cr-3M. DrobischJ. G. FichteH. Rickert 
 
FRITZ MAUTHNER
Der Atheismus
und seine Geschichte im Abendlande
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"Wer seinen Vorteil wahrnimmt, ist niemals närrisch, nicht, wenn er lügt, nicht, wenn er sinnlos Worte aneinander reiht. Die Theologie hatte ein Interesse daran, die Leugner der Seelenunsterblichkeit als Atheisten zu verdammen und zu verfolgen."

"Der Sprachkritiker denkt gar nicht daran, den Satz,  die Seele des Menschen ist unsterblich  für falsch erklären zu wollen; er versteht ihn nur nicht, wie er auch den Satz  das Davonlaufen des Hasen ist rosenrot  durchaus nicht verstehen würde."

"Gespenst,  nur zufällig an  Hirngespinst  erinnernd, scheint eine alte Lehnübersetzung für Versuchung oder Verlockung des Teufels zu sein; von althochdeutsch  spanan = locken, reizen. Aus der ersten Bedeutung der Beredung oder Versuchung entwickelte sich ganz natürlich die des Blendwerks oder Trugs. Wen man also  Gespenst  sagte, so war mit der Bezeichnung zugleich auch schon der Unglaube an die Wirklichkeit der Erscheinung gegeben, wobei freilich die Frage offen blieb, mit welchen Mitteln der Teufel solche Trugbilder herstellte."

"Von den Griechen erzählte man eigentlich von jeher und besonders sein  Goethe,  daß ihre Weltanschauung licht und heiter gewesen war; auch noch der junge  Nietzsche,  der 1869 in Basel seine Antrittsrede hielt, sang dieses Lied; seitdem lernte er, vielleicht durch  Jakob Burckhardt  beeinflußt, die griechische Unseligkeit verstehen. Schon  Baader  hatte auf die Nachtseite der Antike hingewiesen."


V. Unsterblichkeit

Atheisten hießen, besonders im 17. und 18. Jahrhundert, auch diejenigen Schriftsteller, die die Unsterblichkeit der Seele leugneten; für noch schlimmer hätten die Leute gehalten werden müssen, die nicht an Geister glaubten, denn die Seele fällt unter den Oberbegriff: Geister; in Wahrheit waren die Theologen nicht so genau, trennten die beiden Ketzereien und sprachen von den Gegnern der Unsterblichkeit mit weit größerer Erbitterung als von den Skeptikern, die das Dasein von bösen und guten Geistern anzweifelten. Der Fall liegt nicht gerade so wie bei der Gottlosigkeit, die nichts von Vorsehung und Wundern wissen will. Diese beiden Erscheinungen gehören zum Wesen des abendländischen Gottes; den konnte sich aber ein ganz verwegener Ketzer, der dann freilich kein bibelgläubiger Christ mehr war, so ausmalen, daß er der einzige Geist war und die Seele des Menschen zugleich mit dem Leib untergehen ließ. Die Verbindung zwischen der Leugnung der Unsterblichkeit und der Leugnung Gottes wurde nur dadurch hergestellt, daß das mechanistische Weltbild, das nach dem Wiederaufleben der antiken Naturphilosophie langsam die Wissenschaft eroberte, gleichen Schrittes den Begriff Gottes und seiner Eigenschaften, den Begriff der Seele und ihrer Eigenschaften analysierte. So wenig wie mit dem Gottglauben hatte die sogenannte Unsterblichkeit der Seele mit dem Idealismus etwas zu schaffen, der sich, gerade oder schief, gegen den Sieg des mechanischen Materialismus wehrte; es war ein Mißverständnis, den ewigen Geist auf die Hypothese der Menschenseele zu begründen. Aber aus Trotz gegen die Unerträglichkeiten des Materialismus gelangte die idealistische Philosophie dazu, auch wenn sie nicht nach der Kirche schielte, all das beweisen zu wollen, was der Materialismus leugnete; und so kam es, daß bis tief in das 19. Jahrhundert hinein die unhaltbarsten Begriffe der Theologie die Phraseologie der Philosophenschulen beherrschten:  Gott, Freiheit  und  Unsterblichkeit.  Die Schule von KANT hat auf diesem Gebiet viel gesündigt.

Daß der Glaube an eine unsterbliche Seele nicht notwendig zum Monotheismus gehört, das wird durch die jüdische Religion bewiesen. Die Juden hatten ursprünglich gar keine Verpflichtung, an das hölzerne Eisen eines Leben nach dem Tod zu glauben. Sie besaßen überhaupt wenige Dogmen und keines dieser Dogmen beschäftigte sich auch nur mit der Frage, ob die Seele des Menschen sterblich ist oder nicht. Es gab da bei den Juden der Urzeit wie auch sonst im Morgenland einen weit verbreiteten Animismus und die Vorstellung von einem Schattenreich (Scheol), (3) aber was den Urvätern für ihre Frommheit versprochen war und was als Drohung oder Belohnung die vielen Gebote des MOSES unterstützen sollte, war sehr diesseitiger Natur und setzte ein Leben nach dem Tod nicht voraus. Es ist bekannt, daß zur Zeit JESU CHRISTI die starke und eigentlich konservative Partei der Sadduzäer von einem jenseitigen Leben sprachen; wobei unbestimmt blieb, ob an eine Unsterblichkeit der Seele oder nur an eine Wiederbelebung durch die Auferstehung zu deuten wäre, ob diese Auferstehung allen Menschen oder bloß den Gerechten bevorsteht. Es ist ferner bekannt oder könnte doch bekannt sein, daß JESUS, sonst ein Gegner der pharisäischen Frömmelei, den Auferstehungsglauben übernahm und mystisch vertiefte, daß er aber über all die Fragen, die der Unsterblichkeitsbegriff aufwarf, Klarheit zu schaffen auch nur den Versuch nicht machte. Erst der kirchlichen Theologie war es vorbehalten, den Glauben an die Unsterblichkeit dogmatisch festzulegen und mit schneidender Scholastik unvorstellbare Sätze auch noch zu beweisen. Im wesentlichen kam diese ganze Scholastik nicht über die Wortmacherei heraus, mit der schon Griechen (der Poet PLATON) und Römer (CICERO) schülerhafte Aufsätze über die Unsterblichkeit der Seele geschrieben hatten: die Seele sei ein unstoffliches und überdies ein einfaches Wesen, könne also weder wie ein Stoff vernichtet werden noch wie ein zusammengesetzter Körper in seine Bestandteile zerfallen; andere antike Beweise, die von der Kirche ebenfalls nicht verschmäht wurden, waren noch schlechter. Nur in einem Punkt brachte die christliche Zeit etwas Neues. Im Altertum bestand noch keine unmittelbare, bewußte Verbindung zwischen dem Seelenglauben und dem Götterglauben; man konnte ein Atheist sein und dennoch an der Unzerstörbarkeit der einfachen und unkörperlichen Seelensubstanz festhalten. Das wurde jetzt anders. Die schärfsten Denker unter den Scholastikern ahnten die Schwächen der alten Beweise aus dem Wesen der Seele, sie fügten also den absoluten Beweis aus dem ihnen so genau bekannten Wesen Gottes hinzu. Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele wurde den Menschen in das Gewissen geschoben, das sie ja von Gott auch zu diesem Zweck erhalten hatten. Mit einem Zynismus, der noch niemals genug beachtet worden ist, wurde aus der Elendigkeit der diesseitigen Welt auf die Notwendigkeit einer jenseitigen geschlossen; zwar habe sich der Fromme auf die Vorsehung Gottes zu verlassen, der in seiner Gerechtigkeit die Tugend belohnt und das Laster bestraft, weil aber auf Erden von einer solchen Gerechtigkeit nicht  eine  Spur zu finden ist, so müsse man drüben auf sie hoffen. Was im ganzen bekannten Raum unseres Planeten nicht geschah, was in der ganzen abgelaufenen Zeit nicht geschah, sollte irgendwo und irgendwann eintreffen an einem unbekannten Ort in einer unbekannten Zukunft. Drüben, morgen, nur nicht heute und hier. Diese grobe Jenseitshoffnung ergänzte vortrefflich die diesseite Weltverachtung des Mittelalters.

So gestaltete sich der Unsterblichkeitsglaube zu einem notwendigen Folgesatz des neuen Gottglaubens; und so erst konnte es zu einem Zeichen der Gottlosigkeit werden, nicht nur der Unchristlichkeit, wenn ein Freidenker die Unsterblichkeit der Seele leugnete. Daß der Glaube an die Götter und an die Seelengeister wahrscheinlich den gleichen Ursprung gehabt hatte, das konnte jener Zeit gar nicht in den Sinn kommen. Noch weniger die reizvolle Vermutung: die Furcht vor allen möglichen Gefahren habe die Sehnsucht nach hilfreichen Göttern hervorgebracht, die unmittelbare Todesangst des Sterbenden die Sehnsucht nach einer persönlichen Fortdauer. (Noch der Unsterblichkeitsglaube GOETHEs, nur für sich, nicht für das "Weltgesindel" oder "Monadenpack", war eine solche Sehnsuch des Greisenalters.) Das Mittelalter war nicht so kritisch und die herrschende Kirche ließ die Kritik nicht erst aufkommen. Der Unsterblichkeitsglaube war ein festes Inventarstück der Religion und des Theismus überhaupt geworden. Daran zu rütteln galt für unschicklich. HERBERT von CHERBURY, der Begründer des Deismus, lehrte Lohn und Strafe im Jenseits; und noch KANT verlangte von den armen Menschen, daß sie in sittlicher Beziehung so leben sollten, als ob ihnen die Unsterblichkeit ihrer Seelen verbrieft wäre. Natürlich kam die Herrschsucht der herrschenden Kirche dazu, die für gut hielt, nicht einen einzigen Satz des alten Glaubens preiszugeben. Das Weltgebäude geriet ins Wanken, aber die Kirche bestand auf der unveränderten Ruhe der Erde und auf der Bewegung der Sonne. Ich möchte die Unnachgiebigkeit der Kirche in der Frage der Unsterblichkeit durch ein freundliches Bild ausdrücken. Die Kirche, die Dienerschaft Gottes, ist wie die militärische Dienerschaft des Königs. Der König ist tot. Seiner Umgebung liegt daran - meinetwegen aus Liebe zum Ganzen -, den Tod des Königs zu verheimlichen, den Entschlafenen für lebendig auszugeben. Sie zeigt den geschminkten Leichnam dem Heer, hoch zu Roß, feierlich geschmückt, die zerfetzte Fahne in der Hand. Aber so ein König muß auch regieren. Regieren heißt versprechen. Die Dienerschaft teilt also freigiebig im Namen des toten Königs Versprechungen und Anweisungen aus, unbekümmert darum, wer sie einlösen wird.

Eine sprachkritische Untersuchung der sogenannten Unsterblichkeitsfrage wäre beinahe mit einem Scherz abzutun. Mit dem gleichen Recht, mit dem man die Seele unsterblich nennt, könnte man behaupten, die Teufel wären viereckig, die Engel wären ungefiedert. Weil aber solche oder ähnliche Behauptungen nicht nur aufgestelltm, sondern sogar geglaubt worden sind, wird es doch gut sein, den Satz "die Menschenseele ist unsterblich" einmal genauer anzusehen. (Ich verweise auch auf mein "Wörterbuch der Philosophie", Bd. II, Seite 502f.)

Das Ding, von dem da ausgesagt wird, daß es unsterblich sei, ist für die gegenwärtige Psychologie, die ohne Psyche auskommt, kein Ding mehr, keine Substanz mehr, oder wie man sonst das Subjekt bezeichnen mag, von welchem man die Sterblichkeit bejahen oder verneinen könnte. Das Wort "Seele" mit seiner kleinen Sippschaft mag in der Gemeinsprache noch hundert und mehr Jahre weiter leben, weil die Gemeinsprache allezeit sehr viele Reste der Religion und sonst veralteten "Wissens" mit sich führt; auch in der wissenschaftlichen Sprache ist das Wort "Seele" noch nicht zu vermeiden, weil es häufig eine überreiche Summe von Vorstellungen durch zwei kurze Silben wie in einer mathematischen Formel vertritt. Was man aber unter diesem Wort durch Jahrtausende verstand, das versteht man nicht mehr darunter; die Seele war einmal ein Stoff, dann eine Kraft, immer ein eigenes Wesen; sie ist uns nicht einmal ein Wesen mehr. Die Seele ist nur noch das Wort für eine "Funktion". Ein undefinierbares schwankendes Wort für die Ursache der Erscheinungen, die wir ungenau und tautologisch auch unter dem Ausdruck Seelenleben zusammenfassen. Wobei besonders zu beachten ist, daß eine bestimmte Grenzlinie zwischen Leben und Seele nicht gezogen werden kann; daß der in Frage stehende Satz "die Seele ist unsterblich" im Grenzfall lauten müßte: "Das Einzelleben (das einzige also, wovon das Sterben ausgesagt werden kann) ist unsterblich". Die materialistische Wissenschaft hofft immer noch, die Tatsachen des Lebens oder die Physiologie aus den Tatsachen der Physik ableiten zu können; sie hat baer nach einer fruchtlosen Arbeit von Jahrzehnten die Hoffnung aufgegeben, die Psychologie aus der Physiologie herleiten zu können. Unsere Sprache, natürlich auch die wissenschaftliche Sprache, ist immer sensualistisch, ist daher völlig ungeeignet, das Innenleben der sogenannten Seele oder des sogenannten Lebens auch nur zu beschreiben; ich will hier nicht darauf eingehen, daß die Sprache zuletzt auch für das Innenleben der physikalischen Tatsachen ebenso ungeeignet ist. Ich will nur sagen: wir haben keine Psychologie mehr, außer wir wollten uns auf eine Seelenlehre ohne Seelenbegriff beschränken. Und täten übrigens gut daran, anstatt "Seele" etwa "Geseel" zu sagen, nach beinahe schon kühner Analogie mit Gesicht oder Gehör, durch welche ursprünglich neuscholastischen Worte wir immerhin das Organ der Gesichts- und der Gehöreindrücke bezeichnen. Und haben wir erst das bescheidenere Wort  Geseel  gebraucht, so entdecken wir sogleich, daß wir ein solches gemeinsames Organ gar nicht kennen. Es steht um die Psychologie wirklich schon so wie um die Theologie, ganz genau so; Wissenschaften von einer Kraft, die hier das Weltganze, dort das Seelenleben hervorgebracht hat, nur daß wir von dieser Kraft nichts wissen.

Ich habe ("Kritik der Sprache", Bd. I, Seite 608f und 650f) nachzuweisen versucht, daß auch das Bewußtsein und das Ichgefühl Täuschungen sind, Selbsttäuschungen des großen Zauberers und betrogenen Betrügers  Gedächtnis das Ich ist nicht mehr zu retten. Aber das Bewußtsein und das Ichgefühl sind noch vorstellbare Wirklichkeiten, wenn man sie mit dem Seelengespenst vergleicht, einem hohlen Wortschall, an welchen die Theologie und eine gefügige Philosophie das Adjektiv "sterblich" zu knüpfen pflegt.

Für den Materialisten wie für den ehrlichen Idealisten, für den Skeptiker wie für den gottlosen Mystiker ist "unsterblich" ein sinnleeres Wort, noch sinnleerer als das durch seine Abstraktheit gestützte Wort "unendlich". Nur scheinbar läßt sich jedes Adjektiv durch Vorsetzung der Verneinung "un" in seinen Gegensatz verwandeln; bei "sterblich" z. B. läßt sich diese logische Änderung nicht ausführen. Das negative Adjektiv "unsterblich" schwebt im leeren Raum; wir kennen nichts, wovon wir es aussagen könnten. Außer man will es gegen den Sprachgebrauch so deuten, daß es die Anwendung des Todesbegriffs ausschließt: der Stein ist unsterblich, d. h. er hat keine Beziehung zum Tod, d. h. er ist kein Organismus. In diesem Sinne könnte man am Ende einen logischen oder mathematischen Begriff (Integral, Funktion) zur Not unsterblich nennen: er hat auch keine Beziehung zu dem, was der Tod etwa ist. Doch auch diese Anwendungsmöglichkeit muß fortfallen, wenn man sich die sogenannte Seele, um nicht zu verstummen, als Integral oder als Funktion der Lebensdifferentiale vorstellig machen wollte; das Integral, die Funktion (die "Seele" ist ja eine "Funktion") verschwindet mit allen anderen Lebenserscheinungen zugleich, und nur ein Narr könnte nachher von einem Integral oder einer Funktion noch irgendetwas aussagen wollen: es ist uneckig, ungefiedert, unsterblich. Nur die Theologie ist nicht närrisch, wenn sie solche Sätze baut; wer seinen Vorteil wahrnimmt, ist niemals närrisch, nicht, wenn er lügt, nicht, wenn er sinnlos Worte aneinander reiht. Die Theologie hatte ein Interesse daran, die Leugner der Seelenunsterblichkeit als Atheisten zu verdammen und zu verfolgen.

So gewiß der gewöhnliche Grieche denjenigen für einen Frevler gehalten hätte, der an den Aufenthalt abgeschiedener Seelen im Hades nicht glaubte, der Inder den Leugner der Seelenwanderung, der alte Jude den Verächter der Scheol oder der Hölle; so gewiß galt in der ganzen christlichen Zeit für gottlos, wer an der persönlichen Fortdauer nach dem leiblichen Tod zweifelte. Wie aber überhaupt erst das zu einer Kirchenmacht organisierte Christentum den Dogmenzwang in die Welt gebracht hat, so spielt auch die Unsterblichkeit der Seele im abendländischen Denken des christlichen Zeitalters eine viel größere Rolle als in der antiken Welt und als im Orient. Der Glaube an die Auferstehung  Christi  setzt die Unsterblichkeit der Seele nur voraus; aber das apostolische Glaubensbekenntnis spricht ausdrücklich allgemein von einer "Auferstehung der Toten und dem Leben der künftigen Welt", wenn auch merkwürdigerweise an dieser Stelle nicht wie vorher "ich glaube" (credo) steht, sondern "ich erwarte" (expecto). Man dürfte daraus den Schluß ziehen, daß der Glaube an die Auferstehung und an ein jenseitiges Leben nur als eine psychologische Tatsache erwähnt wird und nicht eigentlich zum  Credo  gehört; sicherlich aber versteht die Kirche diesen Glauben nicht so, sondern als eine Pflicht, als eine der Bedingungen der Seligkeit.

Da nun die übrigen Glaubensartikel um ihrer Wunderbarkeit und Einzigkeit willen für übervernünftig galten, wurden sie auf die Autorität der Bibel oder der Kirche angenommen, mußten gedeutet, brauchten aber nicht bewiesen zu werden; die Unsterblichkeit der Seele jedoch galt für ein Ergebnis des spekulativen Denkens ebenso wie das Dasein Gottes, und darum erfand man für die Unsterblichkeit der Seele nicht weniger zahlreiche Beweise wie für das Dasein Gottes. Man muß da zwischen der Fortdauer der Seele und der Auferstehung am Jüngsten Tag genau unterscheiden; die Auferstehung kann sich, da die unsterbliche Seele nicht erst wieder erweckt zu werden braucht, nur auf den Leib oder das Fleisch beziehen, und diese Vorstellung widerspricht unseren naturwissenschaftlichen Kenntnissen, die von einer Verteilung der Atome des verwesten Körpers in unzählige Pflanzen, Tiere und Menschen wissen, so durchaus, daß diese Auferstehung wieder nur als ein übervernünftiges Wunder angenommen werden konnte. Die Hypothese von BONNET, ein Keim des irdischen Körpers hafte an der Seele und entwickle sich nach dem Tod zu einem neuen und vollkommeneren Leib, war nur ein unglücklicher Versuch, den Glaubensartikel durch scheinwissenschaftliche Gründe zu stützen.

Die meisten Beweise für die Unsterblichkeit der Seele sind, wie die für das Dasein Gottes, Zirkelschlüsse oder gar nur tautologische Definitionen. Der teleologische Beweis, nach dem die Anlagen des kurzlebigen Menschen irgendwie und irgendwo zur Entwicklung kommen  müßten,  setzt die Möglichkeit einer Fortdauer und eine moralische Weltordnung mit ihrem Sollen und Müssen voraus, die dann wieder durch die Unsterblichkeit der Seele bewiesen wird. Ähnlich ist der theologische Beweis aus den Absichten Gottes. Der moralische Beweis aus einer notwendigen Ausgleichung der irdischen Ungerechtigkeiten setzt wieder eine moralische Weltordnung voraus. Der billige analogische Beweis schließt auf die Unsterblichkeit der Seele daraus, daß auch in der Natur aus dem Tod immer neues Leben entsteht, also aus einer naturwissenschaftlichen Überzeugung, die den Ungläubigen  gegen  die persönliche Fortdauer einnehmen kann. Der kosmische Beweis ist eine bloße Träumerei über den möglichen Aufenthaltsort der abgeschiedenen Seelen. Der sogenannte historische Beweis ist entweder eine Berufung auf die Bibel oder behauptet fälschlicherweise, wie der entsprechende Gottesbeweis, die Allgemeinheit des Glaubens, wobei auf die Verschiedenheit der Vorstellungen und auf die Vieldeutigkeit der Sprachworte gar keine Rücksicht genommen wird. Der gemeinsame Zirkelschluß all dieser Beweise ist darin versteckt, daß die Seele als eine geistige Substanz, also gottähnlich aufgefaßt und dann aus dieser Ähnlichkeit von Gott auf die Seele und von der Seele auf Gott geschlossen wird; auch darin steckt schon Tautologie, noch tiefer im Vertrauen darauf, daß den Worten "Seele" und "Unsterblichkeit" auch Sachen zu entsprechen haben, eine Substanz und ein  accidens  [Merkmal - wp].

