ra-2Dali und die ParanoiaBildsprache MagrittesJudi Freeman    
 
MARTIN JULIUS ESSLIN
Der Sinn des Absurden

Eugene Ionesco
Wesen des Absurden
"Dieses Bestreben, eine ursprüngliche, noch unaufgelöste Gesamtheit der Wahrnehmungen, eine intuitive Seinserfahrung mitzuteilen, führt im Theater des Absurden zur Abwertung und Zersetzung der Sprache."

Als NIETZSCHEs ZARATHUSTRA von seinen Bergen herabstieg, um zu den Menschen zu predigen, begegnete er im Walde einem heiligen Eremiten. Dieser alte Mann lud ihn ein, bei ihm in der Wildnis zu bleiben, statt in die Städte der Menschen zu ziehen. Als ZARATHUSTRA den Eremiten fragte, wie er in dieser Einsamkeit denn seine Zeit verbrächte, antwortete ihm dieser: "Ich mache Lieder und singe sie, und wenn ich Lieder mache, lache, weine und brumme ich: also lobe ich Gott." ZARATHUSTRA aber lehnte das Angebot des alten Mannes ab und setzte seine Reise fort: "Als ZARATHUSTRA aber allein war, sprach er also zu seinem Herzen:  Sollte es den möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Wald noch nichts davon gehört, daß Gott tot ist!" 

Die Erstauflage des ZARATHUSTRA erschien 1883. Die Zahl derer, für die Gott tot ist, hat sich seit den Tagen NIETZSCHEs beträchtlich vermehrt, und die Menschheit hat überdies die bittere Erfahrung gemacht, daß so mancher billige und vulgäre Gottes-Ersatz trügerisch und böse ist. Und so gibt es auch nach zwei schrecklichen Kriegen immer noch viele Menschen, die versuchen, sich mit ZARATHUSTRAs Botschaft und ihren Konsequenzen auseinanderzusetzen. Sie möchten ein Mittel finden, das ihnen die Kraft gibt, einem Universum ohne Mittelpunkt und ohne klar erkennbare Zweckbestimmung mit Würde entgegenzutreten - einem Universum, das, eines allgemein akzeptierten einigenden Prinzips verlustig, fragmentarisch, zusammenhanglos und sinnlos geworden ist - mit einem Wort: absurd.

Das Theater des Absurden ist eine Ausdrucksform dieser Suche. Es findet sich mutig mit der Tatsache ab, daß ein Mensch, der in der Welt kein beherrschendes Prinzip und keinen Sinn mehr zu entdecken vermag, sich auch nicht länger mit Kunstformen zufrieden geben kann, die sich auf ungültig gewordene Maßstäbe und Begriffe gründen, nämlich von der Voraussetzung ausgehen, es gebe ein festes Fundament geoffenbarter Gewißheiten über die Bestimmung des Menschen in der Welt, von der sich letzte Wertbegriffe oder feste Regeln für das menschliche Verhalten ableiten lassen.

Indem das Theater des Absurden der tragischen Erkenntnis vom Verlust aller endgültigen Gewißheiten Ausdruck verleiht, wird es paradoxerweise zu einem Symptom jener Bestrebungen, die man vielleicht als die echte religiöse Suche unserer Zeit bezeichnen könnte. Es macht eine - wenn auch noch so schüchterne und zaghafte - Anstrengung, zu lachen, zu weinen und zu brummen, mit der es zwar nicht Gott loben will (dessen Name, laut ADAMOV, so lange durch den Gebrauch entwertet worden ist, daß er seinen Sinn verloren hat), mit der es aber immerhin eine Dimension des Unsagbaren zu erreichen trachtet. Es ist ein Versuch, dem Menschen die elementaren Realitäten seines Daseins wieder zum Bewußtsein zu bringen, ihm das verlorene Staunen angesichts des Kosmos und die Urangst wieder einzuflößen, ihn aufzurütteln aus einer trivial, mechanisch und selbstgefällig gewordenen Existenz, der jene Würde fehlt, die aus Bewußtheit erwächst. Denn Gott ist tot, vor allem für den Massenmenschen, der in den Tag hineinlebt und jegliche Beziehung zu den grund legenden Tatsachen - und Geheimnissen - des menschlichen Daseins verloren hat, mit denen ihn früher das lebendige Ritual seiner Religion in Berührung brachte. Als religiöser Mensch war der einzelne einst G lied einer wahren Gemeinschaft; heute ist er ein Atom in einer atomisierten Gesellschaft.

