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Friedrich Nietzsche und das Erkenntnisproblem [2/4]
Zweite Periode (1) Die psychologischen und moralgenetischen Untersuchungen, in die NIETZSCHE, sicher nicht ohne manche Anregungen durch PAUL RÉE zu empfangen, etwa seit Anfang 1876 eingetreten war, hatten seinen Abschied von der Metaphysik zu einem endgültigen und öffentlichen gemacht. Der Dank gegen den Freund und das Hauptmotiv des Abschieds finden sich vereinigt in der vielbesprochenen Stelle: "Welches ist doch der Hauptsatz, zu dem einer der kühnsten und kältesten Denker, der Verfasser des Buches "Über den Ursprung der moralischen Empfindungen" vermöge seiner ein- und durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns gelangt? "Der moralische Mensch", sagt er, "steht der intelligiblen (metaphysischen) Welt nicht näher, als der physische Mensch." Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntnis, kann vielleicht einmal, in irgendeiner Zukunft, als die Axt dienen, welche dem "metaphysischen Bedürfnis" der Menschen an die Wurzel gelegt wird" [II, 34]. Diese Auffassung wird jetzt auch dem alten Lehrer SCHOPENHAUER gegenüber zur Geltung gebracht. Er, dem man erst "das bunte Leopardenfell seiner Metaphysik" abziehen muß, um "ein wirkliches Moralistengenie" darunter zu entdecken, hat auch das Vorurteil von der metaphysischen Bedeutsamkeit der Moral geteilt [IIIa, 33]. Im Nachlaßband wird die Wirkung der Metaphysik sogar als eine unmoralische gebrandmarkt, da sie gegen die richtige Ordnung des Lebens gleichgültig macht, das "hiesige" Glück in pessimistischer Weise entwertet und den Ernst für die Aufgaben des Lebens wegnimmt [XI, 21]. Die Möglichkeit einer metaphysischen Welt leugnet NIETZSCHE bei ruhigem Nachdenken auch jetzt nicht. "Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen" [II, 9]. Aber
Wie bei der Moral, so glaubt NIETZSCHE, in der voreiligen Weise vieler Naturalisten, auch bei der Metaphysik, es genüge zu ihrer Entwertung auf ihre Entstehung hinzuweisen. Alles was bisher den Menschen "metaphysische Annahmen wertvoll, schreckensvoll, lustvoll gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrtum und Selbstbetrug; die allerschlechtesten Methoden der Erkenntnis, nicht die allerbesten, haben daran glauben lehren. Wenn man diese Methoden, als das Fundament aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken, aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt." [II, 9] Auf eine solche Methode weist NIETZSCHE selbst hin: "Im Traum glaubte der Mensch in den Zeitaltern roher, uranfänglicher Kultur eine zweite reale Welt kennenzulernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik" [II, 5]. Wo eine dunkle Stelle in der Erkenntnis sich findet, da zaubert der Mensch daraus hervor, "was er braucht, und bevölkert den dunklen Gang mit Geistern und Ahnungen" [XI, 23]. Der metaphysische Trieb, soweit er sich jetzt noch findet, ist überhaupt nur ein religiöser Nachtrieb, nichts besseres [IIIb, 16]. "Jede Philosophie, welche einen religiösen Kometenschweif in die Dunkelheit ihrer letzten Aussichten hinaus ergänzen läßt, macht alles an sich verdächtig, was sie als Wissenschaft vorträgt: es ist dies alles vermutlich ebenfalls Religion, wenngleich unter dem Aufputz der Wissenschaft" [II, 110]. So kann man die Metaphysik geradezu als die Wissenschaft bezeichnen, "welche von den Grundirrtümer des Menschen handelt, doch so, als wären es Grundwahrheiten." [II, 18] Aber "wir haben diese Sicherheiten um die alleräußersten Horizonte gar nicht nötig um ein volles und tüchtiges Menschentum zu leben" [IIIb, 16]. Im Hinblick auf die letzten Dinge tut uns "nicht Wissen gegen Glauben not, sondern Gleichgültikeit gegen Glauben und angebliches Wissen auf jenen Gebieten" [IIIb, 16]. Im Gegenteil: "Gerade durch die Vergleichung mit dem Reich des Dunkels am Rande der Wissens-Erde steigt die helle und nahe, nächste Welt des Wissens stets im Wert" [IIIb, 16] So empfängt dann auch EPIKUR den höchsten Ehrenkranz wegen seiner beiden beruhigenden Trostmittel: "Gesetzt, es verhält sich so, so geht es uns nichts an"; und "es kann so sein, es kann aber auch anders sein" [IIIb, 7]. Alle die einzelnen geistvollen Ausführungen NIETZSCHEs über die Metaphysik hier zu wiederholen, würde uns zu weit führen. Nur verdient es nachdrücklich hervorgehoben zu werden, daß, abgesehen von der Auseinandersetzung mit SCHOPENHAUERs Metaphysik, keinerlei Erkenntniskritik zur Ablehnung der Metaphysik führt, sondern ein Erkenntnisideal, das im Grund ein maskiertes Lebensideal war. Damit stimmt es völlig überein, wenn NIETZSCHE für den erkenntnis-pessimistischen Verzicht an letzter Einsicht kein bedauernswertes Wort übrig hat, dagegen durch die Einbuße von Kraft und Freude, welche mit dem Wegfall metaphysischer Annahmen verbunden ist, immer wieder nachdenklich gestimmt wird (siehe II, 20; II, 22; II, 153; II, 220] Die neue Göttin NIETZSCHEs, der zu Ehren jetzt der Weihrauchduft seiner Beredsamkeit emporsteigt, heißt "Wissenschaft", oder, wie er sie wohl auch nennt, "historische Philosophie" [II, 1]. Sie ist "die Nachahmung der Natur in Begriffen" [II, 38]. Aber im Gegensatz zur Metaphysik, die die Natur in der "pneumatischen" Weise der kirchlichen Gelehrten deutet [II, 8], ja sich den Text der Natur vielfach erst zurechtrichtet und verdirbt [IIIb, 20], wendet sie die "strengere Erklärungskunst der Philologen" an [II, 8]. Der Geist des Antonio im "Tasso", der Geist der "vorsichtigen Enthaltung" zeichnet sie aus [II, 631]. Nicht, daß sie die Welt als den "Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit" darstellen wollte, denn daß die Welt nicht durchaus vernünftig ist, "läßt sich endgültig