Eine bessere Form scheint der ontologische, metaphysische oder - richtiger - scholastische Beweis zu haben, der in seinem kürzesten Ausdruck sagt: die Seele ist eine einfache und unkörperliche Substanz und kann darum nicht zerstört werden. Ich sehe in diesem Zusammenhang völlig von der gegenwärtig herrschenden Ansicht ab, die nicht weiß, was eine unkörperliche Substanz sein sollte, und die unter der Seele, wenn sie das Wort der Gemeinsprache gebraucht, eher die äußerst zusammengesetzte Gesamtheit von Äußerungen des Lebens und des Denkens versteht als ein einfaches Wesen. Aber auch vom Standpunkt der alten und neuen Scholastiker, die diesen Beweis vorbringen, wäre höchstens die negative Eigenschaft der Unzerstörbarkeit dargetan; alle positiven Eigenschaften der Seele, wie die Fortdauer und die Erinnerungsmöglichkeit des persönlichen Ich, werden unbedenklich aus dem Volksglauben hinzugefügt, sagen wir ehrlich: aus dem Glauben an Geister. Wenn nun auch dieser Beweis fortfällt, so bleibt für die Unsterblichkeit der Seele keine andere Grundlage übrig, als eine übervernünftige, man hielte sich denn an die psychologische Grundlage der in einem Menschenherzen vorhandenen Sehnsucht. Wie bei der Vorsehung. Genaugenommen beruhen auch die Berufungen KANTs auf die praktische Vernunft in einer solchen Sehnsucht. Wir hoffen auf eine Fortdauer nach dem Tod, wir erwarten sie, wie das  Credo  sagt.

Weil es nun um die Beweise für das Dasein Gottes ebenso steht, weil die nachkantische Zeit die Trüglichkeit aller anderen Gottesbeweise zugeben muß und den Gott nur noch als ein Postulat der praktischen Vernunft oder einer Sehnsucht auffassen kann, darum ist zwischen dem Dasein Gottes und der Unsterblichkeit der Seele eine noch engere Verbindung hergestellt; es gilt also heute noch mehr als in früheren Jahrhunderten der Satz, daß ein Zweifel an der Fortdauer der Persönlichkeit unmittelbar zum Atheismus führt. Wer das Dasein Gottes leugnet, der wird selbstverständlich auch den Nebenumstand leugnen, daß es eine gottähnliche unsterbliche Seele gäbe; wer nur die Sterblichkeit der Seele behauptet, könnte allerdings an den Gott irgendeiner einmal gewesenen Religion glauben, nicht aber an den Gott der abendländischen Vorstellungsmasse. Der Unsterblichkeitsglaube, der der Lehre von der Seelenwanderung zugrunde liegt, verträgt sich sehr gut mit dem atheistischen Buddhismus, aber weder mit unserem Naturwissen noch mit der abendländischen Verachtung der Tiere. Daß die unsterbliche Seele nach dem Tod ihres Leibes in Gott zurückkehrt, ist eher pantheistisch als theistisch. Es ist darum eine Geschichtsfälschung oder richtiger: eine Selbsttäuschung, wenn christelnde Geschichtsschreiber der Philosophie (fast alle) die antiken Denker danach in Böcke und Schafe einteilen, ob sie eine Fortdauer der Persönlichkeit nach dem Tod leugnen oder anerkennen.

Von den Griechen wurde die Frage der Unsterblichkeit der Seele vielfach erörtert, aber - wohlgemerkt - nicht eigentlich als eine religiöse Frage. Weil die Verteidiger der Unsterblichkeit immer wieder von unseren Theologen angeführt werden, die Leugner der Unsterblichkeit immer wieder von unseren Materialisten, darum kommt es so heraus, als ob z. B. PLATON um solcher Sätze willen ein Theist, LUKRETIUS um solcher Sätze willen ein Atheist zu nennen ist. Richtig ist nur, daß schon in so alter Zeit der Wortaberglaube die vorhandenen Begriffe oder Ideen:  Gott, Unsterblichkeit  usw. allesamt für Wirklichkeiten hielt, die Neigung zum Zweifel jedoch von der Wirklichkeit all dieser Begriffe absehen lehrte. Durfte schon über das Dasein der Götter im allgemeinen - wenn man nur die Lokalgötter nicht lästerte - mit einer uns fremden Freiheit geschrieben werden, so war die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele - am Dasein von Seelen zweifelte niemand - vollends ein Gegenstand völlig ungehemmter philosophischer Untersuchungen. Dazu kommt, daß die Alten zu ihrem Glück im schlimmsten Fall Sophisten waren, in keinem Fall Scholastiker oder gar christliche Scholastiker. Es machte ihnen nicht viel aus, ob die Seele eine körperliche oder eine unkörperliche Substanz ist. Den Stoikern z. B. war Gott ungefähr eine Weltseele, aber die Menschenseele war ihnen doch irgendein dünner Körper, ein  spiritus;  und wenn ein Teil Gottes ein dünner, luftförmiger Körper ist, so muß Gott selbst auch ein solcher Körper sein. Wie denn der billige Scherz, Gott sei ein luftförmiges Wirbeltier, zwar von den Theologen für blasphemisch erklärt wird, aber so ungefähr der Geistervorstellung des Volksglaubens entspricht, also der psychologischen Wirklichkeit der Religion. PLATON darf also nicht verschriftlicht werden um des einen Zuges willen, daß er begeistert von der Unsterblichkeit der Seele redete; es ist fast eine Äußerung der sogenannten historischen Gerechtigkeit, daß der Logiker ARISTOTELES zum eigentlich christlichen Philosophen gemacht wurde und daß der Ruhm PLATONs erst seit dem Anbrechen der antichristlichen Renaissance neu erglänzte; eine spätere Zeit wird PLATON als den Begründer des verhängnisvollen Wortrealismus - Seele und Unsterblichkeit sind Prachtstücke des wortrealistischen Irrtums - gering achten und nur noch den Schriftsteller etwa bewundern.

Unklare Wortmacherei ist es, wenn ARISTOTELES in der Seele zwischen Leben und Geist unterscheidet, das Lebensprinzip sterben läßt, den Geist allein dauern; aber diese Unterscheidung hat bei vielen Stoikern nachgewirkt, während andere Stoiker, wie EPIKTET und der Kaiser MARC AUREL, die individuelle Unsterblichkeit leugnen. Ja diese gedankenlose Wortmacherei wird neuerdings von deutschen Darwinisten gern wiederholt, wie wenn CARNERI ausdrücklich sagt: "Der Geist ist unzerstörbar wie die Materie; aber der einzelne Geist ist zerstörbar wie der einzelne Körper;" selbst bei FEUERBACH finden sich, trotz der entschiedenen Leugnung einer unsterblichen Seele, so verschwommene Redensarten von der Ewigkeit des Geistes. Als ob der Geist etwas anderes wäre als ein Gesamtwort für Äußerungen des Innenlebens, als ob der Geist der substantivischen Welt angehörte und nicht einzig und allein der verbalen Welt.

Überhaupt liegt es in der Natur der Sprache, daß die Versuche, etwas Bestimmtes über die Unsterblichkeit der Seele durch spekulatives Denken auszumachen, in alter und neuer Zeit oft übereinstimmen. Nur wo das christliche Dogma einfach geglaubt wird, reißt der Faden der Tradition ab. FEUERBACH erblick im Glauben an die Unsterblichkeit nur den Ausdruck eines Wunsches; dasselbe sagt der heilige Thomas, nur daß er fromm hinzufügt, ein natürlicher Wunsch könne nicht eitel sein. Dazu kommt, daß die Überzeugung von der Sterblichkeit der Seele ebenso wie der Atheismus von vielen freien Denkern des Mittelalters und der folgenden Jahrhunderte vorsichtig verschwiegen wurde. Die Averroisten und auch die italienischen Alexandristen hatten zwar die individuelle Unsterblichkeit geleugnet und der Alexandrist POMPONATIUS zumindest die Beweise für die Unsterblichkeit für ungenügend erklärt, aber CAMPANELLA, BRUNO, CARDANUS, sodann DESCARTES, GASSENDI und CHARRON kehrten zum Dogma zurück, ob ehrlich oder nicht, ist im einzelnen Fall schwer zu entscheiden. Anders liegt der Fall bei SPINOZA; bei ihm scheint der menschliche Geist insofern unsterblich zu sein, als er ein Teil des göttlichen Geistes ist; da aber SPINOZA einen außerweltlichen und persönlichen Gott nicht kennt, wird er auch schwerlich an eine persönliche Fortdauer der Menschenseele gedacht haben.

Wie entschieden HUME die Unsterblichkeit leugnete, sehen wir an anderer Stelle. Mit weniger guten Gründen, aber mit der ganzen Kraft einer gottlosen Weltanschauung lehrten die französischen Materialisten (nicht in der Enzyklopädie) das gleichzeitige Sterben der Seele und des Leibes. KANT, wie wieder viel später ausführlich zu lesen ist, machte es mit der Unsterblichkeit der Seele wie mit dem Dasein Gottes: er ließ die alten Beweise durch die logische Vernunft auf dem Tempel hinauswerfen, bis auf einen, den er durch die praktische Vernunft wieder einführte. Und er sah ebensowenig wie die früheren Prediger des moralischen Beweises, daß zumindest für die ausgleichende Gerechtigkeit oder für Lohn und Straf ein Dutzend Seelenjahre nach dem leiblichen Tod genügen würden und die Ewigkeit in Lohn und Straf eine Ungerechtigkeit wäre. Bei SCHOPENHAUER ist die Unvergänglichkeit des Wesens durchaus nicht als eine persönliche Fortdauer zu verstehen. Für die Gegenwart kann man wohl sagen, daß die Verbreitung des Atheismus sich ungefähr mit der Verbreitung des Zweifels an der Unsterblichkeit deckt. Ohne Gott hat die Unsterblichkeit keinen Sinn, ohne Unsterblichkeit hat der Gottesbegriff keinen Zweck. Anstelle der rechtgläubigen oder der deistischen Theologie ist bei allen neuen Denkern, die nicht rückständig sind an Kopf oder Herz, die vergleichende Religionswissenschaft getreten, die das Entstehen und die Entwicklung religiöser Vorstellungen erforschen möchte; ebenso sind die Beweise für die Unsterblichkeit der Seele verdrängt worden durch die Frage nach der psychologischen Entstehung dieses Glaubens. Vom Standpunkt der Sprachkritik ist es - wie gesagt - ganz und gar verkehrt, auch nur den Begriff "Unsterblichkeit der Seele" zu fassen, also eine unbegreifliche Eigenschaft von etwas auszusagen, das niemals der substantivischen, sondern immer nur der verbalen Welt angehört. Der Sprachkritiker denkt gar nicht daran, den Satz, "die Seele des Menschen ist unsterblich" für falsch erklären zu wollen; er versteht ihn nur nicht, wie er auch den Satz "das Davonlaufen des Hasen ist rosenrot" durchaus nicht verstehen würde.

Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele ist aber aufs Engste mit dem Glauben an das Vorhandensein sogenannter Geister verbunden; der alte Animismus steckt in beiden Vorstellungen, die von der subtilsten Form des Animismus, dem Gottglauben, nicht zu lösen sind. Denn der liebe Gott ist ein "Geist". Wie derjenige, der die Vorsehung und das Vorkommen von Wundern nicht glaubte, nur eine Eigenschaft oder eine Wirkungsart des abendländischen Gottes zu leugnen schien, nicht aber geradezu sein Dasein, so stand es auch um die Denker, die an der Unsterblichkeit der Seele oder am Seelenbegriff selbst Kritik übten; nur daß der Gegner der Vorsehung mehr in den Verdacht der Unchristlichkeit, der Gegner der Seele mehr in den Verdacht der Gottlosigkeit geriet. Wer sich nun aber gegen das Dasein von guten und bösen Geistern aussprach, wurde zwar, weil die Bibel von beiden voll war, für einen argen Ketzer gehalten, für einen Unchristen, für einen Adämonisten, aber ein Atheist brauchte er nicht gleich zu sein, solange er nur die erschaffenen Geister leugnete, nicht aber den unerschaffenen Geist, welcher Gott allein war. Kümmern wir uns aber nicht um solche scholastische Haarspaltereien, die sich im Kreis drehen müssen, weil der Begriff der Schöpfung den abendländischen Gottesbegriff schon voraussetzt, weil der unerschaffene Geist also bereits eine Erschleichung ist, so steht und fällt allerdings der Gottesglaube mit dem Geisterglauben. Gibt es keine Geister mehr, so gibt es eben die Gattung nicht, zu welcher das unvergleichliche Individuum Gott gehört.

Die neuere vergleichende, d.h. geschichtliche Religionsstunde ist im Grunde darin einig, daß der Mensch durch seinen Geisterglauben zu seiner Gottesvorstellung gekommen ist. Der katholische Gelehrte, der solche Untersuchungen ablehnt und den Gottesbegriff auf eine Offenbarung zurückführt, scheint mir wieder einmal viel verständiger und folgerichtiger zu denken als der protestantische, der die Vielgötterei ganz modern aus dem Geisterglauben herleitet, nachher aber für den wahren Glauben an den einzigen Gott der Juden und Christen treulich die Offenbarung bemüht. Daß die vergleichende Religionswissenschaft verschiedene Ursprünge des Gottesbegriffs anzunehmen genötigt ist, darf uns weder überraschen noch irremachen. Sie unterscheidet zwar zwischen Fetischdienst, Seelendienst und Sternendienst als zwischen ungleichen Formen des ältesten Volksaberglaubens; wenn wir uns aber durch ungleiche Wörter so nicht täuschen lassen, werden wir sofort sehen, daß überall ein und derselbe Geisterglaube zugrunde liegt, der sogenannte Animismus. Ich brauch wohl nicht erst zu erwähnen, daß ich da berechtigt bin, die Wörter "Seele" und "Geist" als gleichbedeutend zu gebrauchen; ich darf daran erinnern ("Wörterbuch der Philosophie", Bd. I, Seite 376), daß fromme Katholiken noch heutzutage der gleichen Meinung sind, wenn sie z. B. das merkwürdige Gebilde, das als Seele im Fegefeuer leidet, als Geist erscheinen lassen. Wenn die Seele "sich verzeigt", wird sie zum Geist.

Die Herkunft der Gottesvorstellung aus dem Geister- oder Seelenglauben wird von der Wissenschaft gelehrt, seitem TYLOR in seinem Buch "Primitive Culture" (1871) das Schlagwort "Animismus" geprägt hat; schlecht geprägt, weil das Wort eher die Anschauung vermittelt, ein Seelisches sei das Prinzip des Lebens, die Seele baue sich den Körper auf, wie das seit den ältesten Zeiten von gottlosen und gottgläubigen Naturphilosophen immer wieder behauptet worden ist und auch nicht widerlegt werden kann, wenn man nicht etwa sprachkritisch den Seelenbegriff in Frage stellt und so nicht nur die Lösung, sondern die Problemstellung selbst ablehnt. LIPPERT hat für Animismus den besseren Ausdruck "Seelenkult" gebraucht.

Der Animismus oder der Seelenkult scheint vielen Frommen so gefährlich, daß sie gern wieder eine Uroffenbarung an seine Stelle setzen und selbst die Vielgötterei aus einer Entartung eines uroffenbarten Monotheismus erklären möchten; die Halben lassen nur die Vielgötterei aus dem Animismus entstehen und gründen den "wahren" Glauben auf Offenbarung. In Wahrheit unterscheidet sich meines Erachtens der Seelenkult der wilden Völker ganz und gar nicht von der Gemeinpsychologie und der Gemeinfrömmigkeit unserer hochgebildeten Zeit. Im einen wie im anderen Fall handelt es sich um die uralte und scheinbar unausrottbare Neigung des Menschen, seine Welt zweimal zu setzen, einmal als Erscheinung und noch einmal als  Ding-ansich als Ursache oder wie man "Das hinter der Erscheinung" nennen mag. Man begnügt sich nicht mit den elektrischen Erscheinungen, man redet überdies noch von der Elektrizität; man begnügt sich nicht mit den Lebenserscheinungen, man redet überdies noch von einer Seele oder gebildeter von einem Vitalismus. Wie der Hund DARWINs, der einem vom Wind (animus, aneyma) bewegten Schirm für lebendig hielt und anbellte, wie das Kind die Ursache des Spiegelbildes hinter dem Spiegel sucht, so benahm sich der natürliche Mensch ähnlichen Erscheinungen gegenüber: beseelte alle Naturgegenstände, die er sich nach dem Stand seiner Kenntnisse nicht zu erklären vermochte. Heute glaubt man nur noch an ein Dutzend Naturkräfte, in alter Zeit sah man unzählige Kräfte oder Geister oder Seelen hinter Flüssen, Felsen, Bäumen und Tieren; heute glaubt nur noch der Pöbel mit den nekromantischen Spiritisten an die Erscheinungen abgeschiedener Menschenseelen, einst war dieser Glaube noch weiter verbreitet; heute ist der Ahnenkult zu einer symbolischen Macht abgeblaßt, einst war er als Penatendienst und Totemismus sehr lebendig. Eine feste Grenze zwischen Seelenkult und Götterglauben ist nicht zu ziehen. Die Geister hinter den Flüssen, Felsen, Bäumen und Tieren waren als Dämonen halbe oder dreiviertel Götter; auch die Geister der Ahnen waren als Heroen Halbgötter. Wir sagen so: Halbgötter und bilden uns etwas auf diese Unterscheidung ein; für die Gläubigen hatten aber diese Halbgötter recht viele von den Eigenschaften, die wir einem Gott zuschreiben. Insbesondere die Dämonen sind von den christlichen Engeln und Teufeln kaum zu unterscheiden; und der berühmte Monotheismus hinderte die Christen nicht einmal, an das leibhaftige und wirksame Dasein der antiken Hauptgötter, nicht nur der Halbgötter, fest zu glauben und sie als böse Geister umgehen zu lassen. Der Gottglaube ist wirklich nur ein Spezialfall des allgemein verbreiteten Geisterglaubens, des sogenannten Animmismus. An dieser Tatsache wird nicht viel geändert durch den Sprachgebrauch, der von einem Gott als einem der Geister eher in philosophischen oder poetischen Schriften redet als in Äußerungen ungelehrter Frömmigkeit; der Grund mag darin liegen, daß der Begriff  Gott  zu hoch emporgeschraubt worden ist, der Begriff "Geister" durch eine tausendjährige Gespensterwirtschaft zu tief heruntergekommen ist, um eine Zusammenstellung der beiden Begriffe für den Theologen erfreulich zu machen.

Bringt man also die Beobachtungen, die Rudimente eines alten Seelenkultes in so vielen Religionen nachgewiesen haben, in hergebrachter Weise auf eine Formel - etwa auf die: "der Animismus ist das Prinzip aller Religion" -, so liegt es auf der Hand, aus welchem Grund ein Atheist genannt wurde und wird, wer die Geister leugnet. Wer das Prinzip verwirft, der verwirft auch seine höhere Form, hier also die Religion usw. Aber die Formel ist gar nicht so eindeutig, wie sie dem Wortaberglauben vorkommt. Zunächst müßte man sich darüber klar werden, ob man unter "Prinzip" den geschichtlichen Anfang oder nur den logischen Ausgangspunkt versteht. Sodann, und in beiden Fällen, dem der historischen und dem der begrifflichen Entwicklung, macht es einen gewaltigen Unterschied, ob man im letzten Ergebnis der Reihe, also in der gegenwärtigen Landesreligion des Fragers, eine tiefe Wahrheit oder eine neue Form des alten Aberglaubens erblickt, ob man fromm oder gottlos ist. Der Gottlose hält es für sein gutes Recht, alle Geister zu leugnen; und nur der Fromme erklärt es für ein Unrecht, dem Gottglauben durch eine Leugnung des geschichtlichen oder begrifflichen Anfangs den Boden zu entziehen; was freilich nicht erst zu beweisen war.

Die begriffliche Entwicklung der Religionen aus der Annahme einer selbständigen Seelensubstanz oder eines Geistes ist nun ebenso gewiß eine spätere und bewußte Gedankenarbeit wie die geschichtliche Entwicklung aus dem primitiven Seelenkult ein unbewußtes Wachsen und Werden gewesen sein mag. Ich neige also zu der Ansicht, daß der sogenannte Animismus wirklich die älteste Form jedes supranaturalistischen Glaubens oder Aberglaubens war; für das uralte Vorkommen des Animismus sprechen - um es ganz kurz zu sagen - die beiden Entdeckungen: daß die Menschensprache ihrem Wesen nach auf Metaphern beruth, also sicherlich zunächst auf Personifikationen, und daß auch das Tier (der Hund) nicht ganz frei ist von der religiösen Versuchung, die Ursache von Bewegungen zu personifizieren. Ich habe nur noch zu erklären, warum ich - wie vorhin angedeutet - auch die beiden anderen Hypothesen der Religionsbildung, den Sternenaberglauben und den Fetischaberglauben, für Erscheinungen halte, die dem Animismus verwandt sind.

