cr-2cr-2MillTh. AchelisP. NatorpE. PfleidererPh. FrankC. Göring    
 
ELSE WENTSCHER
Das Problem des Empirismus
[dargestellt an John Stuart Mill]
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"Das Bewußtsein von der Identität eines in den wechselnden Erlebnissen sich gleichbleibenden Ich oder Selbst wird somit zum Kern der Gedächtnistatsachen. Das unerklärliche Band oder Gesetz, die organische Verbindung, die das gegenwärtige Bewußtsein mit dem vergangenen verbindet, kommt nach  Mills  Überzeugung einer  positiven  Vorstellung des Ich so nahe, wie wir nur irgend gelangen können. Es ist ihm unzweifelhaft, daß an diesem Band etwas  real  ist, real wie die Wahrnehmungen und nicht ein bloßes Produkt der Denkgesetze ohne jede ihm entsprechende Tatsache".


Drittes Kapitel
Die Psychologie

Haben wir bisher die Grundzüge von MILLs Logik kennengelernt, so müssen wir nunmehr fragen, auf welche psychologische Bedingung er die dort entwickelte empiristische Erkenntnislehre fundiert. Oft schon haben wir bei der Entwicklung der logischen Gedankengänge das Gebiet der Psychologie gestreift: gehört es doch zu den Eigenheiten unseres Denkers, daß er logische Fragen vielfach durch eine psychologische Analyse des Bewußtseinsbestandes zu lösen sucht. Ja, wir haben in dieser Tendenz nichts Zufälliges zu erblicken; sie ist die notwendige Folge seiner empiristischen Einstellung. MILL hat von seinen geistigen Vorgängern, vor allem von LOCKE, BERKELEY und HUME, die Voraussetzung übernommen, daß nur die uns erfahrungsmäßig gegebenen Bewußtseinsinhalt Gegenstand unserer Erkenntnis werden können. Nur aus ihnen und den daraufhin gebildeten Ideenassoziationen baut sich unser Erkennen und Denken auf. Darum verkennt er, wie vor allem seine Stellung zur Mathematik gezeigt hat, den Anteil, den unser beziehendes Denken zum gegebenen Material der Sinnes- und Selbstwahrnehmung hinzufügt; so sieht er in den kategorialen Beziehungen im allgemeinen nichts anderes als Ergebnisse der Erfahrung und der darauf fußenden Assoziationen. Spricht er doch unumwunden aus, daß die Vorstellungen, die wir "zur Verknüpfung und methodischen Anordnung der Tatsachen verwenden"; sich nicht von innen heraus entwickeln, sondern "dem Geist von außen her zugeführt werden". Darum lehrt er auch, im Gegensatz zu den auf KANT fußenden Gedankengängen WHEWELLs: "Die Vorstellungen, die wir für die Verbindung ... von Tatsachen gebrauchen, entwickelns sich nicht innerhalb des Geistes, sondern dieser erhält den Eindruck derselben von außen (56). Insofern steht MILL auf dem Boden des  Sensualismus der es auch verschmäht, dem überlieferten Prinzip dieser Methode das "nisi intellectus ipse" [Es ist nichts im Verstand, was vorher nicht in den Sinnen war, außer der Verstand selbst. - wp] hinzuzufügen. Für einen solchen Standpunkt versteht es sich im Grund von Selbst, daß die logische Frage nach dem Wahrheitswert eines Urteils oder einer Vorstellung zusammenfällt mit der psychologisch-genetischen Frage nach ihrer  Entstehung  in unserem Bewußtsein; denn eben dieses Bewußtsein setzt sich ja letzten Endes aus den Bausteinen zusammen, die die Erfahrung ihm darbietet (57). So lernen wir dann MILLs psychologische Lehre zum großen Teil schon im Zusammenhang der Logik kennen; er hat sie aber außerdem niedergelegt in der "Examination of Sir William Hamiltons Philosophy", die 1865 erschien, und in einzelnen Aufsätzen, von denen der über "Alexander Bains Psychology" an erster Stelle steht (58). Vor allem aber enthalten STUART MILLs Anmerkungen zu dem von ihm herausgegebenen Hauptwerk seines Vaters seine eigenen Gedanken zur Psychologie (59).

Wenn wir die Psychologie definiere als "die Wissenschaft vom menschlichen Geist", so müssen wir doch auf alle Spekulationen üebr das Wesen des Geistes verzichten. Wie überall, so lernen wir auch hier das Wesen nur aus den  Gesetzen  seiner Betätigung kennen; diese hat die Psychologie aufzusuchen; sie entnimmt sie aus den geistigen Phänomenen, den verschiedenen Gefühlen oder Bewußtseinszuständen fühlender Wesen (60) (oft the various feelings or states of consciousness of sentient beeings). Diese zerfallen in Vorstellungen, Gemütsbewegungen, Willensakte und Empfindungen (thoughts, emotions, volitions and sensations). Auch die letzteren sind ja Zustände des Geistes, wenn auch solche, die durch körperliche Erregungen bedingt sind. Nichts anderes ist uns der Geist als "dasjenige Etwas, das Bewußtseinszustände hat", und die Gleichmäßigkeiten in diesen Bewußtseins-Momenten lassen uns einen Einblick tun in die Gesetze, nach denen die Bewußtseinszustände einander erzeugen. Schon hier wird deutlich, daß in MILLs Psychologie unbewußte seelische Vorgänge keine Rolle spielen, wenn er auch deren Vorhandensein (als "unbewußte Modifikationen der Nerven") einmal zugibt (61). Aber er weiß nichts von unbewußten Bedingungen des Bewußtseins; seine positivistische Einstellung ist es vielleicht, die ihn die Hypothese verschmähen und die Erklärung von Bewußtseinszuständen nur in anderen bewußten Momenten erblicken läßt. Im Gegensatz zu COMTE aber weist er auch den Versuch zurück, die Gesetzlichkeit des geistigen Gebietes zurückzuführen auf die Gleichförmigkeiten der physiologischen Prozesse. Trotz der unbestreitbaren psychophysischen Abhängigkeitsbeziehungen sind uns die Gehirnprozesse bisher selbst noch zu dunkel, als daß wie die Psychologie darauf gründen könnten. Vor allem aber nehmen wir in den Bewußtseinsvorgängen selbst Gleichförmigkeiten der Folge wahr, die uns eine Basis geben für die Erforschung der psychologischen Gesetze.