dadurch beweisen, daß jenes Stück Welt, welches wir kennen - ich meine unsere menschliche Vernunft -, nicht allzu vernünftig ist [IIIb, 2]; dagegen ist für sie die Behauptung der Unerklärbarkeit der Natur das eigentliche "böse Prinzip" [II, 136]. Da sie die "Hingebung an das Wahre in jeder Gestalt" ist [II, 146], so stellt sie die kleinen, unscheinbaren Wahrheiten höher als die blendenden, beglückenden Irrtümer [II, 3; siehe IIIb, 213], erkennt die wissenschaftlichen Methoden als ein mindestens ebenso wichtiges Ergebnis der Forschung an, wie irgendein sonstiges Resultat [II, 635], sieht Übergänge anstelle der Gegensätze [IIIb, 67], will jedem Ding "das Seine geben", es "in das beste Licht stellen", "mit sorgsamem Auge um dasselbe herumgehen" [II, 636]. In ihrer Gerechtigkeit ist sie jedoch eine Gegnerin der Überzeugungen" [II, 636]; weiß vielmehr, daß es keine absoluten Wahrheiten gibt, "so wenig, wie es ewige Tatsachen gibt" [II, 2], weiß auch, daß man "streng verstanden, nie von Wahrheit, sondern immer nur von Wahrscheinlichkeit und deren Graden" reden kann [IIIa, 7; siehe IIIb, 1]. Durch ein Verständnis alles historisch Gewordenen strebt sie danach, sich zum "kosmischen Selbstbewußtsein" zu erweitern [IIIa, 88]. Kann uns dieser naive Wissenschafts-Optimismus bei unserem kühnen Skeptiker mit Recht in Erstaunen setzen, so sehen wir ihn geradezu in Verlegenheit geraten, wenn wir ihm nun seine eigene alte Frage vorlegen, ob Erkennen oder Leben die übergeordnete Instanz ist. Einerseits scheint er, etwa im Sinn des positivistischen voir pour prévoir [Sehen, um vorherzusehen - wp], die alte Überordnung des Lebens festhalten zu wollen. Er bezeichnet es als "die ungeheure Aufgabe der großen Geister des nächsten Jahrhunderts", "eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntnis der Bedingungen der Kultur als "wissenschaftlichen Maßstab für ökumenische Ziele" zu finden [II, 25; siehe IIIb, 189]. "Wenn die Wissenschaft nicht an die Lust der Erkenntnis, an den Nutzen des Erkannten geknüpft wäre, was läge uns an der Wissenschaft?" "Für ein rein erkennendes Wesen wäre die Erkenntnis gleichgültig" [IIIa, 98]. "Wenn man nicht das Leben für eine gute Sache hält, die erhalten werden muß, so fehlt all unseren Bestrebungen der Wissenschaft der Sinn (der Nutzen). Selbst wozu Wahrheit?" [XI, 30]. Andererseits fordert er, daß das Wohl der Menschheit zwar nicht der leitende Gedanke, aber der Grenzgesichtspunkt sein müsse im Bereich der Forschung nach Wahrheit [XI, 16]. Schließlich aber hören wir sogar, daß es etwas ganz Neues in der Geschichte sei, daß die Erkenntnis mehr sein will, als ein Mittel [V, 123]. Wie das Leben des Einzelnen ein "Mittel der Erkenntnis", ein "Experiment des Erkennenden" sein darf [V, 324], so kann sich im Dienst der Wahrheit die ganze Menschheit opfern [IV, 45]. "Wir wollen alle lieber den Untergang der Menschheit, als den Rückgang der Erkenntnis" [IV, 429]. - Eine ähnliche dreifache Antwort und charakteristische Unsicherheit finden wir bei der Frage nach der Nützlichkeit der Erkenntnis. NIETZSCHE verkündet uns den "Glauben an die höchste Nützlichkeit der Wissenschaft und der Wissenden" [IIIa, 318], warnt aber auch vor einem übertriebenen Vertrauen auf die Wissenschaft, die nur nützen kann, wenn man seine Ziele schon kennt [XI, 170] und proklamiert doch wieder die Gleichgültigkeit der Wissenschaft gegen den Nutzen, indem er uns sagt, daß sie, wie die Natur, "den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja vielfach fördern und das Zweckmäßige erreichen" kann, aber "ohne es gewollt zu haben." [II, 38] Nachdem wir nun durch Orientierung über die Hauptanschauungen NIETZSCHEs gleichsam den Boden abgesteckt haben, wollen wir den eigentlich erkenntnistheoretischen Fragen näher treten. Wir sahen, NIETZSCHE gibt die Möglichkeit einer Wahrheitserkenntnis zu. Innerhalb welcher Grenzen kann nun der Mensch die Wahrheit erkennen und auf welche Weise? Da uns NIETZSCHE keine erkenntnistheoretischen Zusammenfassungen bietet, verfahren wir am sichersten, wenn wir ihn auf seinen erkenntnisgenetischen Gängen begleiten. Wir hören, daß bei der Frage nach dem Verhältnis von Erscheinung und Ding-ansich bisher die Möglichkeit übersehen wurde, daß unsere Erscheinungswelt allmählich geworden und noch im Werden ist [II, 16]. Der höchste Triumph der Wissenschaft wird einmal eine "Entstehungsgeschichte des Denkens" sein "mit dem Resultat, daß unsere Welt das Ergebnis einer Menge von Irrtümern, Phantasien ist, welche uns durch einen ungeheuren Prozeß vererbt sind und von denen die Wissenschaft uns nur in sehr geringem Maß zu lösen vermag" [II, 18]. Wie vermag uns die Wissenschaft überhaupt von diesen Irrtümern zu lösen? Wie entsteht überhaupt aus dem Irrtum die Wahrheit? - In höchst interessanten Aphorismen zieht NIETZSCHE Parallelen zwischen unserem Traumleben und den leichtsinnigen Schlüssen im Denkleben früherer Generationen und meint, man könne daraus entnehmen, wie spät das logische Denken, das Strengnehmen von Ursache und Wirkung entwickelt worden ist, wenn wir jetzt noch ziemlich die Hälfte unseres Lebens in jenen primitiven Formen des Schließens dahinleben [II, 12 und 13]. "Der größte Fortschritt, den die Menschen gemacht haben, liegt darin, daß sie richtig schließen lernen" [II, 271]. Ein uns schon bekannter Glaube erläutert uns, wie es dazu gekommen ist: "Der persönliche Kampf der Denker hat schließlich die Methoden so verschärft, daß wirklich Wahrheiten entdeckt werden konnten, und daß die Irrgänge früherer Methoden vor jedermanns Blicken bloßgelegt sind." [II, 634] So scheint dann etwa in den logischen Gesetzen ein festes Kriterium der Wahrheitserkenntnis gefunden zu sein. Aber nun