerfen, er habe keine feste Nomenklatur gehabt (BURTON I, 92), wie etwa KANT sie hatte; ja er habe seine Worte und Formeln nicht immer sorgfältig gewählt und besonders im Treatise zuweilen eine Unbestimmtheit des Ausdrucks gezeigt, "was nicht einmal für einen einsamen Schotten als Entschuldigung gelten kann". (5) Ich werde vielleicht vermuten dürfen, daß er auch hier wie sonst dem Sprachgebrauch des gewöhnlichen Lebens folgt, dem für den wichtigen Vorzug vor der Fachsprache der Philosophen, die Allgemeinverständlichkeit, der Preis gelegentlicher Unklarheit nicht erlassen wird; daß er mit dem Wort Skeptizismus etwas anderes meint, wenn er ihn BERKELEY und den Pyrrhonikern vorwirft, anderes, wenn er sich selbst dessen rühmt. Mit dem Wort allein ist uns also nicht geholfen, auch wenn es aus HUMEs eigenem Mund kommt. Nicht ob er wirklich das ist, was er selber zuweilen unter einem Skeptiker verstanden wissen will, kann die Frage sein; sondern ob wir ihn heute mit Recht so nennen dürfen, in dem Sinne, wie wir das Wort in der Geschichte der Philosophie zu brauchen gewöhnt sind.

Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier in die Geschichte und das Wesen der Skepsis einzudringen; eine "abscheuliche Krankheit der Philosophie" nennt sie einmal BAYLE, selber einer der Kränkesten. Wer sich dafür interessiert und einen Gesamtüberblick zu erhalten wünscht, muß auch heute noch zu der ehrwürdigen, über ein Jahrhundert alten Darstellung STÄUDLINs greifen, wenn er sich nicht mit den zum Teil recht unzureichenden und unklaren Darstellungen in den landläufigen philosophischen Nachschlagebüchern (NOACK, KIRCHNER, EISLER) begnügen will. Für die Skepsis im engeren Sinn freilich, die des Altertums, haben wir aus neuerer Zeit in ZELLERs "Geschichte der griechischen Philosophie" ein klassisches Werk, dem in den allerletzten Jahren GOEDECKEMEYERs "Geschichte des griechischen Skeptizismus" (1905) und der erste, bisher einzige Band von RAOUL RICHTERs Buch "Der Skeptizismus in der Philosophie" (1904) an die Seite getreten sind. - Hier mögen ein paar Worte der Verständigung darüber genügen, was wir uns denn nun bei jenem ominösen Ausdruck denken.

Nehmen wir den Terminus objektiv als Bezeichnung einer Lehre, so drängt sich uns schon bei einem raschen Überblick über die allgemein als Skeptiker bezeichneten Männer die Notwendigkeit auf, scharf zu sondern zwischen den antiken Philosophen und den christlichen. Jene haben von PYRRHO bis auf SEXTUS EMPIRICUS nur die Sinneserkenntnis und Verstandesfunktion zu Angriffspunkten ihrer bohrenden Dialektik gemacht. Und das Ergebnis, zu dem sie trotz mancher Anläufe zur Erschließung neuer Wege (besonders bei CICERO, aber auch schon bei dem Akademiker ARKESILAUS findet sich dergleichen) übereinstimmend gelangen, ist die Bankrotterklärung dieser Funktionen und die Leugnung der Möglichkeit einer Wissenschaft. Der "absolute Zweifel", der Satz: "Nichts kann erkannt werden"; die Überzeugung, jedem Grund lasse sich ein gleich starker Gegengrund zur Seite stellen - das ist eine Blütenlese aus den philosophischen Resultaten der ARKESILAUS, KARNEADES und SEXTUS EMPIRICUS. - Das Christentum hat zu der Frage nach der Verläßlichkeit unserer Sinneswahrnehmungen und unserer Verstandestätigkeit noch die nach dem Verhältnis zwischen Glauben und Wissen, zwischen Offenbarung und Vernunft in die Welt gebracht. Und dieses Problem ist es hauptsächlich, mit dem sich der Skeptizismus der neueren Zeit abmüht, und an dessen Lösung er - im Ganzen betrachtet - verzweifelt. Nur MONTAIGNE macht jedoch konsequenterweise - so viel ich sehe - schon in dem Augenblick halt, als er die Unmöglichkeit einer Lösung der Grund- und Vorfrage, eben des Problems der Alten, eingesehen zu haben glaubtk; auf die Sehnsucht der Menschen nach einer verläßlichen Weltanschauung hat er nichts als sein resigniertes "Que sais-je?" [Was weiß ich?" - wp] Die Vernunft hat im allgemeinen Dingen abgewirtschaftet; der einzige Rettungsanker ist allenfalls der christliche Glaube (STÄUDLIN, II 42). - BAYLE dagegen, jene geistvolle Proteusnatur, der "eingefleischte Widerspruch zwischen Glauben und Wissen, Religion und Philosophie, Offenbarung und Vernunft, aber zugleich auch der unaufgelöste Widerspruch der Vernunft mit sich selbst" (NOACK), und CHARRON, La MOTHE und HUET, die Typen des "gläubigen Skeptikers", sie bleiben zwar am Schlagbaum nicht stehen, den sie sich selbst errichtet haben; sie umgehen ihn rechts oder links, die letzteren, um den Primat des Glaubens nachzuweisen, der erstere, um diesen Glauben einer zersetzenden Kritik zu unterwerfen und unsere Weltanschauung auf der Vernunft aufzubauen, auf einem Baugrund also, den er selbst als durchaus trügerisch und unfähig, eine solche Last zu tragen, erkannt hat. Nicht so schnell zwar wie bei den Alten gibt sich bei diesen Männern die Vernunft gefangen; aber am Ende ist auch bei ihnen das Ergebnis: Enthaltung vom Urteil - Que sais-je? - Was ist Wahrheit?