MILL steht, wie die Logik gezeigt hat, grundsätzlich auf dem Boden der Assoziationspsychologie; in ihr sieht er die wissenschaftliche "experimentelle" Erforschung der geistigen Phänomene. Dennoch gibt er zu, daß der Unterschied dieser Richtung und der intuitiven Methode der schottischen Schule letzten Endes nur ein gradueller ist; denn an einem Punkt sind ja auch die Empiristen zu dem Eingständnis genötigt, daß die erfahrenen Regelmäßigkeiten, die Assoziationsgesetze, auf Tatsachen beruhen, die wir schließlich als gegebene hinnehmen müssen. Aber sie sind doch bestrebt, die Zahl der letzten unauflösbaren Gesetze möglichst zu verringern; sie sind überzeugt, daß die komplizierteren geistigen Phänomene durch Assoziation aus den einfachen gebildet werden. Das Problem der Assoziationspsychologie besteht einmal darin, ihre  Grenzen  richtig zu sehen, also die Frage zu beantworten: Welche Faktoren bleiben als letzte Elemente des Geistes zurück, wenn alle aufgelöst ist, was durch eine Ideenverbindung erklärt werden kann? Und sie hat ferner die Frage zu beantworten: Welches sind die grundlegenden Assoziationsgesetze, und wie baut sich aus ihnen und aus jenen Elementen das Geistesleben auf? (62) Die Methode zur Beantwortung dieser Fragen ist die psychologische Analyse. Die Rolle der Assoziationsgesetze in der Psychologie vergleicht MILL mit derjenigen, die das Gravitationsgesetz in der Astronomie spielt: erst durch die Entdeckung und Anwendung jener Gesetze ist die Psychologie in das Stadium der positiven Wissenschaften eingetreten (63).

Bei aller prinzipiellen Billigung, die unser Denker für die Assoziationsmethode hat, steht er doch der Ausprägung, die sie bisher gefunden hat, kritisch gegenüber; so kann er seinem Vater nicht in alle Einzelheiten der Analyse folgen. Er sieht deutlich auch die Grenzen dieses Prinzips, und er erkennt, daß man bisher im Streben nach Vereinfachung der letzten Grundsätze oft zu weit gegangen ist. Es gilt, die Voraussetzungen festzulegen, die auch die "experimentelle Richtung" anerkennen muß (64). Hatte JAMES MILL versucht, von den beiden grundlegenden Prinzipien HUMEs, Kontiguität und Ähnlichkeit, das zweite auf das erste zurückzuführen, so macht der jüngere MILL dagegen geltend: wir sind keineswegs gewohnt, ähnliche Dinge auch wirklich zusammen zu sehen und Kontiguität würde auch gar nicht erklären, wieso z. B. der Anblick eines Gemäldes in unserm Geist die Idee des Originals erzeugt (65). Wir müssen darum jene beiden Gesetze als grundlegende anerkennen; dagegen hat man den Kontrast nicht als letztes Prinzip der Ideenverbindung anzusprechen. Aus den allgemeinsten Gesetzen ergeben sich durch Zusammenwirken und Gegenspiel speziellere, so z. B. das Gesetz der "compound association" (66): wenn durch die Enge des Bewußtseins mehrere Assoziationen in Konkurrenz miteinander treten, dann siegt diejenige, die die stärksten Beziehungen zum augenblicklichen Bewußtseinszustand hat, während die anderen durch Gegenassoziationen gestört und verhindert werden. Aus diesem psychischen Tatbestand ergeben sich auch die Gesetze des Vergessens.

Durch Assoziationen können ferner Verschmelzungen in unseren Ideen entstehen, in denen man die Elemente nicht mehr zu erkennen vermag, da die Resultante völlig andere Eigenschaften aufweist als die Komponenten. Diese Tatsache läßt MILL häufig von einer "mental chemistry" sprechen. Völlig unvereinbar sind nach den Gesetzen unseres Geistes nur solche Ideen miteinander, von denen die eine unmittelbar die Vorstellung von der Abwesenheit der anderen in sich begreift.

Aufgrund der Assoziation durch Kontiguität können in unserem Bewußtsein "untrennbare Verbindungen" entstehen: wenn wir zwei  sensations  stets in Verbindung miteinander erfahren haben, so gehen die ihnen entsprechenden Ideen in unserem Geist eine so enge Verbindung ein, daß wir schließlich auch die realen Dinge oder Vorgänge, die sie repräsentieren, für untrennbar halten, und wir sehen ihre Vereinigung dann für eine "intuitiv gewisse" Tatsache an (67). Aus dieser Neigung unseres Geistes sind viele von den Irrtümern und Vorurteilen entstanden, von denen die Geschichte des menschlichen Geistes berichtet. Wir werden sie überwinden, wenn wir uns klar machen, daß auch diese untrennbaren Assoziationen lediglich das Ergebnis der  Erfahrung  sind, und daß sie durch entgegenstehende Erfahrungen getrennt werden können. Man wird erwidern: viele von diesen Ideenverbindungen sind aber tatsächlich untrennbar geblieben! Gewiß, antwortet MILL, aber auch der Grund dafür ist ein rein empirischer: die Bedingungen unseres Lebens haben uns die Erfahrungen verweigert, die imstande gewesen wären, jene Trennung zu bewirken.

Der Grund für die "Undenkbarkeit" und dementsprechend für die "Denknotwendigkeit" beruth darum nicht auf einer angeborenen Eigenschaft unseres Geistes; er geht zumeist zurück auf die empirische Tatsache der untrennbaren Assoziation, letztlich auf unsere Erfahrungen. Darum lehrt die Geschichte der Wissenschaften, daß mit der Bereicherung unserer Erfahrung vieles von dem, was wir für undenkbar gehalten haben, mehr und mehr zu etwas Denkbarem wird, wie das Beispiel der Antipoden zeigt. Man hielt ihr Dasein für unmöglich, bis die Wissenschaft aufgrund der zunehmenden Erfahrung uns von ihrer Wirklichkeit überzeugte. Noch häufiger aber bewirkt die fortschreitende Erkenntnis eine  Zerstörung  der Ideenverbindungen, die wir für denknotwendig gehalten haben. Sie zeigt, daß jene Assoziationen nicht eigentlich unlöslich (indissoluble), sondern nur infolge der bisherigen Erfahrung untrennbar (inseparable) sind. So erweist sich die Undenkbarkeit und dementsprechend die Denknotwendigkeit als ein subjektiv-empirisches Phänomen, das in der Erfahrung und ihrer assoziativen Verarbeitung bedingt ist. Nichts Aprioristisches also, wie den Kategorien bei KANT, eignet nach MILLs Überzeugung unserem die Erfahrung verarbeitenden Geist; die Formen und Gesetze der Verknüpfung sind empirischen Ursprungs; sie können mit veränderter Erfahrung selbst veränderte werden. Nehmen wir aber selbst "Undenkbarkeit" in dem Sinne, daß unserem Geist ein Unvermögen sich gewisse Dinge vorzustellen, angeboren wäre: wir würden darum keineswegs schließen dürfen, daß dasjenige, was wir im Denken nicht vollziehen können, auch nicht existieren kann. Denn, was bürgt uns für die Annahme, daß Denken und Sein sich decken müssen?