Der Sternenkult, der ohne Zweifel sehr alt ist, aber doch schon einige astronomische Beobachtungen voraussetzt, würde richtiger Sonnen- und Planetenkult heißen; denn die Beschäftigung mit den übrigen Sternen und mit den phantastischen Sternbildern kann erst später hinzugekommen sein, während das ehrfürchtige Staunen über die Regelmäßigkeit des Sonnensystems über uns, die einem KANT noch eine Andacht einflößte wie vor dem moralischen Gesetz in uns, sich schon in der Urzeit jedem Hirten und dann jedem Schiffer aufdrängen mußte. Die Entwicklung des Sternendienstes ging bald in zwei Richtungen auseinander; die menschliche Neigung zur Welterklärung mag eine Befriedigung darin gefunden haben, hinter der Ordnung des Sternenlaufs eine ordnende Hand zu erblicken, hinter dem Uhrwerk einen Uhrmacher, so daß man wohl sagen kann, die Einheitlichkeit der Himmelsordnung habe die Vorstellung von einer einheitlichen Leitung nahegelegt, den sogenannten Monotheismus; die andere menschliche Neigung, die zu Zauber- und Wunderwerken, mag die einzelnen Planeten mit mächtigen Geistern beseelt und so wiederum zu einem beschränkten Polytheismus und zu den wüsten Vorstellungen der Astrologie geführt haben. Wie dem auch sei: die Personifizierung einer Ursache der regelmäßigen Planetenbewegung fällt ebenso unter den Begriff des Animismus wie die Vorstellung, daß jeder der alten fünf oder sechs Planeten von einer besonderen Gottheit gelenkt wird. Der hübsche Aberglaube, daß hinter jedem Fluß, Felsen, Baum oder gefährlichen Tier eine beseelte Macht steckt, konnte begreiflicherweise mit gesteigertem Verwundern auf die Sonne und die Planeten ausgedehnt werden. Es war gar kein Anlaß, diesen Sternendienst, den meines Wissens DUPUIS zum erstenmal aufklärerisch zum Ursprung aller Religionen machte, dem Animismus ausschließend entgegenzustellen. Nur die Gewohnheit der Gelehrten, ihre eigene große oder kleine Entdeckung auf Kosten früherer Hypothesen zu überschätzen, machte die seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer zahlreicheren Verteidiger der Astrolatrie zu Gegnern des Animismus; vielleicht auch darum, weil die Grundlage des Seelenkults leichter geleugnet werden konnte als die Grundlage des Sternenkults, weil also die Regelmäßigkeiten unseres Sonnensystems sich bequemer der Landesreligion anpassen ließen.

Nicht ganz so einfach liegt die Verbindung mit dem Animismus bei der dritten unter den Hypothesen der Religionsbildung, dem Fetischismus. Auch dieser Ableitungsversuch wurde zunächst in aufklärerischer Absicht unternommen, nicht ohne böswillige Anspielungen auf den Katholizismus, um der Religion eine möglichst niedere Abkunft vorwerfen zu können. Der Fetisch schient unter den Göttern aller Völker und aller Zeiten der erbärmlichste zu sein: ein alter Spieß, eine elende Puppe, ein Kuhschwanz. Mit viel Gelehrsamkeit wurde das Altertum des Fetischdienstes zuerst von de BROSSES nachgewiesen (1760); mit seiner ganz erstaunlichen Gedankenbaukunst hat dann AUGUSTE COMTE den Stufengang vom Fetischismus den Polytheismus zum Monotheismus dargestellt; LUBBOCK ist ihm gefolgt und har nur irgendeinen Atheismus (welchen?) an den Anfang anstatt an das Ende der Entwicklung gestellt. Und seitdem HEGEL den Fetischismus die niedrigste Religionsform genannt hatte, fehlte es auch in Deutschland nicht an Kulturforschern, die den Fetischismus, und nicht den Animismus, zum Urphänomen der Religion machten. Dabei wurde immer der psychologische Vorgang übersehen, der den Gläubigen allein dazu bringen konnte, vom alten Spieß, der Puppe oder dem Kuhschwanz eine erfreuliche Zauberwirkung zu erwarten. Eine Vergeistung oder Beseelung, kurz eine Vergottung des Dings muß vorausgegangen sein, bevor der arme Schwarzafrikaner zum Ding als zu einem übernatürlichen Helfer betet; hat das Gebet keinen Erfolg gehabt und schmeißt der Schwarze nun das Ding beiseite, so hat er nicht etwa seinen Gott verächtlich behandelt, sondern nur ein totes Ding, das die Probe auf Göttlichkeit nicht bestanden hat. So scheint mir der Neger mit seinem Fetisch nicht ganz so tief zu stehen wie etwa der italienische Räuber, von dem so oft erzählt worden ist, daß er das Heiligenbild, das ihm beim letzten Anschlag geholfen hat, durchprügelt, es aber vor seiner nächsten Unternehmung wieder um Beistand bittet.

Die Aufklärung hatte bei der Bekämpfung des Geisterglaubens eine noch gefährlichere Aufgabe als bei der Bekämpfung der Unsterblichkeits- und Vorsehungslehre; das Wort "Geist" hatte in einem schwer entwirrbaren Bedeutungswandel das und jenes auszudrücken übernommen, der ursprüngliche Sinn aber, der einer belebenden Kraft, war niemals völlig verschwunden. Dazu kam der heimliche Materialismus, der sich nur schlecht hinter einem Supranaturalismus des Volksglaubens versteckte; mochten die Theologen noch so geschickt den Gott als einen reinen Geist definieren, die unverkünstelte Frömmigkeit stellte sich den großen Geist, der die Welt hervorgezaubert hatte, genau so sinnlich-übersinnlich vor wie die kleinen Geisterchen, die ihr Spukwesen auf der Erde trieben: so ungefähr als nicht grob körperliche, also als fein körperliche, luftförmige, schattenartige (der Schatten ist da ein Ding) Menschen oder Übermenschen, jedenfalls als menschenähnliche Verursacher von Geschehnissen, die nach dem ordentlichen Naturlauf nicht geschehen. Wer nun das Dasein von Geistern überhaupt leugnet, leugnet wirklich das Dasein des luftförmigen Zauberers, der die Ursache der Welt war. Genau genommen wurde das dadurch nicht anders, daß die Aufklärer das zweideutige Wort "Geist" zu meiden anfingen und "Gespenst" sagten, wenn sie die Erscheinungen abgeschiedener Seelen für Trugbilder erklären wollten. "Gespenst", nur zufällig an "Hirngespinst" erinnernd, scheint eine alte Lehnübersetzung für Versuchung oder Verlockung des Teufels zu sein; von althochdeutsch "spanan" = locken, reizen. Aus der ersten Bedeutung der Beredung oder Versuchung entwickelte sich ganz natürlich die des Blendwerks oder Trugs. Wen man also "Gespenst" sagte, so war mit der Bezeichnung zugleich auch schon der Unglaube an die Wirklichkeit der Erscheinung gegeben, wobei freilich die Frage offen blieb, mit welchen Mitteln der Teufel solche Trugbilder herstellte. Denn - und wer das nicht zugab, machte sich unbedingt wieder des Atheismus verdächtig, nicht nur der Unchristlichkeit - der Teufel selbst war ein Geist und kein Gespenst, wurde sogar noch viel körperlicher vorgestellt als andere Geister.

Daher auch die ängstliche Scheu, mit welcher auch entschiedene Aufklärer der Leugnung der Geister aus dem Weg gingen. Der Geisterwahn war Zauberwahn. Der Teufel und seine Hexen waren Zauberer wie Gott und seine Engel; die Verbindung war eine so enge, daß auch die prächtigen Bekämpfer des Hexenwahns, von MEYER und BEKKER bis SPEE und THOMASIUS, es nicht wagten, den Teufel und seine Hexen für Gespenster, für Trugbilder einer schlechten Phantasie zu erklären. Wurden erst solche Geister zu Gespenstern, dann konnte die Reihe auch an Gott und seine Engel kommen.

Bei der Vorsicht, die von den meisten Aufklärern in der Ausdrucksweise geübt wurde, ist es schwerer auszumachen, wer zur Vernichtung des alten Geisterwahns das meiste beigetragen hat. Entschieden wurde der Sieg jedenfalls erst, in der öffentlichen Meinung zumindest, durch die Ausbreitung des Materialismus oder Sensualismus im 18. Jahrhundert; dieses Verdienst soll dem harten Schädel des Materialismus nicht abgesprochen werden. Nur daß ein neuer Aberglaube anstelle des alten trat, ein neues Dogma, nur daß also jetzt der "Stoff", von dem wir nicht mehr wissen als vom Geist, in alter Weise geisterte und zauberte; der widernatürlichen Zauberei wurde freilich ein Ende gemacht, doch die ganze Natur wurde darüber zu einem Gespenst.

Eine Lösung dieser Fragen konnte nur die Erkenntniskritik bringen, eigentlich erst die Sprachkritik. Der Geisterwahn war in vorwissenschaftlicher Zeit ganz von selbst entstanden und wurde in der Sprache der christlichen Scholastik zu einem System ausgearbeitet. Alle Geister wurden - Gott nicht ausgenommen - für immaterielle Substanzen erklärt, auf gut deutsch: für unkörperliche Körper. Nicht erst die eigentlichen Aufklärer, vielmehr schon die freien Denken SPINOZA und HOBBES wiesen dieses Gerede zurück; SPINOZA durch die immer noch scholastische, aber grundstürzende Annahme einer einzigen Substanz, HOBBES durch seinen überlegenen Spott über die unkörperliche Körperlichkeit.


VI. Altertum ohne Katechismus

Wir haben gesehen, daß die Befreiung vom Glauben an die Vorsehung, an die Unsterblickeit der Seele, an die Wunder insofern doch einen Kampf gegen den Gottesbegriff in sich faßt, als diese Vorstellungen zwar nicht unmittelbar zum Wesen des abstrakten Gottes gehören, aber doch zu seinen Eigenschaften; und die Eigenschaften sind vom Wesen kaum zu trennen. Ich wollte mit all diesen Ausführungen eigentlich nur begründen, weshalb ich mich berechtigt und verpflichtet fühle, alle diese religiösen Zweifel in einer Geschichte der Gottlosigkeit einen breiten Raum einnehmen zu lassen. Ich hätte den Zusammenhang noch allgemeiner ausdrücken können: es gibt gar keinen abstrakten Gottesbegriff, und darum ist der Kampf um Gott, dessen Geschichte ich bieten will, wirklich nur der Kampf um den bestimmten Gott des christlichen Abendlandes; schon darum durfte ich mich nicht auf die verhältnismäßig seltenen Fälle der radikalen, theoretischen, ich möchte sagen konfessionslosen Gottesverneinung oder Gottesleugnung beschränken, darum mußte ich alle antichristlichen Richtungen, auch die vorsichtigeren und selbst die maskierten, in meine Darstellung einbeziehen: den Sozinianismus, den Deismus und das ganze weite Gebiet der Freidenkerei und der Aufklärung. Ja sogar die Forderung einer religiösen Duldsamkeit, weil sie der christlichen Religion ebenso fremd ist wie vielleicht der Religion  Christi  nahe steht, mußte für die gesamte christliche Zeit in den Rahmen dieser Darstellung einbezogen werden. Duldsamkeit hört eigentlich erst in unseren Tagen langsam auf, ein Zeichen verwegener Freidenkerei zu sein; volle Gleichberechtigung der Menschen verschiedener Konfessionen herrscht auch heute noch nicht.

Doch auch die weite Ausdehnung, die ich so dem Kampf gegen den Gottesbegriff gebe, zwingt mich nicht, verpflichtet und berechtigt mich nicht, die Freidenkerei und die religiöse Duldung der Griechen und Römer in gleicher Weise zu behandeln wie die Forderung von Freidenkerei und Duldung der letzten anderthalb Jahrtausende. Alle diese Begriffe werden gefälscht oder in ihrer Bedeutung unbewußt verändert, wenn man sie auf das Altertum anwendet.

Der gläubige Christ war zweimal darauf eingeschworen, daß er sein ewiges Heil einbüßte, wenn er gegen irgendein Dogma Zweifel hegte oder gar gegen das Dasein Gottes; er wurde dadurch ein Ketzer. Der christliche Fürst oder Staatsmann, wenn er gläubig war, durfte einen Zweifler oder Ketzer unter seinen Beamten nicht haben, durfte einen Zweifler oder Ketzer des bösen Beispiels wegen überhaupt nicht im Lande dulden; ganz abgesehen davon, daß dem Fürsten oder Staatsmann von der Geistlichkeit die Ausrottung jeder Ketzerei zur Pflicht gemacht wurde. Im Altertum dagegen gab es keine theologischen Sätze, auf die der einzelne eingeschworen gewesen wäre; die Gottlosigkeit in Athen, deren allgemeine Verbreitung PLATON in einer seiner letzten Schriften, also kurz vor der Mitte des 4. Jahrhunderts beklagt, ist ja niemals ein Zweifel an irgendeinem angeblichen Gotteswort; die vorurteilslose Erforschung der Natur war freigestellt und auch die materialistische, mechanistische, atomistische Naturerklärung war nicht gottlos, solange der Lehrer den in der Stadt üblichen Gottesdienst nicht vernachlässigte oder verhöhnte. Der Gottesdienst gehörte zu den Einrichtungen des Stadtstaates, nicht mehr und nicht weniger als im Mittelalter und noch etwa zwei Jahrhunderte länger die christlichen Kleiderordnungen zu den sittlichen Einrichtungen unserer Städte gehörten, und wie die Kleiderordnungen des Mittelalters, so wurden auch die Gebräuche des heidnischen Gottesdienstes bald strenger geschützt, bald einer gewissen Willkür preisgegeben. Im Altertum waren die Anklagen auf Gottesleugnung eigentlich immer nur - wie oft genug gesagt - Anklagen auf Vernachlässigung oder Störung des Gottesdienstes; die nicht sehr zahlreichen Prozesse gegen Gottlose waren also im Grunde immer politische Prozesse, auch dann, wenn nicht ausdrücklich überliefert ist, daß politische Gegner die Anklage betrieben hatten. Der Umstand, daß hier und da - wie im berühmtesten Fall, dem des SOKRATES - die Todesstrafe verhängt wurde, darf uns nicht irremachen und darf uns nicht an die Greuel der Inquisition denken lassen; die Griechen und gar erst die Römer waren im Strafvollzug rechte Barbaren und achteten das Leben nicht hoch, wenn sie auch von der teuflischen Grausamkeit christlicher Glaubensrichter nichts wußten; etwas von der Gleichgültigkeit gegen Todesqualen geht ohne Sentimentalität durch die antike Welt.

War aber nur der volkstümliche Gottesdienst gesetzlich geschützt, nicht irgendeine theologische Götterlehre, so konnte noch weniger der Glaube an andere Götter als die landesüblichen gesetzlich verboten werden; der Polytheismus war seinem Wesen nach duldsam. Wohlgemerkt, die alten, eingebürgerten Götterkulte sollten nicht vernachlässigt oder gestört werden; desto besser, wenn der Fromme noch anderen Göttern opferte, wie dann nachweislich manche Götter, die jetzt zur ältesten griechischen Mythologie zu gehören scheinen, jüngere Importe sind. Und das ist der Hauptunterschied zwischen der Duldung als einer Forderung der Freidenkerei und der Duldung im Altertum: die berüchtigte Vielgötterei der Griechen und Römer war, in den philosophisch gebildeten Kreisen zumindest, so monotheistisch, daß eigentlich nur etwas Göttliches oder ein göttliches Etwas verehrt wurde, die Verehrung sich nach freier Wahl an diesen oder jenen Lokalgott richten konnte, die Götter aufeinander nicht eifersüchtig waren, zu religiöser oder gottesdienstlicher Unduldsamkeit so gar keine Veranlassung vorlag. Daß der Monotheismus aber bereits bei den Juden nicht echt war, nur ein exklusiver Dienst des jüdischen Lokalgottes, der gegen die dämonischen Götter der Nachbarvölker eiferte, daß das Christentum sogar die Heidengötter nicht leugnete, sondern sie wieder nur zu Dämonen oder Teufeln herabdrückte und alle Ketzer als von solchen Teufeln besessene Menschen verfolgen zu müssen glaubte. Man könnte das Verhältnis der antiken und der christlichen Zeit zur Duldungsfrage auch so ausdrücken: die Griechen und Römer waren von Haus aus duldsam, besser noch, sie kannten den leise herabwürdigenden Begriff der Duldung gar nicht, sie freuten sich vielmehr, das Göttliche in den religiösen Vorstellungen anderer Völker wiederzufinden; das Christentum (wie vorher das Judentum) war von Haus aus unduldsam, eifersüchtig, der eigene Gott durch seine Priesterschaft herrschsüchtig, so daß schon die unwürdig bescheidene Forderung der Duldung als eine Auflehnung herauskam, als eine Auflehnung gegen den Alleinherrscher, der die Welt und die Unterwelt regierte. Die Griechen konnten gar nicht unduldsam werden, weil sie wohl eine Religion besaßen, aber keine Kirche; unduldsam war höchstens der Mysterienkult, der wirklich so etwas wie eine Kirche in das freie Wesen des Altertums hineinbrachte: einen geheimnisvollen (heute noch nicht ganz entschleierten) Kult, eine Heilansage für alle Glaubensgenossen, Ausschließlichkeit also, und die sonst den Griechen fremde Propaganda. Man hat die Mysterien von Eleusis oft mit der Mystik des christlichen Mittelalters verglichen; ich fürchte, man hat sich durch den etymologischen Zusammenhang der beiden Bezeichnungen verführen lassen. Mag man bei der heiligen Handlung an die katholische Messe denken oder bei einem sonstigen Treiben in Eleusis an die andere Messe, die Marktmesse, just die mystische Einheit fehlt.

Hatte ich so die Pflicht, den Begriff des Atheismus zu erweitern oder vielmehr den Rahmen so groß zu nehmen, daß er die Vorbereitungen zum Atheismus (Kirchenfeindschaft, Aufklärung, Duldsamkeit) mitumfassen konnte, so hatte ich doch auch das Recht oder nahm es mir, den Begriff des Atheismus räumlich und zeitlich einzuengen. Ich wollte mich auf die Geistesentwicklung beschränken, welche die Dogmen über den uns geläufigen Gott des christlichen Abendlandes leugnete oder auflöste. Es wäre eine ganz andere Aufgabe gewesen, etwa die Legende, nach welcher alle Völker der Erde an einen Gott glaubten, zu zerstören. Es wäre wieder eine andere Aufgabe gewesen, den buddhistischen Atheismus Asiens mit dem Atheismus des Abendlandes zu vergleichen; nach meiner Absicht gehörte es zu meinem Gegenstand, auf die Bestrebungen hinzuweisen, die den atheistischen Buddhismus - samt einigen philosophischen Grundlagen und einigen abergläubischen Begleiterscheinungen - seit hundert Jahren zur Zukunftsreligion Europas machen möchten; der Buddhismus selbst bleibt außerhalb meines Planes. Doch auch zeitlich soll meine Darstellung erst da beginnen, wo die Aufklärungsarbeit sich gegen eine fertige christliche Kirche richtete, gegen den nach endlosen Streitigkeiten erst fest definierten Gott der christlichen Mythologie. So glaube ich im Recht zu sein, wenn ich die Männer, die im Jahrhundert des Dogmenstreits z. B. die Dreieinigkeitslehre als eine Neuerung verwarfen und an dem einzigen Gott festhielten (wie ARIUS selbst), nicht zu den Kirchenfeinden und Aufklärern rechne, wohl aber die Ketzer, die sich  nachher  gegen das Dogma und gegen die Kirche empörten, wie die Pelagianer und zuletzt die in ihrer ganzen Wirkung bis heute nicht genügend gewürdigten Sozinianer. Und beinahe aus dem gleichen Grund verzichte ich darauf, über den Atheismus der antiken Welt so eingehend zu berichten wie über den christlichen Atheismus. Die wichtigsten Erscheinungen und Ereignisse sollen hier in der Einleitung behandelt werden, eigentlich nur, weil die Renaissance auf die griechischen und römischen Atheisten zurückgriff und so die antiken Gottesleugner doch wieder in der Geschichte des christlichen Atheismus lebendig wurden.

Alte Philosophen und Dichter genossen die Freiheit, sich über des Gottes Wort, soweit es aus den Orakeln sprach, lustig zu machen. Der Gottesbegriff selbst war nicht definiert, konnte also mit erstaunlicher Freiheit untersucht werden, nicht viel anders als bei uns die Begriffe:  Naturgesetz, Energie, Entwicklung Bei deren Erörterung es ja auch nicht immer ohne Drohungen und Denunziationen abgeht. In den geistig besseren Zeiten, die nicht gerade die politisch besseren sein mußten, herrschte bei den Griechen und Römern eine solche religiöse Freiheit, daß zu einer philosophischen Gottesleugnung gar kein besonderer Mut gehörte, daß die Meinungen über Gott einander unbefangen gegenüberstanden wie die Meinungen über andere physikalische Fragen. Wirklich: vom Standpunkt namentlich der griechischen Naturphilosophen gehörte das Dasein Gottes zu den physikalischen Fragen. Der eine erklärte das Feuer für die erste Ursache, der andere das Wasser, der dritte den Gott oder die abstrakte Gottheit; keine Bibel bildete ein Hindernis; HOMER stand in hohem Ansehen, war aber eben doch nicht Gottes Wort. Ich hätte diese Freiheitlichkeit des antiken Denkens einfach so ausdrücken können: die Griechen und Römer glaubten keine Wissenschaft von Gott zu besitzen und stellten darum der Schriftstellerei über Gott und die Götter nicht die Unduldsamkeit und Zudringlichkeit der christlichen Theologie entgegen.

