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MAURICE NADEAU
Das Experiment Surrealismus

"Und die Bildung? die Kultur? ist denn die keine gastliche Freistatt für solch blasierte, desillusionierte Intellektuelle? Achtet ihr denn diesen Schatz an Wissen, Kenntnissen, Erkenntnissen gering, der da seit grauester Vorzeit gehortet wurde und zum Menschen spricht: Glaube und hoffe!?"

Wir wollen uns den Entwicklungsgang des Surrealismus als geistiger Bewegung einer Epoche und einer Gruppe vergegenwärtigen, weil wir überzeugt sind, daß sich mit denselben Problemen, für die die Surrealisten eine Lösung zu finden suchten, auch die jungen Menschen von heute werden herumschlagen müssen. Selbstverständlich wünschen wir, daß diese sich die Flügel am surrealistischen Feuer versengen, doch wäre es uns lieber, wenn sie dessen Feuer zu anderem nutzten, als sich darin selbst zu zerstören.

Weil der Surrealismus von einer rein spekulativen Untersuchung der Möglichkeiten der Sprache als des Instruments der Dichtkunst ausgeht, gerät er zunächst in einen totalen Subjektivismus, worin die Sprache hauptsächlich als Privateigentum eines Individuums erscheint, mit dem es nach Gutdünken verfahren darf. Um einer Welt willen, die das Individuum in sich selbst vorfindet und systematisch zu durchforschen strebt, wird die Außenwelt außer acht gelassen. Daraus erklären sich die übergroße Bedeutung, die dem Unbewußten und seinen Erscheinungsweisen beigemessen wird, und die Tatsache, daß seine Äußerungen in einer neuartigen, freieren Sprache gefaßt werden. Weil der Surrealist sein eigenes Wesen so scharf durchschaut und überblickt, setzt er es deutlich gegen die Außenwelt ab und will sie den Wünschen seines eigenen Selbst gefügig machen. Daraus ergibt sich ein revolutionärer Individualismus, der an die Allmacht des eigenen Denkens glaubt. Und dieses allmächtige Denken soll so ansteckend wirken, daß es zunächst das Denken und dann auch das Leben der Mitmenschen wandelt.

Statt sich geheimniskrämerisch mit seinen Einsichten in die Esoterik der eigenen Schule zurückzuziehen, gibt der Surrealismus jedermann die Mittel an die Hand, sich in jene zornige Stimmung zu versetzen, die die Grundvoraussetzung jeder echten Änderung des Lebens darstelle, welche Änderung in der Aufhebung aller Widersprüche in einer surrealite oder Überwirklichkeit gipfeln soll. Diese Überwirklichkeit umgreift und übersteigt zugleich das Bewußte und das Unbewußte, Mensch und Welt, das Natürliche und das Obernatürliche. Die Untersuchung dieses Zustands und die Suche nach ihm wird in Gemeinschaftsarbeit und ganz wie ein wissenschaftliches Experiment betrieben.

Das Experiment endet in einem Mißerfolg: Die Welt lebt weiter, als gäbe es die Surrealisten gar nicht. Die Denk- und Verhaltensweisen, auf die die Surrealisten ihrem eigentlichen Anliegen gemäß einwirken wollten, werden durch ihr eifriges Tun überhaupt nicht verändert. Denk- und Verhaltensweisen, so sehen sie nun ein, können nämlich nur mittelbar, über die Verhältnisse der materiellen Welt, verändert werden. Nun hatten sie es sich bisher aber absichtlich versagt, die materiellen Verhältnisse beeinflussen zu wollen. Der zweite Schritt des surrealistischen Vorgehens muß also darin bestehen, daß versucht wird, die materielle Welt objektiv zu verändern und den Subjektivismus auf einen Materialismus hin zu überschreiten, mit dem man unmittelbar auf die Dinge einzuwirken vermag. Damit haben die Surrealisten das Spezialgebiet der politischen Revolutionäre betreten, und sie mühen sich auch, mit diesen zusammenzuarbeiten.