erfahren wir gleichzeitig, daß die Logik auf Voraussetzungen beruth, "denen nichts in der wirklichen Welt entspricht, zum Beispiel auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität desselben Dings in verschiedenen Punkten der Zeit" [II, 11]. Dieser Glaube an gleiche Dinge ist aber nur ein Vorurteil des Menschen. "Der Urglaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, daß die ganze übrige Welt eins und unbewegt ist" [II, 18]. Wenn dann "die verschiedenen Erregungen von Lust und Unlust bemerkbar werden", werden "allmählich verschiedene Substanzen unterschieden", aber "jede mit einem Attribut, das heißt einer einzigen Beziehung zu einem solchen Organismus". Das erste Urteil, dessen Wesen "nach der Feststellung der besten Logiker" in dem Glauben besteht (in einer Beziehung zum empfindenden Subjekt), war dann "eine neue, dritte Empfindung als Resultat zweier vorausgegangener einzelner Empfindungen" [II, 18]. - Auf dem Urirrtum, daß es gleiche Dinge gibt, beruth auch die Erfindung der Gesetze der Zahlen [II, 19], beruth auch der Substanzbegriff [V, 142]. - Wie aber die Gesetze der Logik auf einem Irrtum beruhen, so sind auch "unsere Empfindungen von Raum und Zeit falsch; denn sie führen, konsequent geprüft, auf logische Widersprüche" [II, 19]. Am letzten Ende treten immer die Resultate in Widerspruch zu der irrtümlichen Grundannahme. So ist zum Beispiel auch die Materie "ein uraltes, eingefleischtes Vorurteil", "daher stammend, daß das Auge Spiegelflächen sieht, und das menschliche Tastorgan sehr stumpf ist" [XI, 72]; in der Atomlehre nun fühlen wir uns immer noch zu der Annahme eines stofflichen Substrates gezwungen, "während die ganze wissenschaftliche Prozedur die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige in Bewegungen aufzulösen" [II, 19] - Die Kausalität ist nur eine Projektion des (ohnedies falsch verstandenen) menschlichen Willensvorganges in die Natur hinein [V, 129]. "Ein Intellekt, der Ursache und Wirkung als Kontinuum, nicht nach unserer Art als willkürliches Zerteilt- und Zerstückelt-Sein sähe, der den Fluß des Geschehens sähe, - würde den Begriff Ursache und Wirkung verwerfen und alle Bedingtheit leugnen" [V, 112; siehe IV, 171]. Kurz: der menschliche Intellekt hat "mit moralischen, ästhetischen, religiösen Ansprüchen in die Welt geblickt" und so "seine irrtümlichen Grundauffassungen in die Dinge hineingetragen. Spät, sehr spät besinnt er sich" [II, 16]. Dieses: "spät, sehr spät besinnt er sich" ist ungemein bezeichnend. Hier stehen wir wieder vor dem Problem: wie kann es in der Welt des Irrtums überhaupt zu einer "Wahrheit" kommen? NIETZSCHE macht noch einen energischen Versuch, es uns zu erklären. Nachdem der Intellekt ungeheure Zeitstrecken hindurch nichts als Irrtümer erzeugt hat, von denen sich einige als nützlich und arterhaltend ergaben, treten "sehr spät", "als die unkräftigste Form der Erkenntnis", die ersten Wahrheitstriebe auf, als "Äußerungen eines intellektuellen Spieltriebs", dort wo Nutzen und Schaden nicht in Betracht kamen, bis im Denker "der Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Irrtümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenserhaltende Macht bewiesen hat" [V, 110]. - Angenommen, die Wahrheit wäre wirklich auf diese Weise in die Welt gekommen, so wäre gleichwohl daraus nicht zu schließen, daß die Vernunft nur "durch einen Zufall" in der Welt erschienen ist [IV, 123], und ebensowenig, daß die Wahrheit durchaus keine Macht besitzt, sondern die Macht immer erst auf ihre Seite ziehen muß [IV, 535], sondern das Auftreten der Wahrheit, als einer vom Einzelsubjekt unabhängigen, überall mit Notwendigkeit aus dem Irrtum hervorbrechenden Macht, würde nur umso begreiflicher sein. Dieselbe Schwierigkeit zeigt sich uns, wenn wir nun mit NIETZSCHE einen Blick in die Werkstätte des Denkers werfen. In einem bedeutsamen Anklang an zukünftige Gedanken erklärt er uns, daß die Lust an der Erkenntnis aus den mancherlei Machtgefühlen entsteht, die die Erkenntnis mit sich führt [II, 252]. Auch er zeigt uns in glänzenden Schilderungen, wie durchaus persönlich sich der Denken zu seinen Gedanken verhält, wie Ehestiftung, Staatenbegründung, Kinderzucht, Armen- und Krankenpflege auch in seinem Reich die alltäglichen Ereignisse sind. "Dies erwäge man ... gewiß wird niemand dann von einem "Erkenntnistrieb an und für sich" reden." In demselben Aphorismus aber sagt er uns: "Im Reich des Denkens sind Macht und Ruf schlecht zu behaupten, die sich auf dem Irrtum oder der Lüge aufbauen." Darin, daß wir uns vor unseren eigenen Gedanken fürchten, daß wir uns aber auch in ihnen ehren ... "darin hat das seltsame Phänomen seine Wurzel, welches ich "intellektuelles Gewissen" genannt habe. - So ist auch hier etwas Moralisches höchster Gattung aus einer Schwarzwurzel herausgeblüht" [IIIa, 26]. - Deutlich tritt uns hier die Wahrheit als eine objektive Macht entgegen, die dann natürlich auch eine eigene Lust, die Freude am reinen Erkennen, mit sich führen kann. Nur steht umso rätselhafter wieder die Frage vor uns: Wie konnte die "Wahrheit" aus ihrem Gegensatz entstehen? - Gewiß ist es nicht zufällig, wenn wir bei NIETZSCHE von irgendwelchen Kriterien der Wahrheit nichts erfahren. Er warnt davor, die beim Finden einer Wahrheit aufgewendete Mühe als Maßstab für den Wert der gefundenen Wahrheit zu betrachten [IIIb, 4]. Er erklärt sich wiederholt besonders lebhaft dagegen, daß dem Beglückenden einer Meinung ein Wert beigemessen wird, aber eine eigene feste Maßstäbe der Wahrheit, außer den bereits von seinem Mißtrauen verdächtigen Maßstäben der Logik, bietet er uns nirgends. Dagegen empfindet er umgekehrt mehr und mehr die "Wahrheit" selber als Problem.