Die Griechen und Römer waren demnach so glücklich, eine Volksreligion oder Volksreligion ohne Bibel und ohne Theologie zu besitzen; es wäre aber ganz ungeschichtlich, zu meinen, die antike Welt hätte die Unduldsamkeit und den Futterneid der Priester gar nicht gekannt. Das Dogma von der unvergleichlichen Herrlichkeit des klassischen Altertums täuscht uns. Die Wortführer des Humanismus im 16. und im 18. Jahrhundert beriefen sich gern auf die alten Griechen und rühmten die Toleranz des griechischen Volkes und der römischen Kaiser. Gegen die Humanität der Griechen spricht es schon, daß sie den Barbarenbegriffe erfanden; gegen Barbaren wie gegen Sklaven war kaum eine Roheit verboten.  Odysseus  hängt die Mägde seines Hauses wie Krammetsvögel nebeneinander auf und  Achilles  bringt dem  Patroklos  Menschenopfer; vor der Schlacht von Salamis, also schon in der hellen Zeit der Geschichte, werden den Göttern Menschen geschlachtet. Die Griechen hatten also gar keine Ursache, ihre Randvölker  Barbaren  zu nennen. Die wahnsinnigen Infamien der Hexenprozesse und der Ketzerverbrennungen blieben ihnen allerdings fremd; aber so human waren sie dann doch nicht, daß sie nicht die Todesstrafe auch über kleinere Verehen verhängt hätten, wie wegen Diebstahl, wie wegen Gotteslästerung. Nur daß sie sich just um das nicht kümmerten, was den christlichen Theologen Gotteslästerung ist, die Leugnung irgendeines Dogmas nämlich, daß sie durch Jahrhunderte die Phantasien ihrer gottlosen Naturphilosophen ruhig duldeten und erst dann einschritten, als das Volk selbst zu "praktizieren" aufzuhören schien. Gegen fremde Götter wie gegen den Gebrauch fremder Sprachen waren die Griechen nicht so duldsam wie die Römer; wenn aber die eigenen Götter in irgendeiner allgemeinen Not nicht geholfen hatten und der Aberglaube sich an die Gottheit eines Nachbarvolkes wandte, dann war man sehr geschickt, in dem neuen Kult den alten wiederzufinden. Erst ALEXANDER der Große machte die Duldung fremder Götter zu einem Mittel seiner Politik, seines Imperialismus, wie man heute sagen würde; er erwies dem  Apis  der Ägypter und dem  Jehova  der Juden die gebührenden Ehren und ließ so die Vorstellung aufkommen, daß all den verschiedenen Religionsübungen der gleiche Dienst einer unbekannten Gottheit zugrunde lag. Eine solche Duldsamkeit, die schon Gleichgültigkeit war, wurde erst recht den Römern ein Mittel ihres dauernden Imperialismus, ihrer Welteroberungspolitik. Unduldsame Priester hat es auch im Altertum gegeben, besonders die Orakelpriester verteidigten ihre Einkünfte und ihr Ansehen zäh gegen die Aufklärer und Spötter; aber niemals war damals die Priesterschaft stark und einig genug, um der Regierung als ein Staat im Staate Schwierigkeiten zu machen.

Eigentlich waren die Griechen und Römer bereits Agnostiker, nicht im modernen Sinne, nicht so, als ob sie die Vorfragen der Religion unbeantwortet gelassen hätten, die letzten Fragen der Erkenntnis, aber doch so, daß sie jeden religiösen Zweifel gestatteten. Es war ihnen selbstverständlich, daß man sich der Landessitte fügte und den Göttern die üblichen Opfer darbrachte; es war ihnen aber ebenso selbstverständlich, daß man darüber nachdachte und redete, ob diese Götter wirklich existierten und ob sie die guten und nützlichen Eigenschaften besäßen, die ihnen zugeschrieben wurden.

Der antike Mensch brauchte, wenn er die Götter nicht fürchtete, keine Angst zu haben vor Verfolgungen der Behörden, seltene Fälle ausgenommen; noch freier war er aber dadurch, daß er keine innere Angst kannte vor jenseitigen Strafen des Atheismus. Der qualvolle Zustand eines Zweifelers, der seine Zweifel zu unterdrücken sucht, der sich mit Gebet und Kasteiung, mit Selbstvorwürfen und Demut zum Glauben zurückzuzwingen sucht, der seine eigene Überzeugung verdammt, der Zustand einer frommen Heuchelei vor sich selbst war dem Griechen und dem Römer ganz unbekannt. Der Glaube war keine Frage, die über das Leben nach dem Tod entschied.

Alle die Worte, welche die Freidenkerei betreffen, finden sich schon in der Sprache der Alten, aber sie haben bei ihnen einen anderen Sinn als heute: Gottlosigkeit, Gotteslästerung. Nach dem gemeinen Sprachgebrauch freilich hieß damals wie jetzt "gottlos", wer die Sitte oder Moral seiner Zeitgenossen und Landsleute nicht achtete, wer also ein "schlechter" Mensch war. Im besonnenen Sprachgebrauch jedoch war Gottlosigkeit den Griechen auch nur dieser Mangel an Herdensinn oder an Takt, während wir im Ernst von Gottlosigkeit nur dann sprechen, wenn das Dasein eines Gottes geleugnet wird. Im Altertum, als die Vielgötterei Volksreligion war, konnte schon gottlos heißen, wer just das Dasein eines einzigen, unbekannten, namenlosen Gottes behauptete. Schon das griechische Wort für Gottlosigkeit, die  asebeia,  ging nicht auf eine Überzeugung, sondern auf das gewohnte Benehmen: gottlos hieß, wer die Götter nicht fürchtete, am geordneten Gottesdienst nicht teilnahm; gottesfürchtig, wer (nach einer Erklärung des guten XENOPHON) die Götter so ehrte, wie es nötig war, d. h. wie es herkömmlich war. Es ist kein Zufall, daß der fromme LUTHER den Ketzerbegriff beinahe mit den gleichen Worten erklärte: "Ein Ketzer heißt, der nicht glaubet die Stücke, die not und geboten sind zu glauben." Neu ist in dieser Definition das Verlangen eines Glaubens und der Hinweis auf die Stücke des Katechismus, alt ist die Meinung, daß die Unterwerfung unter das Dogma oder unter den religiösen Brauch not oder nötig ist. Warum nötig? Nach der öffentlichen Meinung, also nach dem Herkommen. Über die Berufung auf das Herkommen oder bestenfalls auf den Staat gelangten die griechischen Verteidiger der Gottesfurcht niemals hinaus. Zwischen Gottlosigkeit und Landesverrat wurde nicht sehr genau unterschieden; wer sich des einen Frevels schuldig machte, der war auch des anderen verdächtig. Das delphische Orakel forderte keine andere Religiosität als den äußeren Gottesdienst nach der ererbten Sitte des Landes oder der Stadt. Und der angesehenste Mythologe der Griechen, HESIOD, hatte gelehrt, man müßte nach hergebrachter Weise opfern und das älteste Gesetz wäre immer das beste. So darf man wohl sagen, daß die Griechen, wenn sie einen Freidenker wegen religiöser Vergehen verfolgten, die Anklage eigentlich niemals auf Gottesleugnung einrichteten, sondern immer auf dasjenige Unrecht, das man heute - wie schon hervorgehoben - etwa Störung des Gottesdienstes oder Religionsstörung nennen würde; auf ein Vergehen also, das auch eine atheistische Mehrheit nicht völlig aus dem Strafgesetz streichen müßte.

Für den Bedeutungswandel, den der Begriff  Atheismus  im Laufe von zwei Jahrtausenden erfahren hat, glaube ich kein besseres Beispiel bieten zu können als einen Satz, der noch gegen Ende des 17. Jahrhunderts die frommen Christen nicht wenig erregte. Der Satz steht bei PLUTARCH, der rebellische Gedanke wurden von PIERRE BAYLE hineingelegt: daß der Aberglaube schlimmer ist als der Atheismus.

PLUTARCH (ungefähr im Jahr 40 n. Chr. geboren und ungefähr 120 gestorben) hat den neuen christlichen Glauben in allen seinen Schriften niemals erwähnt und auch in den Zeilen, um die es sich mir handelt, natürlich nicht an christlichen Aberglauben gedacht. Ich gebe die Stelle, um jeden Verdacht einer tendenziösen Übersetzung auszuschließen, nach der alten Übersetzung des allzu vernünftigen Wolffianers GOTTSCHED, der ein Feind der Franzosen und der Katholiken, aber durchaus kein Feind der christlichen Kirche war. Man tue der Gottheit mehr Schimpf an, wenn man sich dieselbe so einbilde, wie die Abergläubischen sich solche vorstellen, als wenn man glaube, sie sei gar nicht. "Ich kann mich nicht genug verwundern, wie man sagen kann, die Atheisterei sei eine Gottlosigkeit. (4) Das sollte man vom Aberglauben und nicht von der Gottesleugnung sagen ... Ich für meine Person würde es lieber sehen, wenn alle Menschen in der Welt sprächen:  Plutarch  sei niemals gewesen, als wenn sie sagten:  Plutarch  sei ein unbeständiger, leichtsinniger, zorniger Mensch, der durch die geringsten Beleidigungen aufgebracht und über nichtswürdige Dinge verdrießlich wird."

Wir werden uns später mit der Ketzerei zu beschäftigen haben, die BAYLE aus diesen Worten des PLUTARCH herauszog; BAYLE faßte unter dem Begriff des Aberglaubens sehr viel zusammen: antiken Glauben, neuen Aberglauben und dazu jede Art religiöser Schwärmerei, die von der offiziellen Kirche nicht geboten wurde und leicht zu Fanatismus führen konnte. Bei BAYLE hatte also die These, Aberglaube wäre schlimmer als Atheismus, einen scharf freidenkerischen Sinn, besonders in politischer Beziehung: der Staat, der damals eben in Frankreich die Hugenotten ausrotten wollte, hätte gegen alle Ketzer, auch gegen die Atheisten, mehr Duldung zu üben als gegen die frommen Eiferer; ein Atheist könnte ein vortrefflicher Staatsbürger sein, ein atheistischer Staat ein Staat von Atheisten wäre ganz gut möglich. Wir werden sehen, wie BAYLE mit dieser Lehre sogar noch über die Toleranzforderung LOCKEs hinausging. In wunderlicher Eigenbrödelei hat dann ROUSSEAU, politisch ebenso radikal wie religiös rückständig, in einem "Emile" gegen PLUTARCH und gegen BAYLE die Gefährlichkeit des Atheismus behauptet; der Fanatismus beweise trotz all seiner blutigen Greuel doch eine große und edle Leidenschaft, die Gottlosigkeit sei friedfertig, doch nur aus Niedrigkeit der Gesinnung.

Was aber PLUTARCH, der seiner bürgerlichen Stellung nach ein hochbezahlter Geistlicher war und als Philosophe ein mehr neuplatonischer als platonischer Moralprediger, mit seiner Verteidigung des Atheismus etwa sagen wollte, das hat mit der Freidenkerei eines BAYLE gar nichts zu schaffen. Man könnte den Gedankengang des PLUTARCH, des römischen Griechen, vielleicht so ausdrücken, daß der Unterschied zwischen der alten und der neuen Vorstellung von göttlichen Dingen deutlich herauskäme. Ungefähr so:

Eine sogenannte Wissenschaft der Theologie gibt es bei uns Griechen und Römern nicht; unsere Kirche hat kein Lehramt, unsere Religion hat keine Glaubensartikel. Darum ist unser Denken wirklich frei, zumindest frei von theologischen Schranken. Philosophen und Priester sind oft entgegengesetzter Meinung, aber sie sind auch nicht verpflichtet, gleicher Meinung zu sein. Der Priester hat nicht den Beruf oder die Aufgabe, den Ursprung der Religion zu untersuchen und etwa gar den Gottesdienst auf eine göttliche Offenbarung zurückzuführen; er hat nur über die Einhaltung der alten gottesdienstlichen Bräuche zu wachen und jeden neuen Brauch für einen Aberglauben und eine Religionsstörung zu erklären. Der Philosoph dagegen hat den Beruf gewählt und sich selbst die Aufgabe gestellt, die Ursprünge der Welt und aller Dinge zu untersuchen; kommt er da zu dem Ergebnis, daß der Ursprung das Wassser sei oder das Feuer oder eine Seelenkraft, so mag das richtig oder falsch sein,geht aber den Priester nichts an. Und wenn PLUTARCH übermütig gewesen wäre, was er niemals war, so hätte er mit der Benützung eines Wortes des von ihm verehrten CICERO auch sagen können: Wir opfern den Göttern, damit sie uns lieb haben, damit sie uns beglücken; sollten jedoch die Götter gar nicht existieren, so opfern wir ihnen weiter und sie können uns - gern haben.

Die von mir oft, vielleicht allzuoft, wiederholte Bemerkung, daß das Altertum keinen Katechismus seiner Religion besessen hat, kann für einen Leser von einiger Geschichtskenntnis nicht überraschend sein; und doch ist noch kaum bedacht worden, was alles mit diesem Unterschied zwischen Christentum und "Heidentum" zusammenhängen mag. Wir sind daran gewöhnt, daß die religiösen Begriffe von der sogenannten Theologie untersucht und bestimmt werden, wie andere Begriffe von anderen "Wissenschaften", daß die religiösen Vorstellungen in Dogmen oder Glaubenssätzen geordnet sind, daß man an diesen Dogmen den Rechtgläubigen wie den Ketzer genau erkennt, daß übrigens (was freilich erst Sache der Kirche war, nicht Sache der Religion) der Ketzer als ein Feind zu verfolgen ist. Die Griechen und Römer wußten nichts von Theologie, von Orthodoxie, von Ketzerei oder gar von systematischer Ketzerverfolgung.

Das Wort "Theologie" besaßen sie freilich; die junge christliche Kirche, allerdings noch nicht das neue Testament, hat es ja von den Griechen entlehnt. Wie aber die Griechen überhaupt griechisch als ihre Muttersprache redeten, wie darum ihre griechischen Worte keine wissenschaftlichen Termini waren, so war ihnen "Theologie" nicht die Bezeichnung einer besonderen Wissenschaft. Das spätere Christentum unterschied, wie es sich einbildete, zwischen der Theologie als der systematischen Lehre vom wahren Gott und der Mythologie als den zusammenhanglosen Geschichten von den falschen Göttern. ARISTOTELES, dessen Logik nachher so vielfach zur Begründung der scholastischen Theologik benützt wurde, konnte eine solche Wissenschaft von einem wahren Gott gar nicht aufstellen; er hatte kein Buch vor sich, das er für Gottes Wort gehalten hätte; ihm war es darum ganz gleichgültig, ob er einen Dichter einen Mythologen oder einen Theologen nannte. Mythologie und Theologie waren gleichbedeutende Ausdrücke für die Dinge, die in der physischen Weltordnung nicht nachweisbar waren. Auch PLATON und die Stoa errichteten kein Gebäude der Gotteswissenschaft, wenn sie auch recht viel von Gott zu erzählen wußten. Daß die Schule der Neuplatoniker nur eine neue Mythologie schuf, mit dem Recht aller alten Dichter und Philosophen, das ist so gewiß, wie daß diese Mythologie nachträglich zu einem Teil der christlichen Theologie wurde. Nach antiker Anschauung waren Dichter wie ORPHEUS, HOMER, HESIOD die eigentlichen Theologen; in der christlichen Zeit ging diese Bezeichnung  theologos  von den Fabeldichtern oder Mythologen auf Verfasser der biblischen Bücher über, ausdrücklich auf MOSES und auf den Evangelisten JOHANNES. An die neue Theologie, die zunächst Christologie war, wurde von den Glaubigen geglaubt, was man so glauben nennt. Neu war gegenüber der Heiterkeit des Altertums, daß ein robuster Glaube ernsthaft  verlangt  wurde. Es hing eben für das Heil des einzelnen zuviel davon ab, daß die Berichte der neuen Theologie als auf Tatsachen beruhend geglaubt wurden: es gehöre zum Wesen des neuen Gottes, z. B. Gottes Sohn zu sein, von den Toten auferstanden zu sein. Ein Theologe hieß von jetz an, wer die Lehre vom Wesen Gottes und seinen unfaßbaren Geheimnissen, besonders der Trinität, in ein System brachte, eigentlich erst seit dem Kirchenvater GREGOR von NAZIANZ, dem Theologen  par excellence,  als seit der Mitte des 4. Jahrhunderts, nachdem das Konzil von Nikäa gesprochen hatte. Es würde gar zu weit führen, wollte ich hier zeigen, wie die angebliche Gotteswissenschaft sich dann im Mittelalter zu einer umfassenden Wissenschaft von Gott und der Welt entwickelte, alle weltlichen Wissenschaften sich und damit der Kirche unterwarf, wie dann am Ende der Entwicklung die Selbstzersetzung des Protestantismus dazu führte, daß die Theologie (etwa seit SCHLEIERMACHER) zu einer Psychologie des Glaubensgefühls und dadurch wieder (bei STRAUSS) zu einer höheren, wissenschaftlichen Mythologie wurde.

Für den Unterschied des antiken und des christlichen Religionsbetriebes scheint es mir aber sehr bemerkenswert, daß die Auszeichnung des Heidentums, keinen Katechismus zu besitzen, im Mittelalter noch durch viele Jahrhunderte fortdauerte; es läßt sich nur schwer beweisen, scheint mir aber sicher, daß die Festlegung der Glaubensartikel und die Verfolgungssucht der Kirche gegen die Ketzer, die erst durch die Dogmen geschaffen wurden, einander wechselweise förderten. Ein Religionsunterricht in der uns geläufigen Ausdehnung bestand nicht. Man verlangte, noch tausend Jahre nach  Christi  Geburt, vom Christen nur, daß er das Credo und das Vaterunser aufsagen konnte, womöglich auf Lateinisch, in einer auch der Form nach unverständlichen Sprache. Aber diese Kenntnis wurde allgemein nur von den Erwachsenen verlangt, namentlich von den Paten, die in der Lage sein sollten, ihren geistlichen Kindern das Credo und das Vaterunser beizubringen. In einer Zeit, wo ganze Völker freiwillig oder gezwungen zum Christentum übertraten, konnte man es mit den Glaubensartikeln so genau nicht nehmen; auch lag der allgemeine Unterricht noch sehr im argen, und der Dogmenstreit war unmöglich bei einer Bevölkerung, die des Lesens und Schreibens unkundig war. Ohne die Schrift, ohne das geschriebene Wort, keine Ketzer und keine Ketzerverfolgungen. Und ohne den Egoismus einer herrschenden und reichen Kirche kein Antrieb zur Ketzerverfolgung.

Mit der entscheidenden Bedeutung eines wörtlich zu glaubenden Katechismus steht in engem Zusammenhang, daß der sogenannte Anabaptismus oder die Wiedertäuferei sehr früh, Jahrhunderte vo der Tragikomödie von Münster, zu einer verdammten Ketzerei wurde. Bekanntlich ist der Name dieser Sekte wieder einmal von ihren Gegnern aufgebracht worden; die Ketzer selbst konnten sich gar nicht Wiedertäufer nennen, weil sie ja die Gültigkeit der ersten Taufe nicht anerkannten. In Wahrheit machten nur die Wiedertäufer vollen Ernst mit der Lehre, das Heil jedes einzelnen hinge von seinem Glauben an den Wortlaut des Katechismus ab, den er doch verstehen mußte, um ihn glauben zu können; unbewußt steckte hinter diesem Ernst ein wenig Rationalismus, der sich um das Geheimnis der Taufwirkung nicht kümmerte. Die rechtgläubige Kirche begnügte sich mit dem Geheimnis des Sakraments und fragte darum nicht viel danach, ob der Katechismus auch verstanden wurde. Darin aber waren die Orthodoxen und die Wiedertäufer so ziemlich einig, daß das höchste Gut des einzelnen abhängig wäre von seiner Unterwerfung unter die Sätze des Katechismus.

Man könnte demnach die Sachlage auch so ausdrücken, daß die antike Welt ihre Religion ohne Dogmen hatte. Die antike Welt brauchte darum auch gar nicht die Geistesanstrengung, die zur Befreiung von diesen Dogmen gehörte. Wer z. B. das Dasein der Götter leugnete, dem konnte das schlecht bekommen, wie überall und immer die Abkehr von der allgemeinen Volkssitte; aber er war nicht meineidig gegen einen Schwur, den er als Jüngling geleistet hatte.