Das Theater des Absurden hat teil an dem unermüdlichen Streben der echten Künstler unserer Epoche, die starre Mauer der Selbstgefälligkeit und des automatischen Dahinlebens niederzureißen und den Menschen wieder zur Einsicht in seiner Situation zu bringen, indem es ihn mit der elementaren Wirklichkeit seiner Existenz konfrontiert. Damit verfolgt das Theater des Absurden einen doppelten Zweck und stellt seinem Publikum eine zweifache Absurdität dar.

Da dem Theater des Absurden nicht daran gelegen ist, Informationen zu übermitteln oder die Probleme und Schicksale von Personen darzustellen, die außerhalb der Innenwelt des Autors existieren, da es auch keine Thesen aufstellt und keine ideologischen Behauptungen diskutiert, befaßt es sich auch nicht mit der Schilderung von Ereignissen oder der Darstellung der Schicksale und Abenteuer eines dramatischen Helden. An ihre Stelle tritt die Darstellung von Grundsituationen des Einzelmenschen. Es ist ein Theater der Situation im Gegensatz zum Theater des Handlungsablaufs, und seine Sprache ist nicht die Beweisführung und der diskursiven Rede, sondern eine Zeichensprache in konkreten Bildern. Und da es Lebensgefühle darzustellen versucht, kann es also Verhaltens- und Moralprobleme auch weder untersuchen noch lösen.

Weil im Theater des Absurden der Autor seine persönliche Welt auf die Bühne projiziert, kennt dieser dramatische Stil auch keine objektiv gültigen Charaktere. Er zeigt weder das Aufeinanderprallen gegensätzlicher Temperamente noch in Konflikt geratene menschliche Leidenschaften; er ist daher nicht dramatisch im herkömmlichen Sinne. Der Dramatiker des Absurden will auch keine Geschichten erzählen, um daraus nach Art des erzählenden "epischen" Theaters von BRECHT moralische oder soziale Lehren abzuleiten. Die Handlung eines absurden Stücks soll nichts erzählen, sondern eine Komposition poetischer Bilder auf die Bühne stellen.

Um nur ein Beispiel zu geben: Es ereignet sich manches in "Warten auf Godot", aber diese Ereignisse fügen sich nicht zu einer Handlung oder Geschichte zusammen; sie sind vielmehr der bildliche Ausdruck von BECKETTs Erfahrung, daß im menschlichen Leben  niemals etwas Wirkliches  geschieht. Das ganze Stück ist ein komplexes poetisches Bild, ein kompliziertes Muster aus sich ergänzenden Bildern und Themen, die miteinander verwoben sind wie die Themen in einer musikalischen Komposition. Sie sollen keine Entwicklungslinie darstellen, wie in den meisten "gut gemachten" Stücken, sondern dem Zuschauer den umfassenden, komplexen Eindruck einer statischen Grundsituation vermitteln. In dieser Hinsicht gleicht das Drama des Absurden einem symbolistischen oder imagistischen Gedicht, dessen Struktur ebenfalls aus ineinandergreifenden Bild- und Assoziationskonstellationen besteht.

Während das epische Theater BRECHTs die Möglichkeiten des Dramas durch die Einführung erzählerischer, epischer Elemente erweitern möchte, strebt das Theater des Absurden wie die lyrische Dichtung nach einer Verdichtung und Vertiefung. Natürlich gibt es in jedem Drama dramatische, epische und lyrische Elemente. Selbst BRECHTs Dramen enthalten - wie die SHAKESPEAREs - lyrische Einsprengsel in Form von Songs, und sogar die lehrhaftesten Stücke IBSENs oder SHAWs sind reich an rein poetischen Momenten. Das Theater des Absurden betont das lyrische Element sehr viel stärker, indem es auf psychologische Motivierung, auf Feinheiten der Charakterzeichnung und auf Handlung im herkömmlichen Sinne verzichtet. Läßt ein Stück mit linearer Handlung eine Entwicklung innerhalb der Zeit vor uns ablaufen, so ist dagegen die zeitliche Ausdehnung eines Stückes, das ein dichterisches Bild auf die Bühne projiziert, etwas rein Zufälliges. Da es einen  Einblick in die Tiefe  gewährt, müßte es im Idealfall  einen einzigen Augenblick  umfassen; nur weil es technisch unmöglich ist, ein so komplexes Bild in einem Augenblick darzustellen, muß sich seine Darstellung über einen bestimmten Zeitraum erstrecken. Die formale Gliederung eines solchen Stückes ist dementsprechend nur ein Kunstgriff; das komplexe Gesamtbild wird beschworen, indem man es in eine Folge in Wechselwirkung stehender Elemente auffächert.