Doch ihre Anliegen unterscheiden sich von denen der politischen Revolutionäre: Einen Umsturz im Wirtschaftlichen und Sozialen halten sie zwar für eine unerläßliche Voraussetzung der totalen Umwandlung des Lebens, aber er genügt ihnen nicht, weil er nur den Menschen als Wirtschaftenden betrifft. Nach ihrer Auffassung soll der Mensch nicht nur das Recht auf materielles Lebenkönnen haben, sondern auch das Recht, zu träumen, zu lieben, zu genießen. Deswegen wollen sie sich lieber sogleich auf die Untersuchung jener Voraussetzungen und Verhältnisse spezialisieren, unter denen derartige Wünsche erfüllt werden können, als sich auf das Zugeständnis der Politiker zu verlassen, die die Stillung dieser Triebe nur zusätzlich und nebenbei befürworten. Die gesuchten Voraussetzungen und Verhältnisse finden sie im dichterischen Schaffen, und deshalb widmen sie sich ihm. Das besagt, daß sie auf einem Umweg zu jenem Gebiet zurückgelangen, von dem sie im Grunde genommen nie losgekommen waren. Sobald sie erst merken, daß sich der neue Mensch, der, wie man ihnen beteuert hat, in der Sowjetunion erstehe, kaum wesentlich von dem Menschen unterscheidet, den sie kennen, wenden sie sich von den Kommunisten ab, die sich ja als die allein vorbildlichen Repräsentanten der politischen und sozialen Revolution aufspielten.

Dank dieser Abkehr erkennen die Surrealisten ihren Aufgabenbereich und ihre Möglichkeiten nun schärfer. Dadurch, daß sie mit der Welt der Tatsachen aufs engste in Berührung gekommen waren, begreifen sie, daß sie viel zu ohnmächtig sind, um aus eigener Kraft die totale Revolution, die sie wollen, herbeizuführen. Sie begreifen, daß der erste Akt jener Revolution von den Politikern gespielt werden muß, sie darin aber bloß eine Nebenrolle haben können. Ihr Bestreben beschränkt sich von nun an darauf, den Weg zur Revolution zu erleuchten und den marschierenden Kolonnen ständig das Ziel, dem sie zustreben, vor Augen zu halten. Dieses Ziel ist Aufhebung aller Widersprüche und Gegensätze in einer Überwirklichkeit. Die Aufhebung oder Auflösung wirft aber ihrerseits neue Probleme auf, die nach neuen Antworten schreien.

Es ist leicht zu sagen, die Surrealisten seien gescheitert, wenn man die treibenden Kräfte der Bewegung geflissentlich außer acht läßt oder sie in den Ehrgeiz umdeutet, eine neue Literatur und eine neue Malkunst zu schaffen. Warum sagt man nicht einen neuen Humanismus?

Genau wie die Romantiker sind die Surrealisten von tiefer Verzweiflung befallen. Diese Verzweiflung ist aber nicht dasselbe wie LAMARTINEs süßliche ziellose Sehnsucht, wie LEOPARDIs "Melancholie" oder BAUDELAIREs "Spleen", denn diese gehen später häufig und leicht in der Liebe zu einem wiedergefundenen Gott auf. Sie ist vielmehr eine Verzweiflung a la RIMBAUD, der den ganzen Bettel hinwirft und ein neues, rein animalisches -Leben anfängt. Sie ist ein aggressiver Pessimismus a la LAUTREAMONT, der mit Gott und der Welt und den "guten und reinen Werten" ins Gericht geht. Erinnern wir uns der Passagen in NAVILLEs "Mieux et moins bien", in ARAGONs "Traite du Style"! Wie lächerlich kommen einem der Mensch, die Welt, Gott, das Leben und die Abhilfen vor, die der Mensch erklügelt, um diesem Alptraum zu entrinnen, wenn man sie am Maßstab dieses Pessimismus mißt.