Größer noch als im Ergebnis ihres Denkens ist die Übereinstimmung der Skeptiker im Ausgangspunkt und in der Methode desselben. PAULSEN sagt einmal, innerhalb der modernen Philosophie richte ihre Tendenz überall eigentlich gegen die Anmaßungen der transzendenten Spekulation. Aber auch für die Griechen dürfte das in gewissem Grad gelten. Auch hier springen die "bissigen Köter" an gegen die Herrscher im Reich der Weltweisheit. Wohin man blickt, überall tritt die Skepsis auf als eine Reaktion gegen die jeweilig herrschende dogmatische Philosophie oder Religion. Damit ist auch ihre Methode gegeben. Von PYRRHO bis auf BAYLE mußte sie naturgemäß sich ihrer Aufgabe, der rein negativen Kritik des Bestehenden, Anerkannten, Gültigen anpassen. Von PYRRHO bis auf BAYLE tat sie das in polemischer, stark sophistisch gefärbter Rhetorik. Das Schwert ihres Geistes ist die rein logisch deduzierende Dialektik; ihre Wonne ist das Aufstöbern von Widersprüchen, ihr Ideal "jedem Grund einen gleich starken Gegengrund zur Seite zu stellen", wie es uns SEXTUS verraten hat.

Und ihr praktisches Ziel? Denn auch sie hat eins, wie alle Philosophie, die den Namen verdient. Freilich, nur die Griechen, die Kinder des sonnigen Südens, haben es eindringlich genug predigen und zum Teil vorleben können. Es ist die völlige Enthaltung vom tätigen Leben, die Ataraxie, die Ruhe des Gemüts, dadurch allein der Mensch zur Freiheit und damit zur Glückseligkeit gelangen kann. Ein Zug also, wie er durch das Leben der frühesten christlichen Einsiedler geht, der beschaulich und andächtig dahinlebenden; freilich gänzlich ohne die finstere Askese des späteren Mönchtums. Auch MONTAIGNE hat zweifellos etwas von diesem laissez faire, laissez aller [machen lassen, laufen lassen - wp] ansich, und wenn wir es bei den nach ihm Kommenden missen, so mag der geistige Habitus wohl etwas mitsprechen, mehr jedoch sicherlich die Tatsache, daß in unseren Breiten das Leben jedem den Kampf aufzwingt; mag sein philosophisches Gemüt noch so friedfertig, sein Denken noch so sehr davon überzeugt sein, der Streit sei keineswegs des Schweißes der Edlen wert: hier steh', hier wehr' dich - oder falle! Wenn nicht ein gütiges Geschick dir - wie MONTAIGNE - einen Panzer, fest gegen Hieb und Stick, beschert hat: ein reiches, väterliches Erbe.

Es wird später noch davon die Rede sein müssen, ob auch für HUME die vita contemplativa [das beschauliche Leben - wp] theoretisch als ein erstrebenswerteres Ziel gilt als die vita activa. Wie es sich praktisch damit verhält, darauf wollen wir uns gleich jetzt besinnen. Ehe wir in seiner Philosophie Jagd auf den Skeptizismus machen, sehen wir uns in seinem Leben rasch einmal danach um, denn es steht fest: bei den meisten richtet sich das Leben nicht nach der Philosophie, sondern die Philosophie nach dem Leben, in den Grundzügen natürlich, der vorherrschenden Tendenz. Und so mag man getrost HUME glauben, auch der Skeptizismus sei mehr eine Temperaments- als eine Verstandessache (6). Auch hier sollen neben den Einsichten der Intelligenz die Register des Gefühls und die Antriebe des Willens entscheidend sein: jene Mächte also, die man an ihrem ureigensten Werk, der praktischen Lebensgestaltung, erkennen kann.

Man urteile selbst. Kann bei einem Mann, der sich jahrelang auf dem glatten Parkett des Pariser Hofes als gewandter Diplomat erwiesen hat; der sich nicht besonnen hatte, an einer militärischen Expedition nach Kanada teilzunehmen, die ihn dann freilich nur nach Nordfrankreich geführt hatte; bei einem Mann endlich, der einmal im Unmut zitiert: "ingrata patria, ne ossa quidem habebis" [Undankbares Land! Du sollst nicht einmal meine Knochen haben! - wp] (BURTON II 191-192), und der sich dann, als das undankbare Vaterland seiner an hervorragender Stelle bedurfte, dennoch ohne Zaudern in seinen Dienst stellte, kann bei einem solchen Mann an das Vorherrschen eines skeptischen Temperaments, an eine überwiegende Neigung zum Verzicht auf eine positive Tätigkeit geglaubt werden? Freilich, in der Jugend hatte er ein still beschauliches Gelehrtendasein geführt, bis sein großes philosophisches Werk ausgereift war, und in den letzten Jahren seines Lebens kehrte er dazu zurück. Auch trifft man so manche Briefstelle, wonach der die Stille des Studierstübchens dem Lärm der großen Welt unendlich vorzieht. Ruft dann aber die Welt, das Vaterland, so ist allemal bei ihm die Natur stärker als der Vorsatz: grau, Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum! Ein Stubengelehrter war HUME nicht - wie ja dieser Typus dem Briten überhaupt nicht liegt. Und ebensowenig war er in der Gesellschaft des Alltags ein zurückhaltender, zugeknöpfter "Wissender", der mit verzeihendem Lächeln auf die Schwächen der "kleinen, dummen Menschlein" herabsieht. In alle Verhältnisse, in jede Gesellschaft wußte er sich nicht nur zu schicken; nein, er nahm tätigen Anteil daran. Selbst die Torheiten und Tollheiten der Pariser Salons mitzumachen, hielt er nicht für unter seiner Würde, und der schwerfällige und ungraziöse Philosoph spielte darin eine erstaunlich große Rolle. Und wenn es darauf ankam, tatkräftige Hilfe zu leisten, so war er der Erste. Sein gutes Herz rühmen alle seine Freunde, und man braucht nur an die Art zu erinnern, wie er sich des blinden Dichters BLACKLOCK und später des unglücklichen ROUSSEAU annahm, um einen Begriff davon zu bekommen, wie tätig der "kühle Skeptiker" sein konnte, um andern, ja selbst um Feinden wohlzutun. Dem Muster der antiken Skeptiker oder MONTAIGNEs nachzuleben hat HUME nicht vermocht, wenn auch die äußeren Umstände es allenfalls ermöglicht hätten. Seine Naturanlage war durchaus positiv, durchaus auf das Tätige gerichtet. Eher möchte man in seinem Leben eine Verwandtschaft mit dem Ideal des Stoikers sehen, "des Mannes der Tat und der Tugen", wie er ihn nennt. Selbstbeherrschung war sein oberstes Gesetz; eine ungeheure Willenskraft das Angebinde, das ihm Mutter Natur dazu in die Wiege gelegt hatte. Das zeigt uns sein Leben, in dem sich Zorn und Unmut über die Beschränktheit uns Selbstsucht der Menschen sehr selten Luft machten, nur gerade oft genug, um zu beweisen, daß der nüchterne Philosoph durchaus keine "ruhige Masse atmenden Fleisches" war (BURTON II 251f); das zeigt uns vor allem sein Tod, dieses heroische Beispiel eines heiter ergebenen Abschiednehmens, eines Endes ohne Schrecken. (BURTON II 511f). "Sei ein Philosoph, aber sei trotz aller Philosophie immer noch ein Mensch", so ruft dem Leser die Natur selbst zu (Enquiry IV 6). Der das niedergeschrieben hat, war beides, tätiger und geselliger Mensch und rücksichtsloser Denker. So sehr man das Fehlen mancher edlen Gabe bedauern kann - tiefer Leidenschaft etwa und künstlerischen Sinnes - dennoch bleibt uns der Mann und sein Leben ein Muster wahren Menschentums. Wer ihn nur aus seiner Philosophie kennt, mag vielleicht in Gefahr geraten ihn mißzuverstehen. Wer an sein Lebenswerk herangeht, ihn selbst vor Augen, aus dessen Seele es erwachsen ist, wird kaum in die Irre gehen können.

