ra-2 Böhm-BawerkA. VoigtR. StolzmannR. StammlerK. Diehl    
 
GUSTAV SCHMOLLER
Über einige Grundfragen
des Rechts und der Volkswirtschaft


"Die sittliche Idee steht über allen einzelnen Rechtsinstituten."

"Ich gebe Ihnen gerne zu, daß wenn man in einem populären Sinn für eine Partei schreiben will, man immer die Masse auf gewisse Schlagwörter und Dogmen, an denen dann kein Zweifel sein darf, einpeitschen muß. Verbanden Sie also nur diesen Sinn mit Ihren Essays, so habe ich nichts zu erwidern, als daß ich - da ich auf einem anderen sozialen Parteistandpunkt stehe, mir das Recht vorbehalten muß, diese Schlagwörter und Dogmen in ihre Elemente aufzulösen. In einem Kollegium, in einem Parlament ist es wünschenswert, daß die Majorität jedenfalls in gewissen Hauptpunkten einig ist; ohne das geht die Diskussion ins Endlose, ist die Herbeiführung von Majoritätsbeschlüssen zu schwierig. Aber die wissenschaftliche Diskussion, von der zwischen uns nur die Rede sein kann, faßt keine Majoritätsbeschlüsse, sie rechnet nur auf die überzeugende Macht der Wahrheit."

"In einem der englischen Enquêteberichte von 1863 z. B. heißt es von den Arbeitern der Töpferindustrie: "die Töpfer als eine Klasse, Männer und Weiber, repräsentieren eine entartete Bevölkerung, physisch und geistig entartet;" "die ungesunden Kinder werden ihrerseits ungesunde Eltern, eine fortschreitende Verschlechterung der Rasse ist unvermeidlich;" als Durchschnittsernährung der sächsischen und schlesischen Weber sind pro Jahr und Kopf 5 - 700 Pfund Kartoffeln und 200 - 300 Pfund Brot und 7 - 9 Pfund Fleisch anzunehmen. Diese Ernährung der Erwachsenen verbunden mit der Ernährung der Kinder, der Erblichkeit des Gewerbes, den schlechten Wohnungen und den frühen Heiraten erzeugt jenen elenden Menschenschlag, der jedem bekannt ist, der einmal jene Bezirke besucht hat. Sollen wir nun, wenn wir jene verkümmerten Menschen sehen, phärisäisch die Achseln zucken und sagen  die Natur bildet eben einmal ihre Geschöppfe ungleich?" 

"Die Menschheit kann keine Fortschritte machen, ohne Einzelne und ganze Klassen zu opfern, zu verstümmeln. Aber folgt daraus, daß sie sich dieser Tat nur zu freuen habe wie jener englische Geistliche, der über das neue englische Armengesetz empört war, weil es die Harmonie und Schönheit, die Symmetrie und Ordnung jenes Systems zerstört, das Gott und die Natur selbst geschaffen hat, jenes System der Überproduktion von Menschen, wodurch allein eine stets überschüssige Menge zu den servilsten, schmutzigsten und gemeinsten Funktionen des Gemeinwesens bereit gehalten wird."

II. Dogmatische oder kritische Methode

Es ist bekanntlich KARTESIUS, der das kühne Wort aussprach:  de omnibus dubitandum  [An allem ist zu zweifeln. - wp] Es ist der Wahlspruch der modernen Philosophie, der modernen Weltanschauung überhaupt. Es wird alles verworfen, was sich nicht als Wahrheit vor der Vernunft bewährt. Oftmals ist auch die neuere Wissenschaft von dieser strengen Forderung wieder abgewichen; hat dogmatische Systeme  a priori  konstruiert; in ihren großen Geistern aber, vor allem in KANT ist sie immer wieder zu dieser kritischen Methode zurückgekehrt. Jeder große Fortschritt der Menschheit beginnt mit dem Zweifel und zeigt sich in einem Protest gegen überlieferten Dogmatismus.

Es muß daher immer überraschend berühren, wenn der Mann der Wissenschaft sich auf den für praktische Zwecke berechtigten, wissenschaftlich aber unhaltbaren Standpunkt stellt, der das Recht des Zweifels, der Kritik, der Fragenaufwerfung leugnet. Das scheinen Sie mir aber wenigstens in gewissem Sinne zu tun; Sie, der schöner als jeder andere die Freiheit deutscher Wissenschaft gefeiert hat, der empört war über den ketzerrichterlichen Geist, welcher die Gefährlichkeit der Meinungen prüfen will, Sie, der die Welt gelehrt hat, daß bei der grenzenlosen Macht der Trägheit die Gefahr einer zu früh verkündeten die Ruhe der Gesellschaft störenden Wahrheit verschwindend klein sei gegen die andere Gefahr, daß auch nur ein wahrer Gedanken in Folge von Gewalt wieder verschwinden könnte (16).