Das Bestreben, ein umfassendes Seinsgefühl mitzuteilen, ist ein Versuch, ein wahreres Bild von der Wirklichkeit selbst zu entwerfen - der Wirklichkeit, wie sie sich in der Wahrnehmung eines einzelnen spiegelt. Das Theater des Absurden ist das letzte G lied einer Entwicklungskette, die mit dem Naturalismus begann. Der idealistische, platonische Glaube an unveränderliche Essen zen - an ideale Formen, die der Künstler in einem reineren Zustand verwirklichen sollte, als die Natur sie jemals zu bieten vermochte - wurde durch die Philosophie LOCKEs und KANTs zerstört, nach der sich die Realität auf die Wahrnehmung und auf die innere Struktur des menschlichen Geistes gründet.

Die Kunst wurde zu einer bloßen Nachahmung der äußeren Natur. Aber die Nachahmung äußerer Erscheinungen mußte sich zwangsläufig als unbefriedigend herausstellen, was unausweichlich zum nächsten Schritt führte: der Erforschung der geist-seelischen Wirklichkeit. IBSEN und STRINDBERG widmeten sich ihr Leben lang der Erforschung dieser Realität. JAMES JOYCE begann mit minuziös realistischen Erzählungen und schloß sein Werk ab mit dem weitgespannten, vielschichtig gegliederten  Finnegans Wake.  Im Werk der Dramatiker des Absurden setzt sich diese Entwicklung fort. Jedes dieser Stücke ist eine Antwort auf die Fragen: "Wie empfindet dieses Individuum angesichts der Situation des Menschen? In welcher Grundstimmung tritt es der Welt gegenüber? Wie fühlt man, wenn man in seiner Haut steckt?" Und die Antwort ist ein einziges, umfassendes, aber komplexes und in sich widersprüchliches poetisches Bild - das heißt ein Stück - oder eine Folge solcher Bilder, die sich gegenseitig ergänzen - das heißt das Gesamtwerk des Dramatikers.

In jedem Augenblick, indem wir die Welt erfassen, nehmen wir simultan einen ganzen Komplex verschiedener Wahrnehmungen und Eindrücke in uns auf. Wir können diese simultane Welterfassung nur in der Form mitteilen, daß wir sie in einzelne Teile zerspalten, die in einem Satz oder in einer Satzreihe im zeitlichen Nacheinander zusammengefügt werden. Die Übertragung unserer Wahrnehmung in begriffliche Termini, in logische Gedankengänge und Sprache läßt sich mit der Funktion des Bildzerlegens vergleichen, der bei der Fernsehübertragung das Bild in eine Folge von einzelnen Stromstößen umwandelt. Das poetische Bild mit seiner Mehrdeutigkeit, seiner gleichzeitigen Beschwörung verschiedenster Assoziationselemente ist ein Mittel, die Realität unserer Welterfahrung - sei es auch unvollkommen - mitzutheilen.

LUDWIG KLAGES hat eine Psychologie der Wahrnehmung entwickelt, derzufolge unsere Sinne uns Bilder zeigen, die aus einer Vielzahl simultaner Eindrücke bestehen, die im Prozeß der Übertragung in begriffliches Denken zerlegt und zersetzt werden. Für KLAGES ist dies ein Aspekt der heimtückischen Wirkung des kritischen Intellekts auf die schöpferischen Kräfte des Geistes - sein philosophisches  magnum opus  hat den Titel "Der Geist als Widersacher der Seele". So unglücklich sein Versuch auch sein mag, diesen Gegensatz zu einem kosmischen Kampf zwischen den schöpferischen und den analytischen Kräften auszuweiten - seine Grundidee, daß begriffliches und diskursives Denken die unsagbare Fülle des wahrgenommenen Bildes schmälert, behält doch ihre Gültigkeit, zumindest läßt sie doch erahnen,  was  es ist, das die Bildersprache der Dichtung auszusagen versucht.