MILL entwickelt hier also die psychologische Grundlage seiner induktiven Logik, die empiristische Auffassung von der Entstehung unserer Erkenntnis, und wir sehen in dieser Argumentation die Vorteile und Nachteile des Empirismus deutlich hervortreten: seinen Vorzug als kritisches Prinzip in dem berechtigten Einwurf gegen die rationalistische Annahme, daß unser Denken das Sein meistern darf. Andererseits aber überschreitet, wie wir schon in der Logik sahen, das empiristische Prinzip weit seine Grenzen, wenn es zu dem Versuch führt, grundlegende Gesetze unseres Denkens restlos aus Erfahrung und Assoziation zu erklären. Auch die  Examination  bietet die uns aus der Logik bekannte empiristische Erklärung der mathematischen Sätze und Axiome; auch hier finden wir psychologische, logische und erkenntnistheoretische Gedankengänge miteinander vermengt.

Aber, wie schon angedeutet, findet der Empirismus hier im zweiten Hauptwerk eine Grenze; denn im Gegensatz zur Logik gibt unser Denker jetzt, wo er versucht, die psychologischen Bedingungen des Denkens aufzudecken, zu, daß der Satz des Widerspruchs ein letztes, nicht weiter abzuleitendes Prinzip unseres Vorstellens und Denkens darstellt. "Wir können uns nicht vorstellen, daß etwas gleichzeitig ist und nicht ist , daß etwas ein gegebenes Attribut gleichzeitig hat und nicht hat." (68) Ja, wir können uns auch nicht denken, daß diese Dinge "vorstellbar gemacht werden können". Während alle anderen für untrennbar gehaltenen Assoziationen durch eine veränderte Erfahrung verändert werden könnten, hat die Vorstellung einer verschiedenen Erfahrung in dieser Beziehung "keinen Sinn". Darum gibt MILL zu: "Unser Unvermögen, uns dasselbe Ding als  A  und als  nicht A  vorzustellen, kann uranfänglich sein." (69) Ja, es entgeht ihm nicht, daß auf dieses eine aprioristische Moment eine große Reihe der übrigen Axiome und Denknotwendigkeiten zurückgeführt werden kann.



Nicht nur für den Empirismus, auch für die Assoziationspsychologie bedeutet diese Anerkennung  einer  unserem Denken uranfänglich notwendigen Form eine Grenze. MILL sieht sich jedoch auch sonst noch gezwungen, über die ihm überkommene psychologische Methode hinauszugehen und Betätigungen und Eigenheiten unseres Geistes anzuerkennen, die nicht durch Assoziationen zu erklären sind. Sie liegen im Geltungsbewußtsein des "belief", in den Elementen des Wollens und in den letzten Bedingungen des Ichbewußtseins. JAMES MILL vertritt in der "Analysis" die Ansicht, daß alle Fälle unserer Zustimmung, jede Art des  belief,  nur Beispiele der für untrennbar gehaltenen Ideenverbindungen sind, und wir haben gesehen, daß sein Sohn dem weitgehend zustimmt und möglichst alle Denknotwendigkeiten auf diese Quelle zurückführt. Es wäre, so meint er, der größte Triumph der Assoziationspsychologie, wenn es gelänge, alle Fälle des  belief  in Ideenverbindungen, aufzulösen. Das würde bedeuten, daß zwischen einer als wahr, als real anerkannten Tatsache und einer bloßen Einbildung kein anderer Unterschied waltet als der, daß jene auf einer festeren Assoziation beruth. JAMES MILL und HERBERT SPENCER stehen auf diesem Standpunkt, nicht so der jüngere MILL. Er ist überzeugt, daß es ursrpüngliche Akte der Zustimmung (ultimate and original beliefs) gibt, die nicht aus einer Assoziation entstanden sind. Ist es doch ein wesentlicher Unterschied, ob ich zwei Dinge bloß zusammen  denke,  oder ob ich von ihrem tatsächlichen Zusammensein überzeugt bin! Der letzten Annahme verstatten wir z. B. einen Einfluß auf unser Handeln, der ersten nicht. Sollte dieser Unterschied durch eine noch so feste Ideenverbindung zu erklären sein? (70) Wäre dem so, dann müßten dieselben Erfahrungen in allen Menschen, wie dieselben Assoziationen auch denselben Glauben erregen. Die Erfahrung aber spricht für das Gegenteil; sie zeigt, daß vernünftige und an Analyse gewöhnte Menschen sich von der Macht der Assoziation und der dadurch geschaffenen Denkgewohnheiten weitgehend befreien können. Sobald sie sich von der Irrtümlichkeit einer Ansicht überzeugt haben, kann selbst eine Verknüpfung ihrer Ideen sie nicht überreden, daß auch die den Ideen entsprechenden Dinge verbunden sind. Unterscheiden wir den Glauben an eine Tatsache nur durch die Festigkeit der Assoziationen von einer Einbildung, so leugnen wir schließlich den Unterschied zwischen dem Glauben eines Weisen, der sich nur auf Evidenz stützt, und den Annahmen eines Narren, die rein mechanisch durch Gewohnheit hervorgebracht werden.

Es gibt viele Fälle, in denen wir uns von zwei kontradiktorischen Urteilen beide gleich lebhaft vorstellen können - ein Zeichen, daß keines von ihnen auf einer untrennbaren Assoziation beruhen kann. Aber das eine der beiden ist vom Geltungsbewußtsein des Glaubens begleitet, das andere nicht. Was ist es, daß dieses vor jenem auszeichnet? Eine auf Gewohnheit beruhende Ideenverbindung kann - der Voraussetzung nach - nicht in Betracht kommen, da die Vorstellung des Gegenteils ebenso lebhaft zu erzeugen war. Was ist dieses Etwas, das das geglaubte Urteil vor jenem, dem wir den Glauben versagen, unterscheidet? Dieses Moment fällt in den meisten Fällen zusammen mit dem Faktor, der eine Tatsache unserer  Erinnerung  von einem bloßen Gebilde der  Einbildung  trennt: wie belegen mit Glauben eine Tatsache, die wir als geschehen erinnern, von der wir oder andere zuverlässige Zeugen Wahrnehmungen erlebten, nicht aber solche, die aus unseren Einbildungsvorstellungen aufgebaut sind. Und wir belegen mit  belief  ferner bestimmte Erwartungen: nämlich die Voraussetzung, daß wir unter gewissen Bedingungen bestimmte Erlebnisse haben werden. Ideen also, die sich mit erinnerten früheren Wahrnehmungen oder mit erwarteten künftigen decken, begleiten wir mit dem Geltungsbewußtsein des  belief.  Zwischen der Vorstellung einer solchen erinnerten oder erwarteten Wirklichkeit und dem bloßen Spiel der Einbildung besteht darum ein Unterschied, der als prinzipieller, als "ultimate" und "primordial" [ursprünglich - wp] angesehen werden muß. Er ist zuletzt identisch mit dem Unterschied zwischen einer  sensation  und einer  idea;  denn der Glaube besteht eben in der Überzeugung, daß eine der Idee entsprechende  sensation  vorhanden war oder vorhanden sein wird. Darum gilt uns eine mit Glauben begleitete Ideengruppe als ein Abbild der Wirklichkeit, während alle anderen Ideen bloß unserer Vorstellungswelt angehören. In der Logik hatte MILL gelehrt: einen Satz bejahen oder verneinen heißt: ihn glauben oder nicht glauben; er hatte es jedoch abgelehnt, dort den Glaubensakt zu analysieren. Hier dagegen, im Anschluß an das psychologische Werk seines Vaters, unternimmt er diese Analyse, und sie ergibt, daß der  belief  ein ursprüngliches, nicht weiter auflösbares Bewußtseinsmoment ist, das unsere Erinnerungen und Erwartungen im Gegensatz zu den Einbildungen begleitet, weil jene sich auf Wahrnehmungserlebnisse stützen.