Bis zu den Surrealisten hin hatte man versucht, das Ungeheuer zu zähmen. Nur mit den Hörnern hatte es noch bei de VIGNY gedroht, doch das allein hatte genügt, den Zuschauer erbeben zu machen. BAUDELAIRE hatte das Ungeheuer in die Kirche und die künstlichen Paradiese geführt. Ohne langes Gerede hatte RIMBAUD es mit einem kräftigen Stoß ins Rote Meer geworfen. LAUTREAMONT, nachdem er seiner Herr geworden, ließ es auf die Welt los. JARRY fiel ihm zum Opfer. Die Surrealisten aber leben mit dem Untier, jeden Augenblick, von Angesicht zu Angesicht, Aug' in Aug', denn es lauert ja nur ständig darauf, daß man für eine Sekunde nicht ganz bei der Sache ist, und schon stürzt es sich auf uns und zerfleischt uns. Es braucht ja bloß seine Krallen ein wenig tiefer einzubohren, mit seinen Reißzähnen ein bißchen fester zuzubeißen, dann ist es so weit. Man sah es ja bei JACQUES VACHE, RIGAUT, NADJA, ARTAUD, CREVEL! RIGAUT: "Ihr seid alle Dichter, ich aber gehöre dem Tod." CREVEL: Der Selbstmord ist ,wahrscheinlich die gerechteste und unumstößlichste aller Lösungen". Und diese bohrenden Fragen, die die am Leben Gebliebenen stellen: Warum schreiben Sie überhaupt? ... Ist der Selbstmord eine Lösung? ... Was erhoffen Sie sich eigentlich von der Liebe?" Mutet einen das nicht an, als ob diese Leute nur immer neu wieder fragten: "Wozu überhaupt weiterleben und auch noch dazu Stellung nehmen?"

Und dennoch leben sie weiter und äußern sich obendrein dazu. Sie tun es auf sonderbare Art, das muß man schon zugeben. Predigen sie nicht, daß man es ablehnen müsse, bürgerlich emporzukommen, Karriere zu machen, in einer Welt, die sie verachten? Und haben sie darin nicht gewissenhaftest Wort gehalten, wenigstens solange sie der Bewegung angehörten? Demoralisation galt ihnen als höchster Wert. Sie erstrebten und kultivierten sie quasi um ihrer selbst willen, als ob gerade der Sinn des Lebens gleich einem Unkraut ausgerissen werden müßte. Nach Asnieres (Fabrikvorort von Paris) alles einsteigen! Vierundzwanzig Stunden Fahrt, nicht eine Stunde weniger! Und nachher, wenn Sie dann wieder in Paris aussteigen, dann sind Sie ganz klein und häßlich. Besichtigen wir Saint Julien-le-Pauvre, es gibt dort absolut nichts zu sehen! Nicht einmal ein Totem hat der ELUARD von den Neuen Hebriden mitgebracht.

Und die Bildung? die Kultur? ist denn die keine gastliche Freistatt für solch blasierte, desillusionierte Intellektuelle? Achtet ihr denn diesen Schatz an Wissen, Kenntnissen, Erkenntnissen gering, der da seit grauester Vorzeit gehortet wurde und zum Menschen spricht: Glaube und hoffe!"? Die Surrealisten erkennen, daß, was der Menschheit da durch alle Zeitalter hin an großartigen Reichtümern zugewachsen ist, den Menschen keineswegs größer gemacht, sondern ihn - falls man nur die am wenigsten verhängnisvollen Auswirkungen davon besieht - in einen dicken, harten Schildkrötenpanzer eingekapselt hat, der ihn hermetisch von jeglicher Verbindung mit der Welt abschließt. Mit ihrer Kultur- und Bildungsfeindlichkeit wollen die Surrealisten diesen Panzer aufbrechen. Trotz allem hoffen sie also doch auf ein neues goldnes Zeitalter, verkünden seine Herbeikunft.

Sollte man dies als einen Ausbruchsversuch aus ihrem grundlegenden Pessimismus deuten? Einerseits ist es wohl das, anderseits aber auch eine der Erscheinungsweisen dieses Pessimismus. Alle Werte und Ideale, für die sie eintraten, haben etwas von diesem Doppelaspekt an sich. Man nehme nur einmal den Traum, dem sie sich so ausgiebig hingaben. Es ist ganz klar, daß er eine Ausflucht bedeutet, doch eben eine trügerische: Er ist wie eine Flügeltür, bei der nur ein Flügel auf ist, und sie wissen, daß hinter dem geschlossenen Flügel der Feind im Sonnenlicht kauert und ihnen die Beute wieder entreißt, wenn sie hinaustreten. BRETONs Bemühungen, den Traum in die Wirklichkeit hereinzunehmen, schlagen fehl. Im Traum kann man sich nur jeweils vorübergehend schadlos halten, man muß zu dieser Rache unzählige Male neu ansetzen. Als DALI zu ihnen stieß, wähnten sie, sie hätten es geschafft: Sie sehen sich schon als die Gestalter einer -Welt nach Maß, nach ihrem Maß. Doch auch diese berauschendste aller Halluzinationen zerrinnt schließlich und läßt den Menschen am Ufer zurück, um so verzweifelter noch, als er das Paradies in der Ferne gesehen, es aber verfehlt hat.