Dieses Bestreben, eine ursprüngliche, noch unaufgelöste Gesamtheit der Wahrnehmungen, eine intuitive Seinserfahrung mitzuteilen, führt im Theater des Absurden zur Abwertung und Zersetzung der Sprache. Wenn die Übertragung der totalen Seinserfahrung in die logische und zeitliche Folge begrifflichen Denkens diese Erfahrung ihrer ursprünglichen Vielschichtigkeit und ihrer poetischen Wahrheit beraubt, so wird der Künstler verständlicherweise nach Mitteln und Wegen suchen, um diesen Auswirkungen der diskursiven Sprache und Logik zu entgehen. Hier zeigt sich der wesentliche Unterschied zwischen Prosa und Lyrik: Lyrik ist vieldeutig und assoziativ, sie strebt nach einer Annäherung an die völlig unbegriffliche Sprache der Musik. Das Theater des Absurden überträgt die gleiche Bestrebung auf die gegenständliche Bildersprache der Bühne, und es kann sogar in noch größerem Umfang als die Lyrik auf Logik, diskursives Denken und Sprache verzichten. Die Bühne ist ein mehrdimensionales Medium; sie erlaubt eine simultane Verwendung von visuellen Elementen, Bewegungs- und Lichteffekten und Sprache. Sie ist deshalb besonders zur Übermittlung komplexer Bilder geeignet, die aus der kontrapunktischen Wechselwirkung aller dieser Elemente bestehen.

Im "literarischen" Theater behält die Sprache ihre Vorrangstellung. Im anti-literarischen Theater des Zirkus oder der Music Hall spielt die Sprache hingegen nur eine sehr untergeordnete Rolle. Das Theater des Absurden hat sich die Freiheit zurücke robert, in seiner mehrdimensionalen Bildersprache das Wort nur als  eine  Komponente unter vielen zu verwenden, die manchmal ein dominierendes Element darstellt und manchmal überhaupt nicht in Erscheinung tritt. Indem es bald den Dialog einer Szene zur Handlung in Gegensatz setzt, bald die Sprache in sinnloses Geplapper verwandelt, indem es die diskursive Logik aufgibt zugunsten einer poetischen Logik der Assoziationen und Assonanzen, eröffnet das Theater des Absurden der Bühne neue Wege.

In seiner Abwertung der Sprache steht das Theater des Absurden im Einklang mit den allgemeinen Tendenzen unserer Zeit. GEORG STEINER hat in zwei Radiovorträgen mit dem Titel "The Retreat from the Word" (Die Abkehr vom Wort) nachgewiesen, daß die Abwertung der Sprache nicht nur für die Entwicklung der zeitgenössischen Dichtung oder Philosophie charakteristisch ist, sondern auch vor allem für die moderne Mathematik und die Naturwissenschaften. STEINER sagte:
    "Es ist kein Paradox, wenn man behauptet, daß die Wirklichkeit heute zum großen Teil erst  außerhalb  der Sprache beginnt."

    "Weite Bezirke wichtiger Erfahrungen werden jetzt von wort-losen Sprachen beherrscht, wie z.B. Mathematik, chemische Formeln und logischer Symbolismus. Andere gehören zu den  Anti-Sprachen,  wie z.B. die Technik der gegenstandslosen Kunst oder der atonalen Musik. Die Welt des Wortes ist zusammengeschrumpft."
Außerdem wird die Sprache nicht nur von der Mathematik und der symbolischen Logik als Bezeichnungsmittel aufgegeben; es werden allgemein Zweifel an ihrer praktischen Brauchbarkeit laut. Es hat immer mehr den Anschein, als befände sich die Sprache im Gegensatz zur Realität. Alle geistigen Strömungen, die einen bestimmenden Einfluß auf das moderne Denken im allgemeinen haben, verraten diese Tendenz.