Sie klagen nunmehr über die maßlose Zweifelsucht der Gegenwart, über die ruhelose Kritik, die alles benagt. Sie bekritteln das Recht der Untersuchung nicht religiöser, sondern einfacher Rechts- und Wirtschaftsfragen, z. B. der, was ein gerechter Tausch sei, mit der Bemerkung an der Frage, wer im Arbeitstausch, der Gesellschaft mehr empfängt oder gibt, wird jeder Scharfsinn zuschanden. Doch glauben Sie selbst nicht recht an diese Abdankung der Wissenschaft; denn Sie geben eine klare einfache Antwort darauf; Sie behaupten, die unteren Klassen gewinnen mehr als sie geben. Sie werfen uns vor, wir wetteiferten beharrlich, Fragen aufzuwerfen, die niemand (?) zu beantworten weiß; Sie meinen, es sei heute modisch geworden, unvernünftige Fragen zu stellen.

Was sind aber diese unvernünftigen Fragen? sie drehen sich einfach um das ewige Grundprinzip alles staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, um die Frage der Gerechtigkeit bestimmter Rechtssätze und Wirtschaftssituationen. Sie finden es überflüssig, daß wir als Gelehrte, als Professoren der Staatswissenschaft diese Fragen ventilieren, während sie die brutale Menge längst ventiliert und vielfach leidenschaftlich verkehrt und einseitig beantwortet hat. In einem Moment, in welchem diese Menge nach Ihrer von mir keineswegs geteilten Ansicht uns bereits mit einer bestialischen Pöbelherrschaft bedroht, soll es nicht angezeigt, nicht der Mühe wert sein, dieselben Fragen in ruhiger, wissenschaftlicher Weise zu erörtern, da soll das Einzige, was wir denken und antworten, die alte Abweichung sein:  sint, ut sunt, aut non sint.  [sie sollen sein, wie sie sind oder überhaupt nicht sein - wp]. Mit demselben Recht hat seiner zeit die katholische Kirche die Naturforscher und Reformatoren, hat das  ancien régime  die Männer wie MONTESQUIEU, VOLTAIRE und ROUSSEAU, hat die Bürokratie vor 48 die Liberalen der müßigen unnützen Fragestellung bezichtigt, in verblendeter Kurzsichtigkeit übersehend, daß die Geschichte, und nicht das einzelne Individuum die Fragen stellt, daß es nur darauf ankommt, sie richtig maßvoll und praktisch zu beantworten.

Sie scheinen mir bei Ihren in dieser Beziehung gegen uns gerichteten Vorwürfen einen für gewisse praktische Verhältnisse aus praktischen Rücksichten berechtigten Satz auf die wissenschaftliche Diskussion zu übertragen. Ich gebe Ihnen gerne zu, daß wenn man in einem populären Sinn für eine Partei schreiben will, man immer die Masse auf gewisse Schlagwörter und Dogmen, an denen dann kein Zweifel sein darf, einpeitschen muß. Verbanden Sie also nur diesen Sinn mit Ihren Essays, so habe ich nichts zu erwidern, als daß ich - da ich auf einem anderen sozialen Parteistandpunkt stehe, mir das Recht vorbehalten muß, diese Schlagwörter und Dogmen in ihre Elemente aufzulösen. In einem Kollegium, in einem Parlament ist es wünschenswert, daß die Majorität jedenfalls in gewissen Hauptpunkten einig ist; ohne das geht die Diskussion ins Endlose, ist die Herbeiführung von Majoritätsbeschlüssen zu schwierig. Aber die wissenschaftliche Diskussion, von der zwischen uns nur die Rede sein kann, faßt keine Majoritätsbeschlüsse, sie rechnet nur auf die überzeugende Macht der Wahrheit. In jeder Staatsgemeinschaft muß sich das praktische Verhalten aller Mitglieder innerhalb gewisser durch das Strafrecht abgegrenzter Schranken bewegen, sonst ist eine geordnete Koexistenz unmöglich; es ist auch politisch außerordentlich wünschenswert, daß die Gesinnungen und Anschauungen der Mehrzahl innerhalb gewisser Grenzen übereinstimmend sind; sonst sind wenigstens freie Verfassungsformen unmöglich. Aber niemals wird ein solcher Zustand dadurch erzielt, daß man die Freiheit der Wissenschaft und der individuellen Überzeugung rechtlich oder moralisch beschränkt, daß man bestimmte Fragen für nicht diskutabel, bestimmte rechtliche und politische Dogmen für unantastbar erklärt, daß man die Kritik und den Zweifel verpönt. Der moderne Staat muß selbstbewußt und stolz genug sein, zu sagen: zweifelt so viel ihr wollt; ihr werdet nach der schärfsten Kritik finden, daß meine Institutionen gerecht sind und vor der Vernunft bestehen, daß soweit sie es nicht sind, die gesetzliche Reform innerhalb des Rahmens der Ordnung tausendmal günstigere Chancen bietet als die Revolution. Die Einheit der Gesinnung und Gesittung im freien Staat kann stets nur das Produkt gesunder sozialer Zustände und einer freien Diskussion, nicht die Folge einer neuen Art Staats-Dogmatik sein, die nach Ihrem Wunsch mit dem Satz beginnen müßte: Alles, was ist, ist vernünftig.