Vergleicht man diese zuletzt dargestellten Gedanken mit NIETZSCHEs oben angeführten Äußerungen über die Wissenschaft, so liegt der Zwiespalt klar zutage, der sich durch diese zweite Periode hindurchzieht. Auf der einen Seite ein naives Zutrauen zur neuen Königin "Wissenschaft", auf der anderen Seite der alte, durch entwicklungsgeschichtliche Betrachtungen neu genährte Argwohn gegen die "Wahrheit": auf die Dauer ließ sich beides nicht vereinigen! Dabei ist es sehr beachtenswert, wie beide Gedankenströmungen lange Zeit nebeneinander hergehen und sich gegenseitig nicht zu stören scheinen. Erst in der "Morgenröte" läßt sich allmählich erkennen, welche Diagonale sich als Resultante der beiden divergierenden Linien ergeben wird. Die Wandlung verrät und verkündet sich am deutlichsten in dem erkenntnistheoretischen Seufzer:
Daß sich hier vor unseren Augen eine Abkehr von der Wissenschaft vollzieht, bestätigt sich, wenn nun die Sprache auf die "Wissenschaft" selbst kommt. Früher hörten wir sie definieren als die "Nachahmung der Natur in Begriffen"; die Fähigkeit zu "erklären" wurde ihr ohne Bedenken zugetraut. Jetzt heißt es:
Derselbe fortschreitende Skeptizismus zeigt sich uns auch bei der Besprechung des "Bewußtseins". Früher hörten wir, daß im Gegensatz zu den leichtfertigen Schlüssen des Traumlebens die Menschheit Fortschritte zu einem wacheren und logischeren Leben gemacht hat. Jetzt erfahren wir, daß zwischen Wachen und Träumen kein wesentlicher Unterschied ist. Wie unsere Träume nichts sind, als ganz willkürliche Interpretationen unserer Nervenreize während des Schlafens, wo nur immer ein anderer Trieb der zufällige Souffleur ist, so ist "unser ganzes Bewußtsein ein mehr oder weniger phantastischer Kommentar über einen unbewußten, vielleicht unwißbaren, aber gefühlten Text". [IV, 119] Die Vorstellungen, von denen wir wissen und nach denen wir handeln, sind nur der kleinste und schlechteste Teil derer, die wir haben, nur die Form, unter der wir unsere Handlungen verstehen; "die eigentlichen Motive unserer Handlungen liegen im Dunkeln" [XI, 290]. "Was sind denn unsere Erlebnisse? Viel mehr das, was wir hineinlegen, als das, was darin liegt! Oder muß es gar heißen: Ansich liegt nichts darin? Erleben ist Erdichten?" [IV, 119] Das später hinzugefügte fünfte Buch der "fröhlichen Wissenschaft" zeigt uns dann den Abschluß der Entwicklung. Wir schließen deshalb seine Hauptgedanken gleich hier in Kürze an. Allem Erkennen liegt der Glaube zugrunde, daß die Wahrheit ein Gut ist; damit sind wir aber auf dem Boden der Moral und haben einen "metaphysischen Glauben", der nichts anderes ist, als ein Feuerbrand vom Altar des Christentums [V, 344]. Wir haben gar kein Organ für das Erkennen, für die Wahrheit, geschweige denn für eine Unterscheidung von Ding-ansich und Erscheinung; wir "wissen" nur, was nützlich sein mag für die Gattung, und auch diese Nützlichkeit ist vielleicht nur die verhängnisvollste Dummheit "an der wir einst zugrunde gehen" [V, 354]. "Erkennen" heißt nur auf Bekanntes zurückführen, und ist aus dem Instinkt der Furcht geboren [V, 355, siehe den Vorläufer-Aphorismus IV, 26]; Bewußtsein hat sich überhaupt wohl nur unter dem Drang des Mitteilungsbedürfnisses entwickelt [V, 354]. Da der menschliche Intellekt "nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehen und nur in ihnen zu sehen", so ist die Möglichkeit nicht abzuweisen, daß die Welt "unendliche Interpretationen in sich schließt" [V, 374]. Wie die Logik vielleicht "nur ein Spezialfall" ist, und "vielleicht einer der wunderlichsten und dümmsten" [V, 357], so kann auch unsere wissenschaftliche Weltinterpretation eine der dümmsten sein [V, 373]. Man soll "vor allem das Dasein nicht seines vieldeutigen Charakters entkleiden wollen" [V, 373]; die ganze Attitüde "Mensch gegen Welt", "der Mensch als Wertmaß der Dinge, als Weltenrichter" ist "eine ungeheuerliche Abgeschmacktheit" [V, 346]. Das Verlangen nach Gewißheit, "welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch entlädt" ... ist derselbe "Instinkt der Schwäche, der Religionen und Metaphysiken erhalten hat" [V, 347]. Der freie Geist par excellence "gibt jedem Wunsch nach Gewißheit den Abschied, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen" [V, 347]. Bei ihm bildet sich ein "nahezu epikuräischer Erkenntnishang aus, welcher den Fragezeichen-Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs fahren lassen will." [V, 375]. - Überblicken wir nun den ganzen Zusammenhang, so haben wir ganz sichtbar ein logisches Drama in drei Akten vor uns. Im ersten Akt tritt die Wissenschaft auf und gebärdet sich stolz als die neue Herrin. Im zweiten Akt sehen wir die Gegenmächte in Aktion treten, die sich das angemaßte Regiment nicht wollen gefallen lassen. Der Konflikt endet dann im dritten AKt mit der Verbannung der Wissenschaft und Proklamierung der Freiheit. - Wenden wir uns den beiden zu dieser Periode gehörigen Nachlaßbänden zu, so beginnt der elfte Band der gesammelten Werke, in dem sich nachgelassene Gedanken aus der Zeit der "Morgenröte" finden, mit dem vielverheißenden Satz: "Erkenntnistheorie ist die Liebhaberei jener scharfsinnigen Köpfe, die nicht genug gelernt haben, und welche vermeinen, hier wenigstens könne ein jeder von vorne anfangen, hier genüge die Selbstbeobachtung." [177] Die Eigentümlichkeit unseres Denkers, der sich an keinen klar vorgezeichneten methodischen Weg bindet, sondern bald da, bald dort auf ein Problem losgeht, bringt es mit sich, daß sich erkenntniskritische Gedanken und erkenntnisgenetische Ausführungen fortwährend kreuzen. Wir versuchen, beide möglichst auseinanderzuhalten und beginnen, wie NIETZSCHE, mit den erkenntniskritischen Gedanken. Daß unserer Vorstellungswelt eine reale "Außenwelt" entspricht, wird in diesen Betrachtungen durchweg vorausgesetzt. Nur einmal findet sich zu dieser Voraussetzung eine kurze Begründung. NIETZSCHE meint: "Für einen einzigen Menschen wäre die Realität der Welt ohne Wahrscheinlichkeit." Erst daraus, daß wir wissen, wir sind eine Realität, trotz des Phantoms, was der andere von uns im Kopf trägt - wie umgekehrt wir von ihm -, schließen wir "daß es Realitäten außer uns gibt" [180]. In Bezug auf das Verhältnis dieser Außenwelt zu unserem Intellekt ist NIETZSCHE unsicher. Er sagt:
"Die Möglichkeit, daß die Welt der ähnlich ist, die uns erscheint, ist gar nicht damit beseitigt, daß wir die subjektiven Faktoren erkennen." Dagegen im nächsten Satz: "Das Subjekt wegdenken - das heißt sich die Welt ohne Subjekt vorstellen wollen: ist ein Widerspruch: ohne Vorstellung vorstellen!" [184f] Daß auch der spätere Sensualismus sich hier vorbereitet, wird und noch klarer, wenn wir etliche spätere Bemerkungen desselben Bandes zum Vergleich heranziehen. "Unser Denken ist wirklich nichts, als sehr verfeinertes, zusammen verflochtenes Spiel des Sehens, Hörens, Fühlens, die logischen Formen sind physiologische Gesetze der Sinneswahrnehmungen. Unsere Sinne sind entwickelte Empfindungszentra mit starken Resonanzen und Spiegeln." "Die Dinge rühren unsere Saiten an, wir aber machen die Melodie daraus." [279f] Unser Weltbild auf dem Spiegel täuscht uns nun vor allem dadurch, daß es uns seiende Dinge vorspiegelt, die es nur nach der menschlichen Optik gibt, und daß uns eine Bewegung ansich etwas völlig Unbegreifliches ist. "Wir bewegen nur seiende Dinge - daraus besteht unser Weltbild auf dem Spiegel ... Eine bewegte Kraft ist Unsinn - für uns" [180]. Eben damit hängt auch die Unbegreiflichkeit der Kausalität zusammen. Denn so wenig wir eine Bewegung wahrnehmen, sondern mehrere gleiche Dinge in einer gedachten Linie, so wenig nehmen wir eine Zeitdauerlinie wahr, sondern aus getrennten, bewußten Momenten bauen wir uns dauernde Körper und Dinge [181]. Sowohl Bewegung wie auch Kausalität sind in unserer Vorstellung etwas Anderes als in der Wirklichkeit, da sie aus mehreren negativen Eindrücken auf uns zurecht phantasiert sind, uns nur in unvollständigen Relationen zu uns bekannt werden und überall den Irrtum der "gleichen Dinge" voraussetzen [181]. In dieser Welt der gleichen Dinge bauen wir nun auch uns selbst als Subjekte auf. Nur die Unvollkommenheit unseres Bewußtseins bringt den Glauben an ein Ich mit sich [185]. "Wir dichten uns selber als Einheit in dieser selbstgeschaffenen Bilderwelt, das Bleibende im Wechsel." "Liefe das Wissen so schnell wie die Entwicklung und so stetig, so würde an kein Ich gedacht" [185]. - Um an die letzte Äußerung anzuknüpfen, so hat NIETZSCHE später selbst den Gedanken ausgesprochen, daß man von einem bloßen Spiegel kein Wissen aussagen kann [XII, 26]. Somit wird das Subjekt als zusammenfassende und konservierende Einheit von Erfahrungen bei allem "Wissen" vorausgesetzt, auch von NIETZSCHE selbst überall, zum Beispiel auch, wenn er uns sagt, das ego sei eine Mehrheit von personenartigen Kräften, unter denen der Subjektpunkt herumspringt [235]. Da sich beim Spiegelflächencharakter unserer Wahrnehmungen die dritte Dimension "nur in der Zeit vollendet" (ein Zitat?), da wir also Flächen zu einer Einheit verbinden, die uns nacheinander sichtbar werden, so scheint unserem Denker vorübergehend der Gedanke aufzuleuchten, ob das Phänomen der Bewegung vielleicht überhaupt aus der Beschaffenheit des erkennenden Subjekts zu erklären ist. "Wir selber als erkennende Wesen sind eine immer neue rotierende Kraft und bringen so ein Nacheinander hervor, auch bei festen Objekten. Wir sind die Bewegten, welche sich um die Dinge bewegen; Wir stehen nicht still, das Umgekehrte ist wahr von dem was der Augenschein ist" [180f] - wobei NIETZSCHE die innere Bewegung des Denkens und die von unserer Willkür unabhängige Bewegung der "äußeren" Dinge in phantastischer Weise gleichsetzt. Wir kommen zur anderen Gedankengruppe, die sich mehr mit dem Ursprung der Erkenntnis beschäftigt. - Die Eigenschaften eines Dings erregen uns die mannigfaltigsten Empfindungen der Lust und Unlust. Daß die Eigenschaften der Dinge solche Empfindungen erregen, "das ist Urteil - und dieses Urteil setzt Erfahrungen voraus und Glauben an Gleichheit in den Erfahrungen" [182]. Die älteste Erfahrung ist zu denken als Auslegung eines Reizes aufgrund eines dabei entstehenden Kraftgefühls. "Man glaubt an Kraft, wo man das Kraftgefühl hat. Kraftgefühl gilt als Beweis von Kraft" [183]. "Alle Eigenschaften eines Dings sind in Wahrheit Reize in uns, welche teils das Kraftgefühl mehre, teils es vermindern." "Zuletzt begreifen wir: ein Ding ist eine Summe von Erregungen in uns: weil wir aber nichts Festes sind, ist ein Ding auch keine feste Summe" [183]. Die ganze Außenwelt empfinden wir eigentlich immer verschieden, da sie sich gegen den jedesmal in uns vorherrschenden Trieb abhebt, der selbst wieder "als etwas Lebendiges wächst und schwindet", sodaß "im kleinsten Moment unsere Empfindung der Außenwelt immer werdend und vergehend, also wechselnd" ist [182]. - In diesen psychologischen Gedanken präludiert noch deutlicher das Thema der späteren Philosophie, der "Wille zur Macht". - Hier mag nun auch der Ort sein, um zwei eigentümliche Ideengänge NIETZSCHEs zu erwähnen, von denen der erste einen merkwürdigen Rückfall in die Periode der SCHOPENHAUERschen Metaphysik darstellt, der andere aber, wiewohl er durch eine poetische Einkleidung vom Autor selbst als Phantasma gekennzeichnet wird, ebenfalls in der Richtung der zukünftigen eigenen Metaphysik