Man denke etwa an den Marxismus. Er macht einen Unterschied zwischen den  scheinbaren  sozialen Verhältnissen und der sozialen  Wirklichkeit,  die sich hinter ihnen verbirgt. Objektiv etwa ist ein Arbeitgeber Ausbeuter, ein Feind der Arbeiterklasse. Wenn also ein Arbeitgeber zu einem Arbeiter sagt: "Ihr Standpunkt ist mir sympathisch", so mag er subjektiv vielleicht an das glauben, was er sagt, aber objektiv sind seine Worte bedeutungslos. Wie sehr er auch den Arbeiter seiner Sympathie versichern mag, er bleibt dessen Feind. Die Sprache bleibt in diesem Falle dem Bereich reiner Subjektivität verhaftet und entbehrt jeglicher objektiver Realität.

Dasselbe gilt für die moderne Tiefenpsychologie und die Psychoanalyse. Jedes Kind weiß heutzutage, daß eine große Kluft besteht zwischen dem, was bewußt gedacht und behauptet wird, und der psychologischen Wirklichkeit hinter dem gesprochenen Wort. Ein Sohn, der seinem Vater erzählt, er liebe und verehre ihn, muß, objektiv gesehen, von tiefstem ÖDIPUS-Haß gegen seinen Vater erfüllt sein. Er ist sich dessen vielleicht nicht bewußt, aber er meint das Gegenteil von dem, was er sagt. Und das Unterbewußte hat einen stärkeren Wirklichkeitsgehalt als die bewußte Äußerung.

Relativierung, Abwertung und Kritik der Sprache sind auch vorherrschende Tendenzen in der zeitgenössischen Philosophie. Ein Beispiel dafür ist etwa WITTGENSTEINs Überzeugung in seiner letzten Phase, der Philosoph müsse das Denken von den Konventionen und Regeln der Grammatik befreien, die man irrtümlicherweise für die Regeln der Logik gehalten habe.
    "Ein  Bild  hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen ...

    Woher nimmt die Betrachtung ihre Wichtigkeit, da sie doch nur alles Interessante, d.h. alles Große und Wichtige, zu zerstören scheint? (Gleichsam alle Bauwerke; indem sie nur Steinbrocken und Schutt übrig läßt.) Aber es sind nur Luftgebäude, die wir zerstören, und wir legen den Grund der Sprache frei, auf dem sie standen."
In strenger Kritik der Sprache haben WITTGENSTEINs Schüler von umfangreichen Kategorien von Aussagen erklärt, sie hätten nicht die mindeste objektive Bedeutung. WITTGENSTEINs "Wort-Spiele" haben mit dem Theater des Absurden vieles gemeinsam.

Noch bedeutsamer aber als all diese Tendenzen im marxistischen, psychologischen und philosophischen Denken ist der Einfluß der Zeiterscheinungen in der Arbeitswelt des Mannes auf der Straße. Unter dem unaufhörlichen und erbarmungslos geschwätzigen Ansturm der Massenmedien, der Presse und der Reklame, wird der Mann von der Straße immer skeptischer gegenüber der Sprache, der er ausgesetzt ist. Die Bürger totalitärer Staaten wissen genau, daß das meiste von dem, was sie zu hören bekommen, Doppelzüngigkeiten sind, bar jeder wirklichen Bedeutung. Sie lernen es,  zwischen den Zeilen  zu lesen, das heißt, sie lernen die Wahrheit erraten, welche die Sprache verbirgt, statt sie zu enthüllen. Im Westen lesen wir Euphemismen und Umschreibungen in der Presse oder hören sie von den Kanzeln. Der Werbung ist es gelungen, durch die ständige Verwendung von Superlativen die Sprache soweit zu entwerten, daß die Reklamesprüche auf Plakaten oder in Illustrierten und das Wortgeklingel der Fernsehwerbung allgemein als  bedeutungslos  angesehen werden. Ein gähnender Abgrund hat sich zwischen der Sprache und der Wirklichkeit aufgetan.