Dieses HEGEL'sche Paradoxon, der Sinnspruch aller Reaktion, dem man mit dem gleichen Recht stets das GOETHE'sche: "und was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht", entgegen halten kann, erklären Sie (Seite 77 des Juliheftes) in einer Zeit großer sozialer Mißstände, in einer Epoche der größten volkswirtschaftlichen Revolution, die nach Ihrem eigenen Geständnis zu neuen festen Sitten und zu einem neuen festen Recht noch nicht gekommen ist, für Ihren Ausgangspunkt; Sie meinen ohne diesen Gedanken werde alles Philosophieren zur Spielerei - ein hartes Urteil über die Mehrzahl aller großen Denker, ein Urteil, nach dem SOKRATES und CHRISTUS, LESSING und KANT, ROUSSEAU und ADAM SMITH zu verdammen wären, denn keiner von ihnen hat das Seiende, d. h. das, was ihn zu seiner Zeit umgab, vernünftig gefunden. Von hhier aus suchen Sie nach feststehenden, politischen Dogmen, die vom Fluß der Geschichte nicht berührt werden, die unverrückbare Fundamente für das Staats- und Gesellschaftsgebäude werden sollen.

Als solche finden Sie die natürliche Ungleichheit der Menschen, - dann die sittlichen Ideen der Ehe, des Eigentums und der Gesellschaftsgliederung.

Bleiben wir zunächst bei der natürlichen Ungleichheit, die jedenfalls viel mehr und unbedingter als Ehe und Eigentum für eine durch und durch aristokratische Gesellschaftsgliederung in Ihrem Sinne spricht oder zu sprechen scheint.

Sie reden ausschließlich von der durch die Natur gegebene Ungleichheit; Sie meinen, wer die Geschichte nicht meistern wolle, der beginne mit der Erkenntnis, daß die Natur alle ihre Geschöpfe ungleich bildet. Sie haben dabei ohne Zweifel die Behauptung der Alten (17) im Auge, daß es menschliche Wesen gibt, die unter sich so verschieden sind, wie die Seele vom Leib und der Mensch vom Tier, daß die  Natur  die Sklaven macht, daß deswegen die Sklaverei von Rechtswegen besteht, da sie nur bestätigt, was die Natur vorgebildet hat.

Es ist das, wenn Sie es auch nicht wahr haben wollen, dieselbe Lehre, die die Arteinheit des Menschengeschlechts leugnet, die das blaue Blut oder die weiße Hautfarbe zur Beschönigung jeder Grausamkeit, zur Entschuldigung jeder Klassenherrschaft benutzt, dieselbe Lehre, die noch jeder sozialen Reform, hauptsächlich auch der Aufhebung der Leibeigenschaft entgegen gehalten wurde, die heute noch von einzelnen Ethnographen vorgetragen wird.

Im Ganzen aber können wir sagen, daß eine Jahrtausende alte religiöse und philosophische Bewegung diese Lehre mehr und mehr unmöglich gemacht hat, und daß der neuere Stand der wissenschaftlichen Ethnographie mit Anlehnung an die DARWIN'sche Theorie von der langsamen sukzessiven Umbildung einzelner Stämme zur Lehre von der Arteinheit des Menschengeschlechts zurückgekehrt ist, jedenfalls die Einheit und Gleichheit der Menschenart in Bezug auf das Denkvermögen nicht bezweifelt (18).

Von dieser wissenschaftlichen Erkenntnis bis zum FICHTE'schen Satz, daß sich der Rechtsstaat auf die Gleichheit all dessen gründen muß, was Menschenangesicht trägt, ist es freilich noch ein langer Weg. Aber so iel scheint mir zunächst bewiesen, daß die Berufung auf die bloße Natur nicht ausreicht, die Gegensätze einer hochgespannten Kultur zu erklären. Geben Sie doch selbst zu, daß die reinen Naturmenschen unter sich viel ähnlicher sind als die Kulturmenschen.

Die äußere Natur hat im Süden die Haut dunkler gefärbt, sie wirkt durch Klima, Nahrung und Lebensweise auf ganze Völker, aber unter derselben Sonne, im selben Land verhält sie sich allen Einwohnern gegenüber in der Hauptsache ziemlich gleich. Wohl ist auch innerhalb derselben Familie das eine Kind begabt, das andere nicht; ob das ein Spiel der Natur oder auf andere Ursachen zurückzuführen ist, lasse ich dahingestellt. Aber darum handelt es sich nicht, sondern um die Gegensätze und Abstufungen der körperlichen und geistigen Begabung der sozialen Klassen. Diese gehen aber innerhalb desselben Landes wesentlich auf Kulturtatsachen zurück. Was die gesellschaftlichen Klassen unterscheidet, was von Generation zu Generation dieselben Familien derselben Sphäre der Gesellschaft zuweist, ist kein bloß natürlicher, sondern ein von der Kulturgeschichte beherrschter Vererbungsprozeß. Selbst bei den kräftigsten Stämmen, z. B. den Schwarzafrikanern, bringt eine bestimmte Behandlung nach wenigen Generationen total andere Menschen hervor.