So trete ich dann also einigermaßen vorbereitet an die Aufgabe zu untersuchen, ob und in welchem Umfang die weiten Gedankenräume von HUMEs Philosophie durch skeptisches Gift verseucht sind. Durchwandern wir zunächst das Gebiet seiner Lehre vom menschlichen Erkennen - ehemals das verdächtigste von allen - werfen wir dann einen Blick auf seine Ethik, und beschließen wir unsere Musterung auf dem schwierigen Gelände der Religionsphilosophie.

Die Grundanschauungen HUMEs, seinen erkenntnistheoretisch-metaphysischen Standpunkt, vermittelt uns der erste Teil des "Treatise of human nature" und der "Enquiry concerning human Understanding". Wir wissen schon, daß er Autorenehrgeiz genug besessen hat, um jenes formal nicht überall glückliche und so wenig erfolgreiche Jugendwerk später sehr gering einzuschätzen, so gering, daß er auch einem Freund wie ELLIOT ausdrücklich von der Lektüre abrät (BURTON I 337). Nur der Enquiry soll fortan als die Quelle seiner "authentischen Philosophie" gelten. Aber die Geschichte hat ihm darin ebensowenig recht gegeben, wie etwa BYRON in der ursprünglichen Bewertung seines Childe Harold. Ganz im Gegenteil: in immer steigendem Maß hat sie sich daran gewöhnt, im Treatise das eigentliche Hauptwerk des Philosophen zu sehen. Auch ich werde also HUMEs Wunsch nicht erfüllen können; schon deshalb nicht, weil der Treatise mancherlei wichtige Dinge eingehend behandelt, die im Neuguss seiner Gedanken sich entweder nur kurz andeutet oder überhaupt nicht finden, ohne daß er jedoch früher geäußerte Ansichten irgendwie zurücknehmen würde. Sorgfältige Vergleichungen wie die von BREDE haben außerdem gezeigt, daß bei mancherlei Abweichungen im Einzelnen der Standpunkt im ganzen doch 1748 ungefähr derselbe ist wie 1739; mag nun BREDE recht haben (Seite 41), daß der Treatise skeptischer gestimmt ist als der Enquiry oder PFLEIDERER, wie ich glaube, recht behalten, der das Gegenteil behauptet hatte, und der HUMEs eigenes Urteil für sich hätte anführen können (BURTON I 98).

Im Mittelpunkt von HUMEs Philosophie steht die Erkenntnistheorie. LOCKEs "Untersuchungen" auf diesem Gebiet hatten sein Denken in Bewegung gesetzt; an dessen empirischen Grundanschauungen hält er durchaus fest. Dem Jünger wie dem Meister beruth unsere ganze Erkenntnis, unser ganzes geistiges Leben auf durch Wahrnehmung erworbenen Vorstellungen; eine Erkenntnis a priori und angeborene Ideen gibt es für jenen ebensowenig wie für diesen. An diesen Grundpfeilern des in England zu seiner Zeit herrschenden Systems hat der Schotte nie gerüttelt. Der revolutionäre Zug also, der aller Skepis eigen ist, fehlt hier bei HUME ganz und gar. Daß jener Fundamentalsatz des Empirismus, alle Erkenntnis habe ihren Ursprung in der Wahrnehmung, nicht etwa schon selber skeptisch, sondern "durchaus dogmatisch und dem älteren Skeptizismus fremd" ist, brauchten wir uns eigentlich kaum ausdrücklich von STÄUDLIN bescheinigen zu lassen (I 20).

