p-4tb-1M. MendelssohnA. PfänderW. DiltheyE. Adickes    
 
WILHELM WINDELBAND
Über die
Gewißheit der Erkenntnis

[eine psychologisch-erkenntnistheoretische Studie]
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"Der Denkprozeß, rein psychologisch betrachtet, stellt sich in die Kategorie der Strebetätigkeit überhaupt. Die Einheit der Vorstellungen erscheint als das Objekt dieses Strebens, die Unverbundenheit mannigfachen Vorstellungsinhalts als der Zustand der Unerfülltheit desselben, der Zweifel als die daraus folgende Unruhe und somit als das Motiv der Tätigkeit, der logische Prozeß als die Form, mittels deren das Streben sein Objekt zu erreichen sucht, und schließlich die Gewißheit als Zustand des erreichten Strebens."

"Normal werden wir dasjenige Denken nennen, welches Erkenntnis wirkt, pathologisch dagegen im Hinblick auf diesen Erkenntniszweck alles Denken, welches denselben nicht erreicht. Bei denjenigen Vorstellungsprozessen, welche die Erkenntnis nicht bezwecken, z. B. den ästhetischen und den ethischen, sofern die letzteren nur Maximen des Handelns sein wollen, wird in dieser Hinsicht natürlich von normal oder pathologisch keine Rede sein."

Nachdem wir es versucht haben, eine genaue Vorstellung davon zu gewinnen, was eigentlich unter Gewißheit zu verstehen sei, können wir zu weit wichtigeren Fragen übergehen. Denn nicht das interessierte uns ursprünglich, was die Gewißheit sei, sondern vielmehr, was gewiß sei und wie wir zur Gewißheit gelangen. Es wird sich daher im Folgenden wesentlich um die Frage handeln, unter welchen Bedingungen die subjektive Gewißheit als eine objektive betrachtet werden darf. Zu diesem Zweck werden wir die Natur derjenigen Denkresultate näher zu untersuchen haben, bei denen sich die Seele als in einer Gewißheit zu beruhigen pflegt, und dabei prüfen müssen, welche dieser Prädikate zugleich die Kriterien objektiver Wahrheit sein können. Ehe wir aber dazu übergehen, mögen einige Nebenbemerkungen zur Charakterisierung der subjektiven Gewißheit hier den geeignetsten Platz finden. -

Der Denkprozeß, rein psychologisch betrachtet, stellt sich in die Kategorie der Strebetätigkeit überhaupt. Die Einheit der Vorstellungen erscheint als das Objekt dieses Strebens, die Unverbundenheit mannigfachen Vorstellungsinhalts als der Zustand der Unerfülltheit desselben, der Zweifel als die daraus folgende Unruhe und somit als das Motiv der Tätigkeit, der logische Prozeß als die Form, mittels deren das Streben sein Objekt zu erreichen sucht, und schließlich die Gewißheit als Zustand des erreichten Strebens. Der ganze Vorgang zeigt also einen vollständigen Parallelismus mit jeder anderen Handlung: sein Grund liegt in dem Widerstreben einer Objektvorstellung und einer Zustandsvorstellung, und sein Ende, die Gewißheit, beruth auf der Identität des Zustandes mit der Objektvorstellung. Man kann in diesem Sinne das Streben nach Erkenntnis als eine Leidenschaft auffassen, wenn man in psychologischer Terminologie unter diesem Wort jedes mit einem lebhaften Gefühl verbundene konstante Streben nach einem nach unerreichten Ziel verstehen will, - als eine Leidenschaft, welche wie alle anderen in sehr verschiedenen Graden unter die Menschen verteilt ist, so daß sie manchmal gar nicht zum Selbstbewußtsein gelangt, manchmal aber eine ganz bedenkliche Höhe erreicht. In diesem letzteren Fall pflegt sie auch von der gewöhnlichen Sprache des Lebens als Leidenschaft bezeichnet zu werden, und es sind die Beispiele nicht selten, in denen der Erkenntnistriebe so stark und rücksichtslos auftritt, daß zu seiner Befriedigung die stärksten anderen Triebe nicht nur vernachlässigt, sondern unterdrückt und gewaltsam zerstört werden.

Erst mit der Rücksicht auf diesen Charakter des dem Denkprozeß zugrunde liegenden Erkenntnistriebes als einer Leidenschaft ist die ganze Eigentümlichkeit der Gewißheit als eines psychologischen Zustandes zu verstehen: sie ist der Zustand eines erfüllten Streben, einer befriedigten Leidenschaft.

Die subjektive Gewißheit ist ein Affekt, und zwar ein durchaus freudiger.

Nun redet man freilich viel von traurigen, schmerzlichen, grausamen, quälenden Gewißheiten: allein dabei liegt die Unlust nicht in der Gewißheit als solcher, sondern in dem Widerspruch, in welchen der Inhalt der gewissen Vorstellung mit dem Objekt irgendeines anderen psychologischen Strebens tritt, und da die Vorstellungen des Interesses die stärksten sind, so wird in diesen Fällen die Unlust so groß, daß sie den ansich freudigen Affekt der Gewißheit zurückdrängt. Andererseits spricht man speziell von einer freudigen Gewißheit, wenn der Inhalt der gewissen Vorstellung dem Wunsch des Erkennenden entspricht, und in diesem Fall führt wieder die Erfüllung des Wunsches einen so starken Affekt der Freude herbei, daß abermals der Affekt der Gewißheit als solcher für das Bewußtsein verschwindet. Solange also, wie es fast immer der Fall ist, die persönlichen Interessen am Inhalt unserer Vorstellungen beteiligt sind, kann der Affekt der Gewißheit gar nicht oder zumindest nicht rein hervortreten: er wird dies nur da können, wo sich die Objekte des Denkens und die Interessen des Subjekts nicht berühren, er ist nur zuhause auf dem Gebiet wissenschaftlicher Forschung: und wenn man anerkennen muß, daß von allen Leidenschaften diejenige des Denkens die edelste ist, so gibt es keine höhere, reinere Lust, als diejenige, welche die Gewißheit der Erkenntnis als solche in sich trägt. "Selig sind, die reinen Herzens sind: denn sie werden Gott schauen." Wir erinnern dabei an die obige Bemerkung, daß es für die Stärke der subjektiven Gewißheit ganz gleichgültig ist, ob mit ihr die objektive Gewißheit erreicht ist oder nicht: die psychologischen Affektwirkungen sind vom obigen Erkenntniswert der für gewiß gehaltenen Vorstellungen gänzlich unabhängig. So mag ein späteres Denken die Voraussetzungen von Grund auf zerstört haben, auf denen das System SPINOZAs beruth: aber vielleicht kein Philosoph ist jemals von der Gewißheit seiner Gedankenarbeit so durchdrungen gewesen wie er, und keiner hat daher der reinen Freude an der Gewißheit, der Lust an der Erkenntnis einen reineren, inniger begeisterten Ausdruck gegeben, als er; über keinem philosophischen System liegt vielleicht jene sonnenhelle Klarheit der Einheit mit sich selbst wie über dem Spinozismus. Es dürfte wohl zum großen Teil hierauf beruhen, daß diese Lehre eine so gewaltige Wirkung ausübt auf Jeden, der ihr näher tritt, zumindest für eine gewisse Zeit gefangen zu nehmen pflegt.

Wie die Gewißheit ein freudiger, so ist die Ungewißheit, der Zweifel, an sich ein schmerzlicher Affekt. Allein auch er ist in seiner Reinheit nur innerhalb der wissenschaftlichen Arbeit zu beobachten, da in allen anderen Fällen das quälende Moment der Ungewißheit auf dem Interesse beruth, welches die Seele am Inhalt der ungewissen Vorstellungen nimmt. Dieser Affekt des interesselosen Zweifels spricht sich z. B. mit erschütternder Gewalt in den Meditationen des DESCARTES aus, wo das einzige Interesse, das den Denker in seinen Betrachtungen begleitet, dasjenige an der Gewißheit einer Erkenntnis überhaupt ist.

Zwischen den Affekten der Lust und der Unlust steht wir überall auch hier die schwankende Mischung aus beiden, die Hoffnung: sie führt hier den Namen der Wahrscheinlichkeit. Es erscheint wünschenswert, besonders stark zu betonen,, daß der zweifelhafte Grad von Gewißheit, welchen man mit diesem Namen bezeichnet, lediglich dem psychologischen Zustand angehört, mit demjenigen aber, was wir die objektive Gewißheit nannten, ganz und gar nichts zu tun hat. Es gibt Grade der Gewißheit, aber keine Grade des Gewissen. Das Übersehen dieses Unterschieds, das Übertragen der Gradation der Gewißheit aus dem psychologischen Zustand in den Inhalt der Erkenntnis hat die verderblichsten Verwirrungen angerichtet. Indem man die Ungewißheit des Erkennens auf die Ereignisse übertrug, beraubte man dieselben ihres innersten Wertes, welcher in der festen, unabänderlich sicheren Verknüpfung, in der ausnahmslosen Gesetzmäßigkeit ihrer Verbindungen beruth. Die Wahrscheinlichkeit ist niemals die Eigenschaft irgendeines erwarteten Ereignisses, sondern immer nur ein Grad der Erwartung, ein durchaus subjektiver Zustand, in welchem die Seele noch kein widerspruchsloses Resultat ihres Denkens gefunden hat oder ein solches überhaupt nicht finden kann, dabei jedoch durch die größere Stärke einer Reihe von Gründen sich veranlaßt sieht, die objektive Erkenntnis nach einer gewissen Seite hin zu suchen und sich dabei zu beruhigen, ohne sich andererseits dem Bewußtsein der widersprechenden Gründe zu verschließen. Der dadurch herbeigeführte Zustand der Seele ist ein eigentümlich gemischter. Die einzelnen Elemente nämlich, aus denen er sich zusammensetzt, sind Gewißheiten, aber es ist nicht möglich, zwischen ihnen eine zweifellose Vereinigung in einer gewünschten Richtung aufzufinden, und es bleibt daher eine Ungewißheit zurück, auch wenn der stärkere Teil der Gewißheiten sich nach einer bestimmten Richtung verbindet. Die mehr oder weniger lebhafte Empfindung dieses Widerstrebens von Gewißheit und Ungewißheit bildet jenen schwankenden Zustand der Wahrscheinlichkeit. Allein es ist ein entschiedener Übergriff des Denkens, wenn die Seele, gewohnt, den Inhalt ihrer subjektiv gewissen Erkenntnisse für eine objektiv gewisse Wahrheit zu halten, nun den Inhalt der ungewissen Erkenntnis in ungewisse Dinge umsetzt, wenn sie das Widerspiel ihrer Erkenntnisgründe als ein Widerspiel der Ereignisse ansieht. Damit verschiebt sie das Verhältnis des Denkens vollständig zu den Gegenständen: denn wenn man mit Recht zwischen dem Wahren und der Wahrheit, dem Vorstellungskorrelat des Ersteren und mit gleichem Recht zwischen dem Gewissen und der Gewißheit unterscheidet, in beiden Fällen aber Beides nebeneinander objektiv besteht, so ist das eben bei der Wahrscheinlichkeit nicht der Fall. Präzise gesprochen gibt es nun und nimmermehr etwas Wahrscheinliches, sondern nur eine Wahrscheinlichkeit als psychologischen Zustand zwischen Gewißheit und Ungewißheit. Das Objektiv-Wahrscheinliche ist ein Unbegriff. Alles, was der Erkenntnis als Objekt ihres Begreifens gegenübersteht, ist wahr und gewiß: eine Abschwächung der Gewißheit ist nur subjektiv im Streit der Erkenntnisgründe vorhanden. Man unterscheidet philosophische und mathematische Wahrscheinlichkeit. Bei der ersteren leuchtet es ohne Weiteres ein, daß die Wahrscheinlichkeit mit dem Inhalt der Erkenntnis keine Gemeinschaft hat, sondern lediglich ein Ausdruck für die Stärke des Grundes ist, nach welcher wir uns lieber irgendeinem Urteil als dem Gegenteil desselben zuwenden, daß also die Wahrscheinlichkeit nur eine Annäherung an die subjektive Gewißheit ist. Dagegen in der Mathematik könnte es beinahe so scheinen, als ob die sogenannte Wahrscheinlichkeitsziffer eine objektive Wahrscheinlichkeit darstellt. Vergegenwärtigen wir uns aber genau, was dieser Bruch eigentlich bedeutet, so ergibt sich, daß er nichts Wahrscheinliches, sondern vielmehr etwas vollkommen Gewisses ausdrückt, nämlich dies, daß unter der durch den Nenner dargestellten Summe denkbarer Fälle die durch den Zähler dargestellte Anzahl ein bestimmtes Merkmal besitzt, z. B. daß von den sechs Seiten, auf welche der Würfel fallen kann, drei weiß sind. Dies also, was im ganzen Reich der Möglichkeiten das einzig gewiß Gewußte, das immer Wirkliche ist, dies und nichts Anderes drückt der Wahrscheinlichkeitsbruch aus, und die menschlichen Hoffnungen und Befürchtungen, welche sich, wo uns eine gewisse Erkenntnis des Gewünschten versagt ist, an diese vorhandene Gewißheit anklammern, entbehren jeglichen objektiven Wertes. Wollte man aber behaupten, die objektive Wahrscheinlichkeit bestehe in der Tatsache, daß bei genügend fortgesetzter Wiederholung der Versuche dieselben sich nach den Verhältnissen des Wahrscheinlichkeitsbruches gruppieren, so müßte darauf erwidert werden, daß diese Tatsache nach logischem und mathematischen Beweis eine gewisse ist, daß ihr Wert eben einfach der einer empirischen Wiederholung der ursprünglichen Verhältnisse ist, und daß bei aller Wiederholung doch die einzelne Tatsache, so vollkommen bestimmt und gewiß sie objektiv immer ist, für die Erkenntnis genauso ungewiß bleibt wie am Anfang. Die Wahrscheinlichkeit ist daher ein Zustand, in welchen die Seele dadurch versetzt wird, daß sie über denselben Gegenstand eine Reihe gewisser und eine andere Reihe ungewisser oder den andern widersprechender gleichfalls gewisser Vorstellungen besitzt, daß sie infolgedessen das Übergewicht irgendeines Teils dieser Vorstellungen nach einer gemeinsamen Richtung hin als eine abgeschwächte Art der Gewißheit empfindet, sich jedoch zu gleicher Zeit der ganzen Ungewißheit, welche diese Gewißheit begleitet, mehr oder weniger bewußt ist. (5)