Wenn der amerikanische Pflanzer der Südstaaten eine  gang  Schwarzafrikaner in etwa 8 Jahren aufgebraucht, d. h. durch Überarbeit zur weiteren Arbeit unfähig gemacht hatte, so daß die Hälfte an der  Diserethisia aethiopia  litt, wenn er diese  gang  nun in eine nördlichere Plantage nach Virginia zum Zweck der Zuch bringen liße, so war es natürlich, daß die so heranwachsende Generation einen hohen Grad an Stumpfsinn, tierischer Roheit und körperlicher Ungeschicklichkeit, ja Verkrüppelung zeigte, daß von Jahr zu Jahr das durchschnittliche geistige und körperliche Niveau der so gezüchteten Schwarzafrikaner sank. War es da berechtigt, mit den natürlichen Eigenschaften dieser Unglücklichen ihre entsetzliche wirtschaftliche Lage zu rechtfertigen? Dieses Beispiel ist grass; aber analoge Verhältnisse in gemäßigterer Weise kommen überall vor (19). In unseren gesamten unteren Klassen wirkt die traurige Stellung fort, die sie vom 16. - 18. Jahrhundert einnahmen, die Mißhandlung des Bauernstandes, der träge apathische Stumpfsinn, der wie ein Bleigewicht an unseren Mittel- und unteren Ständen hängen blieb, als die geistige Kultur des vorigen Jahrhunderts unsere höheren Stände innerlich befreite. Wenn in Süddeutschland Mittelstand und Arbeiterstand, Herr und Gesinde sich viel näher stehen als im Norden in Ansprüchen und Lebensgewohnheiten, Bildung und Gesittung, so wird man nicht daran denken dürfen, im Norden sei eine größere natürliche Ungleichheit als Naturfaktor ansich vorhanden, sondern man wird das auf die größere Ungleichheit der Vermögensverteilung, hauptsächlich des Grundeigentums, die hieran sich knüpfenden Klassengegensätze und die jüngere Kultur zurückführen.

Mit der Behauptung, daß die Ungleichheit keine unabänderliche Naturtatsache, sondern zu einem guten Teil ein Produkt von historischen Ursachen ist, die menschlicher Einwirkung offen sind, stehe ich übrigens nicht allein. Schon ADAM SMITH führt die Ungleichheit hauptsächlich auf die Arbeitsteilung zurück; die Bildung jedes Menschen sagt er, hängt von seiner Beschäftigung ab: "Der Mensch, dessen ganzes Leben darin besteht ein paar einfache Operationen auszuführen, hat keine Möglichkeit, seinen Verstand weiter auszubilden. Er wird in der Regel so stupide und ignorant, wie es für es menschliches Wesen nur irgendwie möglich ist. Die Uniformität seines alltäglichen Lebens korrumpiert natürlicherweise seinen geistigen Wagemut - sie korrumpiert sogar die Aktivität seines Körpers und macht ihn unfähig, seine Stärke weiter mit Spannkraft und Ausdauer in irgendeiner anderen Beschäftigung als der, in die er hineingeboren wurde, auszuüben." Das, ruft er mit Emphase, ist der Zustand, in den der Arbeiter, d. h. die Masse der Bevölkerung notwendig verfallen muß, wenn sich die Regierung nicht die Mühe gibt, dem entgegenzuwirken. (20)

Also schon ADAM SMITH verlangt, daß die Gesamtheit derer sich annehme, die sie für ihre Zwecke verstümmelt. Die Menschheit kann keine Fortschritte machen, ohne Einzelne und ganze Klassen zu opfern, zu verstümmeln. Aber folgt daraus, daß sie sich dieser Tat nur zu freuen habe wie jener englische Geistliche, der über das neue englische Armengesetz empört war, weil es "die Harmonie und Schönheit, die Symmetrie und Ordnung jenes Systems zerstört, das Gott und die Natur selbst geschaffen hat, jenes System der Überproduktion von Menschen, wodurch allein eine stets überschüssige Menge zu den servilsten, schmutzigsten und gemeinsten Funktionen des Gemeinwesens bereit gehalten wird. Nein, das sittliche Gesetz verlangt, daß dieses Opfer, das für den Fortschritt allerdings nötig ist, so sehr wie möglich ermäßigt, so weit es geht, wieder gut gemacht wird. Wer das leugnet, der leugnet, daß Kultur und Sitte zur Herrschaft über die Natur berufen ist, der behauptet Differenzen der Rasse, des Blutes, die nach bloßen Naturgesetzen immer weiter gehen, zu einer endlichen Herrschaft der blaublütigen Menschen über die minder begünstigten führen müßte, analog derjenigen, die jetzt der Mensch über die Tiere führt. Das ist das Gesetz des Kampfes ums Dasein, das auf den Menschen nur anwendbar wäre, wenn man ihn rein als Naturprodukt, als Bestie betrachten dürfte, das im Menschenleben nur soweit Analogien findet, als die Naturelemente noch nicht von der sittlichen Kultur gebändigt sind.

Das Dogma von der natürlichen Ungleichheit der Menschen und der Notwendigkeit, die Gesellschaftsgliederung dieser Naturtatsache unterzurordnen, verwandelt sich also in den Satz, daß allerdings jede bestehende Gesellschaftsgliederung auf der mechanischen Unterlage der augenblicklich bestehenden natürlichen Ungleichheit der Menschen ruht, daß eine plötzliche Umgestaltung der Gesellschaft mit der Ignorierung dieser Tatsache unmöglich wäre und nur Verwirrung für den geordneten Gang der Entwicklung brächte, daß aber diese Ungleichheiten nicht für immer existieren, daß sie teilweise durch die Kultur geschaffen, also auch wieder durch sie zu beseitigen sind, daß über die Frage, was zur Milderung bestehender Härten in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Volk geschehen könne, einmal eine kritische Untersuchung aller mitwirkenden Faktoren, das andere mal der reformatorische Mut entscheidet, der selbst vor dem scheinbar Unmöglichen nicht sofort zurückschreckt, wie RANKE so schön die Initiative des Genius bezeichnet, der an eine Zukunft und an einen Fortschritt glaubt, der mit Energie und Nachdruck sei es durch weise reformatorische Gesetze, sei es durch humane Einrichtungen, durch Arbeiterverbände, durch ein zähes Festhalten an einem  standard of life  gegen die Degenerierung, gegen die zunehmende körperliche und geistige Ungleichheit der Menschen ankämpft.