Gut - mag er das Fundament stehen lassen; mag er darauf verzichten, "es aus dem Grunde zu haben", wie KANT später mit seinem Zweifel tun wollte. Aber wenn er darauf ausgegangen wäre, alles, was darauf gebaut war, niederzureissen, um dann selbstzufrieden auf den Trümmerhaufen zu weisen: siehe, das ist mein Werk; wenn er nur das Alte gestürzt hätte, ohne Neues an die Stelle setzen zu wollen, zu wollen zumindest: war wäre da für uns gewonnen? - Wir, die wir den Mann nach seiner ganzen Anlage kennen gelernt haben, können ihm dergleichen von vornherein kaum zutrauen. Aber mehr noch. Wie sehr er sich der positiven Tendenz seines Forschens bewußt ist, spricht er selbst aus, und zwar in einem Brief an seinen vertrauten Freund und Geistesverwandten ELLIOT vom 10. März 1751 (BURTON I 334): "Wenn", so heißt es darin, "zur Beantwortung der entstandenen Zweifel neue Prinzipien der Philosophie aufgestellt werden müssen, sind diese Zweifel dann nicht selbst sehr nützlich?" Wirklich, klarer konnte er sein durchaus unskeptisches Endziel nicht herausstellen! Er will sogar am Neubau selbst wacker mitarbeiten: "Ich hoffe ich kann meine eigene Zweifel beantworten", fährt er fort. Zeigt nicht dieser eine Satz so deutlich, wie man es nur irgend wünschen kann, daß HUME, soweit es nach seinem Willen geht, mehr sein möchte, als ein bloßer negierender Skeptiker?

Wohin er im Besonderen mit seinen erkenntnistheoretischen Untersuchungen strebt, das hatte er freilich schon in der Einleitung zum Treatise und dann auch an anderen Stellen klar genug gesagt. Aber wer wußte es? Wer wollte es wissen? Ein doppeltes Ziel ist es, ein näheres und ein weiteres, das schon dem Jüngling klar vor Augen steht. Die Art und die Grenzen der menschlichen Erkenntnis will er zunächst erforschen. Und, wenn das geschehen ist, so will er die Motive der bei so vielen Philosophen vorgekommenen Grenzüberschreitungen zu erklären versuchen; Aufgaben also, die durchaus positiv sind, die nichts Skeptisches an sich haben. Freilich, darüber ist er sich von vornherein klar; in die Natur der Dinge einzudringen oder die geheimen Ursache ihrer Wirkungsweise zu erklären - darauf will er verzichten. Aber die Art und die Verknüpfung unserer Bewußtseinsinhalte begreifen zu lehren, das macht er zu seiner philosophischen Lebensaufgabe. Diese "wahre Metaphysik", die Wissenschaft von den Grundlagen, Grenzen und der Gliederung menschlicher Erkenntnis, will er mit Sorgfalt pflegen, nun die "falsche", die spekulative, die uferlose Metaphysik zu zerstören (Enquiry IV 9). Für jene Wissenschaft von der Abgrenzung und Beschreibung der geistigen Vermögen prägt er das überaus glückliche Wort "mental geography". Neben dieser Geographie des Geistes sich auch um dessen Kosmologie zu bemühen, das freilich lehnt er ab, zumindest so weit diese Wissenschaft auf dieselbe Art von Gültigkeit Anspruch erhebt wie jene. Aber wer wird einen RICHTHOFEN einen wissenschaftlichen Skeptiker schelten, weil ihm die Topographie von Inner-Asien näher gelegen und vielleicht gegründeter erschienen ist, als eine Erklärung der Protuberanzen [heftige Materieströme am Sonnenrand - wp]? Und an seine selbstgewählte Aufgabe geht unser Denker heran ohne eine Spur des skeptischen Vorbehalts, vielmehr in der Überzeugung "daß es bei allen Aussagen in dieser Angelegenheit eine Wahrheit und eine Falschheit gibt, und zwar eine Wahrheit und eine Falschheit, die nicht außerhalb des Rahmens des menschlichen Verständnisses liegen." (Enquiry IV 10) Klingt das nicht anders als das Glaubensbekenntnis des SEXTUS EMPIRICUS, nicht anders als MONTAIGNEs Resignation?

Ja noch mehr. Nimmt der Empiriker HUME sich vor, mit seinem Forschen auf dieser unserer Erde zu bleiben und den Flug in die Himmel höchstens der Phantasie zu gestatten, so hätte er jede Beschäftigung mit "himmlischen" Dingen als zwecklos und überflüssig betrachten und sich ersparen können. Viele Leute sind der Meinung, das habe er getan und denken dabei an die berühmt gewordenen letzten Sätze des Enquiry:
    "Nehmen wir irgendeinen Band, aus der Theologie oder Schulmetaphysik z. B. zur Hand, so fragen wir: Enthält er einen abstrakten Schluß über Größe und Zahl? Nein. Enthält er einen Erfahrungsschluß über Tatsache und Existenz? Nein. Also ins Feuer damit; denn er kann nichts als Sophisterei und Täuschung enthalten!"
Die Leute aber, die so urteilen, tun HUME Unrecht. Er begnügt sich auch hier in Wirklichkeit keineswegs mit dem non liquet [Es ist nicht klar! - wp] Auch für ihn sind Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, Gegenstände der Untersuchung, wenn auch allerdings in einem ganz anderen Sinn als für den spekulativen Philosophen. Daß diese Ideen völlig außerhalb jeder Erfahrung liegen, daß daher der Verstand über sie keineswegs etwas ausmachen kann etwa mit der Gewißheit, mit der er den Lauf der Erde um die Sonne erschließt - das gilt ihm von vornherein für sicher. Aber er sucht sich über die Gründe klar zu werden, die zu den darüber geltenden Dogmen geführt haben. Es reizt ihn zu verstehen und andere verstehen zu lehren, wie man denn dazu hat kommen können, sich im Besitz von Wahrheiten zu wähnen, über die doch in Wirklichkeit gar nichts Bindendes ausgesagt werden kann. In dieser Absicht behandelt er das Raum- und Zeitproblem; die Frage nach der Substanzialität und Unsterblichkeit der Seele, die Gottesidee - lauter Dinge also, die der Skeptiker getrost als völlig "willkürlich" hätte beiseite lassen können. Viel weiter geht sein Ehrgeiz allerdings nicht. Obwohl er in jenen höchsten Fragen selbst natürlich auch eine Meinung hat - einen Glauben, würde er sagen -; obwohl er sogar diese Meinung mit Wahrscheinlichkeitsgründen vertritt: nun auch seinerseits ein dogmatisches spekulatives Lehrgebäude irgendwelcher Art zu errichten, ist ihm nie in den Sinn gekommen. Will man sein Ziel wegen dieser Enthaltung vom Urteil in den jenseits der Erfahrung gelegenen Dingen als skeptisch bezeichnen, so ist nicht viel dagegen einzuwenden. Aber man müßte dann auch KANT mit demselben Prädikat belegen. Denn in der Beschränkung der Verstandeserkenntnis auf mögliche Erfahrung stimmen beide überein, und auch die Tatsache, daß sie die abgeschnittenen Teile der bisherigen Philosophie nicht einfach fallen lasen, haben beide gemeinsam. -