So ist das Kriterium des  belief:  die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit; diese muß, wenn sie nicht unmittelbar durch Sinnenschein oder eine über allem Zweifel erhabene Erinnerung zu belegen ist, dargetan werden durch einen  Beweis Alle diese Beweise stützen sich, wie wir aus der Logik wissen, auf  eine  Voraussetzung, nämlich auf die Gesetzmäßigkeit des Naturlaufs. Ob der  belief  sich auf die Vergangenheit oder auf die Zukunft bezieht: stets ruht der Beweis für die Glaubwürdigkeit einer Tatsache auf der Basis, daß - wenn das geglaubte Urteil nicht stimmte - die Gesetzmäßigkeit des Naturlaufs nicht aufrechterhalten werden könnte. MILL erblickt also im  belief  ein Bewußtseinsmoment, das uns die Beziehungen unserer Ideen zu einer von ihm unabhängigen Außenwelt deutlich macht. So berühren sich im belief-Problem psychologische Fragen mit der erkenntnistheoretischen nach der Evidenz der Außenwelt. Zweifellos bekundet MILL auch hierin eine Verwandtschaft mit HUME, die jedoch keineswegs so nahe ist, wie man es öfter dargestellt hat. Gewiß: der Ausgangspunkt der Untersuchung und die ganze empiristische Einstellung ist beiden Denkern gemeinsam, im übrigen aber fühlt MILL sich HUME nicht wesensverwandt, wie aus seinem Urteil über ihn (71) und aus der Ablehnung von HUMEs Skeptizismus hervorgeht.



Unauflösbare letzte Bewußtseinsmomente findet MILL ferner auf dem Gebiet des Wollens; seine Auffassung der Willensvorgänge ist verwandt mit derjenigen seines Freundes ALEXANDER BAIN, der zur  Analysis  des älteren Mill gleichfalls Erläuterungen hinzugefügt hat, und der das Willensproblem selbst eingehend untersuchte in dem Werk "The Emotions and the Will". Übereinstimmend mit ihm, wendet STUART MILL gegen die überlieferte Assoziationspsychologie ein (72), daß sie kein aktives Element in unserem Geist anerkennt, sondern lediglich Elemente, in denen der Geist sich rein passiv verhält: die  sensations  und die daraus gebildeten  ideas.  Darum wird sie zwar der Analyse des Vorstellungslebens gerecht, nicht aber der Aktivität, die sich im Willen bekundet. MILL hat damit in der Tat die schwächste Stelle der assoziationspsychologischen Methode getroffen; er weiß sich in dieser Kritik einig mit ihren schärfsten Gegnern, z. B. mit COLERIDGE. Er gibt selbst die Grundzüge einer Willenspsychologie (73): das Kind bemerkt schon in einem frühen Entwicklungsstadium, daß bestimmte Bewegungen mit Lust, andere mit Unlust verbunden sind, und daß es in gewissem Grad imstande ist, diese zu verhindern und jene zu bewirken. In diesem Tatbestand liegt der Ursprung der Willenshandlung. Er enthält bereits mehrere Momente, in denen wir letzte Tatsachen des Seelenlebens erblicken müssen: zunächst die Verbindung von Lust und Begehren, von Unlust und Abneigung. Diese Verknüpfung ist keineswegs selbstverständlich; wir müssen sie jedoch als elementare, nicht weiter zu erklärende einfach hinnehmen (74). Es bekundet sich darin aber ferner der erste Keim der Tatsache, daß ein Vorstellungsmoment, eine mit Lust verbundene Zielvorstellung, eine Handlung hervorrufen kann. In einem solchen "Motiv" sehen wir die Idee eines Vergnügens oder die Idee einer Befreiung von Unlust, verbunden mit der auslösenden Bewegung. Aber die Vorstellung eines Vergnügens ist ansich noch kein Wunsch, und die Erwartung eines Schmerzes ist nicht identisch mit Abneigung: wir müssen vielmehr auch in diesen Verbindungen letzte Faktoren des Seelenlebens einfach anerkennen. Und wir haben im positiven Antrieb zum Handeln, den der Wunsch unmittelbar in sich birgt, das Anfangsstadium des bewußten Wollens zu erblicken. So geht MILL über die überlieferte Assoziationspsychologie also auch in dem Sinne hinaus, daß er in jenes Bild bloß passiver Geistigkeit aktive Züge, unmittelbare Antriebe zum Handeln einfügt, die sich ihm bei der Analyse des Willensbewußtseins ergeben.