Aber, werden Sie mir einwenden, nicht darauf lege ich das Hauptgewicht, sondern auf die im ewigen Wechsel der Dinge sich gleichbleibenden sittlichen Ideen der Ehe, des Eigentums, der Gesellschaftsgliederung. Damit wollen Sie der neuerungssüchtigen Kritik, die alles in Frage stellt (21) entgegentreten. Sehen wir, wie es Ihnen gelingt.

Sie geben uns  Ihre  Ehe-,  Ihre  Eigentums-,  Ihre  Gesellschaftstheorie; Sie müssen dabei schon einräumen, daß der allergrößte Wechseln vor allem in der Auffassung des Eigentums stattgefunden hat; aber immerhin: es bleibt ein gewisser gleichförmiger Rahmen nach Ihrer Schilderung übrig; innerhalb dessen hat sich alle frühere Geschichte bewegt - also bewegt sich auch alle zukünftige darin; die aristokratische Gesellschaftsverfassung und Einkommensverteilung bleibt ewig dieselbe; sie gibt die höheren Güter der Kultur vor allem die Bildung immer nur derselben kleinen Minorität; für die Menge genügt der Kirchenglaube, harte Arbeit und hie und da ein herzhaft sinnlicher Genuß; ihr darf keine Muße gestattet werden, höchstens zuweilen eine sparsam bemessene Berührun mit den öffentlichen und geistigen Interessen der Zeit; das ist das Richtige, das war immer so, das wird immer so sein; das ist gerecht; da ist von keiner Ausbeutung die Rede; die Regel ist immer das wechselseitige Geben und Empfangen; die höheren Stände geben der Menge immer mehr, als sie empfängt (22).

Niemand wird Ihren gewaltigen und hinreißenden Worten von Seite 79 - 100 des Juliheftes, auf welchen Sie diese Ihre Theorie hauptsächlich entwickeln, folgen können, ohne mannigfache Zustimmung; die meisten Leser werden dadurch hingerissen werden. Der aufmerksame Kritiker wird aber überrascht sein, durch den Rückzug, den Sie Seite 100 beginnen. Mit dem Seziermesser des Historikers trennen Sie eine Masche nach der andern des Netzes auf, in welchem Sie als Dogmatiker die große Seeschlange der sozialen Frage so einfach und sicher gefaßt hatten (23).

Sie geben nun plötzlich die fortschreitende Demokratisierung der Staaten, den sozialen Gleichheitsdrang unserer Tage zu; Sie meinen nur, diese Bewertung werde ihr Ziel nicht mehr erreichen, als der berechtigte Drang der Gegenwart nach Sicherung des Weltfriedens den ewigen Frieden herbeiführe. Ja, mehr haben wir, haben vernünftige Menschen nie behauptet. Meine Theorie, daß alle Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse sich sukzessiv in Verhältnisse sittlicher Wechselwirkung umwandelns müßten, daß die Gegenwart eine gleichmäßige Vermögensverteilung kenne, als die antike Welt, daß das ein Fortschritt sei, der auch in Zukunft noch Ziele vor sich hat, war nie anders gemeint, als in diesem Sinne einer Annäherung an ein Ideal, dessen Erreichbarkeit gerade so außerhalb aller vernünftigen Betrachtung liegt, wie die Frage von den letzten Grenzen des Raums und der Zeit überhaupt. Indem Sie die absolut festen Schranken, die Sie für Staat und Gesellschaft aufgerichtet haben, fallen lassen, geben Sie eine ungeheure Entwicklung im Sinne der Gleichheit zu; Sie geben zu, daß die Idee der Menschheit sich eben hierin verwirklicht. Wir erfahren, und das ist das Überraschendste, daß Sie bisher gar nicht von Wirklichkeiten, von historischen Tatsachen redeten, sondern von sittlichen Forderungen, die sich nur im Großen und Ganzen erfüllen sollen. Unbarmherzig verhöhnen Sie nun sogar die Lehre von der Harmonie der Interessen (Seite 101), während Sie eben noch (Seite 93) die Ausbeutung und Klassenherrschaft leugnend die bestehende volkswirtschaftliche Organisation als ein harmonisches Ganzes, in einem wundervollen Zusammenhang zwischen Arbeitgeber und Nehmer, höheren und niederen Klassen eine Gedankenreihe fanden, die selbst den Spötter zur Andacht zwingt. Sie geben nun die Klassenkämpfe zu, verkünden die große Lehre, daß nur der Staat, vor allem ein über den sozialen Klassen stehendes Königtum, der Ausbeutung der unteren durch die besitzenden Klassen die Spitze abbrechen kann.