Vielleicht aber liegt HUMEs Skeptizismus, wenn nicht im Ausgangspunkt und Ziel seines Denkens, in der Methode desselben? Hat der größte moderne "Skeptiker" die Methode seiner "Vorläufer", wie sie am reinsten von SEXTUS ausgebildet wurde, in ziemlicher Vollendung jedoch auch bei BAYLE anzutreffen ist? Man lese z. B. die Auszüge aus des ersteren Untersuchungen über die Götter bei STÄUDLIN (I 428f). Mit allem Scharfsinn wird die These bewiesen; dann wird die Anti-These aufgestellt und deren Wahrheit mit derselben Stringenz dargelegt; beide sind also völlig gleichwertig und das Resultat ist in jedem Fall: wir wissen nichts! Und dann frage man sich: Ist HUME irgendwie in nennenswerter Weise so verfahren? Jedermann, der ihn kennt, weiß, daß Deduktionen ihm recht wenig sympathisch sind; was sich davon - etwa in den Untersuchungen über die unendliche Teilbarkeit von Raum und Zeit - im Treatise noch gefunden hat, das hat er im Enquiry so gut wie ausgemerzt. Wie konnte es bei einem Landsmann BACONs auch anders sein? Beobachtung und Experiment hatte dieser Begründer des englischen Empirismus als Methode jeglicher wissenschaftlichen Forschung empfohlen. Auf eine bewundernswert feine psychologische Beobachtung, auf äußerst glücklich gewählte Experimente - natürlich nicht im heutigen psycho-physischen Sinne - gründet der größte auf dem Boden des Empirismus erwachsene Philosoph seine Lehre. Lautet doch schon der Untertitel des Treatise: "being an attempt to introduce the experimental method of reasoning into moral subject"! [Versuch der Einführung der experimentellen Methode des Argumentierens in die Moral] Wo bleibt da Raum für die skeptische Methode? Der Empirismus kann dafür kaum ein Boden sein; umso eher der Rationalismus. Und sind nicht alle Skeptiker von PYRRHO bis BAYLE auf dem Boden des Rationalismus erwachsen?

Aber gewiß, das alles beweist noch wenig. Ein Mann, der den besten Willen hat, Positives zu leisten; der ein bestimmtes Ziel klar vor Augen sieht und auch zur Erreichung desselben durchaus taugliche Mittel anwendet - kann er am Ende nicht einsehen, daß selbst jenes bescheidene und anscheinend fast greifbare Ziel in Wirklichkeit für ihn auch nicht erreichbar ist? Wer nun gar wie HUME so völlig abseits von der breiten Heerstraße sich durchschlägt, ohne nach rechts oder links zu sehen, dem mag es wohl erst recht geschehen, daß er unterwegs in den skeptischen Sumpf gerät. Viele haben gemeint, dies sei HUMEs Schicksal gewesen; mit Fingern haben sie auf die Stelle gewiesen, da der kühne Wanderer versunken ist, freilich nicht alle auf dieselbe. Ist dem wirklich so?