Aber die antike Welt konnte auch nicht, wie die christliche nach einem Befreiungskampf von ungefähr fünfzehnhundert Jahren, dazu gelangen, den Dogmenglauben in eine Dogmengeschichte aufzulösen und so wiederum die Theologie in eine Geschichte der Mythologie zu verwandeln. So fehlte dem Altertum die höchste wissenschaftliche Leistung, zu der wir es schließlich gebracht haben, auf religiösem Gebiet nämlich: die vergleichende Religionsgeschichte; nur daß Griechen und Römer eine gewisse Vergleichung der Göttermythen immer getrieben haben, allerdings mit dem durchaus unkritischen Geist, der ihre Stärke im Leben und ihre Schwäche im Denken war. Dafür fehlte aber dem Altertum auch eine Erscheinung, die dereinst als eine Schande der christlichen Zeit empfunden werden wird: die Zugehörigkeit einer sogenannten theologischen Fakultät zu den Hochschulen, die so stolz auf ihre Aufgabe sind, das Wissen der Menschheit zu erhalten und zu vermehren. Ich weiß, daß diese Hochschulen in einer Zeit eingerichtet worden sind, die ehrlicherweise an Gott und die Gotteskunde glaubte, die das Wissen von göttlichen Dingen für das gewisseste Wissen hielt und darum berechtigt war, die theologische Fakultät als die älteste und wichtigste Fakultät zu ehren; diese geschichtliche Sachlage drückt sich ja schon darin deutlich genug aus, daß Staat und Kirche auch bei der Errichtung neuer Universitäten die Anstellung theologischer Professoren unter Zustimmung der übrigen Fakultären verlangen dürfen, daß aber Menschen und Hühner in ein schallendes Gelächter ausbrechen würden, wollte man den technischen Hochschulen theologische Lehrstühle angliedern. In Wahrheit besteht zwischen einer Universität und einem Polytechnikum bezüglich der Religion kein Unterschied: beide haben das Wissen zu erhalten, zu vererben und zu vermehren, nicht das Nichtwissen. Unter den vielen Disziplinen der Geschichtswissenschaft wäre ein Plätzchen oder ein Platz für vergleichende Religionsgeschichte, für Dogmengeschichte usw., wie ja auch Vorlesungen über indische und griechische Mythologie, über Astrologie, über den Hexenwahn zum Nutzen der Studenten gehalten werden. Ich habe noch von keinem deutschen Professor, von keinem Vertreter der voraussetzungslose Wissenschaft gehört, daß er die Berufung an eine Universität mit der Begründung abgelehnt hätte, sie hätte sich von ihrer theologischen Fakultät noch nicht befreit; während es doch arme Jünglinge genug gibt, die den Buchhalterposten in einem Bankgeschäft ablehnen, welches auch nur in dem Ruf steht, unsichere Wertpapiere unter die Leute zu bringen.

Dafür, daß es im Altertum so ein Unding wie eine theologische Fakultät nicht gab, daß also wissenschaftliche Aufklärung ohne jede Kritik eines göttlichen Wortes möglich war, nur ein Beispiel: die Unabhängigkeit der antiken Astronomie - wie aller Physik - von der Theologie.

Die Umdrehung des Himmelsgewölbes um die Erde wurde allgemein geglaubt, aber diese Lehre berief sich nicht auf Gottes Wort und war darum keine religiöse Glaubenssache. Als einige Naturphilosophen zu der Ahnung gelangten (niemals zu der wissenschaftlichen Entdeckung), die Erde wäre keine Scheibe, sondern eine Kugel, die Erde drehte sich um sich selbst oder um ein fabelhaftes Zentralfeuer, da gehörte zum Aussprechen einer solchen Phantasie gar keine besondere Tapferkeit, denn weder die Behörden noch die Priester fühlten den Beruf, die hergebrachten astronomischen Vorstellungen zu beschützen. Hätte ein Astronom des Altertums die Tat des KOPERNIKUS geleistet oder leisten können, die Bewegung der Erde (um ihre eigene Achse und um die Sonne) berechnet oder berechnen können, so wäre dieser neuen Weltanschauung keine Priesterschaft und keine von Staat und Kirche unterhaltene Fakultät entgegengetreten; wie wir dann auch nicht hören, daß die griechischen Astronomen - von den Pythagoreern bis auf ARISTARCH von Samos -, die sich die Welt heliozentrisch vorzustellen begannen, verfolgt worden wären. Die geozentrische Lehre, die sich auf ARISTOTELES berufen konnte, blieb im Altertum herrschend, aber nicht einer Bibel zuliebe, nur durch die Kraft der geistigen Trägheit; erst in christlicher Zeit wurde es zu einem Verbrechen, zu einer Gotteslästerung, an der geozentrischen Lehre des ARISTOTELES und des Alten Testaments zu zweifeln. Ich sage nicht zuviel: im Altertum selbst regte man sich über die Frage, ob die Erde stillsteht oder nicht, weniger auf, als vor etwa siebzig Jahren deutsche Forscher (GRUPPE und BOECKH) sich über die philologische Frage aufregten, ob die Achsendrehung der Erde zum kosmischen System PLATONs gehört hat oder nicht.

Und da ich einmal auf die Astronomie hingewiesen habe, möchte ich die kleine Abschweifung durch einige Worte über den Zusammenhang zwischen Astrologie und Theologie ergänzen. In närrischer Weise kreuzt sich mit dem Glauben an den Teil der Theologie, der für die Selbstsucht des Gläubigen immer der wichtigste ist, mit dem Glauben an die göttliche Leitung des Einzelschicksals, der Glaube an die Astrologie oder an die Vorherbestimmung des Einzelschicksals durch die Sterne. Nicht mehr als ein lustiger Zufall ist es, daß das zweite Stammwort in den Wortbildungen  Theologie  und  Astrologie  das gleiche ist; ursprünglich war "Astrologie" die jeweilige Wissenschaft von den Sternen und sank zur Bezeichnung für den Aberglauben an den Einfluß der Sterne erst in den jüngsten Jahrhunderten herab; ich werde es kaum erleben, daß "Theologie" denselben Weg nimmt. Ein Zufall ist es auch nur, daß der natürlichen eine positive Astrologie gegenübersteht wie der natürlichen Religion eine positive, obgleich in beiden Fällen die positive Ansicht die vergänglichere war. Merkwürdiger ist es schon, daß der Glaube an die Astrologie ungefähr zur gleichen Zeit bei den Gebildeten des Abendlandes aufhörte, zu der die natürliche Religion oder der Deismus das positive Christentum zu überwinden begann; waren nämlich auch viele Kirchenhäupter der Astrologie ergeben gewesen (viele Päpste, aber auch MELANCHTON), so war doch die Astrologie, von uralten Heiden des Orients erfunden und von den Arabern nach Europa gebracht, eigentlich unchristlich, wurde vom verchristelten römischen Recht und von der alten Kirche für strafbar erklärt. Unter den Griechen waren die fatalistischen und deistischen Stoiker überzeugte Astrologen, ein Astrologe war unter den Römern der ganz atheistische SENECA. Und noch in neuer Zeit glaubten mehr oder weniger an die Macht der Sterne die Unchristen PARACELSUS und CARDANUS.

Wer die Geschichte der Theologie mit der Geschichte der Astrologie genauer vergleichen wollte, dürfte den Umstand nicht vergessen, daß es auch im Sternenaberglauben Heuchler gab. AGRIPPA von NETTESHEIM lebte gelegentlich von der Astrologie, deren Unsinn er erkannt hatte, und selbst der große KEPLER, während er den Todesstoß gegen die Astrologie berechnete, mußte Horoskope stellen, wenn er nicht verhungern wollte. Man denkt an die Päpste, die nicht an  Christus  glaubten, als dessen Statthalter sie die Weltherrschaft beanspruchten.

Den Unterschied zwischen dem, was die christliche Welt  Religion  nennt, und dem, was die antike Welt so oder so ähnlich nannte, hat schon SCHOPENHAUER klar erkannt. Die Griechen besaßen keine heiligen Urkunden und kein Dogma, keinen Unterricht im Glauben, und ihre Priester predigten keine Moral; der Kultus in den Tempeln wurde von den kleinen Staaten geleistet und war so Polizeisache.
    "Bloß wer die Existenz der Götter öffentlich leugnete oder sie sonst verunglimpfte, war strafbar, denn er beleidigte den Staat, der ihnen diente ... Also Religion in unserem Sinn des Wortes hatten die Alten wirklich nicht."
Es war ein Spiel der Phantasie und ein Machwerk der Dichter aus Volksmärchen; die Verhöhnung eines Gottes wie die in den "Fröschen" des ARISTOPHANES wäre in christlicher Zeit nicht möglich gewesen.


VII. Mythos

Man sollte also begreifen lernen und es niemals vergessen, daß der Begriff  Atheismus  einen durchaus verschiedenen Inhalt hat, je nachdem etwa ein Jude in Palästina die ausschließliche Macht und Herrschaft des Gottes  Jehova  leugnete oder Kaiser FRIEDRICH II. am dreieinigen Gott zweifelte oder ob schließlich dem schon ganz unpersönlich und dünn gewordenen Gott des Deismus das Dasein bestritten wurde.

Wir sind allzusehr geneigt, zwischen dem angeblichen Monotheismus der Christen und dem ehrlichen Polytheismus der Griechen einen Gegensatz zu erblicken; (5) könnte man aber den erstbesten frommen Römer von heute und den erstbesten Griechen der hellenistischen Zeit genau auf ihre religiöse Psychologie hin prüfen, so würde sich ein recht ähnliches Gemisch von einer unklaren Unterwerfung unter eine oberste Gottheit und polytheistischem Aberglauben ergeben. Erst christliche Selbstgerechtigkeit hat dazu geführt, daß die Sprache unserer Wissenschaft bestimmt zwischen Theologie und Mythologie, zwischen Religion und Mythologie zu unterscheiden meint. Dazu kommt, daß bei den völlig unkritischen Griechen auch noch die Grenzen zwischen Poesie und Religion verwischt waren; wenn irgendein Buch in der antiken Welt ungefähr die Stelle der Bibel beanspruchen darf, so ist es nicht ein Religionsbuch (was übrigens die Bibel ursprünglich auch nicht gewesen ist), sondern das homerische Epos. Wie im Mittelalter sehr viele Legenden der Heiligen von phantasiereichen Klosterschreibern erfunden wurden, so im Altertum viele Götter und Heroenlegenden von den Dichtern. Niemals sollte man vergessen, daß die Griechen und Römer keine heilige Schrift besaßen, daß nach ihrer eigenen Meinung ein Dichter ihre Mythen geformt hatte; so blieb es den Deutern des HOMER, weil sie keine Theologen waren, unbenommen, die alten Mythen allegorisch oder rationalistisch zu erklären, ohne daß - wie in der christlichen Zeit - Allegorie oder Rationalismus als Gottlosigkeit erschien. Auch war es den neueren Dichtern, besonders den Tragikern, durchaus gestattet, am Charakter der mythischen Heroen oder an der mythhischen Handlung selbst Änderungen vorzunehmen; das tat nicht nur der Aufklärer EURIPIDES, das taten auch die frommen Dichter ÄSCHYLOS und SOPHOKLES. Man vergleiche damit die starre Abhängigkeit, die nicht nur die biblischen Geschichten, sondern auch die Heiligenlegenden etwa von katholischen Bearbeitern beanspruchen dürfen; wer aus künstlerischen Gründen auch nur einen Zug im Leben JESU frei erfinden wollte, wäre schon des Atheismus verdächtig.

Die Religion war Mythos, und der Mythos wurde aus Dichtern geschöpft. Weil die Priester nicht unterrichteten, weder in Moral noch in Religion, weil sie weder einen Lehrauftrag noch Lehrsätze besaßen, weil es schließlich - das ist besonders zu beachten - weder eine allgemeine Schulpflicht noch einen Kultusminister gab, darum finden wir bei den Griechen nicht die Spur von so etwas wie einen Katechismus. "Eine allgemeine Religionslehre gab es nicht." (WELCKER, Griechische Götterlehre, Bd. 1, Seite 125)

Es ist sehr ansprechend, den Gottesbegriff überhaupt und den Namen des obersten Gottes (deos und Zeus) auf die gleiche "Wurzel" zurückzuführen, es ist noch ansprechender, daraus zu erklären, daß zur Zeit der Vielgötterei die Einzahl (ho theos) leicht den obersten Gott bedeuten konnte; in Wahrheit wird über den Ursprung der Religionsbegriffe ebensowenig etwas Sicheres auszumachen sein wie über den Ursprung der Sprache. Man weiß nicht einmal, wann die Fabeln zu den Namen der Götter führten, wann die Namen zu den Fabeln; man kennt die Etymologie des anderen Gottesbegriffs nicht (daimon), man weiß trotz scharfsinnigster Untersuchungen nicht, ob in den Mysterien der Griechen ein feinerer Gottesbegriff oder ein noch gröberer Aberglaube gelehrt wurde.

Wahrscheinlich waren auch bei den Mysterien nur Bilder zu sehen, nicht Lehren zu hören. Es ist dem ARISTOTELES nachgesagt worden: die Eingeweihten haben etwas zu erleben, nichts zu lernen. Das Gebot, die Geheimnisse nicht zu verraten, konnte darum so leicht erfüllt werden, weil keine Worte zu verraten waren. Wer die Mysterien parodieren wollte wie ALKIBIADES, der besorgte das durch Pantomimen, nicht durch gesprochene Parodien (BURCKHARDT, Griechische Kulturgeschichte, Bd. II, Seite 200).

Auch der "geläuterte" Gottesbegriff der Griechen, von dem man so viel Wesens macht, war nicht wie bei uns ein bewußter Bruch mit dem Mythos; man stand dem Mythos bei aller Andacht so frei gegenüber, daß Dichter und Philosophen umbauen konnten, was Dichter gebaut hatten. Die Dichter PINDAR, ÄSCHYLOS und SOPHOKLES, die "Sophisten" SOKRATES und PLATON (der selbst ein halber Dichter war) haben für den Kreis der Gebildeten langsam Sprachgewohnheiten eingeführt, die zwar nicht monotheistisch waren, die aber die unklare Vorstellung von einer Gottheit an die Stelle der sehr leibhaftigen Götter setzte, das Vertrauen auf eine waltende Gerechtigkeit an die Stelle der souveränen Götterlaunen. Die Sophisten oder Philosophen gingen in der Zersetzung der Religion noch weiter als die Dichter. "Die griechische Philosophie ist nicht wie die christliche im Dienst der Theologie herangewachsen." (Auch für das Nächstfolgende vergleiche man ZELLER: Entwicklung des Monotheismus bei den Griechen) Mit höchst unzureichenden Mitteln versuchte man immerhin, die einheitliche Erscheinung des Weltganzen aus einer einheitlichen Ursache zu erklären. Ich finde in den Quellen keinen Unterschied der Schätzung eines Welterklärers danach, ob er in  Zeus,  ob er in Wasser oder in Feuer die einheitliche Ursache sah. Wenn DEMOKRIT, wenn EMPEDOKLES ganz mechanistisch aus den Atomen oder aus den Elementen nebst allen anderen Dingen auch die Götter entstanden sein ließen, so glauben wir leicht, daß sie sich da frivol mit dem Volksglauben abgefunden hätten; es ist aber sicher nur ein echt griechisches, also leichtsinniges Spiel der Phantasie. Gerade der leichtsinnige, selbst der übermütig spottende Atheismus wurde ruhig geduldet; verfolgt wurden nur die Handlungen, die sich ernsthaft gegen eine Kultübung richteten. Der Priester erfreute sich eines besseren Schutzes als der Gott; erst das christliche Priestertum war klug genug, auch den Ast zu schützen, auf dem es saß. Die Griechen besaßen kein Priestertum in unserem Sinne, keinen durch geheime Kräfte übertragenen Priesterstand. In alter Zeit waren die Priester nicht einmal die angestellten Opferer gewesen, und als sie nachher Beamte des Tempeldienstes geworden waren, in der Demokratie durch Wahl bestimmt oder durch das Los, wurden sie doch niemals - wie nicht oft genug wiederholt werden kann - Prediger oder Lehrer. Noch wichtiger war es, daß die Priester nicht wie in der christlichen Zeit die Aufgabe übernahmen, daß sie an eine solche Aufgabe gar nicht dachten, eine Verbindung zwischen Glaube und Vernunft, zwischen Religion und Philosophie herzustellen. So wurde das griechische Denken davor bewahrt, dem Glauben unterworfen zu werden; es gab keine Theologie, die die Philosophie als Magd behandelt hätte, und so brauchte sich die Philosophie gegen keine Theologie zu empören. Aber die Realität der Göttermythen konnte man die Vernunft fast ebenso frei entscheiden lassen wie über die Realität der Heroenmythen.

Wenn einer von den berühmtesten "Sophisten", PROTAGORAS, es scharf ausspricht, er könne über das Dasein der Götter nichts aussagen, weder ein Ja noch ein Nein, so sind wir wieder geneigt, ihn für vorsichtig zu halten, wie christliche Atheisten länger als ein halbes Jahrtausend vorsichtig gewesen sind, da würde man aber die Gedankenfreiheit bei den Griechen doch unterschätzen; PROTAGORAS äußert sich nur mit der fast formelhaften Zurückhaltung der Skepsis, die nicht nur in der skeptischen Schule geübt wurde. PROTAGORAS mußte fliehen, SOKRATES wurde hingerichtet, nicht wegen solcher Zweifel, sondern wegen ihrer Ablehnung von Lokalkulten.

Als die Blütezeit Athens vorüber war, stand die Gedankenfreiheit auf der Höhe. Die Skeptiker, Epikureer und vor allem die Kyniker konnten fast furchtlos mit den Religionsbegriffen Schindluder treiben. Wie heute gab es eine unüberbrückbare Kluft zwischen den eigentlich atheistischen Gebildeten und dem abergläubischen Volk, nur daß die Gebildeten damals keine Heuchler waren. Wenn sich etwa einer unserer Pfaffenschriftsteller darauf berufen wollte, daß der Niedergang von Hellas und der Atheismus seiner oberen Zehntausend zusammenfielen, so wäre ihm zu antworten, daß christliche Begriffe auf die antike Welt nicht anzuwenden sind; der konservative Dichter der Blütezeit war ARISTOPHANES, und der verhöhnte das allzumenschliche Göttergesindel am allertollsten; das Volk liebte ihn um seiner Gassenbübereien willen und duldete nur eben seine frommen Predigten, so wie - die Philologen werden mir den Vergleich nicht verzeihen können - in meiner Jugendzeit die oft bitter hervorbrechenden künstlerischen Satiren von JOSEPHINE GALLMEYER vom Publikum eben nur geduldet wurden, um sie für den vielbegehrten Cancan in guter Laune zu erhalten.

Aber schon zur griechischen Blütezeit ist es vorbei mit dem alten Götterglauben. Man hat - oft unbewußt - den christlichen Deismus, wenn ich so sagen darf, in die Philosophie PLATONs hineingelegt; das ist nur insofern richtig, als die platonischen Ideen und "Ideen" sehr stark in die christliche Theologie und von da aus (die Ideen der Schönheit, Güte und Wahrheit) in den reichlich gottlosen Deismus eingedrungen sind. PLATON lehrte ungefähr, dem Volk müsse der Polytheismus erhalten bleiben, genauso wie die heutigen Staatsmänner von der christlichen Religion sprechen; was PLATON selber glaubte, das schwankte unbestimmt zwischen einem blassen Monotheismus und einem rationalen Idealismus, in welchem für einen persönlichen Gott kein Platz war.

Viel nüchterner als PLATON, darum einer einzigen göttlichen Ursache viel geneigter war ARISTOTELES, der es dann auch redlich verdient hat,  ex cathedra  [kraft päpstlicher Unfehlbarkeit - wp] zum allerchristlichsten Philosophen ernannt zu werden. Womöglich noch christlicher muten uns die Moralien der Stoiker an, besonders darum, weil da die Gleichheit aller Menschen schon vorbereitet wurde, die sich dann im Christentum als Gotteskindschaft einkleidet.

Am Ausgang des Altertums, während der Anfänge des Christentums, war die religiöse Vorstellung der Gebildeten ungefähr die, daß man es leichter habe, an einen einzigen übermenschlichen Weltregenten zu glauben als an die vielen Götter; dieser eine Weltregent war dann viel leichter abzuschaffen. Diese allgemeine Stimmung der letzten griechischen Philosophie ging dann zweierlei Wege: die positiven, eigentlich mehr poetischen als dogmatischen Vorstellungen von der einen Gottheit wurden vom Christentum, als es gedanklich werden wollte, einfach aufgenommen, die negative Seite, der bis zur Überflüssigkeit abgeschwächte Schemen eines unbestimmten Gottes war ein Wort, mit dem fast religionslose Atheisten Fangball spielten. Nur die bewußten Gegner des aufstrebenden Christentums, wie etwa der Kaiser JULIAN, bemühten sich die Reste des alten Glaubens (Opfer und Gebete, Mysterien und besonders Wahrsagung) in etwas wie ein System zusammenzufassen, um dem immer systematischer gewordenen neuen Glauben den Schein eines geordneten alten Glaubens gegenüberstellen zu können.

Wir haben gesehen, daß die griechischen Mysterien, zumindest als sie noch in allgemeinem Ansehen standen, keine Ähnlichkeit mit den christlichen Geheimnissen hatten, wie die Religionsvergleichung uns seit einigen Jahrzehnten glauben machen will; selbst wenn die griechischen Mysterien manchen unserer Kulthandlungen zugrunde liegen sollten, so bestanden jene alten Bräuche ganz gewiß nicht aus Lehrsätzen, weder aus widervernünftigen noch aus übervernünftigen. Aber auch die griechische Wahrsagerei, solange man an sie glaubte, verkündete niemals theologische Sätze. Wenn die Orakel für unfehlbar galten, so galten sie dafür nicht in Glaubensfragen. Die Griechen wußten nichts von einer Kirche - ihre "Stadt" war ihnen (nach BURCKHARDT) Religion -, sie konnten also erst recht nichts wissen von einem Lehramt der Kirche.