Freilich von den Konsequenzen dieser Zugeständnisse machen Sie keinen großen Gebrauch. Auf derselben Seite, auf welcher Sie dem Staat die eben erwähnte Rolle zuschreiben, kehren Sie mit Bemerkungen wie die, "die Lebensweise der Menschen sei heute eine vorwiegend soziale geworden" oder die Staatseinmischung in die Volkswirtschaft gehöre dem klassischen Altertum an - zu den Dogmen der alten englischen Nationalökonomie zurück. Im Jahrhundert, das die STEIN-HARDENBERGische Gesetzgebung erlebt, trösten Sie sich mit der Manchesterweisheit, daß der Staat in diese ungeheure Tätigkeit der Gesellschaft nur selten schöpferisch eingreifen könne. Darum handelt es sich übrigens, wie ich im nächsten Abschnitt näher beweisen werde, gar nicht, sondern darum ob sittliche Mächte die elementaren Naturtriebe beherrschen, ob sittliche Ideen, sei es durch den Staat oder auf andere Weisen schöpferisch eingreifen und auch im wirtschaftlichen Leben Gestalt gewinnen. Sie kommen immer wieder darauf zurück, es könne nicht viel geschehen und man müsse dabei so vorsichtig und langsam wie möglich verfahren; es ist derselbe Rat, mit dem der deutsche Partikularist vor 1866 die deutsche Frage lösen wollte.

Sie zeigen bei jedem Wort, das Sie in dieser Beziehung sprechen, daß Sie die Unrichtigkeit des Manchestertums im Prinzip zwar eingesehen, daß Ihre edle Natur empört ist über die Trivialitäten dieser Schule, daß sie aber in fast allen einzelnen Detailfragen durchaus auf dem alten Boden stehen; es kommt dies daher, daß die Konsequenzen der historischen Nationalökonomie teilweise überhaupt noch nicht gezogen, teilweise wenigstens noch nicht in weitere Kreise gedrungen sind. Sie sprechen z. B. mit Vorliebe von den Segnungen des freien Verkehrs; dieser ist ihnen offenbar eines der unantastbaren Dogmen der alten Nationalökonomie. Was ist aber freier Verkehr? wo existiert er vollständig? hat etwa unsere Beseitigung der Zünfte, haben einige unbedeutende Zollermäßigungen, die ich nicht nur für richtig halte, sondern die ich gerne noch weiter ausgedehnt hätte, einen absolut freien Verkehr geschaffen? Ich sehe nirgends auch in einem Land mit voller Gewerbefreiheit und der bloßen Finanzzölle einen unbedingt freien Verkehr; ich glaube aber auch nicht, daß der freie Verkehr als solcher überall das naturgemäße wäre, überall notwendig günstige Folgen haben müßte, sondern ich sehe überall die individuellen guten oder schlechten Kräfte innerhalb eines rechtlichen und sittlichen, die Eigentums- und Einkommensverteilung ganz wesentlich mitbeherrschenden Rahmens sich bewegen, der nur hier so und dort so gestaltet ist. Dieser sittliche und rechtliche Rahmen kann nicht willkürlich geändert werden; er ruht auch auf gewissen unabänderlichen Naturtatsachen, aber vielmehr ist er ein Produkt der geistig-sittlichen Entwicklung; er steht also unter dem Gesetz des Fortschritts. Er erweitert sich und verengt sich je nach der sittlichen Bildung einer Zeit, je nach dem durch neue kompliziertere wirtschaftliche Verhältnisse augenblicklich bedingten Bedürfnis der Gesamtheit. Wenn mir also heute jemand, ohne diese Motivierung und Einschränkung, den freien Verkehr anpreist, von ihm unter allen Umständen Gutes erwartet, so sage ich ihm: Lieber Freund, der absolut freie Verkehr ist ganz dieselbe Utopie, wie der Traum von einer künftigen Abschaffung des Staates. Solange der Staat noch nicht aufhört zu sein, gibt es auch noch keinen absolut freien Verkehr. Die Hoffnung alle Wunden der Volkswirtschaft durch freien Verkehr zu heilen, steht ganz auf derselben Linie mit der Hoffnung des Radikalismus, den Staat durch die Aufhebung aller Polizeischranken, aller Strafen, durch eine immer weitere Ausdehunung des Wahlrechts usw. in ein vollendetes Gemeinwesen zu verwandeln. Es ist ein dogmatische abstrakte Auffassung der Dinge, die einem veralteten Stand der Wissenschaft entspricht (24).

So erscheint mir auch auf volkswirtschaftlichem Gebiet Ihr Ausgangspunkt ähnlich wie auf rechts- und geschichtsphilosophischem ein vom meinigen ziemlich verschiedener zu sein. Ich sehe ein ewig Gleichbleibendes, vor allem in den physischen elementaren Prozessen der Natur, sonst sehe ich überall Fortschritt und glaube an ihn; Sie räumen Natureinflüssen eine größere Rolle ein und halten auch im sittlichen Leben einzelne Institute für in der Hauptsache unveränderlich. Sie sind empört, wenn man sie in den Fluß des historischen Werdens stellt, als ob eine historische Betrachtung und fester Halt im sittlichen Urteil über staatliche Institute ein Widerspruch wäre. Entrüstet rufen Sie aus: "man stelle nur  alles  schlechthin in den Fluß der Zeiten und der frechen Willkür ist Tür und Tor geöffnet."