Wir erinnern uns, daß HUME den Satz des LOCKE, alle unsere Bewußtseinsinhalte seien nichts als empirisch gegebene Vorstellungen (ideas), gläubig hingenommen hat, nur daß er diese Vorstellungen nicht als das Ursprüngliche gelten läßt. Ihm sind die Vorstellungen durchweg verblaßte Abbilder vorangegangener Wahrnehmungen; so zwar, daß jeder Vorstellung eine bestimmte innere oder äußere Wahrnehmung (impression of reflection - impression of sensation) entspricht, von der sie sich nur quantitativ, nur durch eine geringe Intensität unterscheidet. Dieser Satz hat für unseren Denker durchaus die Geltung eines Axioms. Will er irgendeinen Begriff kritisch untersuchen, die Raum- und Zeitvorstellung, den Substanz- oder Kausalbegriff, immer beginnt er mit der Frage: Von welcher Impression haben wir hier die Idee vor uns? setzt also eben jenes Verhältnis von Wahrnehmung und Vorstellung als allgemeingültig und notwendig überall voraus. Unbefangener kann man mit einem keineswegs selbstverständlichen Satz, den man auch durchaus nicht zu beweisen, sondern nur in hohem Grad wahrscheinlich zu machen vermag, kaum verfahren. Taucht ein Zweifel an der Richtigkeit auf - die nie gesehene und doch vorstellbare Farbnuance - so wird die Tatsache als "zu partikulär und vereinzelt" und zu unwesentlich hingestellt, als daß "ihretwegen allein das allgemeine Prinzip geändert werden sollte." (Treatise I 315f). Ist das die Sprache eines grübelnden Skeptikers? Man erschrickt fast, wenn man die fröhliche Sicherheit und Unbekümmertheit sieht, mit der ein störender Einzelfall der allgemeinen Einsicht zuliebe einfach beiseite geschoben wird. Der Mann kann noch eher in Gefahr geraten, den Boden der Tatsachen unter den Füßen zu verlieren, als sich im Gewirr widersprechender Erscheinungen zu verstricken, so fühlt man. Übrigens haben spätere Untersuchungen (MEINONG, Humestudien I, MIRKIN, Kant-Studien VII, 262-263) zu zeigen versucht, daß er in der Sache völlig recht gehabt; daß er gut daran getan hat, sich auf sein Gefühl zu verlassen und nicht jener Ausnahme zuliebe, die in Wirklichkeit keine ist, sein Axiom zu opfern. Wie dem auch sei, geben wir einmal dieses Axiom zu: Wahrnehmung als einziges Material der Erkenntnis; jede Vorstellung nichts als ein verblaßtes Abbild einer bestimmten Wahrnehmung. Was folgt weiter? Soll zur Wahrnehmung die ihr entsprechende Vorstellung treten; sollen weiter die Vorstellungen nicht in alle Ewigkeit als zusammenhanglose Einzelelemente nebeneinander bestehen bleiben, sondern miteinander verknüpft werden, so muß etwas im Geist sein, das diese Arbeiten verrichtet. In der Tat nimmt HUME - was man oft übersehen hat - solche "ursprünglichen Eigenschaften der menschlichen Natur" an, freilich ohne sie erklären zu wollen (Treatise I 321) (7). Diese "magische Fähigkeit der Seele, vermöge deren die Vorstellungen von beiden Seiten des Weltalls herbeiströmen, gerade in dem Augenblick, wo sie nötig oder nützlich werden", ist doch im Grunde nichts anderes als das von Anbeginn an im menschlichen Geist liegende schaffende Prinzip, eben das, was wir philosophisch die Spontaneität des Verstandes zu nennen gewöhnt sind. Es ist also unbillig zu behaupten, wie das unter vielen z. B. LESLIE STEPHEN und jüngst wieder CHAMBERLAIN getan haben, HUME schreibe überall dem Verstand ein passives Verhalten zu. Unterscheidet er doch sogar in einer ausführlichen Anmerkung (Treatise I 416) die einzelnen Fähigkeiten des Verstandes ausdrücklich voneinander: das Gedächtnis von der Imagination im engeren Sinne. Was ist diese letztere? Zweifellos nichts anderes ale eben jene "magische Fähigkeit der Seele", das Vermögen der spontanen Tätigkeit der Vorstellungsverknüpfung. Ist das Skepis oder Rationalismus? Hätte ferner ein konsequenter Empiriker, geschweige denn ein Skeptiker, bei der Erläuterung des Zustandeskommens einer kausalen Verknüpfung sagen können, es bestehe eine Art prästabilierter Harmonie zwischen dem Naturlauf und unserer Ideenfolge? (Enquiry IV 46). Hätte ein solcher wohl - ganz ähnlich - in einem Privatbrief geschrieben: "(Kleanthes) gibt zu, daß alle unsere Schlußfolgerungen auf der Ähnlichkeit der Werke der Natur mit den üblichen Tätigkeiten unseres Geistes beruhen" (BURTON I 336)? -

Es ist richtig, diese offenbar rationalistische Kontrabande [Schmuggel - wp] in HUMEs Lehre, auf die auch PAUL RICHTER (a. a. O., Seite 47f) verweist, zeigt sich nur nebenbei und gewissermaßen verstohlen. Daß sie viele übersehen haben, ist ihnen gewiß nicht zum Vorwurf zu machen. Aber daß der scharfsinnige Mann selber diese großartige Gelegenheit, den konsequenten Empirismus ad absurdum zu führen und aufzulösen, nicht sollte bemerkt haben, wo er doch das Auflösen als seine Hauptaufgabe angesehen hatte, das erscheint doch kaum glaublich. Aber was liegt ihm daran! Er hat ganz andere Dinge vor. Für seine Zwecke scheint ihm seine Grundmaxime brauchbar; mag sie nun eingeschränkt oder uneingeschränkt gelten. Wozu sich dabei aufhalten? Zum zweiten Mal wird die Schwierigkeit umgangen; zum zweiten Mal die starre Logik dem praktischen Bedürfnis zum Opfer gebracht: Scylla und Charybdis [berüchtigte Meeresenge im alten Griechenland - wp] liegen glücklich hinter dem mutigen Forscher; noch hat ihn die Flut der Skepsis nicht verschlungen.

Weiter also. Jene "magische Fähigkeit der Seele" verfährt beim Prozeß der Vorstellungsverknüpfung keineswegs willkürlich, sondern nach bestimmten Gesetzen, den Assoziationsgesetzen. Drei Prinzipien liegen der Tätigkeit der Imagination (8) zugrunde: Ähnlichkeit und Verschiedenheit, Kontinuität in Raum und Zeit und Kausalität. Stellen wir gleich hier fest, daß in dieser scheinbar so einfachen und selbstverständlichen Einsicht eine positive Leistung von nicht geringer Bedeutung erkannt worden ist. HUME hat "zu seiner wissenschaftlichen Verwertung der Assoziation zur Erklärung anderer psychischer Erscheinungen erst recht eigentlich den Anstoß gegeben", bekennt MEINONG (Hume-Studien I 248), der im Übrigen in vielen Einzelheiten scharfe und rückhaltlose Kritik übt und die Theorie der Relationen selbständig ausbaut. Auf einer Anwendung nur des Ähnlichkeitsprinzip auf unsere Vorstellungen beruth die Erkenntnis, der allein HUME die Möglichkeit eines eigentlichen Wissens (knowledge) zuschreibt und deren Methode die Demonstration ist: die mathematische Erkenntnis. Ihre Sätze sind unbedingt gewiß und allgemein gültig. Die Verknüpfung der mathematischen Begriffe ist unabhängig von aller Erfahrung. Die von EUKLID bewiesenen Wahrheiten würden ihre Gewißheit und Evidenz behalten, selbst wenn es in der Natur nie einen Kreis oder ein Dreieck gegeben hätte (Enquiry IV 22). Es hat den Anschein, als wenn hier zu Nutz und Frommen der Allgemeingültigkeit die empirische Grundlage der Mathematik völlig aufgegeben und heimlich die sonst so verpönten angeborenen Begriffe eingeschmuggelt werden sollten. Ob HUME das wirklich beabsichtigt hat, oder ob man die angeführte Stelle anders zu verstehen hat, soll dahingestellt bleiben. Jedenfalls hat er im Enquiry nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, daß auch die mathematischen Vorstellungen in letzter Linie auf Erfahrung beruhen, was er doch neun Jahre zuvor im Treatise zumindest für die Geometrie getan hatte (I 357). Mit dieser schon bei LOCKE zu bemerkenden Sonderung von Geometrie und Algebra nach dem Grad ihrer Gesetzmäßigkeit und Allgemeingültigkeit hat er beim modernen Empirismus ebensowenig Gnade gefunden wie überhaupt mit der Bevorzung der mathematischen Erkenntnis von der Erkenntnis von Tatsachen (HUXLEYs Biographie, Seite 120); natürlich nicht etwa deswegen, weil diese Anschauung den JOHN STUART MILL, BAIN und HUXLEY zu skeptisch wäre, sondern weil sie ihnen den Dogmen des Rationalismus zu nahe steht! Übrigens mag man sich durch MIRKINs scharfsinnige Untersuchungen belehren lassen, wie die empirische Grundlage mit der Allgemeingültigkeit der Mathematik von HUME vereinbart worden ist. Mit einem Wort, den ersten Teil jenes gewaltigen kritischen Problems, die Frage: Wie ist mathematische Erkenntnis möglich? beantwortet unser Denker: Sie ist intuitiv gewiß und demonstrierbar. Und so hat ihn dann hier noch niemand des Skeptizismus bezichtigen können.