In seiner Beschäftigung mit den elementaren Gegebenheiten des menschlichen Daseins und in seinem Bestreben, diese nicht in begrifflich analysierbarer Form darzustellen, sondern den Zuschauer an der lebendigen Erfahrung metaphysischer Wahrheiten teilhaben zu lassen, rührt das Theater des Absurden an die Sphäre des Religiösen. Es ist ein unermeßlicher Unterschied, ob man rein begrifflich  weiß,  daß dies oder jenes sich so der so verhält, oder ob man es in seiner lebendigen Wirklichkeit  erfährt.  Alle großen Religionen zeichnen sich dadurch aus, daß sie neben einem Wissensstoff, den sie in Form kosmologischer Information oder ethischer Gesetze lehren, auch die Essenz ihrer Doktrin durch die lebendige, ständig wiederholte poetische Bildersprache des Rituals übermitteln. Das Rituelle entspricht einem fundamentalen inneren Bedürfnis des Menschen, und sein Verschwinden ist es, was uns den Niedergang der Religion als einen tiefen Verlust empfinden läßt. Wir besitzen zwar in der wissenschaftlichen Methodik eine Annäherung an eine systematische Weltschau, aber es fehlen unserer Zivilisation die Mittel daraus eine erlebte Wirklichkeit zu machen, einen lebendigen Brennpunkt des menschlichen Lebens. Deshalb hat das Theater - ein Ort, an dem sich die Menschen versammeln, um poetische oder künstlerische Einsichten zu gewinnen - in mancher Hinsicht die Funktionen einer Ersatz-Kirche übernommen. Das erklärt auch die ungeheure Bedeutung, die dem Theater in totalitären Systemen beigemessen wird. Man ist sich dort im klaren darüber, daß jede Doktrin für ihre Anhänger in lebendige, erfahrene Wirklichkeit verwandelt werden muß.

So paradox es auf den ersten Blick auch anmuten mag - man darf das Theater des Absurden als einen Versuch ansehen, die hinter der wissenschaftlichen Geisteshaltung verborgenen metaphysischen Erfahrungen lebendig zu vermitteln, sie gleichzeitig zu ergänzen und in eine umfassendere Vision der Welt und ihr Rätselhaftigkeit einzufügen.

Nur aus der Perspektive von Weltanschauungen, die meinen, es sei menschlichem Denken möglich, das ganze Universum in ein vollständiges, einheitliches, zusammenhängendes System zu zwingen, erscheint das Weltbild des Theaters des Absurden als sinnlos und jedes einenden Prinzips beraubt. Nur vom Standpunkt jener, die unbedingt wissen müssen, warum die Welt erschaffen wurde, welche Rolle der Mensch in ihr auszufüllen hat, welche Handlungsweise richtig und welche falsch ist, wird ein Weltbild, das keine solchen klar umrissenen Definitionen bietet, seiner Daseinsberechtigung ledig, wahnwitzig und tragisch absurd erscheinen. Die moderne Wissenschaft hingegen lehnt das Postulat einer totalen, integrierten, vereinfachten, für alle Phänomene, Zwecke und Moralgesetze der Welt verbindlichen Erklärung ab. Sie konzentriert sich auf eine langsame, mühevolle Untersuchung begrenzter Bereiche der Realität; sie arbeitet nach dem Prinzip einer endlosen Reihe von Experimenten, deren Ergebnisse immer wieder durch neue Experimente in Frage gestellt werden; sie stellt Hypothesen auf, prüft sie und verwirft sie.

Die Wissenschaftler finden sich gelassen damit ab, daß weite Wissens- und Erfahrungsgebiete dem forschenden Geist noch lange, vielleicht für immer, verschlossen bleiben werden, daß die letzten Zielsetzungen des Universums sich niemals werden ergründen lassen. Wir müssen es deshalb als eine Tatsache hinnehmen, daß vieles von dem, was frühere metaphysische, mystische, religiöse oder philosophische Systeme zu erklären suchten, für immer unerklärlich bleiben wird. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, muß jedes Festhalten an Denksystemen, welche die Welt und die Stellung des Menschen in ihr eindeutig erklären wollen, kindisch und unreif wirken - als eine Flucht aus der Wirklichkeit in naive Illusionen.