Auch die "vexata quaestio" [ärgerliche Frage - wp] der Willensfreiheit wird von unserem Philosophen eingehend behandelt: im 26. Kapitel der  Examination  und im 6. Buch der Logik (Kap. 2). Was bekundet, so fragt er, der Bewußtseinsbestand des Wollenden selbst in dieser Beziehung? Er besagt: ich bin mir, vor eine Entscheidung gestellt, bewußt, daß ich jeden der hierbei möglichen Wege wählen kann, und ich weiß, daß, auch wenn ich schließlich das eine gewählt habe, "ich mich ebensogut für das Gegenteil hätte entscheiden können". Gewiß, antwortet MILL, du hättest statt  B  auch  A  wählen können: dann nämlich, wenn du  A  vorgezogen hättest! Kein Bewußtseinsbestand aber bekundet, daß wir den einen Weg hätten gehen können, wenn wir den anderen vorgezogen hätten. Denn niemals sind wir uns der Fähigkeit bewußt, im Gegensatz zum augenblicklich stärksten Antrieb handeln zu können. Aber der moralische Charakter, so wird man erwidern, besteht doch eben darin, daß wir im Gegensatz zu unserem starken Begehren dennoch das als gut Erkannte wählen. Diese Auffassung teilt MILL vollkommen; die moralische Forderung ist aber nur dann erfüllbar, wenn das Verlangen recht zu handeln und die Abneigung gegen das Unrecht in uns stärker sind als alle anderen Begierden. Unmöglich ist es jedoch, daß in demjenigen das Pflichtbewußtsein schwächer ist als alle anderen Antriebe, in dem es über jene den Sieg davonträgt. Menschen sind nur darum moralischer Handlungen fähig, weil ihre guten Motive stärker sein können als alle anderen Leidenschaften, und es ist die Aufgabe der Erziehung, einen solchen Geisteszustand in den jugendlichen Menschen zu erzielen; darum ist die Willensbeeinflussung der Kern aller Erziehung. Ihr Ziel muß es sein, daß sie den jugendlichen Geist befähigt, bei der Bildung des eigentlichen Charakters selbst mitzuwirken; in dieser Fähigkeit allein liegt das, was man "Willensfreiheit" nennen kann. Wir besitzen das Bewußtsein dieser Freiheit in der Erkenntnis: wir können das als recht Erkannte wählen, ja, wir können selbst unseren Charakter ändern, sobald wir es nur wahrhaft wünschen (75). Niemals aber wird uns eine solche Änderung gelingen, wenn wir "unsere Vervollkommnung nicht in einem höheren Grad begehren, als wir den Mitteln, die für den Zweck angewandt werden müssen, abgeneigt sind". (76) Das ist das Bewußtsein der Freiheit, wie es sich aus der Analyse ergibt. Der psychologische Tatbestand, der diesem Bewußtsein zugrunde liegt, ist also nicht Freiheit im Sinne des Indeterminismus, im Sinne der Unabhängigkeit von Motiven, der "grundlosen Wahl zwischen  A  und  non A",  er deckt sich vielmehr mit der Ansicht der "Necessitarier": daß Wollungen auf bestimmte moralische Antezedenzien ebenso gleichförmig und sicher folgen, wie physische Wirkungen auf physische Ursachen. Diese moralischen Ursachen sind gegeben in der Mannigfaltigkeit der Motive, die auf einen Menschen einwirken, in seiner Anlage, seiner Erziehung, sowie in der Gesamtheit seiner äußeren und inneren Erfahrungen und Schicksale.

In der Ansicht, daß jedes Ereignis immer nur dann, aber dann auch mit Sicherheit eintritt, wenn bestimmte andere Faktoren vorausgegangen sind, sieht MILL den Ausdruck der  psychischen  Gesetzlichkeit und  Kausalität Ebensowenig wie im Physischen, aber haben wir hier den Folgezusammenhang anders als empirisch zu deuten. Wir kennen auch hier nichts anderes als die Phänomene, wir sehen auch hier nicht die  causa efficiens  [Zweckursache - wp], aus der wir den Folgezusammenhang deduktiv ableiten könnten. Wir erfahren regelmäßige zeitliche Sukzessionen zwischen bestimmten Motiven und bestimmten Willensentschlüssen, und wir schließen daraus auf ein kausales Verhältnis. Nirgendwo aber sehen wir das notwendige Band, das diese Gleichförmigkeiten der Folge bewirkt. Darum lehnt MILL auch die Bezeichnung "psychische Notwendigkeit" ab, und er nennt seine Lehre nur "Kausalitätshypothese".

Wie aber verträgt sich die Unterordnung der menschlichen Willensentschlüsse unter das Kausalgesetz mit der Tatsache, daß wir für unser Handeln verantwortlich sind? Was bedeutet dieses Bewußtsein der Verantwortlichkeit? MILL gibt auf diese Frage zunächst die erstaunliche Antwort: "Verantwortlichkeit bedeutet Strafe." Beim Bewußtsein, für unser Handeln verantwortlich zu sein, soll das Bewußtsein, für sie bestraft zu werden, im Geist oben anstehen (77). Dieses Gefühl kann zweierlei Formen annehmen: die Erwartung, daß wir für gewisse Handlungen tatsächlich von den Menschen oder von einer höheren Macht mit Strafe belegt werden, oder das Gefühl, daß wir eine solche Bestrafung verdienen. Die erste dieser Formen hängt nicht von einer indeterministischen Voraussetzung ab; denn die Bestrafung im Jenseits wird am sichersten erwartet von türkischen Fatalisten und von christlichen Prädestinatianern. Anders aber ist es offenbar mit dem Gefühl, daß wir verantwortlich sein  müßten,  daß unsere Schuld gerechterweise Strafe verdient. Kann jemand diesen Glauben ernsthaft hegen, wenn er auf dem Boden der Kausalitätshypothese steht?

MILL berührt hier also das Problem, mit dem die Menschheit seit Jahrtausenden gerungen hat, zu dem die größten Geister aller Zeiten und jeder Denkrichtung einmal Stellung genommen haben: wie vereinigen sich Determinismus und Verantwortlichkeit? Wenn wir auch in dem Bewußtsein, im Gegensatz zu unseren stärksten Motiven wollen zu können, einen Irrtum erblicken mußten: zwingt uns nicht die Tatsache der moralischen Verantwortlichkeit, dennoch eine Art "Willensfreiheit" anzunehmen? Oder muß nicht umgekehrt die Einsicht, daß unser Handeln kausal bedingt ist, das Bewußtsein der Verantwortung aufheben? Diese zunächst so einleuchtende Annahme ist nach dem Urteil unseres Denkers eine "Ideen-verwirrung". Worauf wir auch das Kriterium moralischer Unterschiede gründen: die Erträglichkeit des menschlichen Daseins, ja schon die allgemeine Sicherheit hängt davon ab, daß das Verhalten der Menschen möglichst mit dem zusammenfällt, was für recht gehalten wird. Daraus folgt mit Notwendigkeit, daß jeder, der dennoch anders handelt, sich in die Billigung seiner Mitmenschen begint, und sich ihre Abwehrmaßnahmen zuzieht. So ist er gewiß, von ihnen schon allein "durch die normale Wirkung ihrer natürlichen Empfindungen" verantwortlich gemacht zu werden. Diese sichere Erwartung, zur Rechenschaft gezogen zu werden, aber ist von großem Einfluß auf das innere Verantwortungsgefaühl; ja, es ist Tatsache, daß dieses Bewußtsein zu jener Erwartung in einem direkten Kausalverhältnis steht. Darin liegt nicht, daß das Verantwortungsgefühl überhaupt nur eine eigennützige Berechnung ist, die nichts anderes enthält, als die Furcht vor äußerer Strafe. Denn es besteht die psychologische Tatsache, daß - wenn wir lange Zeit eine Handlung mit unlustvollen Folgen zusammen gedacht haben - die Vorstellung dieses Tuns ansich unlustvoll wird; wir vermeiden sie, auch wenn im einzelnen Fall jener Folgezusammenhang nicht zu befürchten wäre. So wirkt das Bewußtsein, zur Rechenschaft gezogen zu werden, tatsächlich erzieherisch, und so verschiebt sich unser Problem. Wir dürfen die grundlegende Frage nicht so stellen: ist es gerecht, daß ein Mensch für etwas zur Rechenschaft gezogen wird, was er nicht verhindern kann? Sondern man muß fragen: ist es auch dann nicht gerecht, wenn die Erwartung der Strafe das stärkste Mittel ist, eine die Gesellschaft schädigende Handlung zu verhindern? Und ferner: ist die Bestrafung gerechtfertigt, wenn das menschliche Handeln von Motiven abhängt, unter denen die Erwartung der Strafe eine hervorragende Rolle spielt?