Wenn man den Menschen im empirischen Zustand der Wahrscheinlichkeit, z. B. beim Spiel, beobachtet, so wird man sich nicht verbergen können, daß in den meisten Fällen dasjenige, was irgendwelchen Vorstellungen und Erwartungen den Charakter der Wahrscheinlichkeit bestimmt und in vielen Fällen diesen psychologischen Zustand bis zu einer an die fixen Ideen des Wahnsinns grenzenden Gewißheit steigert, im Wesentlichen mit dem Interesse des Individuums auf das Innigste zusammenhängt. Es ist allbekannt, daß der Mensch hofft, was er wünscht, und daß er, je nach der Verschiedenheit des Temperaments, hier das Erfreuliche, dort das Schmerzliche für gewiß hält, ohne in beiden Fällen eine theoretische Berechtigung dazu zu haben. Diese wichtige Tatsache, daß Furcht und Hoffnung je nach Temperament und Verhältnissen die Erkenntnisthätigkeit in ausgedehnter Weise beeinflussen, zeigt sich allerdings am meisten da, wo von Wahrscheinlichkeiten die Rede ist: allein wir würden dieselbe nicht erwähnt haben, wenn nicht dieser Einfluß der Interessen auf die Erkenntnis ebensosehr den Zustand der subjektiven Gewißheit beträfe. Allerdings ist schon der rein theoretische Zweifel etwas Beunruhigendes; aber er wird zu einem umso stärkeren Unlustaffekt, je wertvoller für das Individuum der Inhalt der zweifelhaften Vorstellungen ist: und das Streben nach Gewißheit ist daher umso stärker, je mehr mit dieser Gewißheit ein persönliches Interesse verwachsen ist. Indem nun die Seele mit aller Gewalt nach ihrem Wunsch auf eine in einer bestimmten Richtung erhoffte Gewißheit hindrängt, wird es ihr gar leicht begegnen, daß das Interesse die Klarheit des Denkens alteriert [verändert - wp] und daß die Hastigkeit des Wunsches die Seele in den Zustand der Gewißheit versetzt, wo dieser sonst keineswegs eintreten würde. Denn je wertvoller ihr die Gewißheit ist, desto eher überredet sich die Seele, dieselbe gefunden zu haben, sie vernachlässigt Vorstellungen, die ihr sonst unumstößlich gewiß waren, nur um andere, gewünschte aufrechterhalten zu können, und bemächtigt sich mit ganzer Gewalt derjenigen, die ihren Wünschen entsprechen. Es ist klar, daß dieser innige Zusammenhang der Interessen mit dem Inhalt des Denkens dem objektiven Wert der Erkenntnis außerordentlich hinderlich ist, so förderlich er andererseits für die Anregung zur theoretischen Tätigkeit selbst sein mag: aber es geht daraus mehr und mehr hervor, daß die subjektive Gewißheit ansich in keiner Weise als ein Kriterium der objektiven gelten darf, und es wird uns diese Erkenntnis an einem Punkt leiten müssen, wo in einer der schwierigsten Fragen der Erkenntnistheorie uns das "Fürwahrhalten aus einem Interesse der Vernunft" wieder begegnen wird.

Wenn somit die Wahrscheinlichkeit in gewisser Beziehung als ein Grad der Gewißheit aufgefaßt werden muß, so muß man dabei festhalten, daß die Grade der Gewißheit niemals mit Gewißheitsgraden irgendeines Gegenstandes korrespondieren, sondern nur Grade der Erfüllung unseres Erkenntnisstrebens und, vom Zweifel aufwärts gruppiert, Approximationen [Annäherungen - wp] des subjektiven Erkenntniszustandes an denjenigen der Gewißheit sind. In dieser Reihe bewegt sich all unser Denken, indem es, ausgehend von einem unentschiedenen Widerspruch der im Zweifel begriffenen Vorstellungsmassen nach den Eindrücken der Wahrscheinlichkeit einen Weg der Vereinigung sucht, um auf demselben früher oder später zur Gewißheit zu gelangen. Aber es ist eben keineswegs ausgeschlossen, daß die Gewißheit, welche an einem bestimmten Punkt erreicht wurde, einem anderen Individuum oder demselben Individuum zu einer anderen Zeit nur wahrscheinlich oder gar völlig zweifelhaft wird.

Je mehr daher bei der Berücksichtigung der psychologischen Momente, unter denen der Zustand der Gewißheit eintritt, die subjektive und die objektive Gewißheit auseinanderfallen, umso lebhafter springt die Frage hervor, welche ursprünglich unseren Untersuchungen zugrunde liegt, wann denn nun eigentlich die subjektive Gewißheit ein Recht hat, sich als die objektive anzusehen. Wir haben daher zu betrachten, mit welchen Kriterien die subjektive Gewißheit dieses Recht zu erhärten pflegt, und die Stichhaltigkeit solcher Gründe zu prüfen.


Wenn man über die Richtigkeit einer Beobachtung oder eines Urteils in Zweifel gerät, so ist das Erste, was man unwillkürliche zu tun pflegt, die Frage an irgendjemand anderen, ob er dieselbe Beobachtung gemacht, ob er im betreffenden Fall dieselbe Ansicht hat; von der Wichtigkeit des Gegenstandes, vom Vertrauen, das man in die gefragte Persönlichkeit setzt, auch wohl von der Sicherheit, mit der dieselbe ihr Urteil abgegeben hat, läßt man es dann abhängen, ob man sich noch weiter nach der Meinung Anderer umtun oder ob man nun annehmen soll, daß dieses Urteil sich auch der allgemeinen Anerkennung erfreuen wird: meint man dies, so beruhigt man sich darin und hält das Urteil für gewiß. Andererseits, so sicher man persönlich über Eindrücke oder Urteile sein mag, so genügt doch schon der geringste Widerspruch eines Anderen, die subjektive Gewißheit mehr oder weniger ins Schwanken zu bringen. So wird in positiver wie in negativer Beziehung die Übereinstimmung der Individuen als ein Kriterium der Wahrheit und die allgemeine Anerkennung als eine Gewähr objektiver Gewißheit angesehen. Das Individuum, sich der Möglichkeit des Irrtums bewußt, sucht seine Gewißheit in der Übereinstimmung mit Anderen, am liebsten mit Allen, und vertraut mit seinen Wahrscheinlichkeitshoffnungen darauf, daß, was Alle denken, doch wohl nicht falsch sein wird.

Dieses Kriterium hat einmal in der Geschichte der Philosophie eine große Rolle gespielt. Die griechischen Sophisten waren, von so verschiedenen metaphysischen Standpunkten sie ausgingen, schließlich doch alle zu der Folgerung gekommen, da eine objektive Erkenntnis unmöglich ist, und das  panton chrematon metron anthropos [Der Mensch ist das Maß aller Dinge. - wp], worin der Mensch eben nur als Individuum gedacht wurde, legte jedem Urteil mit der subjektiven Gewißheit die objektive Ungültigkeit bei. Alle jene dilemmatischen Schlüsse, mit denen die spätere Logik so harmlos gespielt hat, in denen entweder die gleiche Unmöglichkeit oder die gleiche Berechtigung eines positiven und eines negativen Urteils über denselben Gegenstand nachgewiesen wurde, waren keine logischen Spielereien, sondern sehr ernst gemeinte Angriffe auf die Möglichkeit der Erkenntnis. Nur das sollten sie beweisen, daß beide Recht haben könnten, wenn sie Einer das Gegenteil des Anderen behaupteten. Daß sich aus dieser erkenntnistheoretischen Sophistik der dialektische Sophismus, aus dem philosophischen Prinzip eine politische Rhetorik entwickelt hat, ist eine Nebenwirkung, welche nur durch die entgegenkommende Stimmung der politischen Auflösung möglich wurde, und welche leider das ansich sehr ernste und wertvolle Streben einer scharf denkenden Epoche der Philosophie mit dem Mißverständnis eines Namens gebrandmarkt hat. Die Sophistik ist einer der entscheidensten Wendepunkte der Geschichte des menschlichen Denkens. Der Subjektivismus, zum erstenmal sich selbst erfassend, zertrümmerte in einem frevelhaften Übermut den Boden, auf dem er gewachsen war, und taumelte, trunken von seiner eigenen Nichtigkeit in den bodenlosen Abgrund der Skepsis. Da hielt ihn SOKRATES fest: die Opposition, die er der Sophistik machte, indem er sich mit ihr auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie begegnete, hatte ihren Angelpunkt darin, daß er mit dem richtigen Instinkt die Wahrheit da suchte, wo die verschiedenen Individuen in ihren Ansichten übereinstimmten. So setzte er dem grenzenlosen Subjektivismus Maß und Ziel, indem er das Allgemeine aufsuchte. Wie dieses Aufsuchen der Übereinstimmung die dialogische Form seines Philosophierens erzeugte, wie das Ausgehen vom Nichtwissen mit der Ironie, das gemeinsame Erzeugen der Wahrheit mit der mäeutischen [geburtshelferischen - wp] Methode im innigsten Zusammenhang steht und wie sich das Aufsuchen des allgemein Anerkanten zu einem Aufsuchen des allgemein Richtigen, die Induktion zur Definition entfaltete, - das ist schon oft in genügender Weise hervorgehoben worden: außerordentlich charakteristisch jedoch möchte es zu nennen sein, daß die Wahrheit, die SOKRATES in der Übereinstimmung fand, im Wesentlichen die ethische war, daß er, sofern man überhaupt bei ihm etwas Systematisches entdecken kann, kein theoretisches Ganzes lieferte, sondern nur die Grundlinien einer ethischen Gesamtanschauung des Daseins zog. Erst seinen großen Nachfolgern war es beschieden, jene Allgemeinheit, welche die Philosophie der Übereinstimmung suchte, als ein theoretisches Prinzip aufzufassen, und diese Tendenz zur Allgemeinheit entfaltete sich mit solcher Kraft, daß das Allgemeine als solches zum metaphysischen Wesen umgewandelt wurde.

So rettete sich aus ihrer ersten Verzweiflung an der Möglichkeit einer objektiven Gewißheit die Philosophie dadurch, daß sie das allgemein Anerkannte als das Wahre beanspruchte, und noch heute ist diese Übereinstimmung das nächstliegende Kriterium der Wahrheit. Es läßt sich daher nicht in Frage stellen, daß die allgemeiner Anerkennung eine der wirksamsten Triebfedern in der Herbeiführung der subjektiven Gewißheit ist: prüfen wir sie jedoch mit Rücksicht darauf, ob sie eine objektive Gewißheit garantiert, so erweist sie sich als eine höchst unsichere Äußerlichkeit. Das freilich läßt sich nicht leugnen, daß wir für Alles, was wir für wahr halten, die allgemeine Anerkennung in Anspruch nehmen: aber daraus folgt eben keineswegs, daß nun auch alles allgemein Anerkannte darum die Wahrheit ist. Vielmehr brauchen wir nur an die Erfahrung jedes Einzelnen und der Geschichte zu erinnern, daß weder die allgemeine Meinung immer das Richtige trifft, noch die Wahrheit die Kraft besitzt, sich immer allgemein geltend zu machen. Denn es ist doch ein sehr dialektischer Optimismus, mit dem HEGEL behaupten konnte, die Wahrheit erscheine immer, wenn ihre Zeit gekommen ist, und deshalb trägt sie die unfehlbare Gewalt des Sieges in sich. Durch die Jahrhunderte der Geschichte breitet sich der Irrtum aus, getragen von der allgemeinen Anerkennung und ausgestattet mit der ganzen Kraft einer überzeugungsvollen Gewißheit: denn auch die Allgemeinheit, nicht weniger als das Individuum, steht unter der Herrschaft des psychologischen Prozesses, welcher die subjektive Gewißheit herbeiführt ohne damit ansich die objektive Wahrheit zu gewährleisten, auch sie ist der Möglichkeit des Irrtums unterworen, und die bloße Summierung gleicher Meinungen bringt dieselben der Wahrheit nicht um ein Haar näher. Noch niemals hat die Majorität die Wahrheit gemacht; im Gegenteil, gerade in den bedeutendsten Epochen der Erkenntnis war die Wahrheit bei der Minorität und gewann erst allmählich die Kraft, sich geltend zu machen. So würde man sich dann auf sehr falschem Weg befinden, wenn man die allgemeine Anerkennung als solche zum Beweismittel der Wahrheit machen wollte. Es ist eine in der subjektiven Entwicklung des Denkens angelegte Schwäche der Individualität - wie sich später zeigen wird -, die Wahrheit außerhalb ihrer selbst im Urteil der Masse zu suchen, und wahrhaft bedeutende Geister haben stets, unbeirrt durch den Widerspruch einer Welt, die Wahrheit da gesucht, wohin sie die eigene Erkenntnis führte. Die allgemeine Anerkennung ansich und nur als solche ist ein schwerwiegendes Motiv der subjektiven Gewißheit, aber sie ist kein Kriterium objektiver Gewißheit. Der Irrtum kann dadurch nicht Wahrheit werden, daß Alle irren. Wie die Wahrheit Wahrheit bleibt, auch wenn sie Keiner erkennt, so bleibt auch der Irrtum Irrtum, auch wenn er Alle umfängt: und er wird dann umso gefährlicher, weil er mit umso größerer subjektiver Gewißheit auftritt und von umso ausgebreiteren Folgen ist.