Das Theater des Absurden ist ein Ausdruck der Angst und Verzweiflung des Menschen, der erkennen muß, daß undurchdringliche Finsternis ihn umgibt, daß er sein wahres Wesen und seine Bestimmung niemals begreifen wird und daß ihm niemand ein für allemal festgelegte Verhaltensregeln zu liefern vermag. CAMUS schreibt in "Der Mythos von Sisyphos":
    "Die Gewißheit, daß ein Gott existiert, der dem Leben seinen Sinn gibt, wäre viel verlockender als die Vollmacht, ungestraft Böses zu tun. Die Wahl wäre nicht schwer. Aber es gibt keine Wahl, und da beginnt die Bitterkeit."
Angst und Verzweiflung können aber überwunden werden, wenn man sich ihnen stellt und sich damit abfindet, daß es keine göttlichen Offenbarungen geben kann. Man trauert den verlorenen einfachen Lösungen und den abhandengekommenen Illusionen nur so lange nach, als sich der Geist noch an diese Illusionen klammert. Hat man sie einmal aufgegeben, so kann man sich der neuen Lage anpassen und die Wirklichkeit sehen, wie sie ist. Und da die Illusionen, in denen wir befangen waren, uns den Zugang zur Wirklichkeit nur verstellten, wir ihr Verlust am Ende trotz allem als wohltuend empfunden werden. Um mit den Worten DEMOKRITs zu sprechen, die von BECKETT so gerne zitiert werden: "Nichts ist wirklicher als Nichts."

Die mutige Anerkennung der Grenzen des menschlichen Seins entspricht nicht nur einer Besinnung auf die philosophischen Grundlagen der modernen Wissenschaft; sie stellt zugleich ein tiefes mystisches Erlebnis dar. Die Erfahrung des Unsagbaren, der Leere, des Nichts als des Weltgrundes bildet den Kern der östlichen wie der christlichen Mystik. LAOTSE sagt: "Aus dem Namenlosen entsprangen die zehntausend Geschöpfe, jedes nach seiner Art, hochzieht. Und ST. JOHANNES vom KREUZ schreibt über die Intuition der Seele: "Eine der größten Gnaden für die Seele in diesem vergänglichen Leben ist, so klar zu sehen und so tief zu empfinden, daß sie Gott gar nicht begreifen kann ..."

Dieselbe Erfahrung wird von MEISTER ECKHART in folgende Worte gefaßt: "Die Gottheit hat alle Dinge gelassen; sie ist so arm, nackt und ledig, als ob sie nicht wäre; sie hat nicht, will nicht, bedarf nicht, arbeitet nicht, gebiert nicht ... und die Gottheit geht ledig aus, als ob sie nicht wäre." Mit anderen Worten: aus der Unfähigkeit des Menschen, den Sinn der Welt jemals zu begreifen, und aus der Erkenntnis der absoluten Transzendenz der Gottheit, IHRER absoluten Verschiedenheit von allem, was wir mit unseren Sinnen begreifen können, schöpften die großen Mystiker eine heitere Gelassenheit, ein Gefühl der Befreiung. Diese Heiterkeit entspringt auch der Erkenntnis, daß Sprache und Logik des begrifflichen Denkens der wahren Natur der Realität nicht gerecht werden können. Daher gründet sich eine so durch und durch mystische Philosophie wie die des Zen-Buddhismus auf die Ablehnung es begrifflichen Denkens schlechthin:  Die Verneinung der Realität ist ihre Bejahung. Und die Bejahung der Leere ist ihre Verneinung. 

In dem wachsenden Interesse, das man dem Zen-Buddhismus in westlichen Ländern entgegenbringt, verraten sich dieselben Tendenzen, die dem Theater des Absurden zum Erfolg verholfen haben: eine intensive Beschäftigung mit elementaren Gegebenheiten und die Erkenntnis, daß ein rein begriffliches Denken den Zugang zur wahren Wirklichkeit allein nicht zu erschließen vermag. IONESCO soll eine Parallele zwischen den Methoden der Zen-Buddhisten und des Theaters des Absurden gezogen haben, und tatsächlich erinnern die Lehrmethoden der Zen-Meister, ihre Verwendung von Tritten und Schlägen als Antwort auf Fragen nach dem Wesen der Erleuchtung und die von ihnen gestellten Nonsens-Probleme stark an manche Verfahrensweisen des Theaters des Absurden.