liegt. Unsere Sinnenwelt ist sich widersprechend, ist ein "Trug der Sinne". Da müssen die Ursachen des Betrugs, die Sinne, real sein. Nun wissen wir von unseren Sinnen nur durch die Sinne, sodaß dieses Wissen mithin in die Welt des Betrugs gehört. Da nun nicht etwas völlig Unbekanntes der Betrüger sein kann, weil wir Trugbilder sonst nicht zum Wissen um den Trug kommen könnten, so müssen wir selbst irgendwie auch das sein, was trügt, wir müssen selbst irgendwie das "rein Logische" sein. Wie ist aber die Entstehung der Trugwelt aus dem "Wahren" zu denken? Das "Wahre" muß sie nötig haben, entweder als Erleichterung eines Urschmerzes, oder als Ausströmen einer Lust. In beiden Fällen ist die Welt "eine Phantasmagorie nach dem Gesetz der Kausalität", und die Kausalität ist nur "der feinste Apparat des artistischen Betruges" [183f] - Aber der Urbetrüger ist in diesem Fall das Wort "Trug" selbst, das NIETZSCHE in seiner übertreibenden Weise ohne weiteres für den Relativismus unserer Sinneswahrnehmungen einführt: von hier aus ist dann diese ganze Metaphysik selbst "eine Phantasmagorie nach dem Gesetz der Kausalität". Der andere metaphysische Ideengang ist in Kürze folgender. - Um die ersten Gesetze der Mechanik zu verstehen, muß man den treibenden Kräften Wiedererkennen und Schließen zugestehen. Dies ist die gewöhnlichste Form des Wissens, Bewußtheit oder Empfindung kommt als etwas Unwesentliches hinzu, als Veränderung der Richtung des Wissens, als Wissen um das Wissen. - Ist hier die Realität materieller Kräfte vorausgesetzt, so nennt NIETZSCHE andererseits in diesem Zusammenhang die Materie mit einem treffenden Ausdruck "die treibende Kraft als das Vorurteil unserer Sinne gedacht", die "Grenze unseres Empfindens für die Kraft [187f]. Wie nun in dieser Welt wechselnder Kräftebeziehungen eine Wahrheits erkenntnis entstehen kann, darauf gibt NIETZSCHE verschiedene Antworten, und wir sehen ihn hier in derselben Verlegenheit, wie bei den Hauptwerken. Obwohl er sagt, daß der Intellekt nie frei wird, sondern stets unter der Herrschaft verfeinerter Triebe bleibt [200], ja den Kampf der Triebe nur abspiegelt [201], meint er doch, durch die ungeheure Übung des Intellekts entstehe allmählich Lust an seiner Aktivität, und daraus Lust an der Wahrhaftigkeit in seiner Aktivität [282]. Ähnlich sagt er ein andermal, daß die Übung, mehrere Eigenschaften an einem Ding anzuerkennen, abseits vom Affekt, schließlich eine immer größere Reihe von festen Dingen schafft, und damit ein Bedürfnis nach Erkenntnis der Dinge in ihrer Vielheit bildet. Das sei die "Basis des intellektuellen Triebes" [186]. Anders lautet eine zweite Antwort, die NIETZSCHE im Zusammenhang der oben dargestellten erkenntniskritischen Gedanken gibt. "Wahrheit gibt es eigentlich nur in den Dingen, die der Mensch erfindet, zum Beispiel Zahl. Er legt etwas hinein und findet es nachher wieder - das ist die Art menschlicher Wahrheit. Sodann sind die meisten Wahrheiten tatsächlich nur negative Wahrheiten: "DIes und das ist jenes nicht" (obgleich meist positiv ausgedrückt)" [178]. Ein Fortschritt besteht nur darin, daß die Irrtümer verfeinert, die Menge der möglichen Irrtümer verringert und so der Irrtum weiter getrieben wird [178]. "Wenn wir beachten, zu welchen Irrungen uns die Sinne am liebsten verführen, können wir erraten, welcher Art ihre Grundirrtümer sein werden" [179] - ein Satz, der für NIETZSCHE die Hauptsache seines späteren kritischen Sensualismus geblieben ist. Dagegen lautet eine dritte Antwort völlig verschieden. Wahr heißt nichts anderes, als für die Existenz des Menschen zweckmäßig [186]. Da wir nun die Existenzbedingungen nicht kennen, so ist der Erfolg entscheidend, und da streng genommen die Existenzbedingungen und somit auch die Wahrheiten individuell sind, so ist das Experimentieren und das unausgesetzte Irren, ja sogar fortwährendes "Kranksein" durch unser Denken, nicht zu vermeiden [186]. - Hier hat NIETZSCHE seine letzte Ansicht über die "Wahrheit": wahr = zweckmäßig! erreicht. Gerade an dieser Stelle aber zeigt sich deutlich, daß der Zweckmäßigkeitsstandpunkt zur Erklärung der Wahrheitsentstehung nicht ausreicht, da bei dem, gerade von NIETZSCHE hervorgehobenen "individuellen Charakter der Zweckmäßigkeit das Emporwachsen einer, von der Anerkennung des Individuums unabhängigen, für alle Menschen gültigen Wahrheit kaum zu erklären wäre. Der Nachlaß des zwölften Bandes, dessen erkenntnistheoretischen Abschnitt wir ebenfalls durch die anderwärts sich findenden Äußerungen desselben Bandes ergänzen, enthält in seiner ersten Hälfte Gedanken NIETZSCHEs aus der Zeit der "Fröhlichen Wissenschaft". Auch hier tritt uns der eigentümliche Doppelcharakter seines erkenntnistheoretischen Denkens entgegen. Einmal sucht er, im Anschluß an die Traditionen der Philosophiegeschichte, von den Tatsachen des Bewußtseins auszugehen; bald aber treten erkenntnisgenetische Ausführungen an die Stelle. "Ich stelle vor", also gibt es ein Sein: cogito ergo est [Ich denke, also ist es. - wp], dies ist die "Grundgewißheit" [22]. "Das einzige Sein, welches wir kennen, ist das vorstellende Sein. Wenn wir es Richtig beschreiben, so müssen die Prädikate des Seienden überhaupt darin sein" [22]. "Vorstellen selber ist ein Gegensatz der Eigenschaften des esse: sondern nur sein Inhalt und dessen Gesetz" [25]. Diesem Vorstellen "ist der Wechsel zu eigen, nicht die Bewegung" [22]; aber es stellt "zwei Beharrende" hin: erstens ein Ich, zweitens einen Inhalt. Alle Aussagen, die über dieses Subjekt und Objekt des Vorstellens gemacht worden sind, sind schon nicht mehr gewiß. Die "zwei Beharrenden" sind nur die Existenzbedingungen der vorstellenden Art des Seins. "Es braucht