Aber sollte die allgemeine Anerkennung wirklich so ganz wertlos und eins der stärksten Motive subjektiver Gewißheit wirklich so ganz ohne Wert für die objektive Gewißheit sein? Oder haben wir vielmehr der Allgemeinheit Unrecht getan, wenn wir sie bisher lediglich als Summe betrachteten? In der Summierung der Meinungen allerdings liegt nicht die geringste Gewähr der Wahrheit; aber die Allgemeinheit ist vielleicht mehr als die Masse. Denn wodurch, müssen wir uns fragen, kommt die Gleichheit der Vorstellungen in verschiedenen Individuen zustande? Doch wohl nur dadurch, daß die beiden Faktoren, aus denen überall die Vorstellung hervorgeht, die Gegenstände und die Gesetze des Denkens, bei allen Individuen dieselben sind und daß daher trotz aller sonstigen Verschiedenheit bei allen mit gleicher Notwendigkeit dasselbe Resultat herbeigeführt wird. Wenn daher irgendein erkenntnistheoretischer Wert in dem allgemein Gedachten liegt, so beruth er nur darauf, daß dies allgemein nur darum gedacht wurde, weil es überall mit Notwendigkeit gedacht werden mußte. Was also hinter der Berufung auf die allgemeine Anerkennung als die eigentliche Berechtigung liegt, ist lediglich die Notwendigkeit des Denkens, von der die Allgemeinheit nur eine Folge ist. Und wenn daher das allgemein Gedachte als wahr gilt, so ist dies nur, weil es zunächst als notwendig gedacht gelten muß.

Die Notwendigkeit des Denkens ist das Kriterium der Gewißheit, und dies spricht sich in dem Grundsatz aus: Was notwendig gedacht wird, ist wahr. "Du mußt so vorstellen - Du mußt so denken": Das ist der Lebensnerv aller Beweise, aller Überredungen.

Wenn somit die allgemeine Anerkennung einen erkenntnistheoretischen Werth hat, so kommt ihr derselbe nicht ansich und als solcher zu, sondern nur insofern ihr die Notwendigkeit des Denkens zugrunde liegt. Der Grund, weshalb man sich auf die allgemeine Meinung als auf eine objektive Gewißheit verläßt, stellt sich in folgender logischer Form dar: "Was allgemein gedacht wird, wird notwendig gedacht; was notwendig gedacht wird, ist wahr: folglich ist auch das allgemein Gedachte wahr." Der Schluß ist logisch richtig: folglich können wir unsere Zweifel und damit die Beschränkungen seiner Gültigkeit nur gegen die Prämissen richten. Die erste derselben enthält einfach die Anwendung eines auch sonst vielfach in unserem Denken auftretenden Axioms, nämlich des Satzes, daß alles Allgemeine ein Notwendiges ist, weil die gleiche Wirkung überall nur aus dem gleichen Grund hervorgehen kann. Dieses Axiom ist selbst nur eine Anwendung des Kausalitätsprinzips und wird als solche später noch eingehender betrachtet werden müssen: hier möchten wir nur darauf aufmerksam machen, daß der Satz: "Was allgemein gedacht wird, wird notwendig gedacht", seine Berechtigung lediglich in dieser unserer Schlußweise findet, wonach wir überall das Allgemeine als ein Notwendiges zu betrachten gewohnt sind. Auf diese Weise gelangen wir z. B. zur Erkenntnis von Naturgesetzen. Wir sehen, daß stets beim Fall ein immer gleiches Verhältnis von Raum und Zeit stattfindet, und indem wir schließen, daß dieses Allgemeine ein Notwendiges sei, formulieren wir jenes Verhältnis als ein Naturgesetz. Das Stetige für notwendig zu erklären, ist die aller Beobachtung, aller Forschung zugrunde liegende Funktion unserer Erkenntnis - eine Funktion, zu der wir einzig und allein durch die Einrichtung unseres Denkvermögens berechtigt sind. Aber so gut wir dieselbe überall in der Betrachtung und Erforschung aller anderen Gegenstände anwenden, so gut dürfen wir ihre Gültigkeit auch für das Denken in Anspruch nehmen, um mit demselben Recht zu behaupten, daß, was allgemein gedacht wird, notwendig gedacht worden ist. Wenn wir daher nicht die Grundlage allen Denkens zerstören wollen, so müssen wir zugeben, daß so gut wie in allen anderen Fällen von der Allgemeinheit des Denkens auf die Notwendigkeit desselben geschlossen werden kann. Hierin beruth die große Kraft des Arguments der allgemeinen Anerkennung: es wurzelt in einer Fundamentalfunktion aller Denktätigkeit und findet darin seine zweifellose Berechtigung: hieraus begreift es sich auch, weshalb die geringste Zerstörung der Allgemeinheit, der Widerspruch auch nur  eines  Individuums, eine sofortige Störung der subjektiven Gewißheit herbeiführt.

Wenn somit die erste jener beiden Prämissen, aus denen die objektive Gewißheit des allgemein Anerkannten erschlossen werden sollte, vor einer Prüfung unter dem Gesichtspunkt des allgemeinsten Denkprinzips standhält, und wenn doch alle Erfahrung zweifellos lehrt, daß das Allgemeine ebenso sehr irren kann wie das Individuum und das allgemein Anerkannte keineswegs immer das Wahre ist, so wird dann wohl auch das  proton pseudos [erster Irrtum - wp] jenes Schlusses in der zweiten der Prämissen liegen, wonach, was notwendig gedacht wird, wahr sein soll. Und in der Tat, wir haben allen Grund, gegen diese Prämisse mißtrauisch zu sein, weil sie ein Wort enthält, dessen Vieldeutigkeit nicht nur in der Philosophie, sondern auch im gewöhnlichen Sprachgebrauch schon gar manchen Schaden angerichtet hat. - Es ist der viel berufene Begriff der Notwendigkeit. Wenn wir nachweisen können, daß der Begriff der Notwendigkeit, unter welchem die erste Prämisse richtig ist, nicht derjenige ist, unter welchem allein wir die zweite zugestehen können, so werden wir mit dieser genaueren Fassung der zweiten Prämisse nicht nur das Kriterium der objektiven Gewißheit finden, sondern zugleich den Trugschluß enthüllen, durch welchen die Vernunft, verleitet durch den Doppelgebrauch des Wortes "notwendig" (also durch eine einfache  quaternio terminorum [Fehlschluß: Vierung der Begriffe - wp], das allgemein Gedachte für eine Wahrheit auszugeben pflegt.

Daß dieses Axiom: "Was notwendig gedacht wird, ist wahr", nicht ohne eine restriktive Präzisierung des Begriffs "notwendig" aufrechterhalten werden kann, ergibt sich schon aus einer einfachen Betrachtung. Je mehr die menschliche Erkenntnis fortgeschritten ist, desto energischer ist in ihr das Grundprinzip des Denkens, die Kausalität, zum Bewußtsein gekommen, so daß, was als ursprüngliche Funktion, wie später gezeigt werden wird, aller Vorstellung überhaupt zugrunde liegt, schließlich zu dem fundamentalen Axiom proklamiert worden ist: daß jeder Vorgang als die Wirkung einer Ursache zu betrachten und als solcher notwendig ist. Mit der sicheren Macht eines unumstößlichen Prinzips, das in der Tiefe des Erkennens selbst wurzelt, hat sich der Satz der Kausalität allmählich über das ganze Reich des Denkens ausgebreitet und eine Provinz nach der anderen erobert. Auch das Bollwerk der letzten, die Willkür, ist gefallen, und in das dunkle Reich der seelischen Vorgänge hat die Kausalität ihren Siegeszug begonnen. Die moderne Wissenschaft betrachtet auch den psychischen Vorgang ausnahmslos als die Wirkung einer Ursache, und erklärt somit auch den ganzen Verlauf unserer Vorstellungen für einen notwendigen Prozeß. Wenn die Ergebnisse ihrer Forschungen über die Gesetze dieses Prozesses noch sehr gering sind und sich mit denen, welche in der Erforschung der äußeren Natur errungen sind, in keiner Weise messen können, so beruth dies einerseits in der Jugendlichkeit der wissenschaftlichen Psychologie, andererseits auf den viel größeren und teilweise noch immer unüberwindlichen Schwierigkeiten welche sich auf diesem Gebiet der Beobachtung entgegenstellen: aber wenn auch noch nicht im Einzelnen erkannt, so ist doch die notwendige Kausalität des Vorstellungsprozesses als das Grundprinzip dieser Forschungen anerkannt. Psychologisch, d. h. im Hinblick auf seine kausale Vermittlung betrachtet, ist daher alles Denken notwendig, und wenn jene zweite Prämisse in dem Sinne gemeint wäre, daß alles kausal bedingte Denken Wahrheit enthält, so folgte aus derselben nichts Geringeres, als daß alles Gedachte wahr ist, d. h. die Unmöglichkeit des Irrtums. Somit kann in jener zweiten Prämisse der Begriff der Notwendigkeit nicht derjenige der kausalen Vermittlung sein: da nun aber die erste Prämisse ("Was allgemein gedacht wird, ist notwendig gedacht") lediglich diesen Begriff der kausalen Notwendigkeit als den tieferen Grund des Allgemeinen aufstellen konnte, so ist die  quaternio terminoruum, durch welche jener Trugschluß, das allgemein Gedachte sei wahr, zustande kommt, in ein hinreichend klares Licht gestellt.

Wenn daher die Notwendigkeit des Denkens ein Kriterium der objektiven Gewißheit sein soll, so muß sie eine andere sein, als die kausale, psychologische. Denn wäre sie diese, so wäre das Problem des Irrtums vollkommen unerklärlich. Ich erwähne dieses Problem, mit welchem sich gewissermaßen diese ganze Untersuchung beschäftigt, erst an dieser Stelle, weil ich, meiner Meinung nach, erst in diesem Zusammenhang eine vollkommen präzises Fragestellung desselben gefunden habe, und weil ich durch die Auflösung dieses Problems am Besten zum Kriterium der objektiven Gewißheit zu gelangen hoffe. Um zu erfahren, unter welchen Bedingungen ich berechtigt bin, die subjektive Gewißheit als eine objektive anzusehen, frage ich zunächst, wie es denn überhaupt möglich ist, daß die subjektive Gewißheit ohne die objektive vorhanden sein kann. Und nichts anderes ist der Irrtum. Wenn der gesamte Denkprozeß sich mit Notwendigkeit vollzieht, und wenn das Denken den objektiven Charakter besitzt, welchen wir ihm zuschreiben, so müssen wir fragen, wie es denn überhaupt kommen kann, daß der Prozeß des Denkens ein Gewißheitsresultat liefert, welches keinen objektiven Wert hat. "Wie kann das notwendig Gedachte falsch sein?" - so lautet uns das Problem des Irrtums.