Der Glaube an die Orakel scheint sich länger erhalten zu haben als der Glaube an die Götter; gelegentlich wurde in früher und später Zeit über die Wahrsager gelacht, über die Schmarotzer des Gottes, aber die Griechen waren zu neugierig und zu abgerläubisch, waren auf der anderen Seite zu unwissend in der Kenntnis natürlicher Ursachen, um die Zukunft in privaten und öffentlichen Angelegenheiten nicht mit den alten kindlichen Mitteln erkunden zu wollen. Das hörte auch dann nicht auf, als immer lauter behauptet wurde, die Wahrsager wären käuflich, die  Pythia  selber wäre bestechlich. Man darf dieses Zusammenbestehen von Verruf und Geltung der Orakel nicht einmal mit dem wunderlichen Zustand eines Katholiken vergleichen, der etwa seinen Pfarrer als einen schlechten Kerl erkannt hat und seine Absolution trotzdem verlangt; das System des Katholizismus kann eine persönliche Unwürdigkeit des Geistlichen ganz wohl mit der übernatürlichen Kraft seiner Weihe vereinigen, die griechische Religion besaß ein solches theologisches System überhaupt nicht und erblickte wahrscheinlich im Voraussehen der Zukunft gar nichts Übernatürliches. Genau genommen gab es noch keine strenge Naturwissenschaft, der eine solche Zauberei widersprochen hätte; die Naturwissenschaft selber, auch bei ihren besten Vertretern, war noch voll von Zauberaberglauben. Delphi, der Hauptsitz der Wahrsagerei, scheint oft genug von den Behörden zu politischen Zwecken benutzt worden zu sein, niemals von Priestern zur Förderung oder Bekämpfung einer neuen Sekte. Auch gehörte es nicht zu den religiösen Pflichten, das Orakel von Delphi zu befragen, es war nur eine alte Sitte. Und wenn im Tempel von Delphi die Sprüche der sogenannten sieben Weisen angebracht waren, der Laien, wenn HIPPOKRATES dort die Nachbildung eines Skeletts als Weihgeschenk aufstellen durfte, so beweisen diese Züge wieder nur, daß die Griechen zwischen Glauben und Denken noch nicht klar unterschieden.

Wir nennen uns mit einem gewissen Stolz die Erben der Antike, die Erben der griechischen Kultur, wir gebrauchen - heute fast noch häufiger als in den Tagen der Renaissance - griechische Kunstausdrücke, aber das Dogma vom klassischen Altertum täuscht uns: es gibt kaum eine Frage auf dem Gebiet der Theologie oder der ernsthaften Wissenschaften, bei der der Kunstausdruck nicht einen völligen Bedeutungswandel erfahren hätte.  Historie, Energie, Atom  usw. sind nur scheinbar erhalten geblieben, sind oft Wortleichen, die man zu begraben vergessen hat. Wir irren gröblich, wenn wir solche Begriffe bei der Wiedergabe antiker Vorstellungen als Fremdwörter beibehalten, wir irren ebenso, wenn wir solche Begriffe durch Lehnübersetzungen verdeutschen. Die innere Sprachform der Griechen ist uns unverständlich geworden.

Was in den Sprachen der christlichen Völker "Gott" heißt, ist durchaus nicht dasselbe, was die Griechen und Römer unter den ungefähr entsprechenden Wörtern verstanden; ein guter Teil der Aufklärungsarbeit der Humanisten bestand gerade darin, daß sie den antiken Gottesbegrif wieder lebendig zu machen suchten. Den Griechen und Römern war, wenn mein Sprachgefühl nicht trügt, "Gott" kein Eigenname, auch dann nicht, wenn sie sich über den Polytheismus erhoben und von einer obersten Gottheit zu reden glaubten; sie meinten eigentlich - je nach ihrem Denkvermögen - göttliche Personen, göttliche Menschen, göttliche Kräfte und wären in Verlegenheit gewesen, wenn sie die Bezeichnung "göttlich" hätten definieren sollen. Das wird ganz deutlich bei dem Wort, mit welchem damals wie heute die Verneinung oder Leugnung eines Gottes ausgedrückt wird. Wer heute im strengsten Sinne ein Gottesleugner ist, der erkennt einfach das Dasein der einzigen Person nicht an, die mit dem Eigennamen "Gott" gerufen wird; wie es Geschichtsforscher gegeben hat, die die Existenz der römischen Könige, die die Existenz des  Tell  geleugnet haben, wie es recht zahlreiche Menschen gibt, die das Dasein eines Individuums namens  Teufel  nicht glauben. Der Atheismus des Altertums war etwas anderer Art, wie dem aufmerksamen Ohr schon durch den Wortschall verraten wird. Wer bei den Griechen  atheos  hieß, der konnte freilich auch schon ein Leugner der Stadtgötter sein, war aber vielleicht nur ein Mann, der sich um die Götter nicht kümmerte, der ohne Götter auskam, der - wie wir zu sagen pflegen - Gott einen guten Mann sein ließ. Die Römer übernahmen das Wort zuerst als Fremdwort (atheos), dann als Lehnwort (atheus) und warfen eine solche Gesinnung bekanntlich auch den Juden und den ersten Christen vor. Erst im späteren Latein des Mittelalters entstand, übrigens nach einer falschen Analogie, die Wortform "atheista"; nicht mehr das Verhältnis des so bezeichneten Menschen zu den Stadt- oder Landesgöttern sollte ausgedrückt werden, auch nicht etwa nur (wie häufig schon bei den Griechen und Römern) die Bösartigkeit, die Ruchlosigkeit, die "Gottlosigkeit" eines solchen Menschen, sondern seine Zugehörigkeit zu einer Schule, zu einer Lehrmeinung, eben zu der: die Eigenperson, über deren Wesen und Eigenschaften uns die Theologie unterrichtet, ist nicht vorhanden oder besitzt doch nicht (Atheismus in einem weiteren Sinn) die ihr zugesprochen Eigenschaften. Im Französischen und im Englischen gibt es gleichbedeutende Wortpaare, nach der alten und nach der neuen Form (athée und athéiste (6), atheos und atheist); im Deutschen hat man sich seit alter Zeit Mühe gegeben, den Begriff durch eine Lehnübersetzung einzudeutschen: Gottleugner, Gottesleugner, Ungötter, Ohngötter; CAMPE hat wiederlos "gottlos" vorgeschlagen. FICHTE folgte dieser Anregung und begann seine Rechtfertigung in dem berühmten Atheismusstreit mit dem bedenklichen Satz: "Die Beschuldigung der Gottlosigkeit ruhig ertragen ist selbst eine der ärgsten Gottlosigkeiten." Der Philosoph gebracht da das Wort "Gottlosigkeit" einmal im Sinne des technischen Ausdrucks Atheismus, und unmittelbar darauf nach dem Sprachgebrauch der Frommen im Sinne von Ruchlosigkeit.

Nur die englische Sprache hat ein Wort gebildet, das den Standpunkt der gründlichsten Lossagung von jedem Gottesbegriff, die Ablehnung jeder Beschäftigung mit derartigen Begriffen scharf bezeichnet:  atheology;  gemeint ist eine Denkgewohnheit, die den Gottesbegriff nicht in Betracht zieht, einerlei ob aus Unkenntnis der Theologie oder aus Feindschaft gegen die Theologie. Der christliche Atheismus, der sich mit seiner Leugnung der Eigenperson Gottes kampfbereit gegenüber stellte, ist nur ein Übergang zu einem ganz untheologischen Atheismus der Zukunft.

Diese Überlegung, daß der Unglaube an einzelne Götter eine andere Sache war als heut die theoretische Leugnung des Gottes überhaupt, führt mich zum Gottesbegriff selbst zurück. Man kennt den Gemeinplatz, der Glaube an Gott sei bei allen Völkern und zu allen Zeiten vorhanden gewesen: als LOCKE solche angeborene Ideen bestritt, als BAYLE das Vorkommen von gottlosen Völkern behauptete, erregten solche Gedanken den Abscheu der Frommen. Die vergleichende Religionswissenschaft, die vielfach auf vergleichender Sprachwissenschaft beruth, konnte zu einem viel erschrecklicheren Ergebnis führen. Man hat aus der Tatsache, daß die sogenannten indogermanischen Sprachen kein gemeinsames Wort für das Pferd besaßen, mit einigem Stolz auf die wissenschaftliche Leistung, den Schluß gezogen: also haben diese Völker in ihrer gemeinsamen Urzeit kein Pferd gekannt; nun haben die indogermanischen Sprachen auch kein urverwandtes Wort für den Gottesbegriff, die Wissenschaft hätte also wieder den Schluß ziehen müssen: also haben die Völker in ihrer Urzeit keinen Gott gekannt. Ich gestehe aber, daß mir dieser durchaus nicht parodistische Schluß nur für diejenigen bündig scheint, die auch sonst geneigt sind, die vergleichende Religionsgeschichte für eine Wissenschaft zu halten.

Wer diese Dinge ganz vorurteilslos betrachtet, ohne Eifer und ohne Haß, wie ich von mir rühmen möchte, der wird es der vergleichenden Religionsgeschichte zu danken wissen, daß sie eben durch ihre historische Betrachtung der Hypothese der rationalistischen Aufklärung ein Ende gemacht hat, der Hypothese einer Entstehung der Religionen durch Priesterbetrug. Wir wissen jetzt oder sagen zumindest, daß solche Erzeugnisse des Gesamtgeistes, wie Sprache, Religion, Sitte, Recht, unbewußt aus der sogenannten Volksseele sich entwickelt haben. Der Gesamtgeist hat aber kein Organ des Denkens oder der Sprache, und da wird auf dem Gebiet der Völkerpsychologie, nachdem eine bewußte Erfindung von Sprache, Religion usw. glücklich beseitigt worden ist, weiter zu untersuchen sein, wer eigentlich die geistige Arbeit an diesen Entwicklungen verrichtet hat. Wer z. B. den Bedeutungswandel der religiösen Begriffe verursacht hat. Für die christliche Zeit wäre das die wichtigste Aufgabe einer noch nicht in Angriff genommenen psychologischen Dogmengeschichte; es müßte da vielmehr als bisher von der Phantasie bei den Kirchenvätern und Theologen die Rede sein, von der Suggestion bei den Gläubigen. Im Altertum war das Amt der Religionsmehrer, die heute Theologen heißen, so gut wie ausschließlich bei den Dichtern.

Schon HERODOT wußte, daß die Dichter HOMER und HESIOD den Griechen ihre Götter gestaltet hatten. Und die späteren Dichter, besonders die Tragiker, durften die Mythologie weiter entwickeln wie etwa im Mittelalter die Konzilien taten. Eine für uns fast unvorstellbare Folge dieser dichterischen Gedanken- und Bilderfreiheit war es, daß die Alten nicht zwei unvereinbare Welten um sich erblickten, wenn sie einmal im Theater den Sprüchen der Heroen lauschten, wenn sie ein andermal dem Gottesdienst beiwohnten. Aus den Dichtern allein lernten sie die überlieferten oder umgestalteten Götterlegenden kennen; aber aus denselben Dichtern entnahmen sie, was ihnen als Stimmung (wir sagen heute: Weltanschauung) geläufig wurde. Und lehrten erst die Dichter die Weltanschauung eines, wenn man so sagen darf, leichtsinnigen Pessimismus, so gab es keine höhere Instanz, keine theologische Fakultät und kein gesetzlich eingeführtes Lehrbuch, die eine solche Gesinnung für unsittlich erklärt hätten.

Was man den Pessimismus nennt (mit einem ungewöhnlich schlecht gebildeten Wort), die Überzeugung also von der Elendigkeit der Welt, könnte recht gut mit dem Glauben an einen Gott zusammenbestehen; man brauchte nur, wie die weitverbreitete Teufelsfurcht es tut, einen allmächtigen und allboshaften Gott anzunehmen. In Wirklichkeit hat der sogenannte Optimismus die meisten Religionssysteme ausgestaltet und so ist es gekommen, daß Pessimismus und Atheismus einander oft zu einer einheitlichen Weltanschauung ergänzen. Ich erinnere nur an SWIFT, an FRIEDRICH den Großen und an SCHOPENHAUER.

Von den Griechen erzählte man eigentlich von jeher und besonders sein GOETHE, daß ihre Weltanschauung licht und heiter gewesen war; auch noch der junge NIETZSCHE, der 1869 in Basel seine Antrittsrede hielt, sang dieses Lied; seitdem lernte er, vielleicht durch JAKOB BURCKHARDT beeinflußt, die griechische Unseligkeit verstehen. Schon BAADER hatte auf die Nachtseite der Antike hingewiesen.

Einer Dissertation über "Die pessimistische Lebensauffassung des Altertums" (von MATTHÄUS MARQUARD, 1905) entnehme ich noch einige Zitate, die den bekanntesten griechischen Dichtern und Schriftstellern entstammen und die wie Variationen klingen über das einzige Thema: "Es ist besser, nicht geboren zu werden." Schon bei HOMER sind "die armen Menschen", "die unglücklichen Sterblichen" fast formelhafte Redensarten; die Götter sind sorgenfrei, die Menschen leben in ewigem Kummer; und  Zeus  selbst, der nicht ganz allmächtig und gar nicht allgütig ist, darf sagen: "Kein anderes Wesen ist jammervoller zu schauen als der Mensch, von allem, was lebt und atmet auf Erden." Von PINDAR rührt das oft wiederholte Wort her: "Eines Schattens Traum ist der Mensch." (Vorher geht: "Eintagsfliegen sind wir. Was ist einer? Was ist keiner?") PLUTARCH berichtet, was ein indischer Weiser auf die Frage ALEXANDERs, ob das Leben oder der Tod stärker sei, geantwortet hat: "Das Leben, weil es so viele Leiden zu ertragen vermag." Man wird mir hoffentlich nicht einwerfen, daß demnach der Pessimismus aus Indien nach Hellas gekommen ist; auch SCHOPENHAUER wurde nicht Pessimist, weil er die indische Weisheit liebte, sondern umgekehrt.

Ja, der antike Pessimismus ist noch viel trostloser, als die moderne Weltverzweiflung oder als die Einsicht in den Lebensjammer, wie er schon bei jüdischen und christlichen Frommen gelegentlich vorkam. Die Frommen, wenn sie das Elend auf Erden durchschaut haben, können sich (wie HIOB) an die Gerechtigkeit im Jenseits halten; die modernen Pessimisten und Atheisten lindern das Elend des Lebens durch das große Lachen, das ihnen niemand verwehren kann; der überlebensgroße Märtyrer der Griechen,  Prometheus,  ist nicht gottlos und kennt keinen jenseitigen Ausgleich; so bleibt ihm nur sein titanischer Trotz, in dem er den dereinstigen Sturz seines göttlichen Todfeindes erwartet und voraussagt.

Sehr bekannt ist, daß EPIKUR von den Göttern behauptet, ihr Leben sei leicht und selig; weniger beaknnt ist der pessimistische Zusatz: "Sie kümmern sich nicht um die Menschen, sonst wären sie nicht selig."

Der Pessimismus der Christenheit ist - bewußt oder unbewußt - immer ein Aufbäumen gegen die im Katechismus mitgelernte Weisheit oder Güte Gottes. Die Griechen hatten so etwas nicht auswendig zu lernen; wenn  Prometheus  mit seinem Gott haderte, so tat er das eigentlich von Gott zu Gott, gewissermaßen von Mensch zu Mensch, als ein ebenbürtiger Gegner; der gewöhnliche Grieche brauchte an keiner Eigenschaft Gottes zu verzweifelns, um das Leben entsetzlich zu finden. Der gewöhnliche Grieche, auch der Philosoph, war mit zwei Begriffen vertraut, die ein gläubiger Christ gar nicht anerkennen darf: Zufall im Weltgeschehen und Aufhören des Menschen mit dem Tod. So verschieden veranlagte Griechen wie die Freunde HERODOTs und EURIPIDES nennen das Leben oder den Menschen einen Zufall. Darum wird das Menschenleben so häufig, beinahe sprichwörtlich, eine Posse genannt. Der Gott ist der Possenschreiber; auch mit einem Würfelspiel wird das Leben verglichen. Im Sinn der griechischen Weisen konnte man eher von einem Unsinn des Lebens als von einem Sinn des Lebens sprechen.

Die Vorstellung von einer ausgleichenden Gerechtigkeit nach dem Tod findet sich zwar gelegentlich als Phantasie bei älteren Dichtern und Denkern und ist später durch die orphischen Mysterien, die wahrscheinlich buddhistischer oder doch indischer Herkunft waren, in die Volksreligion und dann in den Sprachschatz der Poeten eingedrungen; aber sie ist im Grunde ungriechisch. Beweis dafür die Anerkennung des Selbstmordes, den das ganze Altertum ohne jede priesterhafte Prüderie als eine Zuflucht betrachtet. Nichtgeborenwerden ist das beste; freiwillig Sterbenkönnen das zweitbeste (7). EURIPIDES empfiehlt die Sitte eines barbarischen Stammes: die Geburt als einen Trauertag, den Tod als einen Freudentag zu feiern. Für die Griechen war der Mensch vom Tier nur dadurch unterschieden, daß er seinen Tod vorauswußte; und weil sie den Tod überall sahen, darum war ihnen die ganze Natur eher schrecklich als schön; überdies fehlte ihnen die Resignation des modernen Ungläubigen (SPINOZA, GOETHE), der an eine ausgleichende Gerechtigkeit nach dem Tod nicht glaubt und sich dennoch in guten Stunden als ein Teil dieser mörderischen Natur heiter und behaglich fühlt.

Noch bewußter und schärfer als bei den Griechen, bei denen der Schrecken noch größer war als die Klarheit, äußert sich der Pessimismus bei den gebildeten Römern der Kaiserzeit, wo Verzweiflung über die Rechtlosigkeit freilich mitsprach. SENECA, LUCANUS und TACITUS schildern den Lebensüberdruß der Zeit. Beinahe noch bitterer und allgemeiner beklagt der ältere PLINIUS (im ersten Kapitel des siebten Buches seiner sogenannten Naturgeschichte) das Menschenlos; man könnte daran denken, KOTZEBUE hätte die Reimereien seines "Ausbruchs der Verzweiflung" nach dieser Stelle des PLINIUS geformt. Kein anderes Tier vergieße Tränen von der Geburt an; alles andere müsse der Mensch erst lernen; nur weinen könne er von Natur. Das Beste sei, nicht geboren zu werden oder früh zu sterben. Wenn PLINIUS nicht ein so kleiner Kompilator gewesen wäre, man könnte an  Prometheus  oder  Faust  denken, da er für das Elend des Menschen einen einzigen Trost weiß: die Götter sind noch schlimmer dran, denn sie können ihrem Leben nicht durch Selbstmord ein Ende machen.

Das Idealbild von der ewigen Heiterkeit des griechischen Volkes, von seiner ewigen Freude, ist eine Fabel. Niemand hat diese Fabel wirksamer, hinreißender vorgetragen als SCHILLER in seinen "Göttern Griechenlands". An Unchristlichkeit läßt das Gedicht nichts zu wünschen übrig: "Da die Götter menschlicher noch waren, waren Menschen göttlicher"; aber noch widriger als seine ererbte Religion sind dem Dichter (1788) die grauen Gesetze der Naturwissenschaft. Er schwärmt für die Zeit, da die Griechengötter selige Geschlechter noch geführt an der Freude leichtem Gängelband, da der Dichtung zauberische Hülle sich noch lieblich um die Wahrheit (die Naturreligion?) wand, da die Güte eines Gottes teurer war, als jede Gabe der Natur, da selbst des Lebens zarter Faden reicher schlüpfte durch der Herzen Hand; alles Schöne, alles Hohe nahmen die Griechengötter mit fort, alle Farben, alle Lebenstöne, und uns blieb nur das entseelte Wort.

Ist ja nicht wahr. Die ungebildete Menge war nur im heidnischen Altertum ebenso diesseitig, wie es heute die katholischen Italiener sind; Tierlein, die sich ihres Lebens freuen, solange die Notdurft des Lebens befriedigt ist. Die geistige Oberschicht der Griechen war pessimistisch und atheistisch zugleich; beides aber ohne das Gefühl, dadurch irgendein Gebot der Sittenlehre zu verletzen. Jene resignierte Heiterkeit, die auch in der Neuzeit so äuerst selten den beinahe dogmatischen und begriffsleeren Pessimismus überwindet, findet ich im gesamten Altertum wirklich nur ein einziges Mal, natürlich bei SOKRATES, in den Schlußworten seiner Verteidigungsrede, die PLATON verfaßt hat, mag sie nun ein ganz freie Erfindung PLATONs sein oder nicht. Schöner hat SOKRATES seine berühmte Ironie niemals zum Ausdruck gebracht als in diesen Abschiedsworten: "Aber es ist ja Zeit, daß wir gehen, ich um zu sterben, ihr um zu leben. Wer von uns beiden aber zum Besseren geht, ist jedem verborgen außer dem Gotte."