Der Fluß der Zeiten manifstiert mir nichts anderes als das Gesetz der Kausalität; solange die Ursachen dieselben bleiben, bleibt die Folge - die Gesellschaftsordnung - dieselbe. Ich kann keinen absoluten sittlichen Vorzug für ein Institut darin finden, daß es lange so gewesen ist. Ich kann auch in der Ehe, im Eigentum und in der Gesellschaftsordnung keine absoluten sittlichen Ideen sehen, vollends nicht in der bestimmten Färbung, mit der Sie sie vortragen. Die sittliche Idee steht über allen einzelnen Rechtsinstituten. Ehe und Eigentum sind äußere Formen des positiven Rechts, in welchen sich die sittliche Idee darstellt; aber es sind Formen, die selbst in ewiger Umbildung begriffen sind. Soweit sie bei den meisten Kulturvölkern einen ähnlichen Charakter tragen, ist nicht etwa eine immanente sittliche unveränderliche Substanz die Ursache der Gleichmäßigkeit, sondern sie liegt in den gleichen äußeren Vorbedingungen menschlicher Existenz und der hierdurch hervorgerufenen Notwendigkeit einer analogen historischen Entwicklung. Die Monogamie und das Individualeigentum (innerhalb gewisser Schranken und neben einem Gemeineigentum, wie es die Gegenwart schon kennt) werden so lange in der Hauptsache dieselben bleiben, als die menschliche Individualexistenz mit dieser körperlichen Organisation und diesen geistig-sittlichen Bedürfnissen dieselbe bleibt. Der Mensch kann als Individuum nicht existieren, nicht sein Wesen zu einer höheren Kultur entfalten ohne Eigentum, er kann den Zusammenhang der Generationen, auf dem die mechanische Überlieferung aller Güter der Kultur beruth, nicht aufrechterhalten ohne Erbrecht. Das sittliche Element der Monogamie, des Eigentums und des Erbrechts liegt aber nicht in dem, was das augenblickliche Ehe-, Eigentums- und Erbrecht mit dem anderer Zeiten gemein hat, in dem, was man als abstraktes Dogma - Sie sagen: als sittliche Idee - dieser Institute proklamieren kann, sondern ausschließlich und allein darin, daß das jeweilige Ehe-, Erb- und Eigentumsrecht, die jeweilige Gesetzgebung über zulässige Erwerbsarten, über Einkommensverteilung das in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Volk adäquate Gefäß einer gerechten und sittlichen Ordnung, einer sittlichen Erziehung der Gesellschaft ist.

Mit einer Abstraktion also von dem, was allen Gesetzgebungen der Ehe und des Eigentums gleich ist, bekommt man einen Schulbegriff, der zum Unterricht für Anfänger in der Rechtsphilosophie und Staatswissenschaft gut sein mag, der aber über die Frage, ob unser heutiges Recht genügend und richtig ist, absolut gar nichts aussagt.

Eine richtige Antwort auf diese Frage gibt nur die historisch-kritische Untersuchung der Rechtsinstitute einerseits, der psychologische, faktiscen, materiellen Zustände und Folgen andererseits. Eine exakte rechtsvergleichende Untersuchung über das Detail des Ehe-, Erb- und Eigentumsrechts, nicht eine unfehlbare Dogmatik desselben tut uns Not.

Und was vom Ehe- und Eigentumsrecht gilt, das gilt noch mehr von der Gesellschaftsordnung. Selbst, wenn Ehe und Eigentum viel konstanter blieben, als sie bleiben, wäre die Konstanz der Gesellschaftsordnung, die Sie behaupten, für mich noch nicht bewiesen; Ihr Schluß von der sittlichen Idee des Eigentums auf eine in der Hauptsache gleichbleibende aristokratische Gesellschaftsordnung scheint mir durch tausend Blätter der Geschichte widerlegt, scheint mir auf derselben Linie zu stehen, wie die Behauptung eines Baumeisters, er könne mit einer Sorte Steine nur Häuser mit demselben Grundriß und derselben Fassade bauen.