In der früheren Philosophie flüchtete man sich, wie bei so Vielem, was man nicht erklären konnte, so auch bei der Deduktion des Irrtums zum Begriff der willkürlichen Freiheit. Wie die menschliche Freiheit in die sonst gute Welt die Sünde und das Übel eingeführt haben sollte, so mußte sie auch durch einen Mißbrauch ihrer Gewalt in den ansich von göttlicher Wahrheit durchdrungenen Denkprozeß den Irrtum hineingetragen haben. Es ist dies begreiflich für ein Zeitalter, in dem man den vermeintlichen Irrtum für einen ethischen Mangel ansah und ihn als eine Sünde bestrafte (6). Noch DESCARTES erklärte den Irrtum als einen Mißbrauch der menschlichen Willensfreiheit (7). Für uns heißt ein Problem durch den Begriff der Freiheit erklären, nur, eine größere Unbegreiflichkeit an die Stelle der früheren setzen. Dem gegenüber erklärte schon DESCARTES' größerer Schüler SPINOZA den Irrtum oder die inadäquate Erkenntnis für ebenso notwendig und unwillkürlich, als die wahre Erkenntnis. Das Prinzip der Kausalität feierte seinen Triumph auch in der psychischen Welt, und wie die Affekte der Menschen, so wollte SPINOZA auch ihre Irrtümer weder verlachen noch verketzern, sondern sie begreifen. Was nun SPINOZAs Begriffsbestimmung des Irrtums anbetrifft, so möchten wir dieselbe dahin beurteilen, daß er zwar die Entstehung des Irrtums an der richtigen Stelle suchte, den Irrtum selbst aber schließlich falsch bestimmte. Man muß ihm entschieden darin beistimmen, daß der Grund des Irrtums in der Mangelhaftigkeit und Unvollständigkeit der Vorstellungen zu suchen ist; wie es alsbald entwickelt werden wird: allein wenn so der Irrtum auf einem Mangel beruth, so ist er darum selbst doch nicht etwas Negatives, wie es SPINOZA behauptet. Im System des SPINOZA freilich hätte der Irrtum nichts Positives sein dürfen, ohne einen Widerspruch herbeizuführen: denn wäre der Irrtum ein positiver Modus des Denkens und nicht nur die Abwesenheit der adäquaten Erkenntnis, so irrte die Gott-Substanz, deren Modus dann der Irrtum sein müßte. Ebensowenig wie daher DESCARTES, der die klare und deutliche Erkenntnis auf die von Gott, dem nicht täuschenden, uns angeborenen Ideen zurückführte, den Irrtum nur aus dem theoretischen Vorstellungsverlauf erklären konnte, sondern den Willen zuhilfe nehmen mußte, ebensowenig hätte SPINOZA den Irrtum als etwas Positives anerkennen dürfen, weil er dadurch Gott selbst zum Irrenden gemacht haben würde: weil Gott weder täuschen noch irren kann, so ist der Irrtum bei DESCARTES aus einer Einwirkung des menschlichen Willens auf die Vorstellung hervorgegangen, so ist er bei SPINOZA zu etwas Negativem geworden. Hierin nun müssen wir auch SPINOZA widersprechen und den Irrtum für durchaus positiv erklären. Der Irrtum ist ebensowenig nur die Abwesenheit der Wahrheit, wie die Unlust die Abwesenheit der Lust oder gar nach einer neueren Philosophie die Lust die Abwesenheit der Unlust ist: sondern wie Lust und Unlust beides Affekte und als solche beide positive Empfindungszustände sind, so sind Wahrheit und Irrtum beides Vorstellungen, die den psychologischen Zustand der Gewißheit herbeiführen, und als solche psychologischen Zustände beide gleich positiv. Denn der Irrtum wird doch erst dadurch zum Irrtum, daß er für die Wahrheit gehalten wird, daß er als Gewißheit auftritt: ohne diese subjektive Gewißheit ist er eben kein Irrtum, sondern Zweifel oder eine Vorstellung, zu der sich die Seele indifferent verhält. So wenig daher die Unlust von ihrem positiven Charakter dadurch verliert, daß sie durch die Vorstellung einer Negation herbeigeführt worden ist, so wenig ist der Irrtum darum etwas Negatives, weil er nur durch einen Mangel der Erkenntnis möglich ist. Der Irrtum ist nicht nur die Abwesenheit eines wahren Urteils, sondern er ist die Behauptung, daß ein objektiv falsches Urteil wahr ist. Seine Positivität liegt in der subjektiven Gewißheit, mit der er auftritt: seine Negativität, welche SPINOZA allein als sein Charakteristikum hinstellen wollte, ist nur ein objektives Merkmal des Urteils, welches er für gewiß erklärt.

So handelt es sich also, um den Irrtum zu erklären, lediglich um die Frage: Wenn alles Denken seinem Wesen nach objektiv ist und wenn der ganze Prozeß des Denkens ein notwendiger ist, wie kann es eine subjektive Gewißheit geben, welche keine objektive ist?

KANT leitet den Irrtum aus einem unvermerkten Einfluß der Sinnlichkeit auf das Verstandesurteil ab, durch welches die Verwechslung des Subjektiven mit dem Objektiven herbeigeführt wird, - ohne jedoch die Art und die Vermittlung dieses Einflusses näher zu charakterisieren. Er behauptet, daß der ansich infallible [unfehlbare - wp] Verstand allein durch seine Begrenztheit nicht zum Irrtum geführt werden kann, daß dies vielmehr erst aus unserem Hang erklärlich wird, auch da zu urteilen und zu entscheiden, wo wir vermöge unserer Begrenztheit zu urteilen und zu entscheiden nicht imstande sind; er betrachtet aber, fast an die cartesianische Auffassung streifend, diesen Hang als eine Schule, vermöge deren wir den Irrtum uns selbst zuzuschreiben haben. Nun ist aber dieser "Hang", über dessen Wirksamkeit wir keine freie Verfügung haben, nichts anderes als jenes rastlose, in der innersten Natur der Seele selbst begründete Streben nach Einheit der Vorstellungen, das sich in der Bildung der Begriffe, der Urteile, der Schlüsse vollzieht. Die Vorstellungen wollen vereinigt sein, - gleichviel ob sie vollständig und ausreichend zu objektiver Erkenntnis sind oder nicht. Dieser psychologische Mechanismus, auf welchem die Bewegung des Denkens überhaupt beruth, vollzieht sich in ganz gleicher Weise und mit gleicher Notwendigkeit der kausalen Vermittlung, gleichviel ob die Vorstellungen, die er zur Verweigerung vorfindet, klar oder unklar entwickelt, ob sie vollständig oder unvollständig sind: immer bildet die nach der Einheit ihrer Vorstellungen strebende Seele aus dem Material, das sie in sich findet, Begriffe, Urteile, Schlüsse, und immer sieht sie, wie oben entwickelt, vermöge des objektiven Charakters des Denkens das Resultat dieses Einheitsstrebens als Gewißheit an. Da nun aber alles individuelle Denken begrenzt ist und nur so viel Inhalt hat, als ihm die Erfahrung des Individuums und der darauf gebaute Vorstellungsverlauf zugeführt haben, so ist es unvermeidlich, daß jeder Seele ganze Reihen von Vorstellungen unbekannt bleiben, aus denen erst in ihrer Vereinigung mit den anderen die objektiv richtige Erkenntnis folgen könnte. Der erkennenden Seele liegt immer nur ein mangelhaftes, unvollkommenes Material vor: aber innerhalb dieses Materials sucht und findet sie, vermöge ihrer psychologischen Einrichtung, die Einheit: und da sie sich des objektiven Charakters ihres Denkens bewußt ist, so ist ihr diese Einheit auch des mangelhaften Materials eine subjektive Gewißheit. Somit erklärt sich die Möglichkeit des Irrtums aus demselben Prinzip, auf welches wir die Bewegung des Denkens überhaupt basieren mußten, aus dem Streben der Seele nach einer Einheit ihrer Vorstellungen, welches sich in dem wegen der Begrenztheit des Individuums unvollständigen Material mit genau derselben Gesetzmäßigkeit vollzieht, wie es sich bei der Vollständigkeit aller möglichen Vorstellungen in einem allumfassenden Geist geltend machen würde. Der Grundirrtum bei allem Irrtum ist der, das Unvollständige für vollständig zu halten und zu meinen, daß, wenn man alles genau überlegt hat, was sich über den betreffenden Gegenstand in Erfahrung und Vorstellung vorfindet, man damit auch alle überhaupt möglichen Vorstellungen über diesen Gegenstand erschöpft hat. Hier zeigt es sich noch einmal, daß der Irrtum jedenfalls auf dem Nichtvorhandensein gewisser Vorstellungen in uns beruth, daß er selbst aber durchaus etwas Positives ist. So wird die subjektive Gewißheit durch die Anwendung des psychologischen Mechanismus auf das innerhalb der individuellen Seele durch die Erfahrung aufgesammelte Material herbeigeführt, und jedes psychologische Gebilde, das in dieser Weise als ein widerspruchsloses Objekt erzeugt wurde, ist mit der Vorstellung seiner objektiven Richtigkeit verbunden. Im Paradieszustand kindlicher Unbefangenheit ist uns jede unserer Vorstellungen eine Wahrheit, die ungeprüft angenommen wird und uns nur deshalb gewiß ist, weil sie unsere Vorstellung ist. Wir müssen es erst erfahren haben, daß es einen Irrtum gibt und daß subjektive und objektive Gewißheit nicht identisch sind, ehe wir überhaupt nach den objektiven Kriterien der Wahrheit zu fragen anfangen. Bis dahin ist alles, was mit der Notwendigkeit des psychologischen Mechanismus durch die Vereinigung der Vorstellungen in unserem Denken hervorgetrieben worden ist, uns gleich wahr und gewiß: von diesem Moment an beginnt der Zweifel, der Kampf der Vorstellungen, die Arbeit des Gedankens. FICHTE wollte als die geistige Geburtsstunde des Kindes diejenige angesehen haben, in der es zum erstenmal das "Ich" ausspricht: aber nicht minder wichtig möchte diejenige Stunde sein, in der es zum erstenmal zu sich sagt: "Ich habe geirrt", in der es die erste Empfindung davon hat, aß, was mit psychologischer Notwendigkeit in ihm vorgestellt wurde, doch nicht die Wahrheit gewesen ist.

Wenn nun auch von diesem Moment an sich der Seele eine gewisse Vorsicht bemächtigt, mit der sie sich nach einer Vollständigkeit ihrer Vorstellungen umsieht und teils durch die Mitteilungen Anderer, teils durch eigene absichtlich und methodisch angestellte Erfahrung das Material ihres Denkprozesses vervollständigt, so besitzt sie doch diese Vorsicht nur in dem Momenten der Reflexion, die bei den verschiedenen Individuen von sehr verschiedener Häufigkeit sind, und nur unter besonderer Wirkung der Aufmerksamkeit, deren Funktionen ihrerseits wieder unter dem Einfluß mannigfacher anderer nicht theoretischer psychischer Bewegungen stehen. Daher kehrt jener ursprüngliche Zustand der Unwillkürlichkeit immer wieder, und der Inhalt unserer Vorstellungen erscheint uns, solange er nicht unter das kritische Licht der Aufmerksamkeit tritt, immer wieder als ansich gewiß. Dies ist nun der tiefste und eigentlichste Begriff jener Gewißheit, von der wir zu allererst ausgingen und die damals nur als eine solche berechtigt zu sein schien, wonach wir des Besitzes unserer Vorstellungen gewiß wären. Hier wird es klar, weshalb jede Vorstellung, die durch eine psychologische Notwendigkeit in uns hervorgerufen worden ist, ansich die subjektive Gewißheit besitzt und erst dadurch zweifelhaft werden kann, daß die Aufmerksamkeit entweder eine widersprechende oder eine ergänzende Vorstellung bemerkt oder, da ihr die Möglichkeit des Irrtums bekannt ist, nach solchen sucht. Solange dies nicht eintritt, behält jede unserer Vorstellungen die vollkommenste subjektive Gewißheit: und selbst wenn sich die Aufmerksamkeit bewußt ist, daß das Material der Denktätigkeit keineswegs vollständig ist, hält sie doch an der durch die psychologische Notwendigkeit herbeigeführten subjektiven Gewißheit fest. Diese subjektive Gewißheit nun, welche zu ihrer Begründung nichts hat, als den psychologischen Vorstellungsverlauf, nennen wir Ansicht oder Meinung.

Die Meinung ist diejenige subjektive Gewißheit, welche nur auf der psychologischen Notwendigkeit beruth.

Diese rein psychologische Notwendigkeit trägt aber kein Merkmal in sich, das zu irgendeiner objektiven Gewißheit berechtigen würde. Sie garantiert dieselbe in keiner Weise und öffnet vielmehr an allen Ecken und Enden dem Irrtum Tür und Tor. Dieselbe Gefahr des Irrtums trifft jedoch nicht minder die allgemeine Meinung. Sind nämlich die Gesetze der psychologischen Bewegung, wie wir es ihnen als Gesetzen zuschreiben müssen, in allen vorstellenden Wesen dieselben, so folgt daraus, daß, wo überall dasselbe Vorstellungsmaterial vorliegt, sich auch dasselbe Denkresultat herausstellen, folglich auch, wo überall dieselbe Mangelhaftigkeit der Vorstellungen vorhanden ist, sich derselbe Irrtum erweisen muß. Also wie im Individuum, so wirkt auch in der allgemeinen Meinung der psychologischen Notwendigkeit eine subjektive Gewißheit, die ansich kein Kriterium der Wahrheit ist. Auch die allgemeine Meinung ist eben nur eine Meinung: auch sie basiert nur auf jenem psychologischen Kindheitszustand, in welchem die unangefochtenen Vorstellungen als solche die unmittelbare Gewißheit in sich tragen. Über einzelne Gegenstände pflegen die Meinungen der Menschen einstimmig, über andere geteilt zu sein: wenn nämlich auch die Gesetze des psychologischen Verlaufs in allen Individuen die nämlichen sind, so ist doch der Umfang und der Inhalt der Vorstellungen, die  jedem  in seiner Erfahrung zugeführt werden, nach der räumlichen und zeitlichen Positiion der einzelnen sehr verschieden, und da die Resultate des Denkens nur durch die psychologische Bearbeitung dieses Materials zustande kommen, so erklärt sich lediglich aus dieser Verschiedenheit des Materials die Verschiedenheit der individuellen Meinungen, der individuellen Irrtümer. Und wenn auch stets durch den Austausch der Meinungen, wobei die Individuen einander Vorstellungen zur gegenseitigen Ergänzung mitteilen, die individuellen Irrtümer bedeutend rektifiziert [berichtigt - wp] werden, so ist doch damit nicht ausgeschlossen, daß wesentliche Vorstellungen in allen Einzelnen fehlen und infolgedessen sich in allen ein Resultat ergibt, welches trotz seiner Gemeinschaftlichkeit und trotz der Stärke seiner subjektiven Gewißheit dennoch objektiv durchaus falsch ist. So entstehen die allgemeinen Irrtümer. Mit Gewißheit läßt sich aus einer allgemeinen Meinung nur soviel schließen, daß Allen, welche dieselbe hegen, in dieser Beziehung dasselbe Vorstellungsmaterial zur Verfügung gestanden hat. Merkwürdig ist nur, daß die allgemeine Meinung, obgleich so oft ihrer Täuschung überführt, so gar nicht - wie es doch das Individuum wenigstens teilweise tut - einen Zweifel an dieser ihrer Gewißheit zu lernen scheint, sondern immer wieder von Neuem das allgemein Gedachte für das Wahre in Anspruch nimmt: aber dies beruth eben darauf, daß die einzelnen subjektiven Gewißheiten, aus denen sich die allgemeine Gewißheit zusammensetzt, gerade in dieser ihrer Gleichheit das stärkste Motiv ihrer Befestigung zu finden pflegen.