Es heißt also, sich im Leben selbst, auf dem Boden der Wirklichkeiten, mit seinem Schicksal messen. Doch auch hierin wollen die Surrealisten ungewöhnliche und vielfältige Mittel gebrauchen. Eine, dieser Mittel hatte es LAUTREAMONT, JARRY und VACHE ermöglicht, der Welt augenblicksweise Herr zu werden, indem sie sie überwanden: Es war der Humor. BRETON und seine Freunde haben ihn immer als den obersten Gott verehrt, ihm ständig Opfer gebracht. Durch Wortverdrehungen und willkürliche Verschiebung von Wortbedeutungen wirkt er auf die Welt ein und läßt einen ein bißchen Rache nehmen am Leben und am Tod. Durch die Pforte des Humors kann aber immer nur einer allein gehen, doch der Surrealismus möchte nicht jedem einzelnen ein besonderes Kennwort ausgeben, sondern eine Zauberformel bereitstellen, die für alle gleichermaßen gilt.

Auf diesem Wege trifft er auf die Liebe, sie ist eine Ausgangstür, die man zu zweit durchschreitet. Man selbst und "der Andere" das ist schon der Anfang des Kollektivs, das ist der Einzelhaftkerker, dessen Luke sich ins Reich der Menschen öffnet, vorausgesetzt, daß keine Zelle für zwei Häftlinge daraus wird, was ja nur zu oft geschieht. Darum auch kritisieren die Surrealisten die Liebe, wie ihre Zeitgenossen sie auffassen, aber nicht ausleben, weil sie die Liebe nur als eine Erweiterung, nicht aber eine Überwindung des Egoismus des Individuums ansehen. Darum auch predigen die Surrealisten den amour fou, den amour unique, d. h. die verrückte und die einmalig-einzigartige Liebe. Verrückt heißt sie, weil sie alle Schranken durchbricht, in die die Sozietät sie pferchen möchte, und sich alle Freiheiten herausnimmt, deren sie ihrem eigenen Wesen nach bedarf. Einmalig-einzigartig heißt sie, insofern sie aus dem geliebten Wesen, dem "Anderen", den Inbegriff der lebendigen Welt macht und die derart verkörperte Welt nach Gutdünken in Besitz nimmt, ganz darin aufgehen, versinken kann.

In punkto Liebe kann man heute einfach nicht mehr hinter BRETON und ELUARD zurück, man kann nicht mehr lieben, wie man noch liebte, ehe sie ihre Thesen aufstellten. Die Frau, wie sie sie mehr als alle anderen Dichter verherrlicht haben, ist ebensosehr zum täglichen Brot wie zum A und 0 alles Suchens und Forschens geworden. Wie im Schlaraffenland braucht man heutzutage nur den Mund aufzusperren. "Ich fresse Gala auf", hat DALI geschrieben. Die Surrealisten wollten aus der Liebe eine revolutionäre Kraft machen, die da, wo sie sich Bahn bricht, alle Hindernisse überrennt, sich in ihrem rasenden Flug nicht hemmen läßt, sich um etwaige Folgen überhaupt nicht kümmert, ihre Möglichkeiten voll ausschöpfen will. Das geht aus dem hervor, was sie schrieben oder malten, aber unendlich viel deutlicher wird es noch, wenn man das Leben eines jeden von ihnen eingehender betrachtet.