Eine durch die Geistesgeschichte der Menschheit erwiesene Tatsache aber ist ferner, daß die Unterscheidung moralisch guter und verwerflicher Menschen von keiner Theorie über die Kausalität ihres Wollens, sondern von ganz anderen realen Tatsachen abhängt. Auch wenn wir von der absoluten Determiniertheit der menschlichen Handlungen überzeugt wären, würde ein gut und segensreich Wirkender von seinen Menschen geschätzt und verehrt, ein böser und verderblicher dagegen gemieden und nötigenfalls unschädlich gemacht werden müssen. Diese Folge unseres Handelns auf die Reaktion von seiten der Gesellschaft kann durch keine Theorie aufgehoben oder gekreuzt werden, denn sie ist angemessen und natürlich. Und das Wissen um diesen Folgezusammenhang wird dem Menschen wiederum zum Motiv, das ihn von Handlungen zurückhält, die von der Gesellschaft mißbilligt werden. So sind "die Realität moralischer Unterschiede und die Freiheit unseres Wollens voneinander unabhängige Fragen." (78)

Und dennoch bleibt für den Soziologen eine quälender Zweifel: haben wir ein Recht zu strafen, auch wenn das Handeln eines Menschen die Konsequenz aus notwendig wirkenden Motiven ist? Auch hier aber muß man bedenken, daß eben diese Aussicht auf Bestrafung eines der wirksamsten und abschreckenden Motive ist. Ja, man muß, um die richtige Einstellung zu diesem oft aufgeworfenen Problem zu gewinnen, einmal die andere Frage stellen: wäre die Strafe auf einem indeterministischen Boden zu rechtfertigen, wenn also erwiesen wäre, daß unser Handeln nicht von Motiven abhängt? Unter dieser Voraussetzung verlöre die Strafe in der Tat ihren sinn; denn sie müßte ihres pädagogischen Wertes als Abschreckungsmittel, entbehren. Kann doch die Furcht vor Strafe keine Macht gewinnen über einen Willen, der der Voraussetzung nach "motivlos" vor sich geht. Auf diese Annahme aber muß jede Form des Indeterminismus schließlich hinauslaufen. Für den Deterministen dagegen behält die Strafe ihren Sinn als Zweckstrafe. Und zwar bestimmt MILL diesen Zweck ähnlich, wie es später auch die durch FRANZ von LISZT begründete kriminalistische Schule getan hat (79): die Strafe hat dem Nutzen des Übertretenden und dem Schutz der Gesellschaft zu dienen. Das erstere erreicht sie durch Erziehung und zugleich durch Vorbeugung, indem sie im Bewußtsein des Menschen das mißfällige Verhalten mit der Vorstellung der darauf gesetzten unlustvollen Folge, der Strafe, assoziiert. Im übrigen aber ist die Strafe "eine von der Gesellschaft zu ihrer Selbstverteidigung ergriffene Vorsichtsmaßregel". Und sie ist gerecht, sofern der Zweck, den die Gesellschaft damit erreichen und verteidigen will, gerecht und billig ist. Jeder wird, vollkommen unabhängig von seiner Willenstheorie zugeben, daß es allen Einzelnen und ebenso der Gesamtheit zusteht, Rechte zu haben. Darin aber liegt auch die weitere Konzessioni, daß es den Trägern dieser Rechte erlaubt sein muß, denjenigen zu verfolgen und zur Rechenschaft zu ziehen, der diese Rechtsbasis angreift und gefährdet. Jeder Einzelne wird diese Tatsache schon darum zugeben, weil er für sich selbst dieselben Rechte und dieselbe Verteidigungsmöglichkeit beansprucht. So ist also die Strafe soziologisch gerechtfertigt durch den Zweck, dem sie dient.

Eingehend und vielseitig erörter MILL das schwerwiegende Problem der Willensfreiheit und der Verantwortlichkeit. Und dennoch bleibt seine Behandlung insfern unzureichend, als er das Gefühl der Verantwortung fast nur auf das Bewußtsein der Straffälligkeit gründet. Diese Deutung hängt damit zusammen, daß er das menschliche Handeln nur unter dem Gesichtspunkt betrachtet: welche Wirkungen ergeben sich daraus für die Gesellschaft? Das aber ist insofern zu eng, als gedankliche Verfehlungen, die nur zufällig keine äußere Wirkung finden, von dieser Auslegung des Verantwortungsgefühls nicht mit umfaßt werden. Sie läßt außer ach, daß wir selbst es uns schuldig sind, denkend und handelnd unserer höchsten Einsicht zu folgen. Und dennoch schwächt dieser Mangel der Analyse nicht den Angelpunkt seiner Beweisführung. Dieser beruth in dem Hinweis, daß es noch viel schwieriger ist, die Pflicht der Verantwortung mit einer indeterministischen Auffassung unseres Wollens zu vereinen, weil diese im Prinzip leugnet, daß unser Wollen das Resultat von Motiven ist. Nichts aber hat der von MILL vertretene Determinismus mit einem Fatalismus gemeinsam. Behauptet dieser, daß eine höhere Macht unser Handeln, auch im Gegensatz zu unseren Wünschen, in bestimmte Bahnen zwingt, so ist es MILLs Überzeugung vielmehr, daß nicht allein unser Handeln, sondern in bestimmten Grenzen auch unser  Charakter  unserem Wollen unterworfen ist. Denn wir können ihn, durch die Anwendung bestimmter Mittel, ändern und beeinflussen: sofern nur unser Verlangen danach stärker ist, als unsere Abneigung gegen die dazu führenden Mittel.

Wir haben gesehen, daß STUART MILL, der prinzipiell auf dem Boden der Assoziationspsychologie steht, über sie hinausgeht in der Lehre vom  belief  und vom Willen; es gibt aber noch ein Bewußtseinsgebeit, für dessen Deutung ihm jenes Prinzip zu eng ist. MILL lehnt es zwar naturgemäß ab, die metaphysische Frage nach dem Wesen des Geistes zu beantworten; aber er wirft dennoch das Problem auf: welcher Natur ist das im Wechsel der geistigen Vorgänge beharrende seelische Subjekt? Welche Momente erzeugen unser Ich-Bewußtsein? (80) Und er erledigt diese Frage nicht, wie etwa HUME, mit dem sensualistischen Hinweis: daß wir von unserem Ich keinen Sinneseindruck und daher auch keinen Begriff haben können, sondern er widmet, im Gegensatz zu anderen Empiristen, auch diesem letzten psychologischen Problem eine eingehende Erörterung. Diese aber wird noch einmal zu einem Prüfstein für die Zulänglichkeit der rein assoziationspsychologischen Methode. Der Geist, so führt er in der Logik aus (81), ist "das mysteröse Etwas, das fühlt und denkt", von dem wir jedoch nichts erkennen "als eine verwickelte Reiche von Bewußtseinsinhalten". Diese empiristische Deutung des Seelenlebens wird aber sogleich durch den Gedanken modifiziert: es ist außer den Bewußtseinsinhalten noch etwas vorhanden, "das ich mein Ich oder meinen Geist nenne", und das ich von jenen Inhalten unterscheide "als ein Etwas, das diese Gedanken hat, und das ich mir als ewig in einem Zustand der Ruhe, ohne alle Gedanken existierend, vorstelle". Darum ist der Geist "das seiner Natur nach mir unbekannte Subjekt aller Bewußtseinszustände".