Umso einhelliger hat man ihn dessen angeklagt wegen der Art, wie er sich dem zweiten Teil des Problems gegenüber verhält. Welches ist die Grundlage und die Natur unserer Schlüsse über Tatsachen? Worauf beruhen Natur- und Geisteswissenschaften? Niemand wird die ungeheure Wichtigkeit gerade dieser Fragen verkennen wollen; hängt doch von ihrer Beantwortung für den denkenden Menschen unendlich viel ab; seine Wertschätzung wissenschaftlicher Erkenntnis jeder Art; sein Vertrauen auf die Verläßlichkeit ihrer Ergebnisse; sein Glaube an die Möglichkeit einer einleuchtenden und befriedigenden Weltanschauung! Hier halten wir den Knoten, in dem die Fäden unseres Wissens und Schaffens sich verschlingen. Ist er für unsere Zwecke fest genug geknüpft, oder erweist er sich als ein loses, trügerisches Gewirr, das sich unter der ordnenden Hand in ein Nichts auflöst und in alle Winde dahinflattern läßt, was es zu binden schien? KANT und mit ihm viele - auch heute noch ÜBERWEG-HEINZE (III, 259) und CHAMBERLAIN (a. a. O., Seite 633) - haben geglaubt, dieses Letztere eben sei HUMEs Meinung, und hier offenbare sich erschrecklich deutlich sein zersetzender Skeptizismus! Schauen wir zu, was daran ist.

Waren die Sätze der Mathematik auf dem Assoziationsprinzip der Ähnlichkeit und Verschiedenheit gegründet, so erkannte der Scharfsinn HUMEs, daß die wissenschaftliche Erkenntnis von Tatsachen sich allein weder hierauf noch auf dem ebenso intuitiv erfaßbaren Prinzip der Kontiguität [Angrenzung - wp] in Raum und Zeit aufbauen kann. Vermag doch Letzteres zwar einen Katalog von Erfahrungstatsachen, niemals aber eine allgemeingültige Wissenschaft zu liefern. Dazu ist in jedem Fall das dritte Prinzip, das von Ursache und Wirkung unentbehrlich. Keine Wissenschaft kann sich mit dem "Was" zufrieden geben; die Frage nach dem "Warum" gerade ist es, die sie erst zur Wissenschaft stempelt. Sollen also Begründung und Natur der Erfahrungswissenschaften festgestellt werden, so müssen zuvor Begründung und Natur ihres entscheidenden Faktors, des Kausalbegriffs, erkannt sein. Es leuchtet ein, daß mehr noch als bei anderen Denkern die Untersuchungen über das Kausalproblem in HUMEs Philosophieren einen breiten Raum einnehmen mußten; im Enquiry stehen sie durchaus im Mittelpunkt des Interesses und erscheinen als das eigentliche Hauptthema, und zwar so, daß man HUME geradezu den Klassiker des Kausalproblems genannt hat. Wie kommt nun nach der Meinung dieses Klassikers der allen normalen Menschen innewohnende Begriff der notwendigen Verknüpfung von Ursache und Wirkung zustande? Vielleicht läßt sich das in Anlehnung an KUNO FISCHER (Jubiläumsausgabe IV 22) am knappsten und schärsten so ausdrücken: Gegeben ist die Tatsache X mal A, dann jedesmal B. Die Gewohnheit macht daraus den Glauben: A, dann immer B. Auf diesen Glauben gründet sich das Urteil: A, darum B. Zwar liegt auch hier, wie man sieht, ein positiver Lösungsversuch und kein bloßes "ignoramus" [ich weiß nicht - wp] vor. Aber man muß zugeben: in seinen Konsequenzen erscheint das Ergebnis dieses Versuchs auf den ersten Blick durchaus skeptisch. Gewohnheit und Glaube dünken uns doch eine gar schwankende Grundlage für unsere Wissenschaft. Nicht auf durchaus gewisse, unabänderliche Gesetze sollte sie zurückgehen, sondern auf Voraussetzungen, deren Gegenteil ansich ebenso gut denkbar wäre? Ja, da scheint doch alles ins Wanken zu kommen bis auf die Einsicht, daß wir überhaupt nichts wissen können, nicht einmal auf dem begrenzten Feld der Erfahrung. Und hier eben setzt KANTs Rettungswerk ein. Gerade um die Wissenschaft vor dem allgemeinen Zusammenbruch zu bewahren, der ihr durch HUME zu drohen scheint, hat er sich bemüht, den Kausalbegriff aus dem unsicheren Territorium des empirisch Abgeleiteten auf das sichere Gebiet der unmittelbar gegebenen reinen Verstandesbegriffe zu übertragen.