Es wäre ein Irrtum zu glauben, aus dem, was die Geschichte des Surrealismus lehrt, ließen sich nur bittere Erkenntnisse mitnehmen. Es gibt nichts Eigenwilligeres, Spontaneres, Aktiveres, Absichtlicheres als den Lebensweg BRETONs und seiner Gruppe. Wie wir ja gesehen haben, bestimmten die Surrealisten jeden Augenblick ihren Schicksalsweg selbst. Unterwegs entdeckten sie auch einen Wert, mit dem sie gegen den Pessimismus, der sie nie ganz aus den Klauen lieg, wirksam ankämpfen konnten. Und auch diesen Wert hatten sie nicht selber ausgeklügelt, sondern im Herzen des Menschen ruhend, unter Trümmern vergraben entdeckt: das allen Menschen Gemeinsame, das Begehren. Ihr unermüdliches Arbeiten kannte nur das eine Ziel, dem Begehren ans Licht zu helfen, es zu erkennen und anzuerkennen, es mit allen Vollmachten ausgerüstet in die Welt hinein loszulassen.

Ist das Begehren nicht wesenhaft vielgestaltig, wandlungsfähig, revolutionär, und vermag es sich nicht notfalls zu tarnen und zu verstellen, um sich so besser durchzusetzen? Ist es nicht die wesentlichste Lebensäußerung des Menschen und seine ursprünglichste Kraft? Wenn das Begehren beengt, beschnitten, nahezu ausgemerzt und verschüchtert ist und wird, dann ist nur die Gesellschaftsordnung daran schuld, deren Gefüge es sprengen könnte, und mit schuld ist das Individuum, das sich widerstandslos einreden läßt, es dürfe seinem Begehren nicht die Zügel schießen lassen. Aus dieser Überzeugung der Surrealisten fließt ihre zwiefache Begriffsbestimmung der Revolution: "Umgestaltung der Welt", "Änderung des Lebens", und zwar kraft einer Objektivierung des Begehrens, jener allmächtigen Kraft, die imstande ist, jegliches Wunder zu wirken.

Der Surrealismus hatte zu einer Zeit, als die überkommenen Anschauungen über die Bezüge zwischen Mensch und Welt im Ersten Weltkrieg zugrundegegangen waren, mit einer revolutionären Auffassung vom Menschen und von der Welt angesetzt. Nie zuvor war das Ausgeliefertsein des Menschen an die Welt so unerträglich zum Vorschein gekommen. Doch gerade das klare Wissen um dieses Preisgegebensein des Menschen und der Wunsch, ihm ein Ende zu setzen, machen ja den Künstler aus: Weil der Dichter, der Maler, der Schriftsteller seiner Selbstentfremdung Einhalt tun will, sucht er neue Bezüge zwischen sich und der Welt herzustellen.

Das gelingt ihm in seinem Werk, jedoch ohne daß sich um ihn her deswegen das Geringste änderte. Er läßt sich in ein oftmals sehr wechselvolles, zuweilen tragisch endendes, höchst persönliches Wagnis ein, ein Abenteuer, das ein jeder jeweils ganz auf sich allein gestellt ganz von vorn beginnen muß. Ob das Wagnis seinen Zweck in sich selbst findet oder im Verstummen endet, in seinem Kern läuft es jedenfalls immer auf eine Niederlage hinaus: Es werden Bücher über Bücher geschrieben, Bilder über Bilder gemalt, eine Symphonie nach der anderen komponiert, nur zu dem einen Zweck, Verklärung in ein Gefängnis zu tragen, aus dem der Künstler nur im Geiste, nur kraft der Phantasie ausbricht. Es gibt keinen großen Schriftsteller, der nicht, und wenn er sich noch sosehr auf den Nachruhm vertröstete, in der Verzweiflung stirbt.

Der Surrealismus strebte danach, die Schranken der Subjektivität zu durchbrechen, und er wollte sich darin nicht mit bloßem Gerede zufriedengeben. Gerade weil seine Gründer selber durch den Dadaismus hindurchgegangen waren, stand es für sie fest, daß das Ganze nicht einfach noch einmal von vorn anfangen durfte. Der Mensch war eben keineswegs jenes durch hundert Jahre Positivismus, Vereinsmeierei, Genossenschaftswesen und blinden Glauben an die Wissenschaften geformte Geschöpf, sondern ein Lebewesen mit Wünschen, Begierden, Instinkten und Träumen, wie das die Psychoanalyse enthüllt hatte. In Rußland baute sich eine Gesellschaftsordnung auf neuartigen Grundlagen auf. Mehr noch als RIMBAUD oder LAUTREAMONT galten MARX und FREUD als die Propheten des neuen Zeitalters. Auf eine gemäß ihren Eigentümlichkeiten leicht variierte Art wurden die Surrealisten Marxisten und Freudianer und legten dabei allen Nachdruck auf den Doppelaspekt der zu leistenden Revolution: "Die Welt umgestalten", "das Leben ändern". Sie glaubten, sie könnten das durch umfassendes schöpferisches Tun erreichen, das Menschen voraussetzte, die selbst als umfassende Ganzheiten gedacht waren, und mittelst eines Instruments, nämlich der Dichtung, die mit der geistigen Tätigkeit schlechthin in eins verschmelze.