Ich werde nachher auf diese Fragen näher eingehen; vorher möchte ich ein paar Worte wenigstens über das Verhältnis von Wirtschaft, Sitte und Recht im Allgemeinen einschieben, weil ohne diese Begründung meine nachfolgenden Erörterungen über das Eigentum und die Gesellschaftsgliederung in der Luft schweben würden.
LITERATUR: Gustav Schmoller, Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft - offenes Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Heinrich Treitschke - Jena 1875
    Anmerkungen
    16) Siehe den Essay "Über die Freiheit" im ersten Band der historisch politischen Aufsätze von HEINRICH von TREITSCHKE (3. Auflage) Seite 627 - 637.
    17) Vgl. ARISTOTELES, Polit, B I, Kap. II, § 13f
    18) PESCHEL, Völkerkunde, Seite 22 - 23
    19) In einem der englischen Enquêteberichte von 1863 z. B. heißt es von den Arbeitern der Töpferindustrie: "die Töpfer als eine Klasse, Männer und Weiber, repräsentieren eine entartete Bevölkerung, physisch und geistig entartet;" "die ungesunden Kinder werden ihrerseits ungesunde Eltern, eine fortschreitende Verschlechterung der Rasse ist unvermeidlich;" und dennoch "ist die Entartung (Degeneration) der Bevölkerung der Töpferdistrikte verlangsamt durch die beständige Rekrutierung aus den benachbarten Landdistrikten und die Zwischenheiraten mit gesunden Rassen". Auch in Deutschland lauten die Urteile der Ärzte, der Geistlichen, der Staatsbeamten, der Rekrutierungskommissionen ähnlich; so z. B. die Schrift des Dr. MICHAELIS über den Einfluß einiger Industriezweige auf den Gesundheitszustand, ein Beitrag zur öffentlichen Gesundheitspflege und zur Lösung der Arbeiterfrage, 1866. Daselbst versichert der durchaus gewissenhafte, ohne jede Tendenz schreibende Arzt, daß als Durchschnittsernährung der sächsischen und schlesischen Weber pro Jahr und Kopf anzunehmen seien 5 - 700 Pfund Kartoffeln und 200 - 300 Pfund Brot, 7 - 9 Pfund Fleisch. Diese Ernährung der Erwachsenen verbunden mit der Ernährung der Kinder, der Erblichkeit des Gewerbes, den schlechten Wohnungen und den frühen Heiraten erzeugt nach ihm jenen elenden Menschenschlag, der jedem bekannt ist, der einmal jene Bezirke besucht hat. Sollen wir nun, wenn wir jene verkümmerten Menschen sehen, phärisäisch die Achseln zucken und sagen "die Natur bildet eben einmal ihre Geschöppfe ungleich?"
    20) ADAM SMITH, Wohlstand der Nationen, Buch V, Kap. II, Art. II (III Seite 182 - 183 der 11. Londoner Ausgabe von 1796).
    21) Daß LASSALLE alle großen Institute der Gesellschaft für historische, nicht logische Kategorien erklärt, wie Sie sagen, ist nicht ganz richtig. Er sagt nur vom Kapital, es sei eine historische Kategorie (BASTIAT-SCHULZE, Seite 159) und auch da gebraucht er diesen Ausdruck nur um kurz den Gedankengang zu resümieren den er weiter ausführt, daß die Quellen der Kapitalbildung zu verschiedener Zeit sehr verschiedene gewesen sind.
    22) Dabei behandeln Sie plötzlich die hungernden Dichtergenies und die Millionäre als eine gesellschaftliche Klasse gegenüber dem Proletariat. Es ist das eine Zusammenfassung, die Sie häufig anwenden, und auf der ein wesentlicher Teil Ihrer Wirkung beruth. Nun ist diese Zusammenfassung natürlich für gewisse Fragen richtig; d. h. in gewissen Beziehungen sind die besitzenden und gebildeten Klassen eins, in anderen sind sie es nicht. Und wenn man darüber streitet, ob ein gesteigertes materialistisches Erwerbsleben eine bestimmte Klasse der Gesellschaft, gewisse Unternehmer, gewisse Börsenkreise usw. einseitig zu egoistisch macht, so ist damit nichts gesagt, wenn man von den Eigenschaften unserer Beamten, unserer Pfarrhäuser oder gar unserer Dichter redet. Ich komme darauf in einem anderen Zusammenhang zurück.
    23) Wenn ich Ihnen vorwerfe, daß Sie sich hier in Widersprüchen bewegen, geschieht es nicht mit der Absicht zu leugnen, daß sich zwei oder mehr Prinzipien zwei oder mehr Entwicklungsreihen in der Geschichte nebeneinander in gegenseitiger Modifikation manifestieren. Sobald ich die gemeinsame Quelle nachweise, aus der hier Harmonie dort Klassenkampf entsteht, sobald ich nachweise, wie aristokratische und demokratische Gesellschaftseinrichtungen sich im Detail modifizieren, sich in der Geschichte folgen müssen, sobald ich aufdecke, warum hier Klassenherrschaft und Ausbeutung und dort keine existiert, so ist der Widerspruch beseitigt. Aber Sie leugnen erst das Eine ganz und müssen es dann nachher doch wieder konzedieren. Sie Stellen das  eine  als Regel auf, das  andere  als sinuläre Ausnahme. Aber Sie erklären nicht genügen, wann, wo und wie die Ausnahme eintritt, Sie konstruieren eine Geschichtsphilosophie, in der das, was Sie doch für breite Zeiträume als Ausnahme zugeben müssen, gar keinen Platz hat.
    24) Um Ihnen zu zeigen, wie auch außerhalb der kathedersozialistischen Kreise diese meine Auffassung geteilt wird, führe ich eine Stelle aus einem Brief unseres gemeinsamen Freundes DILTHEY an, der schreibt: "Ein besonders wichtiger versteckter Fehler scheint mir bei ihm, wie bei allen seiner Richtung in dem Satz (Seite 107) vom freien Verkehr zu liegen, da es in Wirklichkeit jederzeit auch bei völliger Durchführung der sogenannten Freiheit des Verkehrs der Inbegriff der im Gesetz geregelten Rechtsverhältnisse ist, welche auf die Verteilung der Güter einen leitenden Einfluß hat. Die Frage kann nie sein,  ob  eine solche zu statuieren ist, sondern nur  welche."