Ich habe den griechischen Pessimismus eben atheistisch genannt und halte dennoch an der Meinung fest, daß diese antike Gottlosigkeit in meine Darstellung des Befreiungskampfes nicht hineingehört. Und ich möchte jetzt zusammenfassen, was vorher nur gelegentlich berührt worden ist. Wer in der christlichen Zeit über den Weltlauf pessimistisch dachte, der leugnete, wenn nicht ausdrücklich, so doch in seiner Gesinnung, den Glauben an den Gott des geschriebenen Katechismus, den Glauben an einen allmächtigen, allweisen, allgütigen oder zumindest gerechten Gott; der fromme Christ hat mit dem Weltlauf und besonders mit seinem eigenen Lebenslauf zufrieden zu sein und sich, wenn es ihm gar zu jämmerlich geht, bei Gottes unerforschlichem Ratschluß und bei der Hoffnung auf ein Jenseits zu beruhigen. Der fromme Grieche besaß einen Tempelkult, aber keine Kirchenlehre; die griechischen Priester hatten zu opfern und zu beten, im Nebenamt auch wahrzusagen, aber sie hatten weder Glaubenssätze klarzulegen noch Moral zu predigen. Die genannten Eigenschaften des christlichen Katechismus-Gottes waren auch dem frommen Griechen unbekannt, sogar den zu einer Art Monotheismus gelangten griechischen Denkern. Der Gott war durchaus nicht allmächtig; er hatte weder die Welt noch die Menschen geschaffen und war selbst dem einzigen allmächtigen Wesen unterworfen, dem Schicksal. Der Gott war durchaus nicht allweise; mußten doch die Orakel des Gottes ihre berüchtigten Aussprüche zweideutig gestalten, um ihre Unwissenheit zu verbergen. Noch weniger war der Gott allgütig, oder auch nur gütig oder gerecht; ein launischer Egoist war der Gott, unsittlich, tyrannisch, oft bösartig, kein Vorbild für die besseren Menschen. Hatte also sogar die Volksreligion die Vorstellung, daß die Götter die Welt nicht regierten, keinen hohen Verstand und keine Menschenliebe besaßen, so konnte der griechische Freidenker ein Pessimist sein, einerlei ob er die Götter des Volkes leugnete oder nicht.

Noch einmal muß aber auf den merkwürdigen Umstand hingewiesen werden, daß die Griechen durchaus untheologisch waren, daß ihre Verurteilung des Weltlaufs sich gegen keine Eigenschaft Gottes richtete, daß also der griechische Pessimismus höchstens eine Anklage gegen die Götter war und nicht eine Verzweiflung an den Göttern. Dazu kam noch, daß dieser Pessimismus eigentlich in der Theorie steckenblieb, das Leben nicht beeinflußte. Der Grieche war kein "Zerrissener"; er nahm es nicht schwer, daß der Weltlauf ihn nicht befriedigte; er schimpfte auf das Leben und blieb dennoch leichtlebig. Über den Menschen wie über den Göttern walteten die gleichen finsteren Mächte; die Götter waren dafür nicht verantwortlich, sie waren lustig wie ihre Feste; die Menschen dienten den Göttern am besten mit Lustigkeit.

Man könnte, ohne pharisäisch einen Tadel oder ein Lob damit zu verbinden, die Sachlage so ausdrücken, daß dem Pessimismus der Griechen der Ernst gefehlt hat, der Ernst des Denkens wie der Ernst des Lebens. Wie der kritische Ernst ihrer Wissenschaft fehlte, so der Ernst einer Überzeugungstreue sowohl ihrer Gottesleugnung wie den gelegentlichen Verfolgungen von Gottesleugnern. Was man die ewige Heiterkeit der Griechen genannt hat, das war wirklich nur ein entzückender Mangel an Ernsthaftigkeit, war nur die Heiterkeit gesunder, spielerischer Kinder.


VIII. Sophisten

Wie die Griechen keinen kodifizierten Glauben besaßen und darum auch keine Theologie, so hatten sie auch, eben weil sie keine Kirche hatten, kein kodifiziertes Kirchenrecht. Man wende nicht ein, daß selbst unter den christlichen Kirchen nur die römische ein System des Kirchenrechts besitzt und daß dieses eigentlich erst zu Pfingsten 1918 kodifiziert worden ist. Auch ein römisches Recht gab es lange vor den Pandekten. Beinahe könnte man diesen jüngsten Versuch, das Recht der katholischen Kirche in Paragraphen zu bringen, für ein Zeichen dafür ansehen, daß man sich der Neuheit und Schwäche dieses Rechts bewußt geworden ist.

Wie dem auch sei: das katholische Kirchenrecht hatte durch Jahrhunderte mit Erfolg behauptet, der Staat stehe unter der Kirche und habe die Pflicht, im Auftrag der Kirche Ketzer und Gottesleugner auszutilgen. Davon war im Altertum keine Rede, weder von einer Unterordnung des Staates noch von einem Verbrechen der Ketzerei. Jeder Dichter, der für seine Zwecke die herkömmliche Mythologie irgendwie änderte, wäre nach christlicher Vorstellung ein Ketzer gewesen und hätte den Tod verdient. Wo sich in Athen Ankläger und Richter fanden, um Gotteslästerung oder Gottesleugnung zu bestrafen, da konnte man sich gar nicht auf ein Kirchenrecht berufen, da ging die Stadt, die Polis, aus gemeinem Recht gegen einen Störenfried vor, immer aus politischen Gründen. Dabei sind die Atheismusprozesse im Altertum, so viele ihrer auch aufgezählt werden, doch immer Ausnahmefälle; zu einer grundsätzlichen Verfolgung von Ketzern und Gottesleugnern - von Hexenprozessen und Religionskriegen gar nicht zu reden - fehlte den Griechen jede Neigung und jede gesetzliche Handhabe. Das Leben des Griechen war nicht ganz frei, weil man von ihm die Teilnahme an religiösen Bräuchen der Stadt erwartete; es gab aber kein Kirchenrecht, und so besaß er volle Gedankenfreiheit und Redefreiheit, als Dichter und auch als Philosoph. War er nur ein guter Bürger, vergötterte er nur seine Stadt - und er vergötterte sie buchstäblich -, so hatte er auch seine religiösen Pflichten erfüllt; er hatte der Obrigkeit zu gehorchen und die menschlichen Schwächen der Machthaber hinzunehmen, genauso aber auch die menschlichen Schwächen seiner Götter. Und auch darin waren sein Stadtstaat und seine Stadtreligion in Übereinstimmung, daß beide sich um Sittlichkeit und Bildung der Bürger herzlich wenig bekümmerten. Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, politische Regsamkeit war das oberste Gebot, Gleichgültigkeit gegen die Stadt war die schwerste Sünde. Darum ist es nicht so paradox, wie es einem christlichen Zeitalter scheinen könnte, daß der Vorwurf des Atheismus ein politischer Vorwurf war; nicht so, daß religiöse Verfolgungen von der politischen Macht der Kirche ausgingen wie im Mittelalter, sondern so, daß der Atheist verdächtig wurde, ein schlechter Bürger zu sein. Bei der Bedeutung, welche der Eid damals im geschäftlichen Verkehr zwischen Völkern und einzelnen hatte, hätte es nahegelegen, den Atheismus als Begünstigung von Meineid und Untreue zu verabscheuen; doch in dieser Beziehung waren die Griechen überaus weitherzig; Gläubige wie Ungläubige logen und betrogen und rühmten sich ihrer Pfiffigkeit; griechische Unehrlichkeit war bei den Römern sprichwörtlich. "Kinder betrügt man mit Würfeln, Männer mit Eiden."

Und weil die Alten - wie alle Menschen - Sklaven ihrer Muttersprache waren, nicht aber Knechte eines besonderen theologischen Jargons, darum war der Atheismus bei ihnen Privatsache - wie die Religion in Zukunft Privatsache werden soll -, darum kann man bei ihnen nicht eigentlich von einer Geschichte, einer Entwicklung des Atheismus reden. In der christlichen Zeit verläuft der Befreiungskampf der Aufklärung auch nicht eben geradlinig; aber wie auf den Gebieten anderer Gedankengruppen geht doch selten die Errungenschaft einer Kampfbewegung ganz verloren und die Nachfolger stellen sich gern auf den von Vorgängern eroberten Posten. Den besten Atheisten der Griechen und Römer war die Behauptung ihrer gottlosen Überzeugung kein so ernster Befreiungskampf, keine Selbstaufopferung im Dienst der Menschheit, höchstens vielleicht (Epikureer gegen Stoiker) ein Streit zwischen gegnerischen Schulen. Der Atheismus des Altertums hat keine "Geschichte" im Sinne einer Entwicklung, und schon darum fällt er aus dem Rahmen unserer Aufgabe hinaus; nur als Beispiele für diese Sätze sollen die wenigen griechischen und römischen Atheisten vorgestellt werden, flüchtig oder nachdrücklich, je nach der Nachwirkung, die sie durch das Dogma vom klassischen Altertum auf die Humanisten und dann auf die Aufklärungszeit übten.

Ein griechischer Schriftsteller, an welchem, wenn wir nur mehr von ihm wüßten, die Unterschiede zwischen antiker und christlicher Freidenkerei deutlich zu machen wären, war der angebliche Stifter der eleatischen Schule, der Dichterphilosoph XENOPHANES. Wir besitzen aber von ihm nur einzelne Fragmente, die just ausreichen, in ihm den Urheber derjenigen Sätze zu sehen, um deren Aufstellung willen zweieinhalb Jahrtausende später FEUERBACH berühmt geworden ist. Wir wissen nicht einmal, wann und wo er gelebt hat; wahrscheinlich starb er in sehr hohem Alter ungefähr zu der Zeit, da SOKRATES geboren wurde, wahrscheinlich verbrachte er die letzten Jahre seine Lebens in Elea, in Unteritalien; er stammte aus Kleinasien. Wir erfahren nichts darüber, daß er jemals um seiner Freigeisterei willen verfolgt worden wäre; vielleicht erfreute er sich als Dichter oder Rhapsode einer Freiheit, die man einem zunftmäßigen Naturphilosophen nicht gewährt hätte.

Die entscheidenden Bruchstücke, die man oft und wohl mit Recht zu einem einzigen Gedanken zusammengestellt hat, lauten in zuverlässiger Übersetzung:
    "Sterbliche Menschen vermeinen, die Götter würden geboren,
    Wären wie wir von Gestalt, Gewandung und Sprache.
    Doch wenn Rinder und Löwen wie Menschen Hände besäßen,
    Malen könnten und Statuen bilden, so würden die Tiere
    Götter nach ihrem Bild schaffen, die Götter der Pferde
    Wären wie Pferde, die Götter der Ochsen wie Ochsen."
Es ist ja bekannt, daß die Schwarzafrikaner sich ihre Götter schwarz und stumpfnasig vorstellen, die nordischen Götter rot und blauäugig. XENOPHANES galt im Altertum auch darum als Spötter, weil er mit den Göttergeschichten bei HOMER und HESIOD unzufrieden war, um ihrer Unsittlichkeit willen. Wir wären geneigt, da von so etwas wie einer ethischen Bibelkritik zu reden, doch der antike Dichter hatte ja das Recht, die überlieferten Legenden umzugestalten.

Stand XENOPHANES also der Volksreligion ganz gewiß feindlich gegenüber, so leugnete er doch keineswegs das Dasein von etwas Göttlichem in der Welt; man hat ihn sogar um einiger überlieferter Verse willen zum ältesten griechischen Monotheisten machen wollen, zum Verkünder eines einzigen, den Menschen zwar durchaus ähnlichen, aber doch in Menschenworten als den Größten zu preisenden Gottes. Es hätte nicht viel gefehlt und man hätte den alten Götterfeind zu einem christlichen Theologen gemacht, weil er beim Göttergesindel seiner Heimat keine Befriedigung fand. Es erinnert auch wirklich an die Gester liberaler Sonntagsprediger oder bestenfalls an das berühmte Wort von KANT, wenn XENOPHANES - nach einem Bericht von ARISTOTELES - seine Augen fromm auf den unendlichen Himmel richtete und ausrief: "Der Eine ist Gott." Wenn wir aber, was uns von Äußerungen des XENOPHANES über die Eigenschaften dieses Gottes erhalten ist, zu übersetzen und zu ordnen versuchen, so geraten wir von einem Widerspruch in den andern und gelangen nicht zu der Überzeugung, daß XENOPHANES an einen persönlichen, außerhalb der Welt stehenden Gott geglaubt hat. Warum sollte er auch? War er erst vom Polytheismus abgefallen, dem der Gottesdienst der Volksreligion galt, so gab es im ganzen großen Griechenland keine kirchliche Behörde mehr, keine geistlichen Richter mehr, die seinem Nachdenken ein Ziel oder eine Grenze setzen konnten. Was auch immer er damit gemeint haben mag, daß er den Gott einmal eine Kugel nannte, kein Theologe war da, um ihm das zu verbieten.

Man hat den freien XENOPHANES auch einen Pantheisten genannt, aufgrund eines Verses, den ihm hundert Jahre nachher ein satirischer Skeptiker in den Mund legte; in diesem Vers ist wirklich das Schlagwort des Pantheismus schon enthalten. Wir müssen uns aber hüten, da wieder die Vorstellungen etwa gleichzusetzen, die ein antiker und ein christlicher Pantheist abgelehnt hatte; der moderne Pantheist, der zwischen Gott und Natur keinen Unterschied mehr macht, verwirft die Glaubenslehre von einem außerweltlichen Gottschöpfer; in der antiken Welt gab es kein Dogma, welches die Trennung zwischen Gott und Natur behauptet hätte: die Volksreligion personifizierte einzelne Naturkräfte, aber dem Dichterphilosophen blieb es unbenommen, entweder die gesamte Natur als das All-Eine zu personifizieren oder gar ohne jede Personifikation mit dem All-Einen auszukommen. Es scheint, daß XENOPHANES, als ein Todfeind jedes Anthropomorphismus, das All-Eine geschaut aber nicht weiter erklärt hat.

Denn XENOPHANES war, wenn wir das letzte Wort für ihn finden wollen, ein Agnostiker in unserem Sinne, damit ein würdiger Vorgänger des Agnostikers SOKRATES, der der Weiseste der Griechen nur heißen wollte, weil er um sein Nichtwissen wußte. LEWES hat den XENOPHANES zum Ersten in der Reihe der Denker machen wollen, die im antiken Skeptizismus gipfelten; das ist aber nicht ganz richtig, weil XENOPHANES ganz frei gewesen zu sein scheint vom wahrhaft talmudischen Wortaberglauben, mit welchem die berüchtigten Skeptiker des Altertums ihre Wortspiele trieben. XENOPHANES hatte nicht die geringste Neigung, aus dem Zweifel an der Erkennbarkeit der Welt ein System zu machen; er war nur tief durchdrungen von der Unerkennbarkeit des Göttlichen oder des All-Einen, vom Menschenschicksal, dem Wahn zu erliegen. SOKRATES selbst übte sich bloß an einer beschränkten Kritik sittlicher Worte, ohne bis zur Sprachkritik vorzudringen; XENOPHANES gelangte nicht einmal zur Wortkritik, fragte gar nicht, ob Worten wie "das Göttliche" usw. irgendetwas in der Wirklichkeit entspricht; aber er war so ehrlich, daß er die Unvereinbarkeit gewisser Abstraktionen (Unendlichkeit, Bewegungslosigkeit) mit dem hergebrachten Gottesbegriff erkannte und sich mit einer logikalischen Lösung der Schwierigkeiten nicht zufrieden gab. Die Welt war ihm unbegreiflich, und er war noch so unverschult, daß er sich dieser Unbegreiflichkeit nicht schämen zu müssen glaubte. Wir dürfen nicht vergessen, daß XENOPHANES in einer Zeit lebte, in welcher es noch keine philosophische Fakultät, noch keine grammatische und keine logische Disziplin gab, daß er also gezwungen war, über Gott und die Welt in der griechischen Gemeinsprache zu denken und zu dichten. Da scheint es mir immer eine besondere Auszeichnung für den unverschulten XENOPHANES zu sein, daß der philosophisch und logisch (eigentlich nur grammatisch) so viel geschultere ARISTOTELES, ihm einige Grobheit der Sprache zum Vorwurf machte.

Sehr fein beruft sich ROHDE (in einem akademischen Vortrag "Die Religion der Griechen") auf XENOPHANES und auf PINDAR, da er auf den Unterschied hinweist, der zwischen den religiösen Vorstellungen der Griechen und der Fülle ihrer Göttergestalten besteht. Die Zahl der eigentlich religiösen Göttersagen sei gering; mit den Gestalten der Götter habe die Dichtung ein geniales Spiel getrieben; habe die religiöse Bedeutung dieser Gestalten so völlig vergessen können, daß eben bei XENOPHANES "das Nichtreligiöse ins Irreligiöse umzuschlagen schien". Von irgendeiner Verfolgung dieses Patriarchen aller Atheisterei erfahren wir nichts.

Wäre die Auswahl dessen, was vom antiken Schrifttum auf uns gekommen ist, nicht vom Zufall vollzogen worden, insbesondere nicht von den zufälligen Bedürfnissen der spätgriechischen und römischen Schulen, so hätte sich ohne Zweifel eine richtigere Vorstellung vom klassischen Zeitalter der Griechen bilden lassen. Wir besitzen aus jener Blütezeit kein einziges Gemälde, nur wenige sicher bestimmbare Bildwerke; wir müssen es auf Treu und Glauben hinnehmen, daß die erhaltenen Theaterstücke die besten Theaterstücke, daß PLATON und ARISTOTELES die bedeutendsten Philosophen des Zeitalters waren. Einige Zeugnisse aus dem Altertum und Fragmente seiner Schriften lassen vielleicht darauf schließen, daß ANAXAGORAS uns mehr zu sagen hätte als PLATON und ARISTOTELES, an denen die Menschen durch mehr als zwei Jahrtausende das Denken übten und wohl auch mit den Denkübungen Mißbrauch trieben. Nichts liegt mir ferner, als den Versuch wagen zu wollen, ein "System" des ANAXAGORAS aus zerstreuten Ruinenstücken wieder aufbauen zu wollen. Ich habe mich mit ihm hier nur zu beschäftigen, weil er - wie das die Tradition ausdrückt, die wir nicht wörtlich zu nehmen brauchen - der Lehrer von PERIKLES, von EURIPIDES und von SOKRATES gewesen ist, also der Lehrer des gottlosen Staatsmannes, des gottlosen Dichters und des gottlosen Philosophen; und weil er selbst wegen Gottlosigkeit angeklagt und verurteilt wurde. Er starb fern von Athen, über siebzig Jahre alt, nur wenige Jahre vor der ersten Aufführung der Posse "Die Wolken", in der ARISTOPHANES die erste Denunziation gegen den gottlosen SOKRATES

. Wir wissen nicht, ob die Abwendung von der Volksreligion, also die Götterleugnung, die sich bei PERIKLES als Rationalismus äußerte, bei EURIPIDES bis beinahe zu einer Parodie der Mythen steigerte und bei SOKRATES zu einer mythenfreien Ethik führte, - wie wissen nicht, ob diese griechische Aufklärung wirklich von der Persönlichkeit des ANAXAGORAS ausging oder ob sie während des Peloponnesischen Krieges in der Luft lag, im neuen Zeitgeist. Die Anekdote, nach der ANAXAGORAS eine Wahrsagung lächerlich machte (die Alleinherrschaft des PERIKLES sollte durch die Erscheinung eines einhörnigen Hammels vorher verkündet werden, und ANAXAGORAS erklärte die Einhörnigkeit aus einer ebenso abergläubigen Anatomie, doch immerhin natürlich), beweist nur, daß die Naturwissenschaft, so tief sie auch stand, gern das Erbe der Priesterweisheit angetreten hätte. ANAXAGORAS versuchte dasselbe, was die Naturphilosophen, die man die Vorsokratiker zu nennen pflegt, versucht hatten: die Entstehung der Welt mit Hilfe einer armseligen Naturerkenntnis zu erklären. Es ist begreiflich, daß eine so kindische Naturerklärung, zumindest für die griechischen Kindert, befriedigender ausfallen konnte als die heute gewagten Lösungen der Welträtsel. Beachtenswert aber ist es, daß alle diese primitiven Versuche einer unklar mechanistischen Welterklärung sich mit dem Götterglauben der Griechen ganz gut zu vertragen schienen; gehörten doch die Götter mit zu der Welt, gab es doch keine Genesis, welche irgendeinen Gott zum Schöpfer der Welt machte; es stand gar nichts im Weg, das Feuer, das Wasser oder sonst ein Element zum Urgrund der Götter und der übrigen Welt zu machen. Nun hatte ANAXAGORAS, der übrigens eine besondere Art von Atomistik lehrte, zur Erklärung der Weltordnung ein neues Element eingeführt, von dem wir nur allgemein sagen können, daß es ein geistiges Element war: den  Nus.  Wenn man das Wort mit "Vernunft" übersetzt oder gar mit "Weltvernunft", so wird man leicht geneigt, eine abstrakte Gottheit dahinter zu suchen; aber schon HEGEL hat erkannt und es in seiner krausen Sprache fast unzweideutig ausgesprochen, daß dieser  Nus  kein denkendes Wesen außerhalb der Welt war, keine Persönlichkeit, sondern so etwas wie in objektives Denken. Wahrscheinlich verstand ANAXAGORAS unter seinem Nus ein Element des Lebens, was man etwa später Vitalismus nannte, ein ordnendes Prinzip, das dem Zufallsbegriff des antiken Materialismus entgegenstand. Nicht einmal von einem Dualismus, von einer gegenseitigen Ergänzung von Geist und Materie, sollte man da reden; der Nus mochte ein viel dünnerer Stoff sein als etwa die Himmelskörper, aber irgendwie stofflich hatte man ihn sich doch zu denken. Wegen einer solchen Naturphilosophie aber war in Griechenland niemals eine Anklage auf Atheismus erfolgt.