Dieser pausenlose Einsatz, dieser Tag- und Nachtdienst der Produktivität sollte in bedingungsloser Freiheit des Fühlens und Handelns, hoch über aller pedantischen Fachaufteilung des Lebens und der Kunst, und mit dem Willen, dem Menschen wieder zu seiner ursprünglichen Ganzheit zu verhelfen, geleistet werden. Darum werden auch so nachdrücklich die Nachtseiten des Lebewesens, die Einbildungskraft, der Instinkt, das Begehren, der Traum, die außervernünftigen oder einfach spielerischen Verhaltensweisen herausgestellt, denn es soll ja gerade der verstümmelte, verkrüppelte, geschändete, verunstaltete, sich selbst entfremdete und auf die Seinsweisen des "Machens" und "Habens" zusammengestutzte Mensch zu seiner heilen Fülle hin überwunden werden. Der Surrealismus erschloß dem Menschen sowohl hinsichtlich seines Individuallebens wie auch des Lebens im Miteinander, wie auch der Entfaltung der Formen des Denkens, der Moral, der Kunst und der Literatur ein Feld der Erneuerung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bleiben die Ansprüche des Surrealismus dieselben. Es wäre kurzsichtig, wenn man ihm vorwürfe, er habe sich die neuen Strömungen des Fühlens und Empfindens oder die neuen Denkweisen nicht einzuverleiben vermocht. Die Philosophie des Absurden, eine bestimmte Romantik der Verzweiflung und sogar das existentialistische Engagement, sie alle hatte er längst praktiziert, bis zur Neige ausgelebt, bis zum Selbstmord (RIGAUT, CREVEL), bis in den Wahnsinn hinein (ARTAUD), bis zum revolutionären Kämpfertum (ARAGON, ELUARD, PERET) und bei manchen Surrealisten bis ins endgültige "künstlerische" Verstummen. Wenn es uns mit einem Male so vorkam, als hätten die Surrealisten den Anschluß an das Heute verpaßt, dann rührt das daher, daß sie im Grunde schon immer weit über unseren gegenwärtigen Stand hinaus vorgedrungen waren und in einem gewissen Maß auch ihren geschichtlichen Auftrag erfüllt hatten.

In der Geschichte der Sozietäten fehlt es nicht an Situationen, in denen einerseits geschrien wird, es bedürfe dringend großer Bewegungen und großer Männer, anderseits aber große Männer und Bewegungen, wenn sie dann da sind, sogleich wieder für unzeitgemäß erklärt werden: Nach BABEUF schleppte sich der Babouvismus kümmerlich durch ein ganzes Jahrhundert, ohne daß die Arbeiterbewegung Anleihen bei ihm gemacht hätte; einer der beiden großen Verwirklicher der russischen Revolution wurde in die Verbannung geschickt und dann zu einer Zeit ermordet, als sein Denken und seine Tatkraft eine entscheidende Rolle für die Geschicke der sowjetischen Gesellschaftsordnung hätten spielen können. Im Grunde genommen war eben die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg ihrem Fühlen und Empfinden nach und moralisch und geistig dem Anspruch des Surrealismus nicht gewachsen.

Zunächst suchte BRETON Kontakt, und als sein Versuch fehlschlug, ließ er davon ab. Er lenkte die Bewegung in jene eine Richtung, in die es die Bewegung schon immer unwiderstehlich gezogen hatte: die Erforschung der Triebkräfte des dichterischen Schaffens, die Bestandsaufnahme seiner Mittel und VerfahrensWeisen, das Aufsuchen der metaphysischen Grundlagen dieser eigentümlichen Erkenntnisweise. Er erinnerte daran, daß es eine "Tradition der Einweihung ins Geheimwissen gebe, von der im Laufe der Geschichte alle großen Erleuchteten gezehrt hätten: Alchimisten, Okkultisten, Magier und einige Dichter, die dem Mysterium am nächsten gekommen seien.