kein Subjekt und kein Objekt zu geben, damit das Vorstellen möglich ist, wohl aber muß das Vorstellen an beide glauben" [23]. Denn "wir würden ohne die Annahme einer der wahren Wirklichkeit entgegengesetzten Art des Seins nichts haben, an dem es sich messen und vergleichen und abbilden könnte" [24]. So verfälschen wir zwar den Tatbestand, aber es wird wenigstens ein Vorstellen möglich. Nach NIETZSCHE löst sich auf diese Weise die Antinomie zwischen dem wahren Wesen der Dinge und den ihm fremden Elementen der gegebenen Wirklichkeit, die nicht aus ihm kommen können: das wahre Wesen ist ja nur: eine "Erdichtung des vorstellenden Seins ohne welche es nicht vorzustellen vermag" [21f]. Die Frage ist nur: "Wie ist eine Art Wahrheit trotz der fundamentalen Unwahrheit im Erkennen überhaupt möglich?" [24]. - Da wir hier eine erkenntnistheoretische Begründung NIETZSCHEs späteren Angriffen auf die "wahre Welt" vor uns haben, so seien einige kurze Bemerkungen erlaubt. Es ist nicht abzusehen, warum die Skepsis gerade vor dem Begriff "Vorstellen" Halt machen soll. NIETZSCHE selbst deutet an, wiederum in einer Vorwegnahme späterer Gedanken [siehe 66f], daß uns das "Vorstellen" selbst nur in der Form der Vorstellung, also gefälscht durch das Gesetz des vorstellenden Seins, den Begriff des "beharrenden Dings" gegeben ist [siehe 22, 23]. Ist aber "Vorstellen" als "die Tatsache" [24] anerkannt, so ist Subjekt und Objekt unweigerlich mitgesetzt, denn Vorstellen ohne Subjekt und Objekt des Vorstellens ist für uns ein unvollziehbarer Gedanke. Selbst noch in dem Ausdruck NIETZSCHEs: "Das vorstellende Sein" steckt das Subjekt verborgen. In einem allerdings besonders flüchtigen Aphorismus spricht NIETZSCHE selbst auch den Gedanken aus: "Die Unwahrheit muß aus dem "eigenen wahren Wesen" der Dinge ableitbar sein: das Zerfallen in Subjekt und Objekt muß dem wirklichen Sachverhalt entsprechen." [24] So wendet NIETZSCHE auch überall selber unbefangen die Trennung in Subjekt und Objekt an, zum Beispiel in der folgenden, mehr psychologischen Gedankenreihe, die wir hier noch beifügen wollen. Wir begreifen an der Materie (wie an unseren Leidenschaften) nur den "intellektuellen Vorgang" daran, nicht "das Wesentliche", nur "unsere Veränderungen im Sehen, Hören, Fühlen, welche dabei entstehen" [34]. Die Außenwelt ist zum größten Teil ein "Phantasieprodukt", wobei wir aufgrund früher eingeübter Geistestätigkeiten die kleinen Anlässe und Motive aus den Sinnen ausdichten [35f]. "Der größte Teil der sinnlichen Wahrnehmung ist erraten" [151]. Durch die Idiosynkrasie [Eigentümlichkeit - wp] unserer Empfindungen erscheinen uns die Eigenschaften der Dinge mannigfaltiger, als sie sind (dieselbe Bewegung als Ton, Farbe, Wärme, Elektrizität). [37] - Sucht man einen sachlichen Übergang zur Erkenntnisgenese, so wäre es etwa der Satz:
Auch in Bezug auf das "Subjekt" erleben wir dasselbe Schauspiel wie bei den "gleichen" und "beharrenden" Dingen. NIETZSCHEs Tendenz geht dahin, die Begriffe skeptisch aufzulösen, er gelangt aber doch immer nur bis zu einer Verfeinerung derselben und zu einer Abwehr vulgärer Mißverständnisse. So sagt er, nur durch die "ungeheure Einübung am Außer-uns" kämen wir dazu, uns selbst als ein Beharrendes und Sich-selber-Gleiches aufzufassen [26f]. "Subjektempfindung kann wesentlich falsch sein" [26]. "Das Individuum selber ist ein Irrtum" [128]. Anstelle des Ichgefühls" empfiehlt er einerseits eine Umschaffung des Ichbewußtseins in ein kosmisches Empfinden, sodaß wir uns wie "Knospen an einem Baum" fühlen [128f], andererseits nennt er uns als das Höhere den "unendlich kleinen, schöpferischen Augenblick" [45, siehe 49]. Trotz dieses Hinausstrebens über das Subjekt redet er aber doch von "Lebenssystem" [128], von "organischem Einheitsgefühl" [156], von einer wirklich eingeborenen "Einheit aller Funktionen", zu der das Ichbewußtsein als etwas "fast Überflüssiges" hinzukommt [155]. - In allen diesen Ausführungen ist die Zeit stillschweigend als objektive Realität vorausgesetzt. NIETZSCHE macht zwar einmal den kühnen Versuch, auch die Zeit mit dem Glauben an "gleiche Dinge" in Beziehung zu setzen, indem er meint, ohne das "Nacheinander" der Dinge, in einem "absoluten Werden", könne es nicht zu einer Zeitvorstellung kommen [32], aber damit will er die "Zeit" selbst wohl schwerlich als einen Irrtum erweisen, wie ja ihre Realität auch eine Hauptvoraussetzung ist in der damals bereits von NIETZSCHE "einverleibten" Lehre von der "ewigen Wiederkehr". So findet sich auch die verwunderliche Äußerung: "Dem wirklichen Verlauf der Dinge muß auch eine wirkliche Zeit entsprechen." [31] "Wahrscheinlich ist die wirkliche Zeit unsäglich viel langsamer, als wir Menschen die Zeit empfinden." "Unser Blutumlauf könnte in Wahrheit die Dauer eines Erd- und Sonnenlaufs haben" [31]. Den Einwand, daß jede Größe ansich unendlich groß und unendlich klein ist, je nach dem messenden Subjekt, läßt NIETZSCHE bezüglich der Zeit nicht gelten. Es gibt "vielleicht eine Zeiteinheit, welche fest ist." "Die Kräfte brauchen bestimmte Zeiten, um bestimmte Qualitäten zu werden." [32] Während die Zeit als Realität anerkannt wird, muß sich der Raum vorläufig damit begnügen, eine "subjektive Form" vorzustellen. Zwar fällt NIETZSCHE auch hier aus der Rolle, wenn er zum Beispiel sagt: Wir empfinden uns "wahrscheinlich als viel zu groß", die wirkliche Welt ist "kleiner aber viel langsamer bewegt, aber unendlich reicher an Bewegungen als wir ahnen." [31] Dagegen: "Raum ist wie Materie eine subjektive Form, Zeit nicht. Raum ist erst durch die Annahme leeren Raumes entstanden." [54] Auch den Raumbegriff versucht NIETZSCHE gelegentlich vom Substanzbegriff abzuleiten.