Viel eingehender als in der Logik behandelt MILL in der  Examination  das Ich-Problem (82). Wir müssen vorwegnehmen, daß er in diesem Werk unseren Begriff der Außenwelt auflöst in eine gesetzmäßige Reihe von Wahrnehmungen, die ergänzt werden durch eine Fülle von permanenten Wahrnehmungsmöglichkeiten. Daraufhin wirft er die Frage auf: gestattet unser Ich eine ähnliche Analyse, wie der Begriff der Außenwelt? Läßt sich also der Glaube an das Fortbestehen der Seele, auch in Zeiten der Bewußtlosigkeit, zurückführen auf die analoge Annahme einer permanenten  Möglichkeit  von Bewußtseinszuständen? und ist somit die Seele eines Menschen zu deuten als die Reihe seiner Bewußtseinserlebnisse mit Einschluß unendlich vieler Bewußtseinsmöglichkeiten? MILL erkennt, daß eine solche Deutung einer genauen Analyse der Bewußtseinstatsachen nicht stand hält. Sind doch im Seelenleben Faktoren enthalten, die in der Materie kein Analogon finden, und die somit einer übereinstimmenden Deutung der geistigen und körperlichen Vorgänge widerstreben. Diese Momente sind dieselben, die sich im belief-Problem gegen die Auflösung des Geltungsbewußtseins in bloße Assoziationen sträuben: Gedächtnis, Erinnerung und die darauf gegründete Erwartung: Gewiß sind auch diese Faktoren zunächst nur Bewußtseinszustände; aber sie enthalten in sich die Gewißheit, daß uns ein bestimmter anderer Bewußtseinszustand in der Vergangenheit gegeben war, oder daß wir ihn in der Zukunft haben werden. Diese Überzeugung aber birgt in sich den Glauben, daß wir selst, die wir uns jetzt erinnern, es waren, die einst die erinnerten Wahrnehmungen gehabt haben, oder daß wir selbst einmal für die Zukunft erwarteten Bewußtseinsinhalte erleben werden.

Ziehen wir diese grundlegenden Tatsachen in Erwägung, und versuchen wir dann, die von der Materie übernommene Analyse auf das Seelenleben zu übertragen, so müßten wir die Seele auffassen als: "eine Reihe von Bewußtseinszuständen, die sich selbst als vergangen oder zukünftig bewußt sein". Es ist aber ein Widerspruch in sich, daß etwas, was der Voraussetzung nach nur eine Reihe von Bewußtseinszuständen ist, "sich selbst als eine Reihe erkennen kann". Dieser Tatbestand zwingt uns vielmehr zu dem Geständnis, daß das Ich oder die Seele "etwas von einer Reihe von Bewußtseinszuständen oder ihren Möglichkeiten Verschiedenes ist". (83)

Vielleicht bezeichnet diese Feststellung eine Grenze unseres Erkennens, vielleicht wird unsere psychologische Analyse niemals über die Erkenntnis hinauskommen, daß gewisse Momente in unserem Bewußtsein sich dauernd gegen eine Auflösung in bloße Vorgangsreihen und deren Möglichkeit sträuben, weil sie die Existenz eines im Wechsel beharrenden Ich bezeugen. Wir finden jene Momente gegeben in den Gedächtnis-Tatsachen, denn diese setzen die Identität dessen voraus, der die erinnerten Bewußtseinsinhalte einst primär erlebte und sie jetzt erinnert. Das Bewußtsein von der Identität eines in den wechselnden Erlebnissen sich gleichbleibenden Ich oder Selbst wird somit zum Kern der Gedächtnis-Tatsachen. Was aber können wir von diesem Ich oder Selbst aussagen? "Das unerklärliche Band oder Gesetz, die organische Verbindung", die das gegenwärtige Bewußtsein mit dem vergangenen verbindet, kommt nach MILLs Überzeugung einer positiven Vorstellung des Ich so nahe, wie wir nur irgend gelangen können. Es ist ihm aber unzweifelhaft, "daß an diesem Band etwas real ist, real wie die Wahrnehmungen und nicht ein bloßes Produkt der Denkgesetze ohne jede ihm entsprechende Tatsache". (84) Und wir wissen ferner, daß dieses ursprüngliche Element des Seelenlebens keine Gemeinschaft mit irgendeinem anderen Ding hat, darum können wir ihm eben keinen anderen Namen geben als seinen eigenen: Das Ich oder Selbst. Diesem müssen wir aufgrund seiner Äußerungen im Bewußtsein eine Realität zuschreiben, die verschieden ist von jener "realen Existenz als permanenter Möglichkeit", die allein der Materie zukommt. Durch Analogieschlüsse aber muß jeder dieselbe Realität, die er seiner eigenen Seele zuerkennt, auch allen anderen Seelen zusprechen. Gewiß erkennt die Seele sich nur phänomenal, als die Reihe ihrer Bewußtseinserlebnisse; aber wir wissen, daß jedes Glied derselben mit jedem andern durch ein gemeinsames permanentes Element verbunden ist, das selbst nicht in Bewußtseinsinhalten besteht, und das sich dauernd gleich bleibt.

Eine ähnliche Erklärung zum Ich-Problem gibt MILL auch in den Anmerkungen zum Kapitel "Identity" im Werk seines Vaters (85). Mit Recht behauptet LOCKE, so führt er hier aus, daß die Identität meiner selbst gesichert ist durch das Gedächtnis. Er hätte jedoch weiter fragen müssen: was liegt der Tatsache des Gedächtnisses zugrunde? Dann hätte er gesehen, daß sie nicht nur besagt: ich finde diese oder jene Erinnerungsvorstellung in mir; sondern ich erlebe sie mit dem Glauben: daß ich selbst es war, der einst jene Erlebnisse hatte. Die Erinnerung unterscheidet sich ja eben dadurch von der bloßen Einbildung, daß die erstere "ein Ich in sich begreift, das einst die jetzt erinnerten Tatsachen erlebte, und das dasselbe ist, damals und jetzt". Darum sind "die Erscheinungen des Gedächtnisses und des Ich zwei Seiten derselben Sache, zwei verschiedene Betrachtungsweisen desselben Tatbestandes". Nur durch das Gedächtnis werden wir uns unseres Ich bewußt; ja, ein Geist, dem alle seine Erlebnisse im selben Moment spurlos verloren gingen, würde niemals dazu gelangen, den Begriff eines Selbst, eines Ich zu bilden. Andererseits aber ist unser Ich keineswegs bloß die Summe unserer Gedächtnisinhalte; sondern durch das Gedächtnis selbst wird bezeugt, daß ihnen allen ein sie verbindendes, im Wechsel identisches Selbst zugrunde liegt, das erst die  conditio sine qua non  [Grundvoraussetzung - wp] für das Zustandekommen des Gedächtnisses darstellt.