Ob ihm das gelungen ist, das zu untersuchen kann nicht meine Aufgabe sein. Lange hat es für ausgemacht gegolten. Dann trat mit SCHOPENHAUER einerseits, BENEKE andererseits - dem sich auch JODL anschließt - eine Reaktion ein, die KANTs Neubegründung verworfen hat, ohne doch HUMEs älteres Fundament anzuerkennen. Sie will den Kausalbegriff teils aus der inneren Wahrnehmung, dem Willensgefühl, hergeleitet betrachten, teils als darin unmittelbar gegeben, obwohl doch HUME diese Ansicht schon im Voraus widerlegt hatte (vgl. z. B. Treatise I 455). "Nicht wir geben den Gedanken Audienz, die Gedanken geben uns Audien", so sagt auch RIEHL (a. a. O., Seite 95) (9). Dessen ist man sich wohl mehr und mehr bewußt geworden, und so sind dann andere, die KANTs Lösung auch nicht befriedigte, tambour battant et enseignes déployes [unter Trommelwirbel wird das Banner entrollt - wp] wieder in HUMEs Lager übergegangen; so die schon genannten STIRLING und MIRKIN, so ganz neuerdings der Amerikaner LOVEJOY, der es unternimmt, KANT nicht nur eine "merkwürdige Verworrenheit", sondern auch einen Mangel an Originalität nachzuweisen. Doch genug davon. Es kam nur darauf an zu zeigen, daß KANTs Lösung keineswegs für alle das letzte Wort in der Angelegenheit bedeutet. Im Übrigen lautet für uns die Frage nicht, ob der Schotte recht hat oder der Deutsche, sondern ob des Ersteren Anschauung wirklich so bodenlos skeptisch, zur praktischen Begründung der Wissenschaft so völlig untauglich ist, wie es auch mir zuerst erschienen ist; ob es wirklich so dringend nötig war, daß KANT zur Rettung der bedrohten Wissenschaft mit dem schweren Rüstzeug seiner Schematismen und Kategorien herbeieilte. Hören wir, was PAULSEN darüber in seiner Kant-Biographie sagt (Seite 202):
    "Hume behauptet, und viele Physiker werden ihm glauben, die Wissenschaften kommen mit dem präsumtiv-allgemeingültigen Satz genauso weit wie mit dem a priori und absolut allgemeingültigen; was sie brauchen, ist eine taugliche Maxime der Naturforschung, und die haben sie im Gesetz der Kausalität oder dem Satz von der Konstanz des Naturlaufs, auch wenn er nicht ein reines Verstandesgesetz, sondern bloß ein vom Verstand am Gegebenen gebildeter und geprüfter Satz ist."
Wer im Einzelnen die Argumente kennenlernen will, welche der Empiriker hier den Besorgnissen des Rationalisten entgegenhalten könnte, der vertiefe sich in desselben Verfassers "Einleitung in die Philosophie, Seite 428f.

Er wird auch dort bestätigt finden, was er nach allem Vorausgegangenen erwarten mußte: die praktische Gültigkeit, ja die axiomatische Natur des Kausalgesetzes in seiner Anwendung auf die Erscheinungen zu bestreiten, ist HUME nie in den Sinn gekommen; schon BURTON (I 81) hat übrigens mit allem Nachdruck darauf hingewiesen. Wer aber trotz alledem wie CHAMBERLAIN dem "Skeptiker" die Ansicht zuschreibt, der Begriff der Ursache und Wirkung bestehe als solcher nicht zu Recht (Seite 633), der sollte nur den 8. Abschnitt des Enquiry (Von Freiheit und Notwendigkeit) oder gar den 10. (Von den Wundern) lesen, um ihn diesen Begriff als Axiom in voller Unbekümmertheit anwenden zu sehen. Also in der Untauglichkeitserklärung dieses obersten Prinzips aller exakt-wissenschaftlichen Forschung kann HUMEs Skepsis hier nicht liegen; so revolutionär ist er bei weitem nicht. So muß sie denn - wenn überhaupt - notwendig in seiner Begründung dieser Maxime verborgen sein.

Denken wir einmal über seine Fassung der Sache nach, wie wir sie kennen gelernt haben. Woher kam auch uns das unbehagliche Gefühl der Unsicherheit und Unzulänglichkeit? - Was er vor uns ausbreitet, sind rein subjektiv-psychologische Begriffe: Gewohnheit, Glaube.
LITERATUR: Otto Söhring, David Humes Skeptizismus, Philosophische Wochenschrift und Literaturzeitung, Bd. VII, Leipzig 1907
    Anmerkungen
    1) Seit langem vertritt in der wissenschaftlichen Welt besonders Alois Riehl eine ähnliche Auffassung, ohne doch allgemein damit durchgedrungen zu sein.
    2) Papillons und Sjoholms Abhandlungen scheinen jetzt fast verschollen zu sein, zumindest sind sie mir nicht erreichbar gewesen.
    3) Masaryks kurzer Aufsatz (1884) zielt nach einer anderen Richtung, und die Dissertaton von John P. Gordy, mit dem vielversprechenden Titel "Hume as (a?) Sceptic, Berlin 1885, habe ich leider nicht erlangen können.
    4) Ausgabe von Green und Grose (Bd. 1, Seite 549). Ich zitiere künftig - wenn nichts Besonderes angegeben ist - immer nach dieser englischen Gesamtausgabe der philosophischen Werke.
    5) Selby-Bigge's Einleitung zu seiner Ausgabe des Enquiry VII und X.
    6) vgl. dazu Pfleiderer, a. a. O., Seite 537.
    7) Riehl sagt (a. a. O., Seite 107), daß es in unserer Erkenntnis Elemente von nicht empirischem Ursprung gibt, hat sowohl Locke als auch Hume gewußt.
    8) Ich halte es für ratsamer, Humes eigenen Terminus beizubehalten und auf die übliche Verdeutschung "Einbildungskraft" zu verzichten.
    9) vgl. Meinong, Hume-Studien II, 1882, Seite 687f.