Betrachtet man die Dinge unter diesem Blickwinkel, so erscheint die Entthronung der Sprache und der Logik als Ausdruck einer wesenhaft mystischen Haltung gegenüber der Wirklichkeit, die zu vielschichtig und gleichzeitig zu sehr aus einem Guß ist, eine zu feste Einheit bildet, als daß die analytischen Mittel geordneter Syntax und begrifflichen Denkens einen gültigen Ausdruck für sie darstellen könnten. Wie die Mystik, so nimmt auch das Theater des Absurden seine Zuflucht zu einer poetischen Metaphernsprache. Wenn aber das Theater des Absurden Analogien mit den Methoden und der Bildersprache der Mystiker aufzeigt, wie kann es dann gleichzeitig den Skeptizismus vertreten, den demütigen Verzicht auf eine Erklärung des Absoluten, welche die Haltung der modernen Wissenschaft charakterisieren?

Die Antwort ist einfach: es gibt keinen Widerspruch zwischen der Erkenntnis, daß die Fähigkeiten des Menschen, die gesamte Wirklichkeit in ein einziges Wertsystem zu fassen, begrenzt sind, und der Erkenntnis einer geheimnisvollen und unaussprechlichen, jedem rationalen Verstehen entzogenen Einheit, die dem Menschen, der ihrer innewurde, eine heitere Gelassenheit schenkt und die Kraft, sich mit dem menschlichen Dasein abzufinden. Es handelt sich dabei nur um die beiden Seiten ein- und derselben Medaille - die mystische Erfahrung der absoluten Verschiedenheit und Unaussprechlichkeit des Urgrunds der Wirklichkeit ist das religiöse, poetische Gegenstück zu der rationalen Erkenntnis, daß der Mensch wegen der Begrenztheit seiner Sinne und seines Intellekts darauf angewiesen ist, die Welt allmählich in einer Reihe von Versuchen zu erforschen, wobei immer wieder das Opfer von Irrtümern wird. Beide Verhaltensweisen stehen in grundsätzlichem Widerspruch zu religiösen oder ideologischen Denksystemen (z.B. zum Marxismus), die vorgeben, sie vermöchten simple, klare, eindeutige, endgültige Antworten auf alle Fragen nach einem letzten Sinn und nach dem richtigen Verhalten im täglichen Leben zu liefern.

Die Entdeckung, daß ein Denken in poetischen Bildern neben dem begrifflichen Denken seine eigene Sphäre und Berechtigung hat, und die Forderung nach einer klaren Abgrenzung der Funktionen und Möglichkeiten beider Denkmodi laufen keineswegs auf eine Rückkehr zum Irrationalismus hinaus; im Gegenteil: sie weisen den Weg für eine wahrhaft rationale Haltung.

Letzten Endes ist ein Phänomen wie das Theater des Absurden kein Ausdruck der Verzweiflung oder der Rückkehr zu dunklen irrationalen Mächten; es veranschaulicht vielmehr das Streben des modernen Menschen, sich mit der Welt, in der er lebt, auseinanderzusetzen. Es versucht, ihn mit dem menschlichen Dasein zu konfrontieren, wie es wirklich ist, ihn von Illusionen zu befreien, die ihm nur Enttäuschungen bereiten können und seine Anpassung and die Wirklichkeit verhindern. Es gibt unzählige Versuche in unserer Welt, die Menschheit den Verlust des Glaubens und der moralischen Gewißheiten vergessen zu machen, sie zu betäuben - es gibt Massenamüsement, oberflächliche materielle Genüsse, Pseudo-Erklärungen der Wirklichkeit und billige Ideologien.

Am Ende dieses Weges liegt HUXLEYs "Schöne neue Welt" der gefühllosen euphoristischen Roboter. Heutzutage, da die Tendenz, Tod und Alter hinter Euphemismen und kindischen Trostsprüchen zu verbergen, immer mehr wächst und da der Massenkonsum hypnotischer mechanisierter Gewöhnlichkeit das Leben zu ersticken droht, ist die Notwendigkeit, den Menschen mit seiner wirklichen Situation zu konfrontieren, größer denn je. Denn die Würde des Menschen liegt in seiner Fähigkeit, die Realität in ihrer ganzen Absurdität zu erkennen, sie aus freiem Willen, ohne Furcht und ohne Illusionen auf sich zu nehmen - und über sie lachen zu können. Dies ist das Anliegen, dem sich die Dramatiker des Absurden, ein jeder auf seine eigene, bescheidene oder skurrile Weise, verschrieben haben.
LITERATUR - Martin Julius Esslin, Das Theater des Absurden, Frankfurt/Bonn 1964