BAYLE hat seine Verwunderung darüber ausgesprochen, daß wir über den Prozeß des ANAXAGORAS, obgleich der Staatskanzler von Athen, PERIKLES, als Zeuge oder als Verteidiger auftrat, so schlecht unterrichtet sind; BAYLE übersieht, daß wir auch von dem tragischer ausgehenden Prozeß des SOKRATES nicht viel wüßten, wenn nicht die beiden Berichterstatter zufällig berühmte griechische Schriftsteller wären, deren Schriften erhalten worden sind und wenn nicht die folgenden Schulen sich nicht gern auf den vorbildlichen SOKRATES als auf ein Ideal berufen hätten. Und daß wir uns auch da vielfach auf Vermutungen beschränken müssen. Wahrscheinlich wurde die Anklage gegen ANAXAGORAS von Leuten erhoben, die nicht den Philosophen selbst treffen wollten, sondern seinen Schüler PERIKLES; was über die theatralische Weise erzählt wird, in welcher PERIKLES die Freisprechung seines Lehrers zu erreichen suchte - wie bei anderer Gelegenheit die Freisprechung seiner  Aspasia -, das ist vielleicht alles nur ahtenischer Klatsch, würde aber zum Gerichtsverfahren im demokratischen Athen recht gut stimmen; da sich eine solche Theatralik vor Gericht auch im demokratischen Paris wiederholt. Was aber die Anklage selbst betrifft, so ging sie bezeichnenderweise nicht auf die Theologie des ANAXAGORAS oder auf seine Philosophie, oder wohin sonst man seine Nuslehre rechnen mag, sondern einfach auf den groben Unfug seiner Behauptung, die Sonne sei ein Körper, ein Stein oder ein glühendes Eisen. Wir haben also bereits am Prozeß des ANAXOGORAS ein Beispiel dafür, daß die Griechen jeden theoretischen oder radikalten Atheismus und jede gottlose Philosophie duldeten und erst dann unduldsam wurden, wenn so ein Mann irgendeinen religiösen Brauch seiner Stadt im Gegensatz zur öffentlichen Meinung zu stören schien. Die Entdeckung, ANAXAGORAS wäre ein Atheist gewesen, wurde erst in der Folgezeit gemacht, erst ein Menschenalter später; vielleicht kam der Beiname "Atheist" auch überhaupt erst in der kritischen Zeit des Peloponnesischen Krieges auf. Meines Wissens der erste, der diesen Beinamen führte, war der Philosoph DIAGORAS, von dem wir nur gar zu wenig wissen.

BAYLE rühmt von ihm: "Er war einer der schärsten und entschlossensten Atheisten der Welt, nicht zweideutig und nicht schmeichelnd verneinte er jede Art von Gott." Die Tradition, daß er zu den Sophisten gehört hat und daß er ein Schüler des DEMOKRIT gewesen ist, hat die philologische Kritik zerstört, und hat aus einer Stelle des frommen Gassenjungen ARISTOPHANES mit ziemlicher Sicherheit erschlossen, daß die Verurteilung des DIAGORAS um das Jahr 415, also gegen Ende des 5. Jahrhunderts erfolgte, in einer sehr aufgeregten Zeit der Stadt Athen. Doch sind alle diese Zeitbestimmungen noch viel unsicherer als bei größeren Namen der griechischen Philosophiegeschichte. DIAGORAS kann nicht gut ein Schüler des DEMOKRIT oder ein Lehrer des SOKRATES gewesen sein; was immer über diese Beziehungen vermutet wird, das stützt sich entweder auf Zufallsanekdoten bei DIOGENES LAERTIUS und CICERO, oder auf Zufallsworte der Possendichter, wenn nicht gar auf eine gewagte Ausdeutung solcher Zufallsworte. Immerhin gibt es zu denken, daß ARISTOPHANES, der sicherlich gewissenlos war, aber seine Leute kannte, den Gottesleugner SOKRATES, da er ihn der Volkswut denunzieren will, gelegentlich in böser Absicht den "Melier" nennt; DIAGORAS stammte von der Insel Melos; wahrscheinlich also war zu der Zeit, als ARISTOPHANES gegen SOKRATES zu hetzen begann, der Melier DIAGORAS als Gotteslästerer bekannter als SOKRATES, und es war darum für SOKRATES ein gefährlicher Schimpf, mit DIAGORAS verglichen zu werden. Was sonst erzählt wird, um den Ausgang des DIAGORAS mit dem Schicksal der Insel Melos in Verbindung zu bringen, ist offenbar ungeschichtliches Geschwätz der Griechen: daß Athen die Melier um ihres Atheismus willen überfallen und vernichtet habe. ALKIBIADES, der auch diesen Feldzug veranlaßt hat, war kein Beschützer der Götter und hatte sich bald darauf wie DIAGORAS selbst wegen einer Verspottung der Mysterien zu verantworten.

CICERO ist ein Zeuge dafür, daß schon bei den Alten ein Unterschied gemacht wurde zwischen den dogmatischen Skeptikern, die das Dasein der Götter dahingestellt sein ließen wie alles, und den eigentlichen Gottesleugnern. DIAGORAS wäre auch darum ein ganz echter Atheist, weil sein Unglaube nicht ein logischer Schluß, sondern ein Erlebnis war; er soll dadurch einen Prozeß verloren haben, daß sein Gegner einen Meineid schwur; als dieser Meineid von den Göttern nicht gerächt wurde, verlor DIAGORAS seinen Kinderglauben. Er wurde angeklagt und nach seiner Flucht ein Preis auf seinen Kopf, der doppelte Preis auf seine Gefangennahme gesetzt.

Gerade die Verfolgung des DIAGORAS läßt aber erkennen, daß er schwerlich um seines theoretischen Atheismus willen zu büßen hatte, sondern weil er den Volksglauben verletzte und verhöhnte. Ein Kirchenvater erzählt dem Scholiasten des ARISTOPHANES die Geschichte nach, daß DIAGORAS einmal in einem Wirtshaus, da es an Holz fehlte, ein hölzerne Götterbild kleingeschlagen habe, um irgendein Gemüse zu kochen. (Der französische Jesuit GARASSE meint zweitausend Jahre später, zu seiner Zeit hätten sehr viele Karrenschieber und Schuhflicker beim Wein noch bessere Einfälle.) Ein anderes Histörchen wird am hübschesten von DIOGENES LAERTIUS berichtet: Man verlangte von ihm den Glauben an die Hilfe der Götter, weil in irgendeinem Tempel viele Votivtafeln ausgestellt worden wären von Leuten, die aus einem Schiffbruch gerettet worden waren; DIAGORAS antwortete, die Ertrunkenen hätten keine Tafeln gewidmet, sonst wäre der Tempel noch voller. In beiden Fällen handelte es sich also um Angriffe gegen die Volksreligion, also gegen das, was wir heute Aberglauben nennen. Und dahin gehört auch das Vergehen, um dessentwillen er eigentlich verfolgt wurde. Er soll die griechischen Mysterien verraten oder verspottet haben; aber auch die Mysterien waren kein Teil des offiziellen Götterglaubens, waren nur Volksreligion der besseren Stände.

DIAGORAS wurde nicht gefangen und nicht hingerichtet; man weiß aber nicht, wann und wie er gestorben ist.

Es verdient eine Erwähnung, daß GOTTSCHED, den eine kleine Gruppe zum größten Mann des 18. Jahrhunderts machen möchte, den tapferen BAYLE wegen seines Artikels "Diagoras" hart angegriffen hat. BAYLE hatte in einer Anmerkung wieder einmal durchblicken lassen, daß er sich einen geordneten Staat von Gottesleugnern recht gut vorstellen könnte. GOTTSCHED tadelt ihn dafür. Eine solche Unparteilichkeit sei gefährlich; man solle die Verdienste offenbarer Gottesleugner nicht rühmen. Ein Staat werde ja nicht so unglücklich sein, daß es nur geschickte Gottesleugner darin geben wird; auch eine Gesellschaft von Freigeistern werde nicht so einfältig sein, einen abergläubischen, obgleich verdienstvollen Menschen ans Ruder zu setzen. Als GOTTSCHED diese Zeilen niederschrieb, war FRIEDRICH der Große bereits König.

Es liegt nahe, den schlechten Ruf des alten DIAGORAS bei den Griechen nur zu begreiflich zu finden, wenn noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein deutscher Aufklärer so gehässig über ihn urteilen konnte. Die Verfolgung des DIAGORAS fällt aber in die Jahre zwischen der öffentlichen Beschimpfung des SOKRATES durch ARISTOPHANES und des SOKRATES' Hinrichtung, fällt just in die Zeit, da Athen durch das tolle Unternehmen gegen Sizilien seine Machtstellung einbüßte; wir wissen gar nichts darüber, welche Feindschaften DIAGORAS etwa erregt hatte, wir wissen nur, daß die Anklage gegen ihn in einer Periode äußerster politischer Spannung erhoben wurde; wir müssen uns also auf die Vermutung beschränken, daß irgendeine Partei den politischen Gegner in ihm treffen wollte. Nicht einmal die Nachricht, er sei auf der Flucht bei einem Schiffbruch umgekommen, darf darauf schließen lassen, die öffentliche Meinung der Zeitgenossen habe da an ein göttliches Strafgericht gedacht; das mag für ähnliche Legenden des Mittelalters gelten; bei den Griechen entstanden solche Legenden ohne Tendenz, ohne Bosheit, freilich auch ebenso wie bei den Mönchen ohne Überlegung; man ließ in Griechenland fast jeden berühmten Mann, dessen Todesursache nicht irgendwie bezeugt war, eines unnatürlichen Todes sterben; eine Anekdote war bald erfunden und niedergeschrieben, und im Fall des DIAGORAS gar wurde vielleicht nur die Anekdote vom Ausgang des PROTAGORAS abgeschrieben. Die griechischen Historiker hatten es bequemer als die unseren.

Nur auf den Umstand möchte ich noch einmal hinweisen, daß DIAGORAS durch einen Meineid, der ihn einen Prozeß verlieren ließ, zu seinem Abfall vom Volksglauben geführt worden sein soll. Der Eid ist eine Art Wette: wer einen Eid bei den Göttern geschworen hat, einen falschen Eid nämlich, läßt es darauf ankommen, ob die Götter mächtig und sittlich genug sind, den Meineid zu bestrafen; der Gottesleugner ist im Vorteil wie beim mittelalterlichen Gottesurteil der stärkere und ungläubige Gegner. Nun spielte der Eid bei den Griechen im Zivilrecht die gleiche entscheidende Rolle wie heute, dazu aber eine sehr viel gefährlichere Rolle im öffentlichen Recht; Friedensverträg wurden während des Peloponnesischen Krieges regelmäßig durch Eide gesichert. Alle Welt wußte, daß diese Eide ebensooft gebrochen wurden, wie heutzutage völkerrechtliche Verträge und daß im Zivilprozeß falsche Eide in Menge abgelegt wurden. DIAGORAS konnte also aus seinem Erlebnis zweierlei Schlüsse ziehen: daß die Götter entweder nicht existierten oder ohnmächtig oder unsittlich waren, so dann daß das Volk der Griechen an die Strafe der Götter nicht mehr glaubte. Es ist möglich, daß DIAGORAS nur diesen zweiten Schluß zog, nur eine Tatsache feststellte, daß er das Recht durch ein besseres Mittel als den Eid gesichert wissen wollte und daß man ihm diese Aufdeckung einer konventionellen Lüge übelnahm. Auch heute noch ist der Eid ein dunkler Punkt im Prozeßverfahren; der Vorsitzende des Gerichtshofes pflegt, wenn er dem Zeugen einen Eid abzunehmen hat, mit lauter Stimme die weltlichen Strafen des Meineides anzudrohen und dann, damit er nicht bei seinen Vorgesetzten anstoße, leise etwas von den göttlichen Strafen zu murmeln. Und wieder darf nicht vergessen werden: der heutige Gerichtspräsident, der die göttlichen Strafen nicht glauben wollte, würde einen Satz des Katechismus leugnen; der Grieche verletzte nur die Volksmeinung.

Eine solche Gegenüberstellung von geschriebenem und ungeschriebenem Recht erinnert freilich an die Kämpfe, die seit dem 16. Jahrhundert um die Anerkennung eines Naturrechts von den Freidenkern geführt wurden; doch wieder darf nicht außer acht gelassen werden, daß in der christlichen Zeit die religiöse Freidenkerei den Ausgangspunkt bildete, während im Altertum die Kritik, soweit sie ernsthaft war, bei den Rechtsbegriffen einzusetzen pflegte und der Individualismus oder Relativismus, den die sogenannten Sophisten etwa zu der Zeit des DIAGORAS einführten und verbreiteten, nur nebenbei auf religiöse Fragen ausgedehnt wurde. Was den Sophisten zunächst vorgeworfen wurde, das war ihre wirkliche oder angebliche Lehre: der Starke (wir würden sagen: der Übermensch) brauche sich um die Begriffe Recht und Unrecht nicht zu kümmern; nach den Gesetzen der Natur sei es eine Schande, Unrecht zu leiden, einen Schaden zu haben; Unrecht tun sei nur durch Menschensatzung verboten. Dieser Relativismus erstreckte sich bei den konsequentesten Sophisten bald auch auf den sittlichen Unterschied von Gut und Böse, auf die Unterwerfung unter die Bräuche der Heimat und nur so auch auf die Religion. Noch waren im letzten Viertel des 5. Jahrhunderts die Sophisten nicht durch PLATON zu minderwertigen Philosophen gestempelt worden, noch konnten DIAGORAS und auch SOKRATES - wie es wahrscheinlich geschah - ohne beschimpfende Absicht Sophisten genannt werden, Menschen, die, um ein späteres Wort zu benützen, die Philosophie vom Himmel auf die Erde brachten. Darin lag allerdings etwas Neues ausgesprochen, doch nicht das, was die christliche Gemeinsprache herauszuhören glaubt. Die Naturphilosophie hatte sich viel mit den Bewegungen der Himmelskörper beschäftig und war schließlich zwar nicht zu unserer mechanischen, aber doch zu einer götterlosen Astronomie gelangt; die Sophisten gaben diese Art von Naturphilosophie auf und widmeten ihr Nachdenken nur noch den menschlichen Dingen, den Fragen von Recht und Sitte. Der Glaube an das Dasein der Götter bildete nicht den Mittelpunkt der Untersuchungen. Unabhängig konnte der eine die Religion rationalistisch erklären, der andere politisch, PROTAGORAS skeptisch ausweichen, DIAGORAS die Ohnmacht der Götter aus der Nutzlosigkeit des Eides beweisen und SOKRATES, im Besitze einer gemütlichen Privatreligion, alle sittlichen Schlagworte seiner lieben Zeitgenossen in Frage stellen.
LITERATUR - Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Stuttgart/Berlin 1922
    Anmerkungen
    3) Die Vorstellungen vom Zustand der Seelen oder Schatten in der Scheol [Totenreich - wp] (etymologisch vielleicht ein "Hohlraum") sind ganz undeutlich; die Juden hatten nicht die künstlerische Phantasie der Griechen, und so glaubten sie nur, die Toten hätten in der Scheol eben nicht mehr das Empfinden und Wollen, das den Lebenden auszeichnet, nur etwa dumpfe Erinnerungen oder Anklänge an Empfinden und Wollen. Spärliche Reste von einem Ahnenkult spielen hinein. Die Totenbeschwörung des  Samuel  ist ein ein Ausnahmefall. Die Septuaginta, aber auch  Matthäus  und  Lukas,  setzen ganz unbefangen den Hades für die Scheol ein, ein Beweis dafür, daß auch heilige Männer nicht für Aberglauben halten, was sie selber glauben; der Hades gehört zu den Religionsbegriffen der Heiden.
    4) Der ganze schulberühmte Aufsatz "Über den Aberglauben" ist in christendeutscher Sprache schon darum nicht wiederzugeben, weil das Titelwort (deisidaimonia) eben wörtlich "Gottes furcht"  heißt und nicht "Aberglauben". PLUTARCH meint wirklich: Gottesleugnung ist nich so schädlich wie übertriebene Furcht vor den Göttern.
    5) Der christliche Monotheismus war nicht immer eine so ausgemachte Sache wie heute. Im 2. Jahrhundert nannt JUSTINUS der Märtyrer den Sohn ganz harmlos "den zweiten Gott", und noch im 4. Jahrhundert sah ATHANASIUS selbst im Dogma der Trinität die rechte Mitte zwischen jüdischem Monotheismus und heidnischem Polytheismus. Man erblickte im Begriff der "Dreieinigkeit" noch keinen Widerspruch, kaum ein Problem. Und noch im 6. Jahrhundert hatte die griechische Kirche ihren tritheistischen Streit, der dann durch den Nominalisten ROSCELLIN wieder belebt wurd und schließlich als Sozinianismus die unchristliche neue Zeit entscheidend beeinflußte.
    6) Erst neufranzösisch. ADELUNG führt "Atheist" unter den Worten auf "-ist" an, die in der fremden Sprache nicht üblich sind; und wirklich ist im Wörterbuch der französischen Akademie von 1814 zwar "athéisme" gebucht, aber noch nicht "athéiste".
    7) Die Statistik unserer Zeit erklärt den Selbstmord aus Beweggründen, die im Altertum mit solcher Kraft kaum mitsprachen; es gab nicht so viel Hunger, es gab keine sentimentale Liebe, es gab nicht so viel Nervenzerrüttung. Erstaunlich ist es nur, daß der Selbstmord oder den Freitod bei den Griechen so häufig war, obgleich sie, trotz ihres theoretischen Pessimismus, eigentlich ein leichtsinniges Volk wren. Uns hat die Frage zu beschäftigen, weil wir im Fortgang der Untersuchung noch oft erfahren werden, daß die Anpreisung oder auch nur Rechtfertigung des Selbstmordes bei den Christen als ein Zeichen von Gottlosigkeit oder doch Unchristlichkeit galt. Und da ist vor allem festzustellen, daß der Freitod bei den Griechen nicht als eine religiöse Sünde betrachtet wurde, mit der Religion gar nichts zu schaffen hatte. Es gab wohl Zeiten, in denen der Stadtstat die Leiche des Selbstmörders sozusagen mit Ehrenstrafen belegte (Versagung eines Begräbnisses, Abhauen einer Hand), aber da bestrafte man doch wohl nur den Deserteur, der der Allgemeinheit seine Kraft entzog. Die Götter hatten nichts gegen den Freitod einzuwenden. Wir besitzen glaubhafte Berichte darüber, daß zumindest in zwei griechischen Gebieten, der Insel Keos und der alten Kolonie Marseille, der Freitod gesetzlich organisiert war; in Keos durchten die alten Leute freiwillig in den Tod gehen wie zu einem letzten Fest, und in Marseille wurde die Erlaubnis vom Stadtrat erteilt und offenbar auch der Todestrank von der Stadtkasse bezahlt. In Athen selbst wurde von den Dichtern die Scheu des Unglücklichen vor dem Freitod fast wie eine feige Gesinnung getadelt, als Lebensliebe; man sollte aus dem Leben gehen wie aus dem Theater, wenn einem das Stück nicht gefiel. Einmal wird (von PLUTARCH, im  Leben des Kleomenes) für den würdigen Selbstmord der Ausdruck  Euthanasie  gebraucht, worunter wir heute eher den schmerzlosen Tod zu verstehen anfangen, den der Arzt etwa durch Morphium herbeiführt. Heroensagen und Anekdoten aus geschichtlicher Zeit sind voll von Selbstmordgeschichten. Die beiden feindlichen Philosophenschulen der griechischen Spätzeit und Roms (wo politische Verzweiflung hinzukam) nahem den Freitod in ihren Gedankenbau auf. Der Tod des SOKRATES war eigentlich ein Freitod, weil SOKRATES die Richter zum Todesurteil bewußt reizte und die Flucht ablehnte. Bloß die Pythagoreer verwarfen den Freitod, aber nur weil sie als Bekenner des Glaubens an die Seelenwanderung vom Tod keine letzte Befreiung erhofften. Und wie die Religion der Griechen, so war auch ihr Ehrbegriff dem Freitod nicht entgegen. Er wurde für viele berühmte Leute der letzte Ruhmestitel. Ein Kyniker war es, der rätselhafte  Peregrinos Proteus,  der im 2. Jahrhundert nach Christi, selbst vorübergehend Christ oder so etwas, mit krankhafter Ruhmsucht sich selbst verbrannte, wie  Herostrates  aus Ruhmsuch den Tempel von Ephesos verbrannt hatte. Mir war es darum zu tun, zu zeigen, daß auch die griechische Freitodpredigt nicht wie die eines Christen mit Gottlosigkeit in unserem Sinne zusammenhängt.