Die eingehende Untersuchung, die MILL den Grenzen der Assoziationspsychologie widmet, zeigt besonders deutlich den Unterschied seiner Gedankenführung von der HUMEs. Dieser hatte die von LOCKE begonnene Kritik am seelischen Substanzbegriff so weitergefürht, daß er den Geist auflöste in eine "collection of perceptions". Nur durch eine "Fiktion unseres Geistes" bilden wir, aufgrund der Assoziationsgesetze, die Vorstellung von einheitlichen Trägern der Sinnes- und Selbstwahrnehmung. Aber HUME stellt nicht die weitere Frage: wie muß ein Geist beschaffen sein, wenn er aus der Aufeinanderfolge ähnlicher oder gleicher Eindrücke die Idee der Identität schöpfen, wenn er zeitlich Getrenntes zusammenfassen, ja wenn er auch nur Entschwindendes im Gedächtnis behalten kann? HUME glaubt, durch die Vergleiche mit dem "Bündel" und dem "Theater" allen diesen Schwierigkeiten enthoben zu sein: aber er fragt nicht: was entspricht in unserem Geist dem Band, das doch das Bündel erst zu dem macht, was es ist, oder dem mit Gedächtnis ausgestatteten Zuschauer, der erst die wechselnden Szenen des Theaters zu einer sinnvollen Einheit zusammenfaßt? Gerade bei diesem Bild wird das Unzulängliche seiner Gedankenführung deutlich: er will das Wesen unseres Geistes erklären durch ein Bild, in dem das zu Erklärende wiederum Voraussetzung ist! Nicht so MILL! Durch Gewohnheiten unseres Geistes versucht er zwar, das Außenweltsproblem zu lösen; aber er begeht nicht den Zirkel, auch die Grundlagen des Seelenlebens selbst wieder aus den Gewohnheiten und Gesetzen des Geistes abzuleiten. Er prüft vielmehr als Erster den von der Assoziationspsychologie geschaffenen Ich-Begriff, indem er ihn an den grundlegenden psychischen Tatsachen mißt. Und diese Untersuchung führt ihn zu dem Ergebnis, daß unsere Seele mehr sein muß als ein bloßes Bündel von Perzeptionen, mehr als eine Vielheit von Bewußtseinsvorgängen. An dieser gründlichen Untersuchung MILLs gemessen, dürften auch neuere Ich-Hypothesen, so z. b. die von EBBINGHAUS aufgestellte, in sich selbst zerfallen.

Wenn wir MILLs psychologische Lehren überschauen, so finden wir, daß auch sie prinzipiell auf empiristischem Boden stehen, denn er hält die von der Erfahrung ausgehende analytische Methode für die allein wissenschaftliche Erforschung der seelischen Vorgänge, im Gegensatz zu einer intuitiv-metaphysischen Richtung, die vor ungelösten Problem und dogmatischen Vorurteilen als letzten Tatsachen Halt macht. Aber er unterscheidet sich andererseits von der orthodoxen Richtung der Assoziationspsychologie. Denn er erkennt, daß in diesem Prinzip noch nicht die Lösung aller Rätsel liegt, daß wir vielmehr letzte psychologische Tatbestände anerkennen müssen, die selbst nicht wieder das Ergebnis der Assoziationsgesetze sind. Ja, die Untersuchung der psychologischen Bedingungen unseres Erkennens zwingt ihn sogar, eine Grenze des absoluten Empirismus einzuräumen. Wir müssen, wenn wir die beiden Hauptwerke MILLs miteinander vergleichen, einen von der  Logik  zur  Examination  vollzogenen Schritt verzeichnen, der ihn über den reinen Empirismus hinaus zur Anerkennung gewisser aprioristischer Momente und letzter Verfahrensweisen unseres Geists führt. Zu dieser Einsicht hat ihn die vorurteilslose Analyse der Bewußtseinstatsachen gezwungen.
LITERATUR - Else Wentscher, Das Problem des Empirismus, Bonn 1922
    Anmerkungen
    56) Logik IV, Kap. 2, § 2
    57) Vgl. auch: CHARLES DOUGLAS, "John Stuart Mill" (deutsch Freiburg 1897)
    58) MILL, Dissertations and Discussions, Bd. III, Seite 97f
    59) JAMES MILL, Analysis of the Phenomena of the Human Mind, London 1869
    60) Logik VI, Kap. 4, § 1
    61) Examination, Seite 295 (deutsche Ausgabe)
    62) MILL, Dissertation, Bd. III (Bains Psychology)
    63) MILL, Auguste Comte und der Positivismus, (Werke deutsch, Bd. IX, Seite 37; vgl. auch "Lettres de John Stuart Mill á Comte, Seite XXIX.
    64) siehe S. BECHER, a. a. O., Teil I
    65) JAMES MILL, Analysis I, Seite 111 und J. St. MILL, Dissertation III, Seite 108.
    66) JAMES MILL, Analysis II, Seite 70 und J. St. MILL, Dissertations III, Seite 131
    67) Examination, Kap. VI und Kap. XI
    68) a. a. O., Seite 101
    69) a. a. O., Seite 101
    70) Analysis, Kap. XI und Anmerkung von J. St. MILL
    71) BAIN, John Stuart Mill, Seite 34
    72) MILL, Dissertations, Bd. III, Seite 119f
    73) MILL, Analysis II, Kap. 24, Anmerkungen
    74) Analysis II, Seite 194f
    75) Logik VI, Kap. 2, § 3
    76) Examination, Seite 657
    77) Examination, Seite 640
    78) Examination, Seite 644
    79) Vgl. FRANZ von LISZT, Die deterministischen Gegner der Zweckstrafe (Aufsätze und Vorträge, Bd. II)
    80) Vgl. meinen Aufsatz über "Das Außenwelts- und das Ich-Problem bei John Stuart Mill" (Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. XXXII, Heft 3 und 4)
    81) Logik I, Kap. 3, § 8
    82) Examination, Kap. 11 und 12 und Anhang.
    83) Examination, Seite 275
    84) Examination, Seite 290
    85) Analysis, Bd. II, Kap. 14