"Der Raum und die menschlichen Gesetze des Raums setzen die Realität von Bildern, Formen, Substanzen und deren Dauerhaftigkeit voraus, das heißt, unser Raum gilt einer imaginären Welt. Vom Raum, der zum ewigen Fluß der Dinge gehört, wissen wir nichts." [31] Wie sehr die Materie eine subjektive Form ist, sucht NIETZSCHE auch durch die Beobachtung zu belegen, daß selbst Gedanken und Abstrakta von uns eine sehr verfeinerte Stofflichkeit bekommen, und nur fälschlich als "immateriell" bezeichnet werden. [71] Alle diese Begriffe nun, Gleiches, Beharrendes, Raum, Materie, Subjektgefühl sind "lebenerhaltende Prinzipien" [25]. "Derjenige Glaube siegte, bei dem das Fortleben möglich wurde: - nicht der am meisten wahre, sondern am meisten nützliche Glaube" [26]. "Irrtümer oder Wahrheiten - wenn nur Leben mit ihnen möglich war" [39]. Es liegt der Gedanke nahe, daß die Nützlichkeit einer Meinung nichts gegen ihre Wahrheit beweist, daß vielmehr die Anpassung an den wirklichen Sachverhalt sich auch für die Lebenserhaltung als das Nützlicheres erwiesen haben wird. Dies läßt NIETZSCHE aber nicht gelten. "Es ist ein Wahn, dem auch unsere jetzige Erfahrung widerspricht, daß die möglichste Anpassung an den wirklichen Sachverhalt die Leben-günstigste Bedingung ist" [40]. So ist zum Beispiel die Simplifikation ein Hauptbedürfnis des Organischen gewesen, weil dadurch der Glaube, Nahrung zu finden, viel stärker erregt wurde [46]. Unzählig oft sich zu irren und am Fehlschluß leiden ist "lange nicht so schädigend im Ganzen als die Skepsis und Unentschlossenheit und Vorsicht" [39].
Die Schwierigkeit, uns die Entstehung der Wahrheit aus ihrem Gegensatz glaubhaft zu machen, wirkt hier zumindest noch bei der Besprechung der "Wissenschaft" nach. Sie soll "die Grade des Falschen feststellen und die Notwendigkeit des Grundirrtums als der Lebensbedingung des vorstellenden Seins" [24; dagegen 26: der Urirrtum ist "als ein Zufall zu verstehen, zu erraten!"]. Da das fortschreitende Leben die Irrtümer nicht aufhebt, nur verfeinert, so wird es wahrscheinlich, daß das, was ursprünglich das Leben zeugte, eben der denkbar gröbste Irrtum war" [40]. "Wenn wir allmählich die Gegensätze zu allen unseren Fundamentalmeinungen formulieren, nähern wir uns der Wahrheit." [47] Aber neben diesen, uns schon von früher her bekannten Gedankengang stellt sich jetzt ein neuer und - folgerichtigerer. "Ist es denn die Wahrheit, welche allmählich durch die Wissenschaft festgestellt wird? Ist es nicht der Mensch, welcher sich feststellt ... bis ... der Mensch in seinen Beziehungen zu allen übrigen Kräften feststeht?" [43] Wenn wir alles Notwendige unserer jetzigen Denkweise feststellen, so stellen wir zwar nicht das "Wahre ansich" fest, wohl aber das "Wahre für uns" [40]. Die Wissenschaft führt unseren Spezialfall von Intelligenz in seiner gesetzmäßigen Anpassung bis zu Ende durch [21], sie malt das Spiegelbild des Auges zu Ende [43], - "und damit beschreibt sie ebenso die bisher geübte Macht des Menschen, als sie dieselbe weiterübt - unsere dichterisch-logische Macht, die Perspektiven zu allen Dingen festzustellen, vermöge deren wir uns lebend erhalten" [43]. Hierbei soll die Wissenschaft den "Normalmenschen" "als oberstes, mit allen Mitteln zu erhaltendes Maß" anerkennen [38, 44], ihr letzter Nutzen soll jedoch wieder sein "immer neue Arten entstehen zu lassen" [5]. - Da stünden wir dann bereits auf der Warte, von der aus wir in ein neues Reichhinüberblicken, das Reich des dritten NIETZSCHE, wo der "Wille zur Macht" regiert und der "Übermensch" wohnt. Dann sind "Wissenschaft" und "Wahrheit" endgültig verabschiedet. - In den "Liedern des Prinzen Vogelfrei", die der "Fröhlichen Wissenschaft" als Anhang beigegeben sind, singt NIETZSCHE: "Im Norden - ich gesteh's mit Zaudern - liebt' ich ein Weibchen, alt zum Schaudern: "Die Wahrheit" hieß dies alte Weib ..." ![]()
1) "Menschliches Allzumenschliches" 1878, Bd. II der Gesamtausgabe; "Vermischte Meinungen und Sprüche", "Der Wanderer und sein Schatten" 1879, als Bd. III der Gesamtausgabe zusammengefaßt; "Morgenröte" 1881, Bd. IV; "Die fröhliche Wissenschaft" 1882, Bd. V - Es lag uns hier die "Neue Ausgabe", Leipzig 1886 und 1887 vor. Um das Nachschlagen in anderen Ausgaben zu erleichtern, zitieren wir hier nach den Nummern der Aphorismen, was sich bei den Hauptwerken dieser Periode am ehesten durchführen läßt. - Als Ergänzung des Nachlasses treten Bd. XI und XII [erste Hälfte] der Gesamtausgabe [zweite Auflage 1901] hinzu. Diese Bände mußten wieder nach der Seitenzahl zitiert werden. - Bei der Durcharbeitung hat es sich als das Zweckdienlichste erwiesen, die Äußerungen der Nachlaßbände, soweit sie nur eine Auslegung oder Weiterführung der öffentlich ausgesprochenen Gedanken bedeuten, der Hauptdarstellung einzureihen. Doch findet sich in jedem Band ein größerer erkenntnistheoretischer Abschnitt, der eine gesonderte Behandlung erfahren hat. |