Es erschien BRETON von größter Wichtigkeit, wieder in den Besitz "des Schlüssels zur Entzifferung der Hieroglyphen und Chiffren der Welt zu gelangen, den jede hohe Dichtung schon immer, mehr oder weniger bewußt, besitze", sodann "die Wege jener inneren Revolution zu beschreiten, deren vollkommene Verwirklichung sehr wohl eins sein könnte mit dem  Opus magnum  der Alchimisten". NICOLAS FLAMEL, ALBERTUS MAGNUS, FABRE d'OLIVET, SWEDENBORG und unter den Dichtern: HUGO, NERVAL, BAUDELAIRE, JARRY und ROUSSEL gewannen in BRETONs Interpretation wieder ihre ganze Größe als die fluchwürdigen, gesetzlosen Suchenden, als die Erforscher des Nächtlichen und die in die Mysterien Eingeweihten. Die moderne Dichtung habe den Auftrag, deren Forschungen fortzusetzen und auf dem Wege, den jene bahnten, weiter und bis zu jenem Punkt vorzustoßen, wo alle Widersprüche sich von selbst aufheben.

Es gibt Sozietäten, die buchstäblich zeitlos und geschichtslos vor sich hinleben und bei denen Denken sich sofort und unvermittelt auswirkt: Der Schamane läßt regnen, der Zauberer heilt seinen Patienten, indem er bestimmte Formeln spricht, das Wild wird nicht durch den Pfeil getötet, sondern kraft bestimmter Riten, das Kind, das zur Welt kommt, stammt nicht immer von seiner leiblichen Mutter. Aber deswegen ist das Weltbild solcher Stammesgesellschaften noch lange nicht zusammenhanglos und unlogisch. Es ist eine Welt, worin der vom Wort getragene Gedanke Tat, Tatsache und Geschehnis ersetzt und das Geschehen bestimmt und herbeiführt. Da nützen alle rationalen Erklärungen nichts. Die Menschen dieser Stämme geben nie zu, daß jene die allein einleuchtenden sind, und wenn wir es ihnen noch so eindringlich nahelegten. Die Erfahrungen, die sie tagtäglich machen, gebieten ihnen, unsere rationalen Erklärungen als unzureichend, ungeeignet und durchaus belanglos zurückzuweisen. Sie leben in einer magischen Welt.

Man mag sich fragen, ob der Surrealismus heutzutage nicht versucht sei, mitten in unserer hyperlogischen Welt, die gerade kraft der Fortschritte eines um der nackten "Nützlichkeit" willen errungenen Wissens ihrer Selbstzerstörung entgegentaumelt, eine den Menschen dieser Zeit angemessene magische Welt zu erschaffen: eine Welt, die sich auf die zumeist unerschlossenen, unausgewerteten natürlichen Reichtümer und tiefen Kräfte des Menschen gründete, auf die geheimnisvollen Gesetze einer Wirklichkeit, an deren Schwelle die mutmagenden Erklärungen der Wissenschaft stocken, und auf den Wunsch, zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos etliche wesentliche "Entsprechungen" herzustellen, deren Gesetzlichkeiten ermittelt würden, so daß man damit zu einem neuen Wissen und einer neuen Machtfülle käme. Die Parteigänger des Surrealismus müßten dann aber nach dem Vorbild der Gnostikersekten, der pythagoreischen Schulen oder gar des Saint-Simonismus mit allen Mitteln (vom Geheimbund bis zur politischen Partei) danach trachten, die Herrschaft über die Menschen und die Dinge direkt zu beeinflussen, damit man Ihnen die Fähigkeit zutraute, Gelehrte, Philosophen, Männer der Tat oder gar ideologische Mitstreiter heranzubilden.

Einstweilen muß man sich damit abfinden, daß der Surrealismus eben nur als eine literarische Schule betrachtet werden kann. Als solche hebt er sich jedoch deutlich von allen, die ihm vorangegangen sind, ab und ist die glanzvollste und zauberhafteste, die es seit der Romantik gab.
LITERATUR - Maurice Nadeau, Geschichte des Surrealismus, Reinbek 1965