Nun würde aber auch das Individuum jene Vorsicht, welche ihm der erste Irrtum auferlegt hat, nicht so leicht immer wieder vergessen, sondern vielmehr stets und in aller Ausführlichkeit anwenden, wenn das Streben nach einer Einheit der Vorstellungen, das Interesse an der Gewißheit das einzige wäre, unter welchem die denkende Tätigkeit steht. Dem ist aber keineswegs so; im Gegenteil, mit der seltenen Ausnahme des rein wissenschaftlichen Denkens sind die theoretischen Teile des Vorstellungsverlaufs für die Seele nicht Zweck, sondern Mittel. Das Interesse an der Erkenntnis als solcher verschwindet fast überall unter dem Drängen und Treiben, womit die Wünsche und Leidenschaften, die realen Bestrebungen, die ethischen Aufgaben die Seele erfüllen, und fast überall wird die Erkenntnis nur als Motiv und Richtschnur des Handelns gesucht, - sei es des rein praktischen, sei es des von einem ethischen Bewußtsein durchdrungenen. Und wie überall, so übt auch hier der Zweck auf die Gestalt und den Bewegungsverlauf des Mittels einen gewaltigen Einfluß aus. Mit geringen Ausnahmen steht unser Denken unter dem direktesten Einfluß unserer persönlichen Interessen, und da, wo das praktische Interesse der Persönlichkeit sich von der Beeinflussung des Denkens zurückhält, gerade da pflegt am mächtigsten das ethische Interesse, getragen von den Wünschen des Herzens, dem Verlauf der theoretischen Tätigkeiten eine Richtung zu geben, welche ihre Berechtigung nur in diesen edleren Interessen findet. Wir betreten hiermit eins der schwierigsten und verwickeltsten Gebiete der Erkenntnistheorie, welches unseres Wissens nach noch am allerwenigsten durchforscht und scharf bestimmt worden ist. Und doch ist gerade dieser Einfluß der persönlichen Interessen auf die theoretischen Funktionen eine der allerwichtigsten Tatsachen der Psychologie: er bestimmt nicht nur das Gebiet, auf welchem sich die Erkenntnisthätigkeit des Einzelnen, der Völker und der ganzen Menschheit bewegt, sondern er wirkt auch entscheidend auf die Richtung ein, welche die Denkfunktionen innerhalb dieses Vorstellungsgebietes nehmen, und er wird dadurch entscheidend auch für die Resultate der Erkenntnis. Er ist stark genug, das sonst so fest in uns angelegte und so mächtig in sich zusammenhängende System der logischen Gesetze zu durchbrechen, und auf diese Weise die Ergebnisse der theoretischen Tätigkeit wesentlich zu alterieren [verändern - wp]. Die allgemeine Möglichkeit dieses Einflusses beruth darauf, daß, indem das Interesse seinen wuchtigen Akzent auf die ihm verwandten Vorstellungen legt und denselben größere Intensität verleiht, dadurch die übrigen Vorstellungen, welche zur Gewinnung der objektiven Einheit des Vorstellungsinhalts mindestens ebenso nötig wären, unter die Bewußtseinsschwelle hinabgedrückt werden und infolgedessen aus den übrig bleibenden durch das Interesse verstärkten Vorstellungen ein Resultat von vollkommen subjektiver Gewißheit hervorgeht, dem doch in objektiver Hinsicht eine mehr oder weniger große Mangelhaftigkeit anhängt. Dies ist der Grund, weshalb jene Vorsicht, auch wenn wir immer wieder darauf hingeführt werden, wie notwendig sie ist, dennoch immer wieder vernachlässigt und vergessen wird, und in dieser Hinsicht ist es wahr, daß unsere Interessen die Schuld an unseren Irrtümern tragen. Wären wir nur denkende Wesen, so würden wir unser Urteil zurückhalten, wo das Material dazu nicht ausreicht: aber wir wollen, ja wir müssen urteilen, weil es unsere Interessen verlangen, und darum urteilen wir falsch. - Auf diese für die Erkenntnistheorie und für die Geschichte der Erkenntnis hochwichtige Frage, welche nur mit genauer Selbstbeobachtung und andererseits im Vorstellungsverlauf des Kindes und des primitiven Völkerlebens studiert werden müßte, können wir an dieser Stelle nicht näher eingehen; und es ist dies insofern nicht nötig, als es ansich klar ist, daß all dieser Einfluß der Interessen auf die Erkenntnis nur diejenige subjektive Gewißheit herbeiführen kann, welche, nur auf psychologischer Notwendigkeit beruhend, als solche kein objektives Kriterium der Wahrheit enthält. Aber länger verweilen müssen wir bei einem Interesse, welches auf die theoretischen und namentlich auch auf die wissenschaftlichen Vorstellungen der Menschen von je her einen hervorragenden Einfluß ausgeübt hat und welches sowohl wegen dieses Einflusses als auch wegen seiner im innersten Wesen des Menschen wurzelnden Bedeutung unter den Interessen des menschlichen Herzens eine ganz eximierte [herausgehobene - wp] Stellung einnimmt: es ist das ethische Interesse.

Getreu der Absicht dieser Untersuchung, sich von allen metaphysischen Theorien möglichst fern zu halten, vermeiden wir auch hier ein näheres Eingehen auf die Grundlagen der ethischen Tätigkeiten und Überzeugungen und betrchten dieselben nur in ihrer psychologischen Tatsächlichkeit und mit Rücksicht auf ihre erkenntnistheoretische Tragweite. Als die ethische Grundtatsache glauben wir das Bewußtsein einer Verpflichtung ansehen zu dürfen, über dessen metaphysische oder psychologische Gründe hier keine Untersuchung anzustellen ist: das moralische Urteil, welches man andererseits zum Eckstein des ethischen Teils der Philosophie gemacht hat, scheint uns überhaupt erst durch dieses Pflichtbewußtsein möglich zu werden, indem die Vorstellung einer Verpflichtung, sei es für die eigenen, sei es für die Handlungen Anderer, zum Prinzip eines ästhetischen Urteils über den Wert des eigenen oder fremden Charakters gemacht wird, aus welchem die Handlungen mit Notwendigkeit hervorgegangen sind. Die ästhetischen Grundurteile der Ethik, wie sie sich in der Prädizierung von "gut" und "böse" aussprechen, beruhen gemeinschaftlich auf dieser Vorstellung einer Verpflichtung und sagen aus, daß bei der zu beurteilenden Handlung dieselbe entweder erfüllt oder nicht erfüllt ist. Woher dieses Pflichtbewußtsein und sein Recht darauf, ein Motiv und zwar das einzig bestimmende unserer Handlungen zu sein, in uns eigentlich stammt, kann hier nicht betrachtet werden: nur das muß sogleich erwähnt werden, daß aus der Vorstellung, dieses Bewußtsein entstamme nicht dem menschlichen Vorstellungsverlauf selbst, und unter Anwendung des allgültigen Kausalitätsprinzips auf dieses Bewußtsein sich die ethische Beziehung der religiösen Vorstellungen einer imperativen Gottheit entwickeln mußte, und daß sich vermöge einer einfachen psychologischen Assimilation [Angleichung - wp] und Verschmelzung diese vom Kausalitätsprinzip geforderte Zurückführung des ethischen Bewußtseins auf eine über der menschlichen Seele stehende Ursache mit den theoretischen Vorstellungen verband, welche für die mächtigen Erscheinungen der Außenwelt eine oder mehrere übermächtige Ursachen annahmen. Durch diese Assimilation ist von jeher das ethische Bewußtsein mit einer Reihe theoretischer und ästhetischer Vorstellungen so innig verwachsen, daß sie, zu einer mächtigen Einheit verbunden und getragen von der ganzen Gewißheitsstärke, welche dem ethischen Bewußtsein als solchem innewohnt, nur miteinander stehen und fallen zu können scheinen: die ganze Intensität, mit der das ethische Bewußtsein die Seele erfüllt, entfaltet sich als ein psychologisches Motiv für die subjektive Gewißheit derjenigen Vorstellungen, welche mit ihm in der individuellen oder in der völkerpsychologischen Entwicklung verwachsen sind. Unendlich mannigfach sind diese Verschmelzungen, von denen nur die hauptsächlichste angedeutet wurde: aber als ihren gemeinsamen Charakter können wir das ansehen, daß überall das ethische Bewußtsein verlangt, die Welt werde so gedacht, daß in ihr eine Pflicht und eine erfolgreiche Pflichterfüllung möglich ist, und dieses Interesse der Vernunft bringt es mit sich, daß allen Vorstellungen, welche dem Bild einer solchen Welt Vorschub leisten, eine aus diesem Interesse fließende subjektive Gewißheit beiwohnt. Solcher Vorstellungen, wie gesagt, sind sehr mannigfache: denn schon der materielle Inhalt des Pflichtbewußtseins, die Vorstellung von dem,  was  Pflicht sein solll, ist nicht nur bei den verschiedenen Individuen und den verschiedenen Völkern, sondern auch in denselben Individuen und denselben Völkern zu verschiedenen Zeiten gar sehr verschieden, und so sind die Vorstellungen, welche mit der subjektiven Gewißheit des ethischen Bewußtseins auftreten, keineswegs überall von gleichem Inhalt, zumal da, auch wo der Inhalt des Pflichtbewußtseins derselbe ist, doch wieder diejenigen theoretischen und ästhetischen Vorstellungen, unter denen die erfolgreiche Pflichterfüllung möglich gedacht wird, je nach den Individuen und Zeiten sehr verschieden sind. Überall aber erzeugt dieser psychologische Mechanismus der Assimilation und Verschmelzung aus dem ethischen Bewußtsein eine subjektive Gewißheit von ganz besonderer Stärke und Gewalt. Denn indem die Seele ihr ethisches Pflichtbewußtsein mit den theoretischen Vorstellungen, die damit verwachsen sind, für identisch erklärt, muß sie behaupten, daß das Fürwahrhalten dieser Vorstellungen ihr eine ethische Notwendigkeit ist. Diese subjektive Gewißheit des ethischen Interesses nennen wir Glaube.

Der Glaube ist diejenige subjektive Gewißheit, welche auf der psychologisch notwendigen Verschmelzung der theoretischen Vorstellung mit dem Bewußtsein der ethischen Notwendigkeit beruth.

Wir sehen bei dieser Definition des Glaubens, welche wesentlich nur den religiösen Glauben umfaßt, ganz von demjenigen ab, was man in der Sprache auch mit dem Wort "glauben" bezeichnet, dem sogenannten historischen Glauben, d. h. dem Fürwahrhalten aufgrund einer fremden Aussage, einem Fürwahrhalten, welches wir vielmehr unter den oben entwickelten Begriff der Meinung, der nur auf psychologischer Notwendigkeit beruhenden subjektiven Gewißheit, subsumieren müssen. Denn es ist einfach der psychologische Entwicklungsgang der menschlichen Seele, welcher diesen Glauben an die Autorität herbeiführt. Solange die Aufmerksamkeit überhaupt noch keine Kritik über ihre Vorstellungen ausübt, haftet jene subjektive Gewißheit der Meinung allen, folglich auch denjenigen Vorstellungen an, welche der Seele durch die Mitteilung Anderer zugeführt werden: und wenn mit dem ersten Zweifel das Suchen nach einem eigenen Urteil und die kritische Denktätigkeit erwacht ist, so fühlt sich die Seele in dieser ihrer prüfenden Denktätigkeit so schwach und unentwickelt, daß sie das Bedürfnis hat, ihre Zweifel durch die Annahme derjenigen Vorstellungen zu lösen, welche ihr von entwickelteren Individuen, von der Autorität der Eltern und Erzieher entgegen gebracht werden. So bildet sich durch psychologische Gewöhnung der Glaube an die Autorität, - und aus derselben Schwäche des Individuums, mit der es sich der allgemeinen Meinung in die Arme wirft, glaubt es auch dem Einzelnen. Es ist dieselbe Begrenztheit der Individualität, welche sich der Möglichkeit des Irrtums wohlbewußt und außerstande, eine eigene Lösung der Zweifel zu finden, sich mit derjenigen subjektiven Gewißheit begnügt, welche ihr der Gedankengang oder die Erfahrung Anderer darbietet. Aus diesem rein psychologischen Autoritätsglauben kommt der größte Teil der Menschheit nie heraus, und gerade in den wichtigsten Fragen, die darum auch die schwierigsten sind, folgen sie unbedingt den Autoritäten, deren Nimbus entweder in ihrem Alter oder in der Macht ihres Geistes beruth.

Aber auch der Autoritätsglaube hat andererseits seine ethische Grundlage, - zunächst schon in dem Fall, daß an den Ausspruch eines Anderen nur darum geglaubt wird, weil man mit der Vorstellung seiner höheren Intelligenz das ethische Urteil verbindet, er werde nicht lügen noch täuschen; dann aber auch und vor Allem im ethischen Bedürfnis, aus welchem der weniger Entwickelte über die höchsten Fragen Gewißheit haben will und, da er sie selbst nicht findet, sie bei Anderen sucht. Solcher ethischen Art ist das Vertrauen des selbst denkenden Kindes zu den Eltern, zu den Lehrern, solcher Art ist im Grunde auch das Vertrauen des Volkes, mit dem es an den Lehrern seiner sittlichen Erziehung hängt, - ein Vertrauen, das wegen der sittlichen Bedürftigkeit, die es atmet, und wegen des bescheidenen Bewußtseins der eigenen Schwäche, das es enthält, von einem tiefen moralischen Wert ist. Wegen dieses seines ethischen Charakters ist der Autoritätsglaube ansich etwas durchaus Unantastbares, und wenn er auch keine Momente objektiver Gewißheit enthält, so ist es doch sinnlos und frevelhaft zugleich, ihne ohn die allerzwingendsten Gründe  nur  aus theoretischem Interesse zu zerstören. Denn wer sich im Autoritätsglauben beruhigt, beweist eben dadurch, daß sein theoretisches Bestreben nicht stark genug ist, über die subjektive Gewißheit hinaus nach objektiver Erkenntnis zu forschen, daß er den kindlichen Standpunkt einer zu erziehenden Intelligenz nicht verlassen hat und daß ihm diese unbefangene Hingabe an die Autorität ein ethisches Bedürfnis ist, welches unbedingt geachtet werden muß: er beweist zu gleicher Zeit, daß ihm die Erkenntnis nur das Mittel zur Gewinnung und Befestigung ethischer Prinzipien ist, und diesem Bedürfnis entspricht der Autoritätsglaube bekanntlich in den meisten Fällen sehr viel besser, als das eigene Nachdenken. Ja, man muß zweifeln, ob die Erkenntniskraft eines Geistes, der sich im Autoritätsglauben zu beruhigen vermag, stark und andauernd genug sein würde, um in eigener Denktätigkeit zu eigener Gewißheit zu gelangen, und es ist daher durchaus verwegen, ihn aus seiner glücklichen Ruhe in eine ungewisse Zweifelhaftigkeit zu stürzen, in der ihm mit seinem Vertrauen zugleich wertvolle ethische Besitztümer verloren gehen würden. So ist, den Autoritätsglauben zu untergraben, kein Grund vorhanden, solange derselbe zu ethisch berechtigten Maximen führt: aber es ist eine solche Untergrabung nicht nur erlaubt, sondern geboten, sobald infolge der Bedeutung, welche die theoretischen Vorstellungen als praktische oder ethische Maximen gewinnen, aus einer irrigen oder mißbrauchten Autorität sich Vorstellungen ergeben haben, die über das Gebiet des Denkens hinaus in den Verhältnissen des praktischen und des ethischen Lebens Unheil anzustiften geeignet sind. In diesem Fall muß man es für ein geringeres Übel erachten, wenn der Geist, herausgerissen aus dem unschuldsvollen Stand seiner Autoritätsgewißheit, der ganzen Macht der Zweifel anheimgegeben wird: denn es ist besser, daß Einer unglücklich ist in den Qualen unentwirrter Zweifel, als daß er Unrecht tue in verblendeter Gewißheit. Die Schuld aber einer solchen unglücklichen Lage trifft dann die Autorität, welche entweder den eigenen Irrtum zu demjenigen Anderer gemacht o der die unbefangene Hingabe der schwächeren Intelligenz zu selbstsüchtigen Zwecken mißbraucht hat. Und im letzteren Fall ist ihre Schuld umso größer, ein je größeres ethisches Unglück die Untergrabung des Vertrauens ist. Wenn es auf der Welt etwas Fluchwürdiges gibt, so ist es der Mißbrauch der Autorität.

Aufgewachsen in diesem Glauben an die Autorität, beginnt die menschliche Vernunft, indem sie durch eine Reihe bitterer Enttäuschungen hindurch geht, mit einer allmählich freieren Entwicklung die Fesseln der Autorität abzustreifen und mit selbständigem Denken den Inhalt ihrer Vorstellungen zu prüfen. Aber bereits findet sie in sich eine Fülle von Vorstellungen, welche, ursprünglich ihr durch Autorität übertragen, sich im Laufe jahrelanger psychologischer Gewohnheit von ihrem autoritären Ursprung losgelöst haben und zu bestimmenden Funktionen des eigenen Denkens geworden, mit tiefgehenden Wurzeln in der eigenartigen Natur des Menschen befestigt sind. Zu diesen Vorstellungen, deren jeder Mensch unendlich viele auf theoretischem und ästhetischem Gebiet besitzt, gehören vor allem auch die ethischen. Aber während die theoretischen und ästhetischen Grundvorstellungen wegen der geringen Bezüge, welche sie auf die Persönlichkeit des Menschen haben, eher einen Wechsel und eine Veränderung erleiden können, sind die ethischen Vorstellungen so innig, so lebensvoll mit dem ganzen Wesen, mit dem Wert und mit den innerlichsten Interessen des Menschen verwachsen, daß derselbe an ihnen mit seiner ganzen Gewalt, mit aller Macht seines ethischen Bewußtseins festhält. Diese Vorstellungen pflegen wir Überzeugungen zu nennen: sie besitzen die stärkste subjektive Gewißheit, welche wir überhaupt in uns vorfinden. Sie sind mit dem innersten Wesen der Persönlichkeit so stark verschmolzen, daß diese selbst mit ihnen steht und fällt, daß sie die ganze Gewißheit, mit der sie ihre eigene Existenz besitzt, auf diese Vorstellungen überträgt. Mit dem Zweifel an ihren Überzeugungen fürchtet sie sich selbst zu vernichten, sie  muß  an die Wahrheit dieser Vorstellungen glauben, weil sie sonst an der Realität ihrer eigenen ethischen Bestrebungen, an demjenigen zweifeln müßte, was den Lebensnerv all ihrer Tätigkeit ausmacht. Dieses "muß" ist die ethische Notwendigkeit, die zum Glauben führt. Und wenn so der Glaube tief im Innersten der Persönlichkeit wurzelt, so beruth darin der unermeßliche Wert, den er für die Persönlichkeit besitzt. Hier ist jenes Vertrauen, mit welchem der historische Glaube den Ausspruch der Autorität annimmt, zu einem Selbstvertrauen, hier ist das ethische Bewußtsein, im Vollbesitz seiner ganzen subjektiven Stärke, sich selbst Autorität geworden. Die sittliche Überzeugung und der darauf gebaute Glaube bilden innersten Kern jedes Menschen und müssen deshalb jedem Andern so heilig sein wie die Persönlichkeit selbst. Es kann niemals gerechtfertigt sein, diese Überzeugung zu zerstören, nur weil sie vielleicht einen theoretischen Irrtum einschließt. Denn ihr Wert besteht nicht in ihrem Vorstellungsinhalt, sondern vielmehr gerade in der Gewißheitsstärke, mit der sie das Individuum beherrscht und in sich kräftigt. Und eben wegen der psychologischen Verschmelzung, in der sich diese ethische Gewißheitsstärke mit dem theoretischen Vorstellungsinhalt befindet, würde in den allermeisten Fällen mit dem einen auch die andere zerstören. Wer wollte vermessen genug sein, einem Anderen diese Innigkeit lebensvoller Überzeugungen zu rauben, um ihm dafür die kalte Klarheit einer objektiven Erkenntnis zu geben? Wohl wäre man dazu berechtigt und verpflichtet, wenn die objektive theoretische Erkenntnis der höchste Zweck und die einzige Aufgabe des Menschenlebens wäre. Mag sie das bei Einzelnen sein, - sie ist es nicht bei allen, und im Gesamtorganismus des Menschendaseins gebührt der höhere Wert jener überzeugungsvollen Gewißheit des sittlichen Bewußtseins, aus der allein die Kraft gedeihlichen Wirkens fließen kann: und bei Wievielen geschieht es denn, daß an die Stelle des zerstörten Glaubens durch die theoretische Erkenntnis eine neue ethische Gewißheit gesetzt wird? Wenn aber der unaufhaltsame Erkenntnisfortschritt eines kritischen und reflexiven Zeitalters allmählich die Elemente zersetzt, aus denen sich solche Überzeugungen zusammengesetzt haben, so bleibt nur übrig, mit umso sorgsamerer Prüfung diejenigen Überzeugungen festzuhalten, die von der fortschreitenden Erkenntnis nicht zerstört worden sind, und wenn dann durch das theoretische Denken die Wahrheit aus all den theoretischen und ästhetischen Vorstellungen vertrieben worden ist, mit denen die psychologische Entwicklung der Menschheit das ethische Bewußtsein verkettet hat, so kann eben dieses ethische Bewußtsein seine gewaltige Kraft vielleicht umso mächtiger entfalten, je reiner es in der Vorstellung geworden ist.

Aber eben dieser hohe subjektive Wert, der dem Glauben zugeschrieben werden muß, setzt ihm auch seine Grenze. Jene psychologische Verschmelzung seines theoretischen Inhalts mit dem ethischen Bewußtsein, auf welcher seine Unantastbarkeit und sein unvergleichlicher Wert beruth, zeigt schon genugsam, daß er seine Gewißheit ebenfalls der Notwendigkeit des psychologischen Mechanismus verdankt, durch welchen diese Verschmelzung vonstatten gegangen ist: und wenn er eine bei weitem größere Gewißheitsintensität besitzt, als dasjenie, was wir einfach  Meinung  nennen, so beruth dies darauf, daß das Interesse, unter dessen Einfluß die Vorstellungen des Glaubens gebildet worden sind, als am meisten mit dem ganzen Wesen der Persönlichkeit verwachsen, von allen Interessen das stärkste und mächtigste ist. So unterscheidet sich der Glaube durchaus von der Meinung in Bezug auf den Inhalt, indem diese sich auf alle möglichen, dem Individuum mehr oder weniger fern liegenden Gegenstände bezieht, jener aber das Wichtigste gibt. Im Hinblick auf die subjektive Gewißheit unterscheidet sich der Glaube von der Meinung graduell durch die größere Intensität, welche gleichfalls auf dem ungleich höheren Wert beruth, der ihm durch das ethische Interesse vor allen anderen gegeben wird, er erhält dadurch nicht nur höhere Gewißheit, sondern auch höheren Wert, sein Bestehen wird mit dem Bestehen des ethischen Lebens identifiziert, und wir verachten mit Recht denjenigen, der seinen Glauben ebenso leicht aufgibt oder ändert wie seine Meinungen. Dagegen in erkenntnistheoretischer Hinsicht stehen Glaube und Meinung unter ganz denselben Bedingungen: bei Resultaten des psychologischen Mechanismus, der aus der Kombination und Verschmelzung der vorgefundenen Vorstellungen neue Gebilde geschaffen hat, finden sie zwar in der Notwendigkeit des psychologischen Prozesses eine subjektive Gewißheit, entbehren aber ansich und nur als solche der Kriterien objektiver Gewißheit. So wenig wie man sagen darf, daß etwas wahr ist, weil es gemeint wird, so wenig darf man auch behaupten, daß etwas wahr ist, weil es geglaubt wird. Denn das ethische Interesse, welche dem Glauben sein Übergewicht über die Meinung verleiht, ist im Glauben doch nichts als eine psychologische Tatsache; und wenn man von dieser Tatsache aus - wie weiter unten behandelt werden wird - Schlüsse auf ihre Bedingungen macht, so ist das eine Funktion des Wissens und nicht mehr des Grundes, sofern man sich nämlich in dieser Schlußreihe nicht wieder vom Interesse des Glaubens beherrschen läßt, - welches allerdings sehr selten der Fall ist. So kommt also der Glaube als solcher an keiner Stelle aus dem psychologischen Mechanismus heraus, und es ist nicht abzusehen, wie sein Vorstellungsinhalt irgendeinen Wert außerhalb der Vorstellung selbst haben kann.

Wir suchen das Kriterium der objektiven Gewißheit in einer Notwendigkeit des Denkens. In der Meinung fanden wir nur eine psychologische Notwendigkeit, infolge deren die Vorstellungen lediglich deshalb als gewiß gelten, weil sie nun einmal nach psychologischen Gesetzen so vorgestellt worden sind: der Glaube aber zeigt uns nur eine Verstärkung dieser psychologischen Notwendigkeit durch das Bewußtsein der ethischen Notwendigkeit. Beide aber zeigen deshalb nur notwendige Vorgänge in einem subjektiven Vorstellungsverlauf, in welchem nirgends die Berechtigung zu irgendwelchen Bezügen auf ein außerhalb der Vorstellung Objektives gefunden werden kann. Wenn daher jenes oben dargestellte Axiom: "Was notwendig gedacht wird ist wahr" aufrechterhalten werden soll, so gilt es weder von der psychologischen noch von der ethischen Notwenigkeit.

Der Inhalt des Glaubens hat somit zwar den höchsten Wert und die kräftigste Gewißheit für das Subjekt des Vorstellenden, aber er erhält als solcher keine objektive Gewißheit. Auch die von der ethischen Notwendigkeit getragene Stärke der subjektiven Gewißheit ist für den objektiven Wert des Vorstellungsinhaltes sehr gleichgültig, und die Überzeugung kann ebensogut irren wie die Meinung. Solange daher der Glaube sich in denjenigen Grenzen hält, welche ihm durch seinen Ursprung angewiesen sind, solange diese aus dem ethischen Bedürfnis des Individuums hervorgegangenen Vorstellungen nur für das ethische Interesse dieses Individuums, für die sittliche Tiefe seiner Maximen, für die Ruhe seiner Seele angewendet werden, solange ist der Glaube ein unendlich wertvolles, unantastbar heiliges Gut: aber er verliert jede Berechtigung, sobald er als solcher eine objektive Gültigkeit dadurch in Anspruch nehmen will, daß er von Anderen die Anerkennung seines Vorstellungsinhaltes verlangt. Der Inhalt des Glaubens hat für einen Jeden die höchste innerliche Gültigkeit, aber er hat sie auch nur für den Vorstellenden.

Es scheint im Widerspruch hiermit zu stehen, daß zu allen Zeiten ganze Systeme von Glaubensvorstellungen sich der allgemeinen Anerkennung erfreut haben und daß man immer und überall im Hinblick auf die ethische Wurzel dieser Vorstellungen Diejenigen zu bestrafen oder aus dem gemeinschaftlichen Leben auszustoßen sich berechtigt geglaubt hat, welche diese Vorstellungen leugneten oder bezweifelten. Aber es wiederholt sich hier nur derjenige Prozeß, aus welchem wir auch die allgemeine Meinung zu erklären und die Möglichkeit des Irrtums in derselben aufzuweisen vermochten. In einer Gemeinschaft, wie sie die Familie und in weiterer Ausdehnung die Nation darstellt, werden immer durch die Gleichheit oder Verwandtschaft der Lebensbedingungen, der Lebensinteressen, der Erziehung und der Erfahrung nicht nur sich dieselben ethischen Prinzipien bei allen Mitgliedern bilden, sondern es werden auch bei allen diese ethischen Prinzipien mit denselben theoretischen Vorstellungsmassen verschmelzen, so daß wiederum der psychologische Mechanismus aus gleichem Material gleiche Resultate bildet. Die Gleichheit des Glaubens beweist daher nur die Gleichheit der theoretischen Grundvorstellungen und vor allem der ethischen Grundprinzipien. In der lebhaften Empfindung dieses Verhältnisses hat von jeher jedes Volk in seinem Glauben eins der wertvollsten Bänder seiner sittlichen Lebensgemeinschaft gesehen und die widerspruchslose Aufrechterhaltung desselben für ein so starkes ethisch-nationales Interesse erachtet, daß es die Bestrafung oder die Ausstoßung des Andersglaubenden für sein zweifelloses Recht hielt. Es war aus diesem Interesse, daß die Athener ihren größten Denker zum Schierlingsbecher verurteilten: denn mit dem Instinkt des nationalen Bewußtseins emfanden sie es, daß seine Lehre die Schranken des Griechentums durchbrach und daß die Ausbreitung einer solchen Weltanschauung die innere Zusammengehörigkeit des griechischen Lebens zerstören müßte. Und mit genau demselben Instinkt nationaler Selbsterhaltung schlugen die Juden  Jesus  ans Kreuz. Der Gewissenszwang, den alle Zeiten aufweisen, und der eine der verderblichsten Irrungen des ethischen Bewußtseins ist, hat doch auch seine ethische Grundlage eben in diesem Bedürfnis nach Einmütigkeit in den Vorstellungen über die höchsten Fragen des sittlichen und religiösen Lebens. Solange die Religionen in einer unbewußten Entwicklung aus dem Volksleben erwuchsen, konnte der Zweifel am Glaubensinhalt derselben nur sehr vereinzelt auftreten. Je mehr aber das theoretische Denken mit seiner zersetzenden Kraft sich entwickelte, je mehr deshalb an die Stelle der subjektiven Gewißheit des Vorstellungsverlaufs die kritische Aufmerksamkeit auf die Berechtigung der Vorstellungen trat, und je mehr zu gleicher Zeit im Austausch der Völkerkräfte der Begriff der  Menschheit  zum Durchbruch kam, sodaß der Glaubensinhalt sich von den nationalen Eigentümlichkeiten ablöste und eine ganz allgemeine Geltung beanspruchte, - desto häufiger und intensiver wurde die Auflehnung des Einzelnen gegen die allgemein anerkannte Glaubensnorm, desto stärker wurde aber auch die Reaktion, mit der das sittlich-religiöse Gesamtbewußtsein diese seine Negierung seinerseits zu negieren sich berechtigt fühlte. So waren es die beiden jüngsten, die universalistischen Religionen, welche die reale Gewalt, die sie sich unterworfen hatten, mit allem Fanatismus subjektiver Überzeugung zur Ausübung des rücksichtslosesten Gewissenszwanges mißbrauchten.

Zu gleicher Zeit aber war es diesen Religionen vorbehalten, das sittlich-religiöse Interesse als ein höchstes Erkenntnisprinzip zu proklamieren und auf diese Weise eine theoretische Rechtfertigung des Glaubensinhaltes zu unternehmen. Die übrigen Religionen hatten einer solchen theoretischen Rechtfertigung nie bedurft, weil sie, mit dem Volk aufgewachsen und entwickelt, niemals über die Grenzen des Volkes hinaus sich zu erstrecken geneigt waren: diese beiden aber, als ein Neues in schon entwickelte Vorstellungskreise hineingeworfen, waren ihrer universalistischen Tendenz gemäß erobernd, und da sie andere Vorstellungen verdrängen mußten und in eine philosophisch blasierte Welt traten, so hatten sie nicht nur die Herzen, sondern auch die Köpfe zu erobern. Auf diesem Punkt verlor die Wissenschaft nicht nur die Freiheit des Ausspruchs, sondern auch diejenige des Denkens. Was die Menge, was sie selbst von sich verlangt, war kein vorurteilsfreies Studium der Erscheinungen, sondern eine systematische Begründung des Glaubensinhaltes, als deren Grundprinzip nur der Glaube selbst gelten durfte; und selbst, wenn sie mit einem freieren Denken an die Lösung der Rätsel des Daseins gehen wollte, so war das ethisch-religiöse Interesse im Denker so lebendig, war ihm so in das Innerste auch seiner theoretischen Vorstellungswelt gewachsen, daß sich das ethische Interesse unwillkürlich unter die Prinzipien wissenschaftlicher Forschung mischte und auf diese Weise wieder das zu Beweisende zugleich der Beweisgrund wurde. In den vorkantischen Systemen ist dieser Einfluß des ethisch-religiösen Interesses auf die Bildung der metaphysischen Prinzipien ein wesentlich naiver und unbewußter. Noch DESCARTES argumentiert an einer entscheidenden Stelle seiner Erkenntnistheorie ganz harmlos damit, daß Gott doch unmöglich täuschen kann. KANT dagegen erhob das ethische Interesse zum fundamentalen Prinzip eines ganzen Teils der Philosophie. Bei seiner scharfsichtigen Analyse der Erkenntnistätigkeit konnte es ihm nicht entgehen, daß der letzte Grund, auf welchen sich gerade diejenigen Vorstellungen stützen, um derentwillen die Menschheit sich philosophischen Betrachtungen am liebsten hingibt, lediglich dieses ethische Interesse ist: so machte er denn, statt die theoretische Berechtigung dieses Interesses nach theoretischen Grundsätzen zu untersuchen, dieses Interesse als solches zum Eckstein, auf welchem er die ganze positive Seite seiner Metaphysik aufführte (8).

Man kann die ganze subjektive Macht, aber zugleich auch die objektive Grenze des Einflusses, welchen das ethische Interesse auf die höchste Erkenntnis ausübt, nicht schärfer erkennen, als wenn man den Nerv der kantischen Beweisführung der "Postulate der reinen praktischen Vernunft" bloßlegt. Denn gerade die kantische Ethik, in ihrem ausgesprochenen Bestreben, die moralischen Maximen alles materialen Inhalts zu entleeren und die reine Form derselben an die Spitze der praktischen Philosophie zu stellen, muß eben deshalb auch für dasjenige, was man als ethisches Interesse bezeichnet, die reinste, von allem materiellen Inhalt befreite Form aufstellen. Nun konzentriert sich nach KANT das ganze moralische Interesse darin, daß "die reine praktische Vernunft das höchste Gut notwendig als möglich vorstellen muß, weil es ein Gebot derselben ist, zu dessen Hervorbringung alles Mögliche beizutragen," und auf diesem Interesse beruhen dann notwendig als Bedingungen der Möglichkeit seiner Erfüllung jene "Postulate der reinen praktischen Vernunft", welche von der folgenden Generation so begierig als die "moralischen Beweise" aufgenommen worden sind. Das höchste Gut aber besteht in der Vereinigung von Tugend und Glückseligkeit, und zwar in der Weise, daß die Tugend nicht nur die Würdigkeit zur Glückseligkeit, sondern die notwendig wirkende Ursache der Glückseligkeit ist. Diese Synthesis (9), deren Realisierung dann allerdings die Möglichkeit einer Kausalität durch Freiheit und die ganze intelligible Welt der Postulate erfordert, - woher stammt sie? Hier muß zunächst festgestellt werden, wie die reine praktische Vernunft überhaupt zum Begriff des höchsten Gutes kommt. KANT hat aus den Prinzipien der Ethik jeden materialen Bestimmungsgrund als eudämonistisch und heteronomisch entfernt und nur das Prinzip der Allgemeinheit als Inhalt der obersten Maxime übrig behalten: da aber kein Wille denkbar ist ohne materiales Objekt, so besteht der sittliche Wert jeder Handlung darin, daß in jedem einzelnen Fall das empirisch bedingte Objekt des Willens nicht als solches und um seiner selbst willen, sondern nur unter jener obersten sittlichen Maxime und um derselben willen gewollt wird. Und nun erneuert sich jenes aus der Kritik der reinen Vernunft bekannte dialektische Schauspiel, daß die Vernunft zur ganzen Reihe des empirisch Bedingten das Unbedingte und daher in dieser Beziehung zur Reihe der empirischen Objekte des Willens "die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft unter dem Namen des höchsten Gutes" sucht. Dabei muß nun die reine praktische Vernunft zu diesem ihren Gegenstand in genau demselben Verhältnis stehen, wie der einzelne moralische Wille zu seinem Objekt: sie muß dieses Objekt wollen, nicht um seiner selbst willen, sondern um des moralischen Gesetzes willen, das sich an ihm realisiert. (10)

Bis hierher ist alles nach echt kantischer Weise folgerichtig entwickelt: nun aber ist die Frage, weshalb denn das moralische Gesetz als diese Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft  notwendig  die Glückseligikeit bestimmt. Wie kommt jene Synthesis zustande? In der ganzen "kritischen Auflösung der Antinomie der reinen praktischen Vernunft" müht sich KANT ab, nachzuweisen, daß vermöge der doppelten, zugleich in der Erscheinungswelt und in der intelligiblen Welt heimischen Natur der Persönlichkeit die Möglichkeit vorhanden ist, daß Tugend die Ursache der Glückseligkeit wird: aber damit ist nicht erwiesen, daß diese Synthesis notwendig gedacht werden muß. Und doch soll diese Synthesis notwendig sein: denn nur wenn sie notwendig ist, stellt sie das höchste Gut dar. Einen starken Beweis dieser Notwendigkeit der Synthesis von Tugend und Glückseligkeit hat KANT, so weit wir sehen können, nicht geliefert: ja, wir möchten behaupten, daß er ihn nach seinen Moralprinzipien überhaupt nicht liefern konnte. Denn es gäbe dazu nur den einzigen Weg, zu zeigen, wie das moralische Gesetz aus seiner eigenen Notwendigkeit heraus die Glückseligkeit als die notwendige Folge der Tugend und damit als das allgemein notwendige Objekt der reinen praktischen Vernunft setzt. Dieser Weg aber ist der kantischen Ethik durch ihr eigenes Grundprinzip abgeschnitten. Denn wenn aus dem moralischen Gesetz jeglicher Inhalt des Wollens geflissentlich entfernt ist, so ist keine Möglichkeit abzusehen, wie allein aus der Notwendigkeit dieses Gesetzes dem reinen Willen eine Totalität seines Inhalts bestimmt werden kann.

Dieser Inhalt kommt vielmehr von ganz anderer Seite hinein. Denn die einzige Begründung, welche KANT für die Notwendigkeit jener Synthesis beibringt, ist in folgendem Satz zusammengedrängt:
    "Der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuch denken, garnicht zusammen bestehen." (11)
Nicht genug also, daß hier "der Versuch" eines beinahe religiösen Motivs eingeführt wird, so beruth die ganze Beweiskraft dieses Satzes darauf, daß wir uns nicht vorstellen mögen, die Welt sei so eingerichtet, daß die Erfüllung der Pflicht in ihr nicht notwendig glücklich machen muß. Wir wollen in dieser Welt nicht nur tugendhaft, wir wollen auch glücklich sein, - und deshalb glauben wir sie so denken zu müssen, daß beides darin nicht nur zusammen möglich, sondern notwendig miteinander verbunden ist. Jene folgenschwere Synthesis also, daß die Tugend notwendig die Ursache der Glückseligkeit sei, vollzog nicht die reine praktische Vernunft, sondern das  Interesse  des menschlichen Herzens. KANT besaß den Rigorismus, für jede einzelne Pflichterfüllung nicht nur die Nichtbeachtung der Neigungen, sondern, wenn erforderlich, sogar den Schmerz und die Unseligkeit der unterdrückten Neigungen zu verlangen: aber er, von dem das große Wort stammt, daß wir nicht auf der Welt sind, um glücklich zu sein, sondern um unsere Pflicht zu tun, er hatte doch nicht den Mut der Grausamkeit gegen das menschliche Herz, anzunehmen, daß die Erfüllung der Pflicht überhaupt und im ganzen Weltprozeß ohne die Belohnung der Tugend sein kann.

KANT nennt den Grund seiner Postulate das moralische Interesse. So weit wir sehen können, geht das moralische Interesse nur darauf, die Welt so zu denken, daß wir in ihr unsere Schuldigkeit tun können: wenn aber - und gerade auf dieses Verlangen stützen sich die kantischen Postulate - die Welt so gedacht werden soll, daß wir darin durch die Erfüllung unserer Pflicht die Glückseligkeit erlangen (12), so ist dieses Interesse gerade nach kantischen Moralprinzipien (auf welche diese Kritik, sofern sie immanent bleiben will, immer rekurrieren [zurückgreifen - wp] muß) nicht mehr moralisch, sondern durchaus eudämonistisch. Der Eudämonismus, mit so vieler [Nachdrücklichkeit - wp] aus dem gewaltigen Hauptportal der kantischen Ethik hinausgeworfen, schleicht durch die Hintertür unter dem Namen des höchsten Gutes wieder herein, um Gott und Unsterblichkeit mitzubringen. So herrschen - und nicht zum Geringsten an den höchsten Punkten - unsere Interessen über unsere Erkenntnis.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Über Gleichheit und Identität, Sitzungsbericht der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jahrgang 1910, Heidelberg 1910.
    Anmerkungen
    5) Ich darf hier füglich auf die Bemerkungen verweisen, mit denen ich das Problem der Wahrscheinlichkeit in meiner Abhandlung "Über die Lehren vom Zufall", Berlin 1870, Seite 30-45 behandelt habe.
    6) Es ist interessant zu verfolgen, welchen Wechsel im Laufe der Zeiten die philosophische Anschauung von Irrtum und Sünde durchgemacht hat. Ein Teil der antiken Philosophie erklärte die Sünde zum Irrtum. Die Anschauung des Mittelalters machte den Irrtum zur Sünde. Das moderne Denken sucht sie beide als psychologische Tatsachen zu begreifen und zu deduzieren.
    7) Denselben Standpunkt vertritt FICHTE (vgl. z. B. Werke I, Seite 77f).
    8) Damit war das ethische Motiv in der philosophischen Forschung stark und bewußt genug geworden, um bei FICHTE in den Mittelpunkt der gesamten Philosophie gerückt und mit demselben so identifiziert zu werden, daß er jenes oft bewunderte Wort aussprechen konnte: "Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist." Und doch! Dieses Wort, so groß es gedacht ist, läuft es nicht schließlich auf dasselbe Prinzip hinaus, aus welchem das Pfaffentum die Ketzer verbrannte? Denn wenn die Wahl des philosophischen Systems eine Sache des Charakters ist, so ist die falsche Weltanschauung eine Sünde.
    9) Vgl. zum Folgenden: KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Dialektik I. und II. Hauptstück (Werke IV, Ausgabe HARTENSTEIN, erste Auflage, Seite 225f).
    10) a. a. O., Seite 228
    11) Vgl. a. a. O., Seite 229. Dies ist in der Tat das einzige Argument KANTs für die Notwendigkeit jener Synthesis. Denn die Zerlegung der Begriffe, die demselben vorhergeht, beweist ansich nichts oder ist ein Trugschluß. "Der Begriff des Höchsten", sagt KANT, "enthält schon eine Zweideutigkeit ...: das Höchste kann das Oberste (supremum) oder auch das Vollendete (consummatum) bedeuten. Das Erstere ist diejenige Bedingung, die selbst unbedingt, die keiner anderen untergeordnet ist (originarium); das Zweite dasjenige Ganze, das kein Teil eines noch größeren Ganzen von derselben Art ist (perfectissimum). Daß Tugend (als die Würdigkeit glücklich zu sein) die oberste Bedingung all dessen, was uns nur wünschenswert scheinen mag, mithin auch aller unserer Bewerbung um Glückseligkeit, mithin das oberste Gut sei, ist in der Analytik bewiesen, darum ist sie aber noch nicht das ganze und vollendete Gut als Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen; denn um das zu sein, wird auch Glückseligkeit dazu erfordert und zwar nicht bloß in den parteiischen Augen der Person, die sich selbst zum Zweck macht, sondern selbst im Urteil einer unparteiischen Vernunft, die jene überhaupt in der Welt als Zweck ansich betrachtet, denn ..." Hier folgt die im Text zitierte Stelle, welche somit das eigentliche Argument für die notwendige Synthesis der Tugend und der Glückseligkeit enthält. Ohne dieses Argument wird diese Entwicklung zu einem Trugschluß, zu dessen Auflösung uns KANT zum Glück selbst die Mittel an die Hand gibt. Er macht (a. a. O., Seite 168: "Vom Begriff eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft") eindringlichst auf den großen Unterschied zwischen den beiden Bedeutungen des Wortes bonum "gut" und "wohl" aufmerksam. Dasselbe aber gilt von unserem deutschen Gut. Das "oberste Gut" (bonum supremum) die Tugend, enthält die sittliche Bedeutung "gut", das "vollendete Gut" (bonum consummatum), die Glückseligkeit, enthält die eudämonistische Bedeutung "wohl". Setzt man nun, um durch diesen Doppelgebrauch nicht getäuscht zu werden, sittlich gut = honestum, eudämonisch gut = utile, so ist bonum suprematum = summum honestum, bonum consummatum aber = summum utile. Dann sagt KANT: das summum honestum und das summum utile müssen im summum bonum als Einheit gedacht werden; denn ..., und nun folgt das im Texte angeführte Argument. Läßt man aber dies fort, wie es KUNO FISCHER in seiner Reproduktion dieser Beweisführung getan hat, so bleibt nur ein Trugschluß vermöge der Doppelbedeutung der Worte bonum oder "gut" übrig. Und genau so lautet der Beweis bei FISCHER, Immanuel Kant, Bd. II, 2. Buch, 4. Kapitel (erste Auflage, Seite 165): "Das höchste Gut ist zugleich der Gipfel und Inbegriff aller Güter. Es gibt außer ihm kein höheres Gut, d. h. es ist von allen Gütern das oberste (bonum supremum); es gibt außer ihm überhaupt kein Gut, d. h. es ist der Inbegriff und die Vollendung alles Guten (bonum summatum). Das oberste Gut ist die Tugend, unter allem Guten das einzig unbedingte. Der Inbegriff alles Guten, das vollendete Gut, schließt offenbar auch das in sich, was nur bedingterweise als Gut gilt, das Nützliche, Angenehme, den befriedigten Lebenszustand, dessen höchsten dauernden Grad die Glückseligkeit ausmacht. Wenn also das höchste Gut das vollendet sein soll, der Inbegriff alles Guten, so muß es bestimmt werden als die Einheit von Tugend und Glückseligkeit." Wenn man hierin die obige Substitution vornimmt, so zerfällt der Beweis vollständig. Der Unterschied zwischen beiden Beweisführungen ist folgender: KANT geht ursprünglich von ganz demselben Doppelgebrauch der Worte bonum oder "Gut" aus; aber er sagt: "das Höchste kann das Oberste oder auch das Vollendete bedeuten." Dann identifiziert er diese Disjunktion [Unterscheidung - wp] mit den beiden Bedeutungen des Wortes bonum, indem er beim supremum bonum die Bedeutung bonum = honestum, beim consummatum bonum die Bedeutung bonum = utile einführt. (Gleichwohl hätte er mit mindestens demselben Recht diese Disjunktion auf jede der beiden Bedeutungen anwenden können und gefunden: supremum honestum, höchst unbedingte Tugend, consummatum honestum, Inbegriff aller möglichen Tugenden, - supremum utile, höchste unbedingte Glückseligkeit, consummatum utile, Inbegriff aller möglichen Glücklichkeitszustände). Da nun KANT, um die Synthesis seiner disjunktiven Glieder zu vollziehen, eines Arguments bedurfte, so gilt dasselbe Argument auch für die Synthesis der beiden Bedeutungen des bonum, auf welche es ursprünglich ankommt, und der kantische Beweis wäre gültig, wenn nur jenes Argument richtig wäre. KUNO FISCHER dagegen sagt: "Das höchste Gut ist zugleich der Gipfel und Inbegriff aller Güter." Er hat also gar keine Disjunktion, er braucht also auch keine Argument für die Synthesis disjunktiver Glieder, da er den ganzen Beweis durch das "und" seines ersten Satzes vorweggenommen hat. Wenn er dann nachher den "Gipfel" der Güter auf das sittlich Gute, den "Inbegriff" der Güter aber auf das eudämonistisch Gute bezieht, so fällt damit der ganze Beweis zusammen.
    12) Wenn es sich hier um eine vollständige Kritik der Beweise für die kantischen Postulate und nicht nur um die Prüfung ihres eigentlichen Nervs handelte, als welchen wir ein eudämonistisches Interesse aufgefunden zu haben glauben, so müßte hier hinzugefügt werden, daß, selbst wenn jenes Interesse als rein moralisch anerkannt werden könnte, doch die Erfüllung desselben aufgetellten Postulate dazu keineswegs genügen. Glückseligkeit ist offenbar eine empirische Bestimmung; dienn die ganze Schwierigkeit der nur durch den kritischen Idealismus der transzendentalen Ästhetik aufzuhebenden Antinomie der reinen praktischen Vernunft besteht (a. a. O., Seite 233) darin, daß die Glückseligkeit der Erscheinungswelt, das moralische Gesetz der intelligiblen Welt angehört. Nun beruhen die Beweise für Gott und Unsterblichkeit darauf, daß durch sie eine der Würdigkeit der Tugend entsprechende Glückseligkeit vermöge eines progressus in infinitum herbeigeführt wird, d. h. durchaus empirisch nie. Folglich wird selbst durch die Postulate einer der Tugend würdige Glückseligkeit empirisch nie, d. h., da die Glückseligkeit eine nur empirische Bestimmung, überhaupt nicht herbeigeführt. - Hieran knüpft sich eine allgemeinere Bemerkung. Der Begriff des höchsten Gutes, wie ihn die Kritik der praktischen Vernunft aufstellt, ist bei KANT eigentlich ansich unmöglich: er soll enthalten die notwendige Synthesis einer transzendentalen und einer empirischen Bestimmung: Tugend und Glückseligkeit. Diese Synthesis nun ist nach kantischen Prinzipien absolut nicht zu begreifen, und er empfindet dies selbst. Für die Anwendung der Kategorien der reinen theoretischen Vernunft auf Anschauungen (welcher die Anwendung des Sittengesetzes auf Objekte des Willens vollkommen parallel, (vgl. a. a. O., Seite 178) hatte er in der transzendentalen Urteilskraft den "Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" aufgestellt. Nun sieht KANT sehr wohl ein, daß er für die reine praktische Urteilskraft zwecks der Anwendung des Sittengesetzes auf empirische Objekte des Willens ein Analogon jener Schemata nicht auffinden kann: stattdessen begnügt er sich damit, das Naturgesetz als den Typus des Sittengesetzes darzustellen (vgl. "Kritik der praktischen Vernunft", Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft, Seite 177f). Aber er übersieht dabei, daß die allgemeine Form der Naturgesetzlichkeit für die Urteilskraft immer noch keine Regel geben kann, nach der sie zu entscheiden wüßte, welche Maxime ihrem Inhalt nach vom moralischen Willen als Naturgesetz gedacht werden darf. Da auch die Naturgesetzlichkeit rein formalen Charakters ist, so liefert auch diese Typik kein Prinzip für eine notwendige Bestimmung empirischer Willensobjekte durch die reine praktische Vernunft. - Wie innig dies mit dem Obigen zusammenhängt, bedarf